Oxen. Lupus - Jens Henrik Jensen - E-Book
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Oxen. Lupus E-Book

Jens Henrik Jensen

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Beschreibung

Der SPIEGEL-Bestseller jetzt im Taschenbuch   Der Geheimbund Danehof ist zerschlagen, doch der traumatisierte Ex-Elitesoldat Niels Oxen kämpft weiter mit seinen sieben Dämonen. Für den ehemaligen Geheimdienstchef Axel Mossman soll er nun den vermissten Poul Hansen aufspüren. Die Suche führt ihn dorthin, wo er sich am besten auskennt: in den Wald. Dort trifft er auf Wölfe – und auf rätselhafte Spuren. Hansens Verschwinden scheint mit einer Entführung aus dem Jahr 1963 zusammenzuhängen. Und mit dem unaufgeklärten Fall, bei dem Oxens Partnerin Margrethe Franck ihr rechtes Bein verlor. Gemeinsam stellen Oxen und Franck Nachforschungen an. Aber das ruft dunkle Mächte auf den Plan.

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Seitenzahl: 766

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Über das Buch

Der Danehof ist zerschlagen, aber Niels Oxen hadert noch immer mit sich. Die Beziehung zu seinem Sohn Magnus gestaltet sich schwierig. Völlig unerwartet steht eines Tages Axel Mossmann vor seiner Tür und bittet ihn um Hilfe – er soll den verschwundenen Poul Hansen aufspüren. Oxen zögert, bezieht aber schließlich im Haus des Vermissten, einem abgelegenen Hofin Jütland, Stellung. Anstatt sich auf die Suche nach Hansen zu machen, interessiert er sich mehr für die Wölfe, die in der Nähe des Hofes gesichtet wurden. Der Fall um Hansens Verschwinden ist jedoch brisanter als zunächst angenommen: Es scheint einen Zusammenhang mit einer brutalen Entführung aus dem Jahr 1963 zu geben. Und mit den lange zurückliegenden Ereignissen, die zur Folge hatten, dass Oxens Partnerin Margrethe Franck ihr rechtes Bein verlor. Gemeinsam stellen Oxen und Franck Nachforschungen an, doch das ruft dunkle Mächte auf den Plan. Und bald schon geht es um mehr als einen verschwundenen Mann, einen alten Entführungsfall und Wölfe in Jütland – es geht um Margrethes Leben.

 

Von Jens Henrik Jensen sind bei dtv außerdem erschienen:

OXEN – Das erste Opfer

OXEN – Der dunkle Mann

OXEN – Gefrorene Flammen

OXEN – Lupus

OXEN – Noctis

OXEN – Pilgrim

 

SØG – Dunkel liegt die See

SØG – Schwarzer Himmel

SØG – Land ohne Licht

 

EAST – Welt ohne Seele

EAST – Auf tiefem Grund

Jens Henrik Jensen

Oxen

LUPUS

Thriller

Aus dem Dänischen von Friederike Buchinger

1.

Sichtbarer Atem stieg aus dem Mund des Mannes, und sein verschwitzter Körper dampfte. Es war klirrend kalt. Er stand eingehüllt in eine Nebelwolke da, blauweiß wie das Licht, das von seinem Kopf nach unten strahlte.

Als er eine Pause machte und sich aufrichtete, fiel der Lichtschein auch auf sein faltiges Gesicht. Er fuhr sich mit dem Arm über die Stirn. Seine groben Hände stützten sich auf den Griff des Spatens, und er lehnte sich leicht nach vorn, bis sein Atem sich beruhigt hatte. Er war zwar kein Jungspund mehr, aber er konnte immer noch hart arbeiten.

Dicht an dicht standen die Stämme der Kiefern um ihn herum, wie stumme Zeugen, die nie ein Wort über sein Verbrechen verlieren würden. Und nicht mehr lang, dann war er weg und würde nie wiederkommen.

Er schuftete schon eine ganze Weile. Zum Glück war der Frost noch nicht in den Waldboden eingedrungen, den er sorgfältig abgeschritten war, bevor er angefangen hatte. Jetzt stand er in einer Grube, die so tief war, dass er fast bis zur Hüfte darin verschwand. Nur noch fünf Minuten.

Er holte ein paarmal tief Luft, was einen heftigen Hustenanfall auslöste. Er rückte die Stirnlampe zurecht, bis sie ihn nicht mehr störte. Dann legte er wieder los.

Er schaufelte die Erde nach links und rechts auf die beiden Planen, die er mitgebracht hatte, weil er ein vorsichtiger Mann war, der nicht mehr Spuren hinterlassen wollte als unbedingt nötig. Auch dass er so tief grub, war seiner Vorsicht geschuldet.

Man sah es ja oft genug in diesen amerikanischen Fernsehserien, wenn es um die Arbeit der Kriminaltechniker ging. Dass nach etlichen Jahren plötzlich Knochen aus der Erde ragten. Oder dass wilde Tiere Witterung aufnahmen und Geheimnisse aus dem Waldboden scharrten.

Das würde ihm nicht passieren.

Als er einigermaßen zufrieden war, kletterte er aus der Grube, legte den Spaten beiseite und überlegte das weitere Vorgehen, während er verschnaufte.

Er ging zu dem großen länglichen Bündel, das ordentlich eingewickelt und sorgsam verschnürt war. Dann griff er nach den Beinen und fing an zu ziehen. Das Bündel war schwer, aber die Plane glitt leicht über den Waldboden bis an die vordere Schmalseite des Grabs.

Vorsichtig, mit Rücksicht auf seine alten und jetzt auch müden Beine, stieg er zurück in die Grube, packte das Bündel, nahm alle Kraft zusammen und zog. Kurz darauf war es geschafft. Besser hätte man es nicht machen können.

Diesmal durchfuhr ein stechender Schmerz sein Knie, als er wieder nach oben kletterte. Er brauchte jetzt endlich eine Kippe. Die hatte er sich wirklich verdient.

Erschöpft angelte er eine Zigarette aus der Schachtel, steckte sie an, inhalierte gierig den ersten Zug und atmete aus. Die Rauchwolke war genauso weiß wie sein warmer Atem. Er zog ein zweites Mal an der Zigarette, ein großartiges Gefühl nach der harten Arbeit. Leider war es nach ein paar Zügen schon wieder vorbei. Er drückte die Zigarette an seiner Stiefelsohle aus und steckte den Stummel in seine Jackentasche. Es wäre mehr als dämlich gewesen, eine DNA-Spur zu hinterlassen, wenn man sich mit dem ganzen Rest solche Mühe gegeben hatte.

Dann nahm er die letzte Etappe in Angriff und fing an, die Erde zurückzuschaufeln. Das war nicht ansatzweise so anstrengend wie das Graben. In einer halben Stunde würde er auf dem Heimweg sein. Und wenn jemand ein Geheimnis für sich behalten konnte, dann er.

 

Er hatte so konzentriert zu dem grabenden Mann hinübergestarrt, dass ihm irgendwann schwindelig geworden war. Außerdem fror er. Bis ins Mark. Aber er wagte es nicht, sich zu rühren. Wagte kaum zu atmen.

Deshalb war die Erleichterung groß, als der Mann mit dem grellen, bösen Auge auf der Stirn endlich den Spaten schulterte und davonstapfte. Schon wenige Sekunden später hörte er, wie ein Motor startete, und sah zwei Scheinwerfer aufleuchten, die zu einem Quad zu gehören schienen.

Sicherheitshalber wartete er noch ein paar Minuten, dann stand er auf. Sein Körper war fast zu Eis erstarrt, und er konnte sich kaum bewegen. Langsam ging er auf die kleine Lichtung zu, die im Mondlicht vor ihm lag, und holte seine Taschenlampe heraus.

Im Lichtkegel war nichts zu erkennen. Der Waldboden war sorgfältig abgedeckt worden, aber hier unter dem welken Laub und den braunen Nadeln war es, das Grab …

Er biss sich auf die Lippe. Irgendetwas war da unten. Das war alles, was er wusste. Aber mehr wollte er auch gar nicht erfahren.

2.

Er starrte auf die zarten weißen Finger, die aus den blauen Ärmeln der Winterjacke gekrochen waren. Magnus lehnte mit den Unterarmen auf dem Geländer vor dem Pinguinbecken, die Hände vor dem Bauch verschränkt.

Sie waren so klein, diese Hände. Fein geschnittene, unschuldige Hände, erst vierzehn Jahre alt, die noch viele Sommer vor sich hatten, in denen sie das Leben kennenlernen und Erfahrungen sammeln würden.

Sein Blick fiel auf seine eigenen rauen Pranken, gezeichnet von einem uralten Handwerk. Der Krieger und der Junge … Einen halben Meter voneinander entfernt standen sie da und beobachteten die verspielten Pinguine.

Durch den Wind, der über den Kopenhagener Zoo fegte, fühlte die Luft sich kälter an, als sie eigentlich war, denn für Mitte Februar waren die Temperaturen überraschend mild. Die gelegentlichen Regenschauer machten es natürlich nicht besser.

Er verspürte einen unbändigen Drang, seine Hand auf Magnus’ Hände zu legen. Aber aus Schaden wird man klug, deshalb ließ er es bleiben. Und trotzdem, irgendetwas musste er tun. Irgendetwas, um das Band zwischen ihnen zu stärken, auch wenn er jetzt schon wusste, dass es schiefgehen würde.

Fast beiläufig legte er einen Arm um den Jungen, klopfte ihm leicht auf die Schulter und ließ die Hand dort liegen.

»Tolle Tiere, was? Fast wie kleine Menschen. Weißt du noch, wie sie heißen? Also die Art, meine ich.«

Der Junge starrte ausdruckslos vor sich hin und schüttelte den Kopf.

»Nö …«

»Der Name fängt mit H an. H-u-m…«

»Nö.«

»H-u-m-b-o…«

»Nö.«

»Humboldt-Pinguine. Sie leben in der Antarktis. Es ist die einzige Pinguinart mit diesem fleischfarbenen Rand am Schnabel. Deshalb sind sie so leicht zu erkennen. Es gibt zwanzig verschiedene …«

»Können wir weitergehen, Niels? Mir ist arschkalt. Und wir haben die schon so oft angeschaut.«

Magnus seufzte, drehte den Oberkörper und befreite sich von der Hand auf seiner Schulter.

Niels.

Dieser Name war wie ein Eispickel, der sich jedes Mal in sein Herz bohrte, wenn Magnus ihn benutzte.

Am Anfang hatte er den Kampf aufgenommen und Magnus vorgeschlagen, ihn einfach »Papa« zu nennen, denn das war er schließlich – sein Vater. Aber da hatte er die Rechnung ohne seinen Sohn gemacht. Irgendwann hatte er kapituliert.

In Wirklichkeit besaß er inzwischen nicht einmal mehr die grundlegendsten Eltern-Eigenschaften. Er befand sich im Nicht-mehr-Vaterland. Eine verdammt unfruchtbare Gegend, entstanden aus Jahren der Abwesenheit, wo keine einzige gemeinsame Erinnerung gedieh. Der Gedanke war wie ein Schlag in die Magengrube.

»Okay, lass uns gehen. Was hältst du davon, wenn wir noch kurz bei den Wölfen vorbeischauen, Magnus?«

Er schlug seine Lieblingstiere vor, wohl wissend, dass ein Wolf diesen Tag auch nicht mehr retten konnte.

Magnus zuckte gelangweilt mit den Schultern und vergrub die Hände tief in den Jackentaschen. So konnte es nicht weitergehen. Er musste sich etwas Neues einfallen lassen. Der Zoo hatte ausgedient – ohne je funktioniert zu haben.

Wie schon so oft fiel ihm wieder ein, was er vor ihrem ersten Treffen gedacht hatte: dass der Zoo der perfekte Ort wäre. Weil sie draußen an der Luft sein würden, weil man die Plätze, wo zu viele Menschen waren, meiden konnte und weil er einiges über die Tiere wusste. Am ganzen Leib zitternd hatte er Tiger, Wölfe, Lemuren und alle anderen Zoobewohner angefleht, ihm bei seinem ersten Auftritt als Vater zu helfen.

Umsonst. In den drei Stunden damals hatte Magnus kaum ein Wort gesagt. Hatte sich in den letzten acht Monaten wirklich etwas geändert? Sie redeten mehr miteinander, aber die meiste Zeit blieb der Junge verschlossen.

Ihm graute davor, wie es in den Winterferien werden würde. Es war nicht mehr lange bis dahin. Er und seine Ex zogen nicht gerade an einem Strang, was Magnus betraf. Sie sahen sich nie. Sie redeten nicht über das Ergebnis ihrer einstigen Verliebtheit. Nur vereinzelt gab es kurze, klärende Telefonate – mit Eis in der Leitung.

Sie waren Feinde. Für immer. Nichts konnte daran etwas ändern.

Trotzdem hatte er Birgitte versprochen, sich in den Winterferien um Magnus zu kümmern, obwohl er nicht an der Reihe war. Wie sollte er auch etwas ablehnen, von dem er jahrelang geträumt hatte? Seinen Sohn bei sich zu haben … Er musste sich unbedingt etwas einfallen lassen, um den Super-GAU in seiner Wohnung in Vangede zu verhindern.

Schweigend gingen sie zum Wolfsgehege, blieben auf der Holzbrücke stehen und ließen den Blick über das Gelände schweifen. Es war alles andere als beeindruckend.

»Ich lade dich auf einen Hotdog ein, wenn du dich an den lateinischen Namen erinnern kannst, Magnus.«

Das Angebot wurde mit einem Seufzen und erneutem Schulterzucken kommentiert. War er vielleicht zu oberlehrerhaft? Als Junge aus Skovshoved konnte man auch groß werden, ohne sämtliche lateinischen Namen vom Gnu bis zum Geier zu kennen.

»Na gut. Du bekommst auch so einen Hotdog. Lupus … Canis lupus, Grauwolf. Fantastische Tiere, findest du nicht?«

Magnus brummte irgendetwas Unverständliches und schaute auf seine Uhr.

»Ist es okay, wenn ich bald nach Hause gehe, Niels? Ich habe ein bisschen Kopfweh, und außerdem muss ich noch jede Menge Hausaufgaben machen.«

»Hast du die Nase voll von den Zoobesuchen?«

Magnus zuckte wieder mit den Schultern.

»Ich mag Tiere. Aber wir sind immer nur hier. Das ist langweilig … Nur weil du …« Magnus verstummte.

»Weil ich was? Was meinst du?«

»Na ja, weil es dir nicht so gut geht. Und weil es nie besser wird. Nie können wir was anderes machen. Zu einem Fußballspiel gehen oder so, nur weil du … dich nicht traust.«

»Nicht traust?«

»Du magst es nicht, wenn viele Menschen um dich herum sind. Das hast du selbst gesagt.«

Nicht traust … Er spürte den nächsten Schlag, der genau in seiner Magengrube landete. Schon an einem der ersten Wochenenden hatte er versucht, Magnus die Situation zu erklären. Er hörte sich noch auf der Bank in der Sonne stottern:

»Hör zu, Kumpel … Ich habe … ein paar Probleme. Aber ich arbeite daran …«

Er war so offen damit umgegangen, wie das gegenüber einem Vierzehnjährigen möglich war. So ehrlich, wie man sein konnte, wenn es um den Krieg ging. Krieg gehörte nicht in das Universum eines Kindes.

In diesem einen Punkt waren Birgitte und er sich einig gewesen: Für ihren Sohn sollte Niels ein ganz gewöhnlicher Ex-Soldat sein, ein Soldat wie alle anderen. Ihm etwas anderes zu erzählen, wäre Wahnsinn gewesen. Das Profil eines Jägersoldaten und die Dinge, mit denen sich diese Spezialeinheit beschäftigte, hatten im Hinterkopf eines Kindes nichts verloren.

Damals auf der Bank in der Sonne hatte er vorsichtig versucht, Verständnis zu wecken. Hatte versucht zu erklären, was ein Trauma war. Eine Art schreckliche Erinnerung an beängstigende Erlebnisse. Es war nur schwer loszuwerden. Und nervig, weil es dazu führte, dass man sich manchmal unwohl fühlte. Zum Beispiel wenn zu viele Menschen in der Nähe waren und man das Gefühl hatte, alle gleichzeitig im Blick behalten zu müssen. Oder Lärm. Ein lautes Geräusch, das einen erschreckte, als hätte sich jemand hinter einer Tür versteckt und wäre plötzlich mit einem lauten Schrei hervorgesprungen. Und die bösen Träume, die Albträume. Oder diese seltsamen Erinnerungsfetzen, die sogar am helllichten Tag aus dem Nichts auftauchen konnten – Flashbacks. Blitzschnelle kleine Filme einer Situation, die man erlebt hatte. Da konnte es passieren, dass man auf einmal ins Stocken geriet, ganz egal, wo man gerade war.

So ging es ihm leider, weil er als Soldat gearbeitet hatte. Viele Jahre lang. Nicht, um zu töten, sondern um Menschen zu beschützen. Etwas Gutes zu tun. Aber Magnus hatte das anscheinend anders verstanden …

»Dass es nie besser wird? Das habe ich sicher nicht gesagt. Oder doch? Oder … Wer hat das gesagt, Magnus?«

»Niemand … Ich dachte einfach, das ist so.«

Der Junge schützte seine Mutter. Eigentlich war es ja gut, dass er sie nicht verriet. Aber Oxen hatte nicht zum ersten Mal das ungute Gefühl, dass fleißig eine neue Front hochgezogen wurde, während er auf der anderen Seite versuchte, alte Gräben zuzuschütten.

Hier und jetzt, vor dem Alpharüden, der dort drüben durchs Unterholz pirschte, wurde er von der Machtlosigkeit ausgeknockt. Vielleicht war der Kampf zu ungleich, um ihn je gewinnen zu können?

»Es stimmt, dass ich Probleme habe, das habe ich dir ja gleich am Anfang erzählt. Aber diese Probleme kann man lösen. Zum Glück. Ich arbeite daran. Und wenn ich es geschafft habe, dann können wir auch zu einem Fußballspiel gehen. Einigen wir uns darauf, dass wir das mit dem Zoo erst mal sein lassen. Und es ist absolut in Ordnung für mich, wenn du nicht ganz fit bist und jetzt nach Hause möchtest, um deine Hausaufgaben zu machen.«

Diese Ausreden hatte er schon öfter zu hören bekommen, aber was sollte schon Gutes dabei herauskommen, wenn er darauf bestand, dass ihr gemeinsames Wochenende erst Sonntagnachmittag um fünf zu Ende war, obwohl der Junge lieber zu seiner Mutter zurückwollte?

»Von mir aus können wir vorher noch den Hotdog essen«, sagte Magnus.

War das ein Anflug von schlechtem Gewissen oder hatte der Junge einfach Hunger? Er liebte Magnus mehr als alles andere. Er musste versuchen, ein paar Schritte zurück zu machen, und einen neuen Ansatz finden. Eine neue Strategie entwickeln. Sonst würden die Winterferien eine Katastrophe werden.

3.

Die Wohnanlage Mjølnerpark am Rand von Nørrebro, ein Projekt des sozialen Wohnungsbaus aus den Achtzigern, grenzte im Norden an den Tagensvej, im Süden an den Hothers Plads, im Osten an die Midgårdsgade und im Westen an den Mimerspark.

Das Areal war nach Mjølnir benannt, dem berühmten Hammer des nordischen Supergottes Thor. Das Besondere an diesem Hammer war, dass er nach jedem Wurf in Thors Hand zurückkehrte. Und genauso zuverlässig kehrte auch die Kriminalität immer wieder hierher zurück, egal wie oft die Gebäudeverwaltung versuchte, sie abzuschütteln.

Der Mjølnerpark bestand aus knapp sechshundert Wohneinheiten. Die meisten davon waren Dreizimmerwohnungen. In einer davon hielt sich an diesem Sonntag ein sechsunddreißigjähriger Bewohner libanesischer Abstammung auf. Er war erst vor zwei Tagen wieder eingezogen, nachdem er fünf Monate hinter Gittern verbracht hatte. Anders als sonst war dem Vorstrafenregister des Mannes diesmal keine weitere Verurteilung wegen schwerer Körperverletzung hinzugefügt worden. Er hatte wegen Hehlerei gesessen.

Idris Nassar lag im Bett, nur mit einem Laken zugedeckt. Ihm war immer noch warm nach dem Sex mit der Frau, die neben ihm eingeschlafen war. Der Name Idris bedeutete so viel wie »der Männliche«, und er war ihm absolut gerecht geworden. Er hatte lange durchgehalten. Vollkommen entspannt schaute er an die Decke, die Hände im Nacken verschränkt.

Vielleicht sollte er aufstehen? Omar war sicher bald da. Er hatte vor drei Stunden angerufen. Sie hatten sich nicht mehr gesehen, seit er eingebunkert worden war. Kaum hatte er den Gedanken zu Ende gedacht, klingelte es an der Tür. Er stand auf und ging nackt, wie er war, in den Flur, um aufzumachen. Sicherheitshalber warf er einen Blick durch den Türspion. Im Treppenhaus stand Omar, in einem weißen Kapuzenpulli.

Idris öffnete die Tür und drehte seinem Besucher sofort wieder den Rücken zu, um zurück ins Schlafzimmer zu gehen und sich eine Unterhose anzuziehen.

»Fuck you, Bro …!«, rief er. »Du weißt doch, dass ich am Sonntagnachmittag immer ficke. Ich hatte seit fünf Monaten keine Möse mehr, und ausgerechnet jetzt tauchst du hier auf … Was ist los mit dir, Bro?«

Er kam feixend zurück und ging ins Wohnzimmer, um Omar zu begrüßen und ihn zu umarmen. Aber Omar war nicht mehr da. Stattdessen starrte er auf zwei vermummte Männer mit schwarzen Sturmhauben und Handschuhen.

»What the fuck!«

Jeder Muskel seines durchtrainierten Körpers spannte sich. Unwillkürlich machte er einen Satz nach vorn, holte aus und zielte mit der Faust auf den Unterkiefer des Maskenmannes, der vor ihm stand. Aber der Kerl konnte dem Schlag ausweichen, während Idris zu einem Roundhouse-Kick ansetzte und den zweiten Typen mit einem Tritt ins Gesicht zu Boden schickte. Und dann war das Spiel vorbei.

Idris Nassar sah gerade noch, wie der erste Mann ihm einen komischen schwarzen Stab an die Schulter drückte, und dann sackte er auch schon zusammen, von mehreren tausend Volt zu Boden gestreckt.

Der Mann, den Idris mit seinem Karatekick erwischt hatte, sprang auf. Und jetzt arbeiteten die beiden Männer blitzschnell, routiniert und ohne ein Wort zu verlieren.

Der eine war mit wenigen Schritten im Schlafzimmer und setzte auch die Frau mit seinem Elektroschocker außer Gefecht, bevor sie schreien konnte. Er fesselte ihre Handgelenke und Knöchel mit Kabelbinder und klebte ihr einen Streifen Gaffa-Tape über den Mund.

Dasselbe geschah mit dem nackten Muskelpaket auf dem Wohnzimmerboden. Dann packten sie ihn zu zweit unter den Armen und hievten seinen einhundertdreißig Kilo schweren Körper auf einen Sessel. Hier dämmerte dem Libanesen schnell, was ihm bevorstand. In seinen aufgerissenen Augen spiegelte sich Verwirrung – und ein Gefühl, das ihm bisher völlig fremd gewesen war: Angst.

Der kleinere der vermummten Männer zog eine Pistole aus dem Holster unter seiner Jacke hervor und befestigte mit geübtem Griff einen Schalldämpfer an der Waffe. Dann richtete er die Mündung auf Nassars rechte Kniescheibe und drückte ab. Den zweiten Schuss platzierte er ein paar Zentimeter tiefer. Nassars Körper krümmte sich vor Schmerz, und er warf sich auf dem Sessel nach beiden Seiten, bis ein zweiter Stromstoß aus dem Elektroschocker seinem Widerstand ein Ende setzte.

Der Mann richtete die Pistole auf das andere Bein und zerstörte auch Nassars linkes Knie mit zwei Schüssen.

Dann legte er die Mündung an Nassars rechten, aufgepumpten Bizeps, drückte ab und wiederholte dasselbe auch am linken Oberarm, was große blutige Flecke auf Nassars Oberkörper hinterließ. Und was ihn in kürzester Zeit zum Krüppel machte.

Die Männer, die ihr Schweigen kein einziges Mal gebrochen hatten, nickten sich kurz zu. Dann zogen sie sich so schnell aus der Wohnung zurück, wie sie gekommen waren.

Omar, der Mann, den sie gezwungen hatten, Nassar anzurufen und sie bis vor die Wohnungstür zu begleiten, hätte zumindest theoretisch in der Zwischenzeit Alarm schlagen können. Allerdings war das wenig wahrscheinlich, da ihre Komplizen einen von Omars kleinen Söhnen in Gewahrsam hatten.

In sechs Stunden würde der Junge wieder zu Hause abgeliefert werden, und zwar dann, wenn sie sicher sein konnten, dass Nassars Beine nicht mehr zu retten waren. Falls er bis dahin nicht verblutet war, was ebenfalls ein akzeptables Ergebnis gewesen wäre.

5.

Lieber eine schlimme Nacht in der Helmand-Provinz, umzingelt von einer Handvoll Milizionäre, als am helllichten Tag ein Duell mit dieser Frau auf dem Stuhl gegenüber.

Er schielte auf seine Armbanduhr. Bald hatte er die Hälfte der Sitzung überstanden. Seine Psychologin war eine intelligente und freundliche ältere Frau, die seit etlichen Jahren im Veteranenzentrum des dänischen Heers mit traumatisierten Kriegsveteranen arbeitete.

Es war Zeit für den Statusbericht. Sie saß ihm wie immer gelassen und aufmerksam gegenüber, mit klugen Augen hinter den glänzenden Brillengläsern. Er dagegen war wie immer gespannt wie die Feder eines Fangeisens.

»Und, wie ist es mit den Sieben, Niels? Hat sich etwas verändert?«

Sie fragte nach den wiederkehrenden Albträumen, die ihn in den letzten Jahren gequält hatten. In schweißnassen Nächten gingen sie in seinem Kopf ein und aus, wie es ihnen gefiel. Die einzige gute Phase, die er je erlebt hatte, fiel in die Zeit, als er in der Fischzucht die Teiche versorgt und im Wald Bäume gefällt hatte. Die langen Tage mit harter Arbeit hatten den Albträumen die Intensität genommen.

Ruhe, Routine und körperliche Anstrengung waren die einzige Medizin, die er sich selbst verordnen konnte, wie unzulänglich sie auch sein mochte.

»Die Sieben? Nein, eigentlich nicht …«

»Flashbacks?«

»Wie letztes Mal, nicht viele. Mein Alltag ist ruhig. Es gibt nichts, was eine Reaktion auslösen könnte.«

»Lassen Sie uns über Ihr Vermeidungsverhalten sprechen. Haben Sie versucht, sich den Herausforderungen zu stellen, über die wir gesprochen haben? Hat nicht inzwischen die Saison begonnen?«

Er schüttelte den Kopf. Ihn schauderte bei dem Gedanken daran, ein Fußballspiel im Parkstadion durchstehen zu müssen.

»Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich … schon so weit bin.«

»Das werden Sie nie haben, Niels. Wie ich Ihnen neulich schon gesagt habe – es klingt zwar paradox, aber wenn man etwas ständig vermeidet, um sich selbst zu schützen, führt das letztlich nur dazu, dass man seine Situation festigt oder sogar noch verschlimmert.«

Die Psychologin schwieg. Sie sah ihn an. Ihr Lächeln wirkte angespannt, und er kam sich vor wie ein Schulkind, das seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte.

»Ich habe mir über Ihre Situation und unsere Fortschritte hier Gedanken gemacht. Ich muss leider sagen, dass die Therapie überhaupt nicht nach Plan verläuft. Sie sind kein Stück vorangekommen. Oder höchstens minimal. Aber das ist nicht Ihre Schuld. Sie stecken schon viel zu lange in diesem Sumpf. Die PTBS ist ein komplexes und unberechenbares Phänomen. Ich muss unsere Zusammenarbeit deshalb hier beenden – es ist besser für Sie.«

Er sah sie an und konnte seine Überraschung nicht verbergen. Ein geradezu teuflisches Gefühl von Erleichterung überkam ihn. Dann machte sich Sorge in ihm breit.

»Aber was schlagen Sie stattdessen vor?«

»Sie leben schon zu lange mit diesen Dingen. Meine Kompetenzen reichen nicht aus, um daran weiterzuarbeiten. Ich halte es aber auch für grundverkehrt, den nächsten Schritt in unserem System zu machen und sie zu den wirklich schweren Fällen in die Psychiatrie zu schicken. Das würde in die völlig falsche Richtung führen. Sie gehören nicht in die Psychiatrie. Wenn Sie einverstanden sind, möchte ich Sie gern einem Therapeuten vorstellen, den ich kenne. Er hat viel Erfahrung mit EMDR-Therapien.«

»EM…«

»…DR. Eye Movement Desensitization and Reprocessing. Das ist eine relativ neue psychotherapeutische Methode, die in der Praxis schon sehr gute Ergebnisse erzielt hat. Der Erfolg ist wissenschaftlich belegt, auch wenn bisher noch nicht nachgewiesen werden konnte, wie EMDR eigentlich wirkt. Die WHO hat die Wirksamkeit dieser Therapieform bei posttraumatischer Belastung anerkannt.«

»Eine Therapie durch Bewegung der Augen?« Seine Skepsis stand ihm wohl deutlich ins Gesicht geschrieben – in Großbuchstaben.

»Korrekt. Ein Teil der Methode besteht darin, dass der Therapeut eine Reihe rhythmischer Augenbewegungen provoziert, zum Beispiel indem er seinen Finger vor dem Patienten hin- und herbewegt, etwa dreißig Sekunden lang. Während der Patient den Finger mit den Augen verfolgt, wird er aufgefordert, sich die negativen Gefühle, Erinnerungen und Gedanken erneut bewusst zu machen, die mit dem Trauma verbunden sind. Dadurch kann er sie verarbeiten und schließlich durch positive Erfahrungen ersetzen. Das mit den Augen – man nennt es bilaterale Stimulation – ist nur ein Teil des Prozesses. Vermutlich werden die Patienten dadurch in eine leichte Trance versetzt, sodass sie besser auf die Behandlung ansprechen. Vereinfacht gesagt geht es darum, die Vergangenheit von der Gegenwart zu trennen. EMDR kann diese Verbindung kappen.«

Er nickte stumm. In seiner Vorstellung sah er einen Hypnotiseur vor sich, der ihm mit dem Finger vor dem Gesicht herumwedelte und ihn davon überzeugen wollte, dass er ein brünstiges Kaninchen war.

»Es ist eine äußerst konfrontative Methode. Das kann ziemlich hart sein. Eine Sitzung dauert sechzig bis neunzig Minuten. Man braucht dafür Ruhe, sonst hält man das nicht durch. Aber Sie haben sich inzwischen ja ein ruhiges Lebensumfeld geschaffen.«

Er nickte wieder. Die kognitive Verhaltenstherapie sollte also von einem Gewaltmarsch mit rollenden Augäpfeln abgelöst werden, auf Empfehlung der WHO. Who the fuck …?

»Wenn ich nicht überzeugt davon wäre, dass das der richtige Weg für Sie sein könnte, würde ich Ihnen das niemals empfehlen, Niels«, sagte die Psychologin ernst.

Er kämpfte einen Kampf. Es gehörte zur Therapie, die eigenen Reaktionsmuster zu erkennen. Eins seiner unzähligen Symptome war das Misstrauen. »Den Gegner identifizieren, festhalten und entwaffnen.« So lautete sein selbstgewähltes Kommando.

»Das klingt … interessant … sehr interessant. Wenn Sie es mir empfehlen, dann werde ich es … gern … ausprobieren.«

Die Psychologin nickte zufrieden.

»Gut. Ich werde so schnell wie möglich alles Nötige in die Wege leiten. Sie bekommen eine gründliche Einführung, und es ist wichtig, dass Sie sich bei Ihrem Therapeuten hundertprozentig sicher fühlen.«

»Okay. Ich habe eine Frage.«

Die Psychologin nickte.

»Wäre es eher hilfreich oder schädlich, wenn ich beispielsweise an einen Ort zurückkehren würde, an den ich belastende Erinnerungen habe?«

»Aus der Zeit, als Sie im Ausland stationiert waren?«

»Nein, hier in Dänemark.«

»Wie weit in der Vergangenheit befinden wir uns?«

»Anderthalb Jahre.«

»Ich glaube nicht, dass das von Bedeutung wäre. Ihre Traumata sind viel älter. Was versprechen Sie sich davon?«

»Ich will Erinnerungen und Spekulationen mit der Wirklichkeit abgleichen.«

»Machen Sie das ruhig. Es wird Ihren posttraumatischen Stress sicher nicht wegzaubern, aber wenn es Ihnen anderweitig hilft, ist das doch wunderbar.«

Die Psychologin lächelte und sah zu der Uhr an der Wand. Nur noch wenige Minuten, dann konnte er aufatmen.

»Darf ich Sie zum Abschluss noch etwas Privates fragen? Mich würde nur Ihre Meinung interessieren … Es geht um meinen Sohn …«

»Natürlich, Niels.«

»Sie wissen ja, dass wir uns seit den Sommerferien letztes Jahr regelmäßig sehen. Aber es funktioniert einfach nicht.«

Die Psychologin hob die Augenbrauen.

»Ach ja? Ich dachte, es würde ganz gut klappen. Das haben Sie zumindest gesagt, als ich Sie das letzte Mal danach gefragt habe.«

Er zuckte bedauernd mit den Schultern.

»Das war gelogen. Oder Wunschdenken. Tut mir leid. Letztes Wochenende war Magnus bei mir. Ich komme einfach nicht ins Gespräch mit ihm. Ich komme nicht an ihn ran. Ich habe keine Ahnung, was ich noch tun soll.«

»Ich bin natürlich keine Kinder- und Jugendpsychologin, aber ich habe selbst drei Kinder. Zwei Töchter und einen Sohn. Ich bin sogar schon Oma. Wenn Sie mich fragen, ist es wie so oft im Leben: Wenn man sich zu sehr bemüht, dann steigt das Risiko zu scheitern. Bemühen Sie sich sehr?«

»Ich achte darauf, ihm genug Zeit und Raum zu lassen. Und mich nur vorsichtig und langsam zu nähern.«

»Was unternehmen Sie, wenn er bei Ihnen ist?«

»Wir verbringen viel Zeit in meiner Wohnung, aber manchmal machen wir auch einen Spaziergang in den Wald oder gehen in den Zoo. Einmal waren wir im Tivoli, aber bei großen Menschenmengen stoße ich an meine Grenzen.«

»Sehen Sie, genau das bremst Sie aus und drängt Sie immer weiter in die Isolation. Haben Sie sich schon mal überlegt, dass Ihr Sohn sich vielleicht schrecklich langweilt, wenn er bei seinem Vater ist?«

Er nickte. Ja, das hatte er.

»Aber ich dachte, dass es vor allem am Anfang wichtig ist, nicht ständig irgendetwas zu unternehmen. Damit wir uns kennenlernen können.«

»Waren Sie jemals zusammen im Urlaub? Oder zumindest ein paar Tage woanders als in … Ihrem Viertel?«

»Vangede …«

»Vangede, richtig. Und? Waren Sie?«

»Eigentlich nicht.«

»Warum versuchen Sie es nicht einfach? Ändern Sie den physischen Rahmen für Ihre Begegnungen. Tauschen Sie die äußeren Umstände gegen andere aus. Durchbrechen Sie das Muster, das ja offenkundig nicht funktioniert.«

»Also Urlaub, ja?«

»Oder etwas anderes. Nur ein paar Tage. Ein spürbarer Wechsel. Weg von Vangede. Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass es hilft, Niels, aber es könnte bei Ihrem Sohn eine neue Reaktion hervorrufen. Vielleicht sogar bei Ihnen beiden.«

 

Es war zehn Uhr abends. Er hatte auf seinem Stammplatz auf der Fensterbank gesessen und in Gedanken alles ein letztes Mal durchgespielt.

Die beleuchteten Fenster des Nachbarhauses zeichneten sich scharf gegen die pechschwarze Dunkelheit ab. Nur genau gegenüber waren die Fenster dunkel, wie an jedem Abend, nachdem man seine Nachbarin aus dem Haus getragen hatte.

Die Familie war gekommen, um ihre irdischen Hinterlassenschaften abzuholen. Der Hausmeister und ein paar Handwerker waren ebenfalls da gewesen. Die Wohnung war gestrichen worden. Jede Spur der lila Dame war unter weißer Farbe verschwunden.

Er schaute auf das Handy in seiner Hand. Grausame Erinnerungen. Wölfe. Neue Rahmenbedingungen für Magnus und ihn … Ein Roadtrip nach Jütland?

Er suchte die Nummer in den Kontakten und drückte auf »Anrufen«. Kurz darauf meldete sich die tiefe Stimme, die so charakteristisch war.

»Mossman.«

6.

Diese Nacht war schwarz wie Teer. Er brauchte die Taschenlampe, um sich zwischen Wildwechseln, Waldwegen und Wirtschaftsstraßen zurechtzufinden. Er blieb stehen und zögerte.

Das war die Stelle, oder nicht?

Beim letzten Mal hatte der Mond alles beleuchtet und ihm den Weg gezeigt. Deshalb war er jetzt ein wenig unsicher, obwohl er die Heide und den Wald wie seine Westentasche kannte. Er ließ den Lichtkegel schweifen. Doch, es war die richtige Lichtung in dem sonst so dichten Nadelwald. Ein kleines Areal, das irgendwann gerodet worden war, um als Lagerplatz für Baumstämme zu dienen.

Er knipste die Taschenlampe aus, um sich die Situation wieder vor Augen zu führen. Zum Glück hatte er keine Angst im Dunkeln. Im Gegenteil. Die Dunkelheit schützte ihn, wie eine warme Decke ein Kind. Angst machten ihm ganz andere Dinge. Vor allem die Stimme …

Aber obwohl ihn die dunkle Geborgenheit einhüllte, spürte er ein Zittern tief unten im Magen. Er sah jetzt ganz deutlich vor sich, was er in jener Nacht beobachtet hatte.

Ein leuchtendes böses Auge, mitten auf der Stirn einer schwarzen Gestalt, die sich keuchend und schwitzend in die Unterwelt gegraben hatte, um ein Geheimnis mit in die Tiefe zu nehmen und es dort vor dem Tageslicht und allen Menschen zu verstecken.

Vorsichtig ging er ein paar Schritte näher und machte die Taschenlampe wieder an. Er hatte auf der anderen Seite der Lichtung gelegen. Der Lichtkegel glitt über einen morschen Baumstamm. Dahinter hatte er sich in eine kleine Senke gekauert, am Rand einer riesigen Brombeerhecke, die sich von dem spärlichen Sonnenlicht nährte, das bis auf den Waldboden drang.

In jener Nacht war es beißend kalt gewesen, viel kälter als jetzt, aber der Winter war noch lange nicht vorbei. Es konnte immer noch Frost und Schnee geben.

Er leuchtete die Umgebung ab, versuchte die Entfernung der Fichten von seinem Versteck abzuschätzen und machte dann noch ein paar Schritte nach vorn. Hier musste es sein. Unter seinen Füßen.

Er schaute auf die Spitzen seiner Gummistiefel, wühlte mit dem Absatz ein wenig im Waldboden und blieb dann ganz still stehen. Genau hier, mindestens einen Meter unter ihm, lag sie, die Leiche. Einst ein lebendiger Mensch, jetzt tot, verwesend, bedeckt von einer dicken Schicht Erde. Ein seltsamer Gedanke. Weit weg von einer Kirche, weit weg von den gewundenen Pfaden aus feinem Kies und ohne Grabstein, nur eingerahmt von hohen Fichten.

War es ein Mann oder eine Frau? Jung oder alt? Und warum hatte es so kommen müssen, wie es gekommen war? Was hatte er oder sie getan? Oder nicht getan?

Er hatte befürchtet, dass die Stimme ihm befehlen würde zu graben. So lange zu graben, bis er die Leiche gefunden hatte. Er hätte Tage gebraucht, um die Stimme zu besiegen, sie zum Schweigen zu bringen und sein inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Aber der Stimme war die Leiche offenbar egal. Deshalb konnte er hier stehen, und nur die Erinnerung an das böse, leuchtende Auge zwickte ihn in der Magengrube.

Seit jenem Abend hatte ihn das Gesicht des Mannes jede Nacht gequält. Er war sich sicher, dass er diese Züge kannte. Dass er sie schon irgendwo gesehen hatte. Aber es wollte ihm einfach nicht gelingen, die hartnäckige, bohrende Erinnerung einzuordnen.

Der Mann war schon älter gewesen, älter als er selbst. Und er hatte so schwer mit dem Spaten geschuftet, dass sein erhitzter Monsterkörper dampfte.

Er ging auf die Knie und fegte den Teppich aus Laub, Moos und braunen Nadeln beiseite. Er bohrte die Finger in die Erde. Sie war locker. Lockerer, als sie sein müsste. Aber er konnte trotzdem keinen Kontakt zu dem armen Menschen dort unten herstellen. Er hatte immer noch keine Ahnung, ob es ein Mann oder eine Frau war. Vielleicht eine Prinzessin mit goldenem Haar, die in der Tiefe frierend darauf wartete, wieder zum Leben erweckt zu werden. Und dass einer wie er kam, ein Prinz, der sie aus der Unterwelt zurückholte …

Nein, solche Geschichten nannte man Märchen. Geschichten, wie Hans Christian Andersen sie geschrieben hatte. Aber an dieser gerodeten Lichtung und den schweigenden schwarzen Fichten war nichts märchenhaft.

Er wusste nicht so richtig, warum. Er wusste nur, dass ihn irgendetwas hierhergetrieben hatte. Vielleicht wollte sich etwas in seinem Inneren vergewissern, dass das, was er gesehen hatte, auch tatsächlich passiert war. Dass es nicht nur ein böser Traum gewesen war.

Bisweilen fiel es ihm schwer, zu unterscheiden, was Wirklichkeit und was seiner Fantasie entsprungen war. Sein Gehirn war manchmal so vollgestopft mit Gedanken, dass er fast Angst bekam, es könnte explodieren.

Gewissheit … Jetzt hatte er es mit allen zehn Fingern in der Erde gespürt. Es waren reale Gedanken, die ihn seit jener Nacht im Mondlicht verfolgten. Es war ein echtes Erlebnis gewesen und kein Albtraum. Diese Gewissheit war gut. Sie beruhigte ihn.

Nur eine Sache musste er sich immer wieder einschärfen: Kein Wort darüber zu niemandem. Niemals.

Sorgfältig deckte er die nackte Erde wieder zu. Richtete sich auf und blieb noch einen kurzen Augenblick stehen, um sich von dem unbekannten Leichnam zu verabschieden. Dann drehte er sich um und machte sich auf den langen Heimweg.

7.

Sie standen am Kofferraum und zogen ihre Gummistiefel an. Er hatte ein Auto für ihren Kurztrip gemietet, einen kleinen Opel. Es war Montag in der Woche der Winterferien, die das halbe Land entvölkert hatte, sodass die Fahrt nach Brande über Seeland und Fünen problemlos und schnell gegangen war.

Ein großer Teil der Dänen war bereits mit Skiern an den Füßen in den nordischen Bruderländern Norwegen und Schweden angekommen. Weitere Horden pilgerten mit Kurs auf die alpinen Pisten in Österreich, Frankreich, Italien oder der Schweiz über die deutschen Autobahnen.

Er dagegen stand mit Magnus auf einem Waldweg im schwarzen Matsch. Es hatte aufgehört zu regnen, aber das Wasser tropfte noch von den Fichten und Büschen. Die Luft war kalt, obwohl es deutlich über null Grad war.

Er betrachtete prüfend den Gesichtsausdruck seines Sohnes. Der Junge hatte lautstark protestiert, als er das Programm für die Winterferien erfahren hatte. Er hatte seiner Mutter noch nicht verziehen, dass auf ihrer Reise nach New York für ihn kein Platz gewesen war. Es handelte sich offenbar um einen Trip, zu dem sie von der Firma ihres Mannes eingeladen worden war, halb Urlaubs-, halb Geschäftsreise.

Während der Fahrt hatte Magnus die meiste Zeit in sein iPad vertieft neben ihm gesessen, aber sie hatten sich auch ein bisschen unterhalten. Über Skifahren und Strandurlaub. Sein Sohn hatte anscheinend mit beidem Erfahrung, aber er bevorzugte die Malediven mit Taucherbrille und Schnorchel. Und das, obwohl es »in Val Thorens fantastische Loipen gibt« …

Für einen kurzen Moment erinnerte er sich daran, wie er und Birgitte vor hundert Jahren – frisch verliebt – zusammen mit drei befreundeten Paaren in einem Reisebus nach Österreich gefahren waren, nach Zell am See. Mit furchtbaren Frisuren, türkisblauen Skianzügen und Après-Ski bis zum Umfallen.

Hätte damals jemand eine Glaskugel aus der Tasche gezogen und ihm gesagt, wie sein Leben später verlaufen würde, wäre er vor Lachen in den Schnee gefallen.

»Hier hast du gewohnt?«

Magnus sah sich um, zutiefst skeptisch, und nickte dann in Richtung der verkohlten Ruine, die eine Zeitlang sein Zuhause gewesen war, als er dem alten Johannes Fisch bei den Teichen und im Wald geholfen hatte.

»Ja, hier habe ich gewohnt.«

Magnus sagte nichts.

Er fühlte sich wie ein Idiot. Die Bestätigung allein kam gegen die gerunzelte Stirn seines Sohnes nicht an.

»Als ich hier wohnte, war das ein hübsches Haus. Nicht groß, aber meins. Und sehr gemütlich.«

Dass hinter der Wandverkleidung Ratten gehaust hatten und das Dach so löchrig gewesen war, dass es einzustürzen drohte, behielt er für sich. Und auch, dass er eine junge Krähe in einer Pappschachtel in der Küche durchgefüttert hatte.

Würde er all diese Dinge erzählen, würde er sich damit meilenweit vom sicheren Gleis der Normalität entfernen. Es war ein Bild, das er seinem Sohn lieber nicht vermitteln wollte.

»Du hast gesagt, wir würden zu einer Fischzucht fahren«, sagte Magnus verwirrt. »Aber hier sind gar keine Fische.«

»Die Teiche sind ein Stück den Weg hinunter.«

»Und was hast du hier gemacht?«

»Ich habe dem Besitzer der Fischzucht mit den Fischen und im Wald geholfen.«

»Hast du die Fische gefüttert?«

»Ja, Fische muss man füttern. Und Bäume müssen gefällt werden.«

Magnus nickte nachdenklich.

»Was waren das für Fische?«, fragte er dann.

»Forellen.«

»Ich hab schon mal eine Forelle gesehen. In dem großen Aquarium in Kastrup.«

»Nicht weit von hier fließt übrigens ein Fluss. Der Skjern Å, kennst du den?«

Magnus schüttelte den Kopf.

»Das ist der wasserreichste Fluss in Dänemark, also der, in dem am meisten Wasser fließt, aber der Gudenå ist der längste. Hast du von dem schon mal gehört?«

»Vom Gudenå? Ja. Aber von dem anderen nicht.«

»Im Skjern Å gibt es Lachse. Ich habe manchmal geangelt, als ich hier wohnte, aber ich habe nie etwas gefangen.«

»In dem Aquarium waren auch Lachse.«

»Schöne Fische. Echte Kämpfer, wenn man einen an den Haken bekommt.«

»Lachs ist lecker. Wir essen oft Lachs. Ich liebe Lachs.«

»Ich kann dir ja irgendwann mal zeigen, wie man angelt. Dann kannst du deinen eigenen Lachs fangen.«

»Ja, vielleicht …«

Nur eine kurze Unterhaltung. Aber immerhin eine Art Perspektive. Ein warmes Gefühl durchströmte seinen Körper. Es war schön zu merken, dass …

»Was machen wir hier, Niels? Sind wir nur hergekommen, weil du hier mal gearbeitet hast?«

Er steckte den unerwarteten Schlag in die Magengrube weg, ohne zu schwanken.

»Ich dachte mir, wir könnten uns einfach ein bisschen umsehen. Es lag ja sozusagen auf dem Weg, oder? Komm!«

Gemeinsam gingen sie zu dem abgebrannten Haus. Die Mauerreste und Dachplatten sahen aus, als wären sie erst letzte Nacht eingestürzt. Und irgendwo darunter lag der verschüttete Zugang zu dem kleinen Keller, von wo aus er in seinen Tunnel geflüchtet war.

Das alles war schwer vorstellbar. Obwohl er sich der Bedrohung rund um die Uhr bewusst gewesen war und das ganze Gelände mit Überwachungskameras versehen hatte, war dieser Ort damals eine friedliche Insel in seinem chaotischen Leben gewesen.

»Und hier hast du wirklich gewohnt? Wann war das?«, fragte Magnus und sah ihn ungläubig an.

»Das ist noch gar nicht lange her, nur ein paar Jahre. Ich war gern hier. Wie gesagt …«

Magnus rümpfte die Nase. Wahrscheinlich hatte er dem Jungen gerade endgültig den Beweis dafür geliefert, dass sein Vater ein Spinner war.

»Warst du dabei, als es gebrannt hat?«

»Nein, nein. Gebrannt hat es erst, nachdem ich weg war.«

»Warum?«

»Das weiß ich auch nicht. Vielleicht ein Problem mit der Elektrik. Die Leitungen waren ziemlich alt und marode.«

 

Er hörte, wie der Alarm losging. Sofort sprang er aus dem Bett, riss die Schranktür auf und sah auf den Bildschirmen, wie der Feind aus allen Richtungen durch das Unterholz näher kam. Acht von zwölf Lampen blinkten. Die Gestalten trugen schusssichere Westen und Nachtsichtgeräte. Sie waren mit Automatikwaffen ausgerüstet. Blitzschnell zog er sich an, schnappte sich seine Pistole und den kleinen Rucksack und rannte die Treppe hinunter.

 

Es war keiner der üblichen, messerscharfen Flashbacks, die ihn am helllichten Tag paralysieren konnten. Es waren die schicksalhaften Minuten, in denen er erneut zur Flucht gezwungen worden war. Er hörte nur die Geräusche und sah die Bilder vor sich, aber diese »Erinnerung« war nicht mit Unbehagen verbunden. Vielleicht war sie noch zu frisch?

»Das ist ja nur ein alter Trümmerhaufen. Können wir gehen? Wo sind die Fischteiche?«

»Ein Stück den Feldweg hinunter, aber stell dich besser darauf ein, dass du keinen einzigen Fisch sehen wirst, Magnus.«

»Warum nicht?«

»Der Besitzer ist tot. Wer sollte sich um die Fische gekümmert haben?«

»Ist er gestorben, als du noch hier warst?«

»Nein, danach. Ich habe es von einem Bekannten erfahren. Er ist krank geworden. Er war alt.«

Sie liefen den Feldweg entlang zu Fischs kleinem Haus und den Teichen. Das Tor der Maschinenhalle hing nur noch an einer Angel, und es fehlten einige Wellblechplatten. Weiter rechts konnte er die Reste des offenen Schafstalls erahnen, in dem er damals in der Silvesternacht im Stroh gelegen hatte. Bei einem Sturm war eine große Fichte entwurzelt worden und in den Schuppen gestürzt.

Für einen kurzen Augenblick spürte er Kälte im ganzen Körper und glaubte, den Schafsmist riechen zu können. Ihm war gar nicht bewusst gewesen, dass Silvester war, bis über einem der benachbarten Höfe plötzlich ein Feuerwerk aufstieg.

Magnus lief vor ihm her zu den kleinen Fischteichen und stellte sich an den Rand des ersten.

Er legte seinem Sohn eine Hand auf die Schulter, als er bei ihm angekommen war.

»Ich kann nichts sehen. Und du, Niels?«

»Ich auch nicht. Sie sind sicher gestorben oder geschlachtet worden.«

»Geschlachtet? Werden Fische geschlachtet?«

»So nennt man das, wenn man in dieser Größenordnung Fische züchtet.«

»Ich schaue mal in den anderen nach.«

»Mach das.«

Magnus rannte los. Er selbst ging langsam weiter zu dem weiß gekalkten Haus. Die Tür stand sperrangelweit offen, und fast alle Scheiben der Sprossenfenster waren zersplittert. Er warf einen Blick durch eines der Fenster. Die Einrichtung war größtenteils zerstört. Es sah aus, als hätte jemand eine Party gefeiert. Überall lagen leere Bierdosen herum.

An der Mauer neben der Haustür lehnten ein paar Wellblechplatten. Vermutlich stammten sie vom Dach der Maschinenhalle. Er ging zur Tür, aber dann zögerte er. Weil er sich wie ein Eindringling fühlte? Er wusste nicht, ob er …

Da hörte er einen lauten, scharfen Knall.

Instinktiv warf er sich durch die Türöffnung, landete hart auf dem Betonboden des kurzen Hausflurs, rollte herum, kam auf die Knie und suchte hinter der Mauer Deckung.

»Bravo 16, hier ist Bravo 24. Feindkontakt! Feuer von einem Dach ganz im Süden von Compound T3M7. Kampf vermeiden und abwarten. Nehmt die Hintertür zur Landezone. Kommen.«

»16, verstanden, Ende.«

Draußen war alles still. Totenstill. Vorsichtig spähte er um die Ecke. Vor dem Haus stand sein Sohn und starrte ihn mit großen Augen an.

»Was ist denn jetzt los? Das war doch nur ein Stein!«, rief Magnus.

In der Hand hielt er einen weiteren Stein, einen wie den, den er gerade mit aller Kraft gegen die Wellblechplatten geschleudert hatte.

»Warum bist du so ängstlich, Niels?«

Oxen richtete sich auf, und nach wenigen großen Schritten stand er direkt vor seinem Sohn.

»Papa! Wann kapierst du das endlich? Papa! P-A-P-A. Ist das wirklich so schwer?«

Magnus sah schockiert aus.