p¡r@t€Z - Jo L.L. Roger - E-Book

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Jo L.L. Roger

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Beschreibung

Carl ist ein New Economy Entrepreneur der anderen Art. Während die Unternehmer der späten 90er Jahre ihre Vorstellungen des digitalen Lebensstils mühsam in die Realität umsetzen, geht Carl den direkten, den einfachen Weg. Bereits als Schüler taucht er mit seinen Freunden in die faszinierende Welt des Internets ein. Die gemeinsamen Aktivitäten der Gruppe besitzen jedoch ein entscheidendes Handicap: Sie sind illegal. Egal ob es sich um Videospiele, Musik, Erotik oder Kinofilme handelt, er erkundet mit seiner Lebensgefährtin die vielfältigen, unbekannten Facetten der Onlinewelt. Dabei bleiben die beiden nicht unbemerkt. Der unersättliche Drang nach Neuem wird Carl schließlich zum Verhängnis. Obwohl sein Schicksal besiegelt scheint, erhält er eine unerwartete Offerte, die sein Leben grundlegend verändern wird.

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Seitenzahl: 1085

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Ähnliche


Index

Titel

Copyright

Widmung

Die Lunte

0b0000001: [Heimatplanet]

0b0000010: [AmphiPlex]

0b0000011: [Piratenschatz]

0b0000100: [Party]

0b0000101: [Die Filmpremiere]

0b0000110: [Der Pausenraum]

Tage der Unschuld

0b0000111: [Die Unschuldigen]

0b0001000: [LAN-Party]

0b0001001: [Von Katzen und Atomen]

0b0001010: [Business unusual]

0b0001011: [Untauglich]

0b0001100: [Think big]

0b0001101: [Ladies]

0b0001110: [Wake Up! ´96]

0b0001111: [Assembly ´96]

0b0010000: [Upgrades]

0b0010001: [Verkaufte Körper]

0b0010010: [Shop & Go]

0b0010011: [Silver Screen]

0b0010100: [Die Friedensverhandlungen]

0b0010101: [Der wilde Osten]

0b0010110: [Digitale Weihnacht]

0b0010111: [Julias Spielchen]

0b0011000: [Release Group]

0b0011001: [Import & Export]

0b0011010: [Der Senior Vice President]

The pirate business

0b0011011: [Zuhause]

0b0011100: [Eine neue Welt]

0b0011101: [Familienbande]

0b0011110: [Lernen fürs Leben]

0b0011111: [Abenteuer]

0b0100000: [New Economy]

0b0100001: [Prag]

0b0100010: [Angst]

0b0100011: [Ars erotica]

0b0100100: [Coded Anti-Piracy]

0b0100101: [Kuhhandel]

0b0100110: [Beginn einer Reise]

0b0100111: [Go East]

0b0101000: [Cayman Islands]

0b0101001: [Kopf in der Schlinge]

Seitenwechsel

0b0101010: [Afterparty]

0b0101011: [Geheimnisse]

0b0101100: [Markt & Wirtschaft]

0b0101101: [Smoke & Mirrors]

0b0101110: [Wake Up! ´01]

0b0101111: [Einsamkeit]

0b0110000: [Freundschaft?]

0b0110001: [Der Verräter]

0b0110010: [Eldorado]

0b0110011: [Honeypot]

0b0110100: [Steuererklärung]

0b0110101: [Beste Freunde?]

0b0110110: [No business like show business]

0b0110111: [Comicfest]

0b0111000: [Gedanken am See]

0b0111001: [Die Flucht]

0b0111010: [Expansion]

0b0111011: [Spurensuche]

0b0111100: [Größenwahn]

0b0111101: [Austausch]

0b0111110: [Raport]

0b0111111: [Freiraum]

0b1000000: [root]

0b1000001: [Operation Buccaneer]

0b1000010: [Verbrannte Erde]

0b1000011: [Prager Winter]

0b1000100: [Stunde der Wahrheit]

0b1000101: [Metadaten]

0b1000110: [Im Auge des Hurrikans]

0b1000111: [Wahre Freundschaft!]

0b1001000: [Abschlussarbeit]

Auf der Planke

0b1001001: [Die eigene Filmpremiere]

0b1001010: [Unbequeme Wahrheiten]

0b1001011: [Dreißig Silberstücke]

0b1001100: [Die Versuchung]

0b1001101: [Operation Fastlink]

0b1001110: [Reise ins Ungewisse]

0b1001111: [Wie in schlechten Tagen]

0b1010000: [Der zweite Kontakt]

0b1010001: [Das Urteil]

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by

Jo L.L. Roger

Copyright © 2015 Jo L.L. Roger

All rights reserved.

Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN 978-3-7375-6351-2

[email protected]

PGP Key-ID: 942C81B5

Version: 3.2.4-x18ee

Empfohlener Font: Palatino

für Yvonne K., die Gütige

when i look into your green blue eyes

there was the feeling of the rising sun in my heart

when i hear your gentle voice

there was the sound of music in my ears

when i smell your perfume

there was the breath of snow white roses in my nose

when i see your light brown hair

there was the hope to touch it

when i see your bright red cheeks

there was the wish to make you smile

when i see your sweet red lips

there was the desire to kiss them

when i see your breasts

there was the lust to hold you close to my heart

i can speak to you but my feelings can not turn into words for you

Die Lunte

0b0000001: [Heimatplanet]

Brigitta starrt konzentriert auf den Computermonitor. Ihre zierlichen Finger wandern im Halbdunkel flink über die Tastatur. Eilig tippt sie Befehle in eine Kommandozeile. Auf den Brillengläsern spiegeln sich endlose Buchstabenkolonnen, die über den Monitor huschen. Sie hält kurz inne, greift zu einem Glas Orangensaft und gönnt sich einen kräftigen Schluck. Ungeduldig wartet sie auf den PC. Die trockene, warme Luft und das monotone Surren der Computer zerren an ihrer Konzentration. Sie gähnt behaglich und fährt sich durch die kinnlangen blonden Haare. Mit einer nervösen Handbewegung rückt sie den Haarreif zurecht. Nachdem der Cursor in der Kommandozeile erwartungsvoll blinkt, tippt sie eine kryptische Befehlszeile. Die junge Frau zögert einige Augenblicke. Aufmerksam kontrolliert sie die Eingabe nochmals. Sie korrigiert einen Tippfehler, erst dann schickt sie den Befehl ab. Behutsam schiebt sie die Tastatur unter den Monitor und rutscht mit dem Bürostuhl zur Seite. Mit zitternden Fingern greift sie zur Tastatur und der Maus des benachbarten Rechners. Brigitta beendet den Bildschirmschoner, gibt das Passwort ein und loggt sich in den Internet Relay Chat ein. Mit mehreren Mausklicks öffnet sie verschiedene Chatkanäle. Innerhalb weniger Momente folgt sie den laufenden Unterhaltungen unzähliger anderer Internetnutzer. Bereits nach den ersten Fetzen der Konversation zeichnet sich ein sanftes Lächeln auf ihrem jugendlichen Gesicht ab. Sie tippt einige Worte zur Begrüßung in das Fenster und durchkämmt weitere Kanäle nach bekannten Namen. Da sie dort keinen ihrer Freunde online findet, wirft sie einen Blick auf die Uhr. Das kleine Fenster in der Ecke des Monitors zeigt 4:47h.

Brigitta steht auf und streckt sich. Barfüßig geht sie zum entfernten Ende des Schreibtischs, der die gesamte Breite des Raums einnimmt. Sie greift zu einem schwarzen Sweatshirt, das sie über den nackten Oberkörper zieht. Es reicht ihr beinahe bis zu den Knien. Auf dem Rückweg zum Stuhl streift sie den Haarreif zurück und legt ihn neben die Tastatur. Sorgfältig fährt sie sich durch die Haare und versteckt einzelne Strähnen hinter den Ohren. Ungeduldig wirft sie einen Blick auf den Fortschrittsbalken in der Kommandozeile. Langsam füllt sich dort Zeile für Zeile mit Pünktchen, die ihr dezent andeuten, wie schnell das Programm vorankommt. Nach einem wohligen Gähnen leert sie den Orangensaft. Brigitta setzt sich wieder an den Schreibtisch. Die Wartezeit überbrückt sie mit einem ausgiebigen Streifzug durch die unterschiedlichsten Chatkanäle. Sie greift zu einem blanken CD-Rohling, den sie auf ihren Zeigefinger steckt. Gedankenverloren folgt sie den meist belanglosen Unterhaltungen, während sie den Rohling um den Finger kreisen lässt.

Carl öffnet die Tür zum Computerraum. Brigitta stoppt die Bewegung der Finger für einen Moment. Ihre Augen bleiben auf die Monitore fixiert. Nur mit Shorts bekleidet nähert er sich behutsam dem Schreibtisch. Er hält Kaffee und Tee in den Händen. Wortlos stellt er ihr eine Tasse Earl Grey neben die Tastatur.

„Danke!“, erwidert sie.

Der Hüne beugt sich nach vorne, legt seine Hand sanft auf ihre Schulter und küsst sie mehrmals zärtlich in den Nacken. „Wie weit bist du mit dem Release?“

„Bin bereits am Packen.“ Brigitta streckt sich. „BlitzKey hatte den Crack innerhalb einer Stunde fertig“, antwortet sie schläfrig.

„Wow! Er ist inzwischen ziemlich fit.“

„War diesmal nicht allzu schwer. Der Publisher verwendet den identischen Algorithmus der Betaversionen. Nur die Zufallszahl für den Schlüssel hat sich geändert.“

Carl stößt einen kurzen Lacher aus. Während Brigitta vorsichtig an ihrem Earl Grey nippt, wirft er einen Blick auf die kleinen Schwarz-Weiß-Monitore an seinem Ende des Schreibtischs. Sorgfältig kontrolliert er die Bilder der Überwachungskameras, auf denen sich die Konturen des Vorgartens und der Auffahrt des Reihenhauses abzeichnen. Carl riecht an seiner Tasse und inhaliert den Duft des schwarzen Gebräus, bevor er den ersten Schluck genießt.

„Wieso bist du so früh wach?“, fragt sie.

„Konnte nicht mehr schlafen.“

„Du wirst heute Abend hundemüde sein.“

„Mach dir keine Sorgen, mein Engelchen. Es ist nicht das erste Mal.“

„Dieses Mal sind aber ziemlich viele Leute dabei. Auch Security!“

„Das macht die Sache nur spannender“, flüstert er ihr ins Ohr.

„Und falls es nicht klappt?“

„Dann klappt es nicht und ich besorg uns die Kopie nächste Woche, wenn alles wie gewohnt läuft und sich niemand mehr dafür interessiert.“

Brigitta nickt zögerlich. Da sie bemerkt, dass ihr Programm mittlerweile vollständig ausgeführt worden ist, drängt sie ihren Freund sanft zur Seite und greift nach der Tastatur. „Oki! Wir sind so weit.“

„Es ist dein Release“, erwidert er aufmunternd und überlässt ihr den gesamten Platz vor dem Monitor. Die Finger fliegen erneut über die Tasten. Sie dupliziert die frisch erzeugten Dateien, startet den Upload auf einen FTP-Server und sendet erste Pakete ins Usenet. Hektisch rutscht sie zwischen den beiden Rechnern hin und her. Sie öffnet das CD-Laufwerk und schiebt den unbenutzten Rohling, mit dem sie ihre Finger beschäftigt hat, in das Gehäuse unter dem Schreibtisch. Nach einigen Mausklicks und Eingaben auf der Tastatur erklingt das sonore Schnurren des Laufwerks. Carl rollt mit dem Bürostuhl gemächlich zum Drucker, der zwischen dem Schreibtisch und einer Reihe IKEA-Regale steht. Routiniert legt er einen Bogen mit runden Etiketten ein. „Papier ist drinnen“, ruft er seiner Freundin zu. Sie antwortet ihm mit einem Mausklick, der den Drucker in Bewegung setzt. Er stößt sich mit dem Fuß von der Wand ab und rollt zurück zu den Computern. Unterdessen verbreitet sie den Titel und die Beschreibung des gecrackten Spiels in verschiedenen Chaträumen. Sofort bedanken sich einige der Anwesenden für die Software und beglückwünschen sie zum erfolgreichen 0-day Release.

„Herzlichen Glückwunsch“, gratuliert er.

„Liegst trotzdem vorne“, erwidert Brigitta, als sie aufsteht, um das bedruckte Label aus dem Drucker zu holen. Sorgfältig beklebt sie die frisch gebrannte CD und packt sie in eine Plastikhülle. Carl schaltet die Monitore aus. „Lass uns ein wenig kuscheln.“

„Gerne!“

Auf dem Weg nach draußen legt sie die CD zu den Hunderten anderen ins Regal. Er öffnet die Tür, lässt ihr aber den Vortritt. Brigitta nimmt seine Hand und schlendert mit Carl zurück ins gemeinsame Schlafzimmer.

* * *

Carl sitzt in schwarzen Shorts und T-Shirt vor einem Power Mac im Computerraum. Er schiebt ein Stück kalte Pizza in sich hinein, während er am Monitor ein Video begutachtet. Hin und wieder stoppt er die Wiedergabe, zoomt in den Film und kontrolliert die Qualität der Aufnahme. Unzufrieden legt er das angebissene Pizzastück beiseite, wischt die fettigen Finger am T-Shirt ab und greift zur Tastatur. Zielsicher navigiert er durch die Menüs des Programms und verändert einige Einstellungen. Gekonnt hellt er das matschige Videobild auf und schärft es ein wenig nach. Durch die Timeline des Videos hangelt er sich zu den einzelnen Szenen des Films. Zufrieden gönnt er sich einen Bissen Pizza und startet die Wiedergabe. Während Carl den letzten Rest seines Stücks verschlingt, rollt er gemächlich mit dem Bürostuhl zum PC in der Mitte des Schreibtischs. Aus den Boxen neben dem Monitor erklingen nach einigen Momenten entspannende Trance Rhythmen. Sanft stößt er den Bürostuhl vom Tisch ab. Mühelos gleitet er ans andere Ende des Schreibtischs, unter dem ein Kühlschrank steht. Ohne aufzustehen, öffnet er dessen Tür und greift nach einer Flasche Afri Cola.

Gelangweilt betrachtet er den Film, in dem sich gerade ein Pärchen leidenschaftlich küsst. Ein kurzer Blick auf die Timeline verrät ihm, dass dies das Happy End sein muss. Carl wippt ungeduldig auf dem Stuhl vor und zurück, bis das Bild abblendet. Mit einer flinken Handbewegung stoppt er die Wiedergabe, geht einige Bilder im Video zurück und schneidet den Rolltitel ab. Zufrieden öffnet er das Exportmenü des Schnittprogramms. Er wählt dort die benötigten Einstellungen aus, damit der Film auf eine einzelne CD passt. Während er den Dialog bestätigt, hört er auf dem Korkboden Schritte. Gemächlich dreht er sich zu Brigitta, die ihre feuchten Haare abtrocknet. Nackt geht sie auf ihn zu. „Wie weit bist du mit dem Streifen von gestern gekommen?“

„Ich transcodiere gerade das Video. Die Bearbeitung hat leider ewig gedauert, da die Aufnahme zu dunkel war.“

„Glaubst du, dass Vincent die neuen Kameras mitbringt?“, wundert sie sich, während sie mit dem Handtuch die letzten Wassertropfen von ihrem kindlichen Körper abtupft.

„Ich hoffe es. Wäre toll, wenn ich heute Abend eine Kamera mit besserer Aufnahmequalität hätte“, erwidert Carl. Er wirft einen kurzen Blick auf ihre dezenten Rundungen. „Du solltest häufiger in die Sonne gehen. Du bist käseweiß.“

„Na und? Ich bekomm mehr Sonne ab, als mir lieb ist.“

„Ein wenig Farbe steht dir.“

„Dir ist hoffentlich bewusst, dass du im Dunklen leuchtest?“

Er antwortet ihr mit einem unsicheren Lächeln. Zärtlich zieht er seine Freundin zu sich heran. Die Haustürklingel unterbricht den liebevollen Zungenkuss abrupt. Carl hält inne und blickt zu den Schwarz-Weiß-Monitoren. Enttäuscht löst er die Umarmung. Sie wirft das Handtuch über ihre Schulter und fährt ihm sanft durch die kurzen schwarzen Haare. „Ich geh mir etwas anziehen.“

„Bitte.“ Sehnsüchtig schaut er seiner Freundin hinterher, die mit grazilen Schritten im Schlafzimmer entschwindet, während er die Treppe zum Erdgeschoss nimmt.

Der dunkle Anzug, die gegelte Frisur und die Sonnenbrille in den dunkelblonden Haaren lassen Vincent wie einen Investmentbanker aussehen. Er wartet geduldig vor der Haustür, bis Carl öffnet. Die beiden jungen Männer begrüßen sich mit einem kräftigen Handschlag. „Guten Morgen!“

„Guten Morgen ist gut! Für mich ist’s mitten in der Nacht“, erwidert Vincent grinsend.

„Jetlag?“

„Du sagst es. Immerhin konnte ich im Flieger ein wenig vom verpassten Schlaf nachholen!“

„Wie war deine Asientour?“

„Großartig! Seoul ging so, Hong Kong war etwas stressig, aber Tokyo ist der absolute Hammer. Die Japse sind echte Freaks. Akiba wär’ genau euer Ding. Dort bekommst du sofort das Gefühl, dass München in der Dritten Welt liegt.“

Carl antwortet mit einem Lacher.

„Ich kann dir meine Beute zeigen.“ Mit einer Handbewegung deutet Vincent auf den Mercedes. Carl schlüpft in seine Birkenstocks und folgt dem früheren Schulfreund zur S-Klasse. Stolz präsentiert dieser Kartons und Plastiktüten mit Elektronik- und Computerausrüstung im Kofferraum. Eilig stopft er mehrere Kartons und Plastiktütchen in eine Sporttasche. Er hält inne und betrachtet ein Päckchen mit schrillem Aufdruck. „Hello Kitty ist nix für Brigitta?“

„Ist nicht ihr Fall.“

„Dann wird’s ein Geschenk für Mr. Pixel. Wahrscheinlich findet er Hello Kitty genauso cool wie den ganzen anderen Otaku Krempel, den ich unbedingt mitbringen sollte.“

Carl beginnt zu grinsen, während Vincent vergeblich mit dem Reisverschluss der Sporttasche kämpft. Gemeinsam heben sie die schwere Tasche aus dem Kofferraum und tragen sie behutsam ins Haus.

Brigitta sitzt in einem viel zu großen Sweatshirt an ihrem Linuxrechner. Geübt lässt sie zwei Qigongkugeln rhythmisch durch die Finger kreisen. Ohne das flinke Spiel mit den Kugeln zu unterbrechen, steht sie auf und nähert sich dem Arbeitstisch in der Mitte des Zimmers. Vincent und Carl packen dort die Sporttasche aus.

„Hallo, Kleines!“

Carl wirft einen neugierigen Blick auf seine Freundin, doch Brigittas Gesicht lässt keinerlei Reaktion auf die Begrüßung erkennen. Er kann nicht im Geringsten abschätzen, was gerade hinter ihren grünblauen Augen vorgeht.

„Hallo, Dickerchen!“, erwidert sie den Gruß.

Angespannt fokussiert Carl Vincents Gesicht. Dessen offensichtliche Reaktion ist für ihn viel leichter zu deuten als die seiner Freundin. Vincent setzt ein freundliches Grinsen auf. „Die japanische Küche ist wunderbar. Daran könnte ich mich jeden Tag überfressen.“

Brigitta reagiert mit einem dezenten Lächeln. Beinahe lautlos atmet Carl durch, während Vincent die Einkäufe ausbreitet. „Das ist die allerneueste Cam von Sony. Die kommt frühestens zu Weihnachten in den USA auf den Markt und bei uns vermutlich erst im nächsten Jahr. Richtig geiles Teil! Hab selbst schon ein bisserl damit herumgespielt. Die Aufnahmen sind großartig.“ Vincent schiebt den geöffneten Karton mit der Kamera zu Carl, der diese vorsichtig herausnimmt. Er taxiert ihr Gewicht behutsam mit den Händen. Nach einigen Momenten beugt er sich über die Videokamera, um den Geruch von frischer Elektronik einzuatmen. Sanft streichelt er über die Bedienelemente des technischen Wunderwerks.

„Hab auch einiges an Zubehör mitgebracht, aber nur das Hochwertige. Wäre sehr geil, wenn du das Teil heute Abend verwendest.“

„Das hoffe ich. Falls sie mit meinem Schleppi zusammenarbeitet, hat sie ebenfalls Premiere.“

„Für den Notfall habe ich euch noch einen ultrakompakten Laptop mitgebracht. Hab mir auch einen für mich geholt. Ist echt Spitze. Im Gegensatz zu deinem komischen Mädchen Computer läuft auch Windows drauf!“

Brigitta nimmt Vincent das Sony Notebook aus der Hand. Liebevoll fährt sie mit ihren Fingern über die elegante Tastatur, bis sie zum Netzschalter gelangt. „Gibt es dafür Linuxtreiber?“

„Keine Ahnung, danach hab ich nicht gefragt.“

„Schade. Die Größe gefällt mir. Die Tastatur fühlt sich angenehm an.“

„Kannst es gerne haben, falls dein Freund beim PowerBook bleibt.“

„Danke!“

Carl ignoriert Vincents Stichelei. „Was kostet uns der Spaß?“

„Lass den Scheiß! Du weißt doch, dass du die Sachen von mir umsonst haben kannst. Schließlich sind wir alte Freunde und Geschäftspartner.“

Carl beugt seinen langen Körper leicht nach vorne und stellt sich auf die Zehenspitzen, sodass er Vincent deutlich überragt. „Gerade deswegen will ich dafür bezahlen, damit wir das Zeug steuerlich absetzen können. Außerdem ist das Equipment ein klein wenig zu teuer, als dass ich dir dafür einen Gefallen schuldig sein möchte.“

Vincent weicht unbewusst einige Schritte zurück, wobei er ein unverständliches Brummeln von sich gibt. Carl entspannt seinen Körper. „Also, was willst du haben? Kannst mir gerne einen Freundschaftspreis machen!“

„Die beiden Cams sind im EK jeweils fünf, das Notebook zwei oder drei, müsste ich aber erst nachgucken. Der Kleinkram ist sicherlich noch ein Tausender.“

„Klingt schon vernünftiger“, antwortet Carl zufrieden. Er legt die Videokamera beinahe zärtlich in die Schachtel zurück, bevor er den Raum Richtung Treppenhaus verlässt. Vincent blickt ihm ratlos hinterher. Brigitta konzentriert sich unterdessen auf das neue Notebook, das sie vorsichtig in einer Hand hält, während sie mit der anderen auf der filigranen Tastatur tippt.

„Das gefällt dir? Hätte ich mir denken können, dass du darauf stehst.“

Brigitta zuckt bei Vincents Worten kaum merklich zusammen. Mit einem verlegenen Lächeln versucht sie, die Unterbrechung ihrer Konzentration zu überspielen. „Das Notebook ist ganz nett. Vor allem nicht so schwer wie mein alter Schleppi oder das PowerBook.“

„Ihr beide müsst unbedingt nach Tokyo, um in Akiba zu shoppen. Das ist das absolute Paradies für euch Computerfreaks.“

„Irgendwann vielleicht. Es wäre nicht allzu schlau, die Uni vor den Klausuren zu schwänzen.“

„Du darfst nicht immer alles so eng sehen! Entspann dich, genieß dein Leben und lass die Sau raus!“

„Sorry! Du verwechselst mich mit meiner Schwester. Die ist die Partymaus.“

„Tatsächlich? Wenn ich mir ansehe, wie du auf den LAN-Partys abgehst, kaufe ich dir das nicht ab“, kontert Vincent.

„Das ist auch etwas anderes“, erwidert Brigitta, die leicht errötet.

„Hier ist dein Geld“, unterbricht Carl die beiden.

„Rechnung und den Papierkram bekommst du, wenn ich den Jetlag hinter mir habe“, versichert Vincent.

„Keine Eile, solange wir die Angelegenheit wie Geschäftsleute regeln.“ Carl drückt Vincent ein Bündel Banknoten in die Hand, das dieser ohne nachzuzählen einsteckt.

„Wie laufen eure Shops im Moment?“

„Kann nicht klagen“, erwidert Carl.

„Du hättest sehen sollen, was ich bei meinem Abstecher nach Hong Kong alles entdeckt habe. Dagegen schauen wir beide richtig alt aus.“

„Ich habe nicht vor, mit dir im Fernen Osten zu expandieren. Deine Geschäfte in Tschechien sind mir bereits zu größenwahnsinnig.“

„Du musst das Ganze globaler sehen“, lacht Vincent. „Wir sollten wie damals zusammenarbeiten, damit wir auf dem Weltmarkt tätig werden können.“

„Nein!“, wirft Brigitta ein, obwohl sie sich noch immer auf den Laptop konzentriert. Er dreht sich zu ihr, doch sie ignoriert ihn.

„Wir haben damals alles geklärt, was es zu klären gibt und die Entscheidung steht noch“, ergänzt Carl.

„Ich wollte euch auch nicht überreden, aber wir waren früher ein großartiges Team.“

Carl richtet seinen Blick zu Boden.

„Dachte nur, dass wir dem Ganzen eine neue Chance geben könnten, wenn es bei euch gerade super läuft. Meine vielfältigen Kontakte in Asien sind mittlerweile auch nicht von schlechten Eltern.“

„Sorry. Im Moment gibt es keinen Grund, etwas am Status quo zu ändern.“

„Ich verstehe.“ Wortlos packt Vincent die letzten Kartons und Plastiktüten aus, die ihm Carl abnimmt und auf dem Tisch ausbreitet. Aus den Augenwinkeln beobachtet er ihn argwöhnisch. Dessen erschöpfte Miene wirkt dennoch fröhlich. Vincent drückt Carl einen letzten Beutel mit Videokabeln in die Hand. „Steht der Termin für die Party noch?“

„Falls heute Abend alles klappt, machen wir morgen den Videoabend.“

„Wunderbar, dann sehen wir uns morgen.“ Vincent schultert die Sporttasche und reicht Carl die Hand. Dieser antwortet ihm mit einem kräftigen Händedruck. „Wir sehen uns, Partymaus.“

„Bis dann, Dickerchen“, erwidert sie, ohne vom Display des Laptops aufzusehen.

„Bin ich wirklich so fett geworden?“, flüstert Vincent auf der Treppe.

„Ja.“

„Ernsthaft?“

„Ja.“

„Du bist mir ein toller Freund. Hättest es mir auch schonender sagen können.“

„Warum? Du hast nach der Wahrheit gefragt.“

Vincent brummelt einige unverständliche Worte vor sich hin. Als die beiden das Erdgeschoss erreichen, dreht er sich zu Carl. „Was ich vorhin wegen unseres Geschäfts gesagt habe, war übrigens mein völliger Ernst. Wir waren immer gute Partner und wir sollten auch in Zukunft wieder welche sein. Wäre echt schade, wenn ihr beide die Chance verpassen würdet.“

„Du hast Brigitta gehört.“

„Ja, ja, versteh schon.“

„Damit ist deine Frage hoffentlich endgültig beantwortet.“

Vincent wippt mit seinem Oberkörper ein wenig zur Seite. Carl sieht ihn mit ernster Miene an.

„Ich hab’s verstanden“, seufzt Vincent.

„Dann sehen wir uns morgen?“

„Ja, bis morgen. Du wirst das heute Abend bestimmt hinbekommen.“

„Selbstverständlich“, antwortet ihm Carl grinsend.

Vincent öffnet die Haustür und stapft zur S-Klasse. Am Gartentor dreht er sich nochmals zu Carl und deutet einen militärischen Salut an. Dieser erwidert die Geste, bevor er die Haustür schließt.

* * *

Auf dem Schreibtisch im Arbeitszimmer liegen Vincents unzählige Mitbringsel aus Südkorea und Japan. Brigitta kopiert Programme und Daten über das Netzwerk auf den Laptop. Mit leuchtenden Augen sitzt sie vor ihrem neuen Rechner. Carl betritt das Zimmer, hält aber kurz inne und beobachtet seine Freundin für lange Momente. Zwischen den Händen balanciert er ein eingeschweißtes Moleskine, das er mit einer Schleife umwickelt hat. Noch während er in seine Gedanken vertieft ist, bemerkt sie ihn an der Tür. „Ist irgendwas?“

„Nein. Ich wollte dir nur etwas geben.“

„Oki! Leg’s einfach auf den Schreibtisch. Ich guck es mir später an, wenn ich mit dem neuen Schleppi fertig bin.“

„Eigentlich wollte ich dir ein Geschenk machen, aber Vincent hat mir mit dem Laptop die Schau gestohlen.“

„Was wolltest du mir schenken?“

„Nichts Besonderes. Du warst letztens so verzweifelt, nachdem du dein kleines Notizbuch vollgeschrieben hattest.“

„Oh, ja!“

„Ich dachte mir, dass du vielleicht ein Neues brauchst. Daher habe ich dir eins mit Lesezeichen und einem Gummibändchen besorgt, damit die Seiten nicht beschädigt werden.“

Brigitta lächelt Carl verlegen an. Er überreicht ihr das Moleskine. Mit strahlenden Augen betrachtet sie das Büchlein. Behutsam packt sie es aus und fächert die Seiten durch die Finger. Neugierig streicht sie über das dünne Papier. „Danke! So ein Notizbuch habe ich immer gesucht, aber nirgendwo gefunden.“

„Gern geschehen.“

Bevor sie das Büchlein schließt, neigt sie ihren Kopf leicht nach vorne, um den dezenten Duft des jungfräulichen Papiers zu genießen. Hinter einem der Displays holt sie das alte Notizbuch hervor, aus dem sie ein kleines Plastiklineal und einen Kugelschreiber mit Metallclip herauszieht. Sorgsam legt sie das Lineal in das Notizbuch, steckt den Stift in den Buchrücken und klappt es zu. „Nimmst du die neue Cam mit?“

„Klaro! Ich will das Ding unbedingt ausprobieren.“

„Wann bist du zurück?“

„Keine Ahnung. Wenn’s dumm läuft, erst gegen drei oder vier Uhr.“

Brigitta setzt sich erneut vor den Laptop, um dessen Software nach ihren Wünschen zu konfigurieren. Wortlos greift Carl zum Rucksack, der in einem der Holzregale liegt. Er packt das PowerBook und die Kamera mit den zugehörigen Kabeln ein.

0b0000010: [AmphiPlex]

Unter dem Schild mit der Nummer des Tiefgaragenstellplatzes hängt eine bunte Metalltafel mit dem stilisierten Schriftzug AmphiPlex. Carl parkt den Audi A4 präzise davor ein. Er steigt aus, geht zum Kofferraum und holt eine Leinentasche. Den Rucksack und das zusammengeklappte Stativ lässt er im Fahrzeug zurück. Mit langen, aber ruhigen Schritten eilt er durch die Tiefgarage, die in kaltes Neonlicht getaucht ist. Anstatt den Fahrstuhl zu nehmen, öffnet er eine graue Stahltür mit dem Warnhinweis Notausgang alarmgesichert! Er folgt dem verwinkelten Gang, der vom fahlen Grün der Notbeleuchtung erhellt wird, bis er in ein breites Treppenhaus gelangt. Leichtfüßig nimmt Carl die gewienerten Granitstufen nach oben. Nachdem er zwei Etagen hinter sich gelassen hat, öffnet er eine weitere Stahltür mit der einschüchternden Warnung. Vorbei an verschlossenen Lagerräumen und den Toiletten für die Kinogäste erreicht er das weitläufige Foyer des AmphiPlex Kinopalasts.

Fasziniert betrachtet er die Heerschar von Technikern und Kinomitarbeitern, die Kabel verlegen, das Foyer aufwendig dekorieren und die Technik des Kinos auf Vordermann bringen. Einige Kollegen, die ihn bemerken, begrüßen Carl freundlich, andere sind so in ihre Arbeit vertieft, dass sie ihn nicht wahrnehmen. Zwischen dem geschäftigen Personal fällt ihm ein Grüppchen junger Damen in eleganter Kleidung auf, die sich um einen Stehtisch versammelt haben. Wie ein Haufen aufgescheuchter Hühner diskutieren sie miteinander vor einigen Kartons mit unbenutzter Dekoration. Carl hält sie zweifelsfrei für Angestellte des Filmverleihers. Diese Vermutung bestätigt sich, als er an der Gruppe vorbeischlendert und die Plastikausweise sieht, die die Frauen an ihren Blazern tragen. Ohne sie weiter zu beachten, geht Carl zum Kassenbereich am Eingang des Kinos. Er grüßt den Kollegen am Informationsstand mit einer dezenten Handbewegung und zieht seine Magnetkarte durch die Stechuhr, die daneben angebracht ist. „Hallo, Erik! Wie läuft es?“

„Ziemlich stressig.“

„Warum das? Ist doch keine außergewöhnliche Filmpremiere.“

„Nicht deswegen, aber die PR-Tanten vom Verleih schieben einen Aufstand, da ihnen die Europazentrale in London das falsche Promomaterial geschickt hat!“

„Hä?“

„Morgen Abend ist nicht nur Deutschlandpremiere des Films, sondern die allererste Premiere in Europa. Die Franzosen sind am Mittwoch dran, die Briten am Donnerstag. Wenn ich die Mädels richtig verstehe, dann haben wir die Deko mit den französischen Texten bekommen.“

Carl kann ein kurzes Kichern kaum unterdrücken. „Das ist eher blöd.“

„Was ich so mitbekommen habe, kommt wohl auch noch irgendein VIP aus den USA vom Mutterkonzern, sodass die PR-Tanten völlig panisch sind.“

„Dann wünsche ich dir viel Spaß mit denen.“

„Werde ich bestimmt haben.“ Erik deutet eine Würgegeste an.

„Hoffentlich haben sie die richtigen Filmkopien geschickt.“

„Die sollten passen. Flo hat die Kartons vorhin mit dem Obermotz von der Security abgeholt und beide waren ziemlich happy.“

„Dann wird’s ein entspannter Abend bei uns.“

„Schleich dich bloß in dein Kabuff, Herr Vorführer, und lenk uns hart arbeitendes Fußvolk nicht ab.“

Carl antwortet dem Kollegen mit einem frechen Grinsen, bevor er hinter einer Stahltür verschwindet. Nach weiteren Treppenstufen gelangt er in einen langen Korridor, in dem sich der Personalbereich des Kinos und das Büro der Theaterleitung befinden. Gemächlich schlurft er zur Tür am Ende des Gangs und klingelt. Artig dreht er sich zur Überwachungskamera. Nach einigen Momenten hört er ein Surren.

Im geräumigen Büro stehen sechs Schreibtische paarweise gruppiert, jeweils ausgestattet mit Computer und den üblichen Büroutensilien. Durch die Fenster wirft Carl einen kurzen Blick über die Dächer Münchens. An der gegenüberliegenden Wand steht eine Batterie von Monitoren, auf denen die Bilder der diversen Überwachungskameras des AmphiPlex zu sehen sind. „Servus!“, grüßt Carl beiläufig in den Raum.

„Hallo, Carl!“, ertönt er es hinter einem der Schreibtische. Ein schmächtiger Mann mit Ziegenbärtchen und Brille streckt seinen Kopf hervor.

„Hi, Jens!“

„Du bist morgen Abend bei der Premiere zugegen?“

„Ja.“

„Gott sei Dank! Wenigstens wird dann in der Vorführung nichts schiefgehen.“

Carl zuckt mit den Schultern. Er nimmt ein Funkgerät aus der Ladestation unter den Monitoren und fischt einen Schlüsselbund mit langer Metallkette aus dem Schlüsselkasten.

„Die Leute vom Verleih treiben mich gerade in den Wahnsinn, da sie uns die falsche Dekoration geschickt haben.“

„Erik hat so etwas erwähnt“, versucht ihn Carl vom Redefluss abzubringen.

„Das ist fürchterlich. Wir stehen als Kino wie die größten Deppen im Land da. Ich kann mir bereits lebhaft vorstellen, was die Filmpresse über uns schreiben wird. Schrecklich!“

„Ist nicht unsere Schuld, wenn es der Verleih vermasselt.“

„Das stimmt zwar, dennoch müssen wir es ausbaden. Da habt ihr es mit der Technik viel einfacher. Ihr Jungs löst eure Probleme jedes Mal.“

„Bei einer falschen Filmkopie können wir auch nichts machen“, klärt ihn Carl auf.

„Immerhin gebt ihr rechtzeitig Bescheid. Ihr seid immer auf Zack, wenn irgendetwas fehlt. Leider kann man das von den Kollegen am Infocounter nicht sagen. Die haben bereits letzte Woche gesehen, dass die Deko mit französischen Titeln angeliefert wurde! Letzte Woche! Glaubst du etwa, dass sich auch nur einer von denen darüber gewundert hat? Nein! Die haben das einfach ignoriert! Wie blöd kann man denn sein.“ Jens schüttelt den Kopf theatralisch, während er Carl beäugt.

„Oh!“, brummelt dieser pflichtbewusst.

„Jetzt tragen wir die Konsequenzen, indem wir uns vor der ganzen Welt blamieren.“

„Ich muss leider runter“, unterbricht er den Theaterleiter, „sonst gibt’s Haue vom Boss.“

„Ach ja! Wir sehen uns später. Ich bin heute die Spätschicht.“

„Bis dann.“ Carl verlässt das Büro.

Er zieht den Schlüsselbund aus der Hosentasche und sperrt in einem der Treppenhäuser eine graue Stahltür auf. Aus dem Halbdunkel hört er monotones Rattern der Filmprojektoren, sowie tiefes Brummen der Gleichrichter. Dazwischen nimmt Carl dumpfe Sprachfetzen seines Kollegen am anderen Ende des Raums wahr. Beim Durchqueren des Vorführraums atmet er den typischen Duft von Essig und Schmierfett ein. Während sich seine Augen noch an das Halbdunkel gewöhnen, geht er zielstrebig zum Regiebereich, der durch eine Glastür von den lärmenden Projektoren abgetrennt ist. An den dunkelblau gestrichenen Wänden stapeln sich schwarze Pappkartons mit Filmrollen, Türmchen von runden Metallbüchsen und Hunderte kleiner Schachteln mit den Werbespots. Carl bemerkt Flo, den groß gewachsenen, durchtrainierten Vorführleiter, vor der offenen Glastür zum Regiebereich. Dort unterhält er sich mit einem asiatischen Herrn, der einen Designeranzug trägt. Neben diesem steht ein weiterer Mann, der dem Gespräch aufmerksam folgt. In der Brusttasche des Asiaten steckt ein Plastikausweis mit Foto und dem Logo des Filmverleihs. Sein Kollege ist leger gekleidet und trägt seinen Ausweis am Gürtel. Auf dessen Sweatshirt prangt jedoch der Schriftzug Security. „Hallo!“, begrüßt Carl die Runde.

Der Vorführleiter dreht sich zu ihm und erwidert den Gruß. „Hey, Carl! Ich kann dir gleich unsere Gäste vorstellen.“ Er deutet zuerst auf den Asiaten. „Das sind Herr Yamanaka und Herr Johannson, die die Sicherheitsmaßnahmen während der Filmpremiere überwachen.“

Der Asiat verbeugt sich dezent vor Carl. „Sie dürfen mich Leonard nennen, es gibt keinen Grund förmlich zu sein.“

„Ich bin Walter!“, erwidert Johannson, während die beiden Hände schütteln.

„Wir reden gerade über die Sicherheitsvorkehrungen für die Filmkopien“, bringt Flo den frisch eingetroffenen Kollegen auf den neusten Stand, „da es sich bei diesmal zur Abwechslung mal um einen größeren Film handelt.“

„Es handelt sich hier um eine internationale Koproduktion. Daher müssen wir auf dieselben hohen Sicherheitsstandards wie in den Staaten achten“, fügt Leonard hinzu. „Insbesondere da es sich nicht nur um die Deutschlandpremiere, sondern um die Europapremiere des Films handelt.“

„Aha!“, antwortet Carl.

Flo deutet auf mehrere Stapel aus insgesamt achtzehn Filmkartons, die mit knallrotem Sicherheitsband umwickelt sind. „Du kannst gleich anfangen, die ersten Kopien zu koppeln. Ich kümmere mich währenddessen um das reguläre Kinoprogramm. Anstelle der normalen Spätvorstellung führen wir auf der unteren Ebene heute Nacht die technische Sichtung der Filmkopien durch.“

„Kein Problem“, erwidert Carl.

„Ich zeige unseren Gästen vom Verleih die Wege zu den anderen Sälen.“ Walter Johannson folgt dem Vorführleiter aus dem Raum in Richtung der Catwalks über dem Foyer, während Carl die Leinentasche in der Garderobe im Regieraum ablegt. Er tauscht sein schwarzes T-Shirt gegen ein schwarzes Polohemd mit dem blauen AmphiPlex Schriftzug. Leonard Yamanaka beobachtet unterdessen die Überwachungsmonitore, auf denen das Programm der verschiedenen Säle zu sehen ist.

„Sie wollen beim Koppeln der Filme zusehen?“

„Ich bitte darum, da es mir lieber ist, wenn ich persönlich kontrolliere, ob alle Rollen den Transport ins Kino unversehrt überstanden haben.“

Carl holt Arbeitshandschuhe aus dem Werkzeugregal neben den Monitoren und bedeutet Leonard ihm zu folgen. Er nimmt den obersten Filmkarton vom Stapel und trägt ihn trotz des hohen Gewichts einhändig zu einem der Umrolltische neben den Filmprojektoren. Gemeinsam mit Leonard öffnet er das Sicherheitsband und entfernt den Deckel des Kartons. Der Sicherheitsbeauftragte greift zur ersten Kunststoffbox und inspiziert die Siegel. „Wunderbar, die Versiegelung ist intakt!“, frohlockt er und deutet mit dem Finger auf den bunten Klebestreifen mit Hologramm. Er reicht Carl die Plastikbüchse und macht sich eine Notiz in seinen PDA. Carl bricht das Siegel und entnimmt die Filmrolle zur Inspektion. Rolle für Rolle prüfen sie die Filmkopie. Nachdem sie damit fertig sind, stapelt Carl die Filmrollen chronologisch neben dem Umrolltisch. Er nimmt die erste Rolle vom Stapel und legt sie auf die Arbeitsplatte des Umrollers. Behutsam spult er den Filmstreifen auf einen Kunststoffring, der in der Mitte des Filmtellers liegt. „Ich hoffe, Sie langweilen sich nicht. Das Zusammenkleben von so vielen Filmen wird eine Weile dauern.“

„Keine Sorge, das ist mein Job. Außerdem finde ich es immer wieder spannend, wie die Leute in den einzelnen Kinos mit den Filmkopien umgehen.“

„Sie sind häufig in Kinos?“

„Das ist Teil meiner Arbeit.“

„Dann hoffe ich, dass wir genauso professionell arbeiten, wie die Vorführer in Hollywood.“

„Das seid ihr!“ Leonard beginnt zu lachen. „Das liegt an der DeutschenGrundlichkeit.“

„Gründlichkeit“, korrigiert ihn Carl.

„Apologies, mein Deutsch ist leider etwas angerostet.“

„Sie sprechen sehr gutes Deutsch, besser als manche meiner Kollegen.“

„Danke.“

„Sie sind ursprünglich Japaner?“

„Nein. Meine Eltern kamen lange vor meiner Geburt in die Staaten.“

Carl stoppt die Filmrolle kurz vor dem Ende, schneidet das Endband ab und legt es mit der zugehörigen Plastikbüchse in den leeren Filmkarton. Mit geübten Handgriffen legt er die nächste Rolle auf die Arbeitsplatte, schneidet das Startband mit dem Countdown ab und klebt die beiden Filmstreifen präzise aneinander. Er überzeugt sich von der Haltbarkeit der Klebestelle und wickelt auch diese Rolle auf den großen Filmteller auf. „Wie haben Sie in den Staaten unsere Sprache gelernt?“

„U.S. Army. Ich war einige Jahre in Berlin stationiert.“

„Ich wünschte, mein Englisch wäre so gut wie Ihr Deutsch.“

„Du hast sicher sehr gutes Englisch in der Schule gelernt.“

„Das ist doch etwas anderes, als sich mit Muttersprachlern zu unterhalten.“

„Du bist jung und modern, da hast du höchstwahrscheinlich Internet zu Hause? Dort kannst du sehr viele Native Speakers kennenlernen.“

„Das könnte ich mal ausprobieren“, erwidert Carl. Wortlos greift er zur nächsten Rolle, um bereits das Startband zu entfernen.

* * *

Leonard folgt Carl mit Abstand über den Catwalk zu einem der anderen Vorführräume. Obwohl sich auf dem Kunststoffring mittlerweile einige Tausend Meter Film befinden, balanciert Carl die gekoppelte Filmkopie mühelos neben dem Körper. Trotz der schweren Last öffnet er gekonnt die Stahltür zum Vorführraum und hält diese für Leonard auf.

Behutsam stellt er den Film neben einem Metallschrank ab. Er holt seinen Schlüsselbund hervor und öffnet den Schrank. In zwei der schmalen, aber tiefen Fächer stehen bereits Filme. Leonard notiert sich unterdessen die Nummer der Premierenkopie in seinem PDA. Carl verstaut sie im Metallschrank. Der Sicherheitschef kontrolliert sofort, ob die Tür ordnungsgemäß verriegelt ist, indem er am Türgriff rüttelt. Zufrieden greift er in die Jackentasche. Mit zwei Sicherheitsetiketten versiegelt er den Schrank. „Das war die letzte Rolle für die morgige Sichtung“, stellt er fest. „Wann können wir heute Abend mit den Screenings beginnen?“

„Die erste Hauptvorstellung endet um 21:27 Uhr“, klärt ihn Carl auf.

Leonard wirft einen Blick auf die Armbanduhr. „Ich sammle die Kollegen fürs Dinner ein und sollte dann gegen halb zehn mit den Leuten vom deutschen Branch und den Technikern zurück sein.“

„Soll ich die Filme direkt nach der Hauptvorstellung einlegen?“

„Lieber nicht, da sich die endgültige Verteilung auf die Säle noch verändern könnte. Dafür ist leider das Marketing zuständig.“

„In Ordnung!“

Leonard verlässt den Vorführraum über die Wendeltreppe auf der oberen Kinoebene. Nachdem Carl die Metalltür ins Schloss fallen hört, inspiziert er vorsichtig die Siegel am Metallschrank. Zufrieden folgt er Leonard nach unten. Im Gegensatz zum Asiaten betritt er über die Treppe den darunter gelegenen Vorführraum. Über den Catwalk schlendert er zum Regieraum zurück. Auf dem Rückweg beobachtet er Leonard und Johannson, die sich mit ihren Kollegen auf der unteren Kinoebene unterhalten. Mittlerweile hängt ein Teil der Dekoration für die Filmpremiere, aber die fehlenden Filmposter in den leeren Schaukästen lassen das Ganze lieblos und dilettantisch erscheinen. Bevor Carl die Tür zum Regieraum öffnet, bleibt er am Geländer stehen. Er beobachtet die kleine Menschentraube um den Asiaten, die sich erst zur oberen Kinoebene und schließlich zum Gastronomiebereich des AmphiPlex bewegt.

* * *

Mit einigen Kinomitarbeitern, die ebenfalls die dunklen Poloshirts der Kinokette tragen, steht Carl neben der breiten Theke im Foyer der unteren Ebene. Eine junge Kollegin, die sich dahinter alleine langweilt, reicht der Gruppe einen Eimer Popcorn. „Danke!“, erwidert Niklas, der Teamleiter.

„Nichts zu danken! Das zahlen alles die Typen vom Filmverleih.“

Die Gruppe antwortet ihr mit Gelächter.

„Kino 12 ist gleich aus“, erwähnt Carl beiläufig in Richtung eines Servicemitarbeiters, der daraufhin einen Blick auf seine Uhr wirft und einen zerknitterten Zettel aus der Hosentasche zieht. Nach einem kurzen Schulterzucken bricht er zum anderen Ende des Foyers auf. Niklas schaut Carl mit entnervter Miene an. „Der wird’s wohl nie peilen, den Saal rechtzeitig zu öffnen.“

„Ist heute viel los?“

„Nein. Ist trotzdem Scheiße, wenn die Leute nicht richtig verabschiedet werden.“

„Ich bezweifle ernsthaft, dass unser Publikum darauf Wert legt.“

„Ich auch“, entgegnet Niklas lachend, „aber du kennst das Gefasel über die Kundenorientierung.“

Die Runde der Kollegen nickt zustimmend.

„Weißt du, wann die Sichtungen losgehen?“

„Keine Ahnung. Der Security-Typ sollte längst mit der Meute vom Verleih zurück sein.“

„Der ist eine echte Nervensäge, oder?“

„Ja!“, bestätigt Carl. „Der ist anstrengend, aber seitdem jeder Film sofort im Internet auftaucht, machen sich die Filmverleiher eben ins Hemd.“

„Ich versteh gar nicht, wie man sich das abgefilmte Zeug antun kann.“

„Immer noch besser als ein halbes Jahr zu warten, bis der Film endlich bei uns läuft“, wirft die Kollegin hinter der Theke ein.

„Ich bin gespannt, ob der Streifen etwas taugt“, wundert sich Niklas.

„Du bist bei den Sichtungen dabei?“

„Jens wollte, dass einer vom Fußvolk mitschaut.“

„Dann wünsche ich viel Spaß. Das ist ein Chick Flick.“

„So schlimm wird der Film bestimmt nicht sein!“

„Es ist eine deutsche Koproduktion“, ergänzt Carl.

„Mist! Du hast vermutlich recht.“

Die beiden jungen Männer bemerken Leonard mit seinen Mitarbeitern auf der Treppe. „Ich werde mich mal an die Arbeit machen“, flüstert Carl.

„Bis später“, verabschiedet sich Niklas ebenfalls.

Leonard geht einige Schritte auf Carl zu. „Das Dinner hat leider etwas länger gedauert.“

„Kein Problem.“

„Ich sehe, die ersten Hauptvorstellungen sind zu Ende?“

„Kino 12 ist gleich aus und in Kino 15 beginnt gerade der Abspann.“ Carl wirft einen Blick auf seine Uhr. „Die anderen Kinos laufen noch circa zehn bis fünfzehn Minuten.“

„Dann haben wir ein wenig Zeit.“ Leonard bedeutet Carl mit einer Geste, dass er ihm folgen soll. Gemeinsam gehen sie zu Leonards Kollegen, die angeregt vor einem Stehtisch miteinander diskutieren. „Das ist Carl. Er wird heute Abend und morgen bei der Premiere die Filme vorführen.“

Eine elegant gekleidete Dame mittleren Alters tritt aus der Gruppe hervor und reicht Carl die Hand. Er schüttelt diese zögerlich. „Ich bin Monique. Ich bin für das Marketing und damit für die Premiere verantwortlich. Sie kennen sicherlich das Prozedere einer technischen Sichtung?“

„Selbstverständlich!“, bestätigt er.

„Sehr gut! Ich schlage vor, dass wir mit dem ersten Saal beginnen.“

„Das wäre Kino 12. Dort läuft laut meinem Plan von heute Mittag eine Fassung im englischen Original für die Presse.“

„Das ist korrekt!“

Mit langen Schritten eilt Carl zum Kinosaal. Er betritt den Saal und schaut sich darin um. Das Publikum hat diesen längst verlassen. Nur der einsame Kollege sammelt hastig leere Pappbecher und Popcorntüten ein, die er in einen grauen Müllsack stopft. „Dir ist hoffentlich klar, dass die Spätvorstellung heute ausfällt?“, erinnert ihn Carl.

„Was? Im Ernst?“

„Ja!“

Der Servicemitarbeiter bleibt stehen. Nervös fischt er den zerknitterten Laufzettel aus der Hosentasche. „Auf dem Tagesplan steht aber, dass wir um 22:15 Uhr eine Spätvorstellung haben.“

„Wirf mal einen Blick auf die Fußnoten zur Sonderveranstaltung.“

Carls Kollege fährt mit dem Finger unbeholfen über das Blatt. „Mist! Das habe ich überlesen.“

„Kannst dir das Putzen also sparen.“

Frustriert schleift der Servicemitarbeiter den Müllsack zum Gang. „Tust mir einen Gefallen?“

„Welchen?“

„Verrate Niklas bitte nicht, dass ich die Fußnote übersehen habe! Der hält mich sonst für total bescheuert. Ich will deswegen nicht durch die Probezeit fallen.“

„Warum sollte ich ihm davon erzählen?“, Carl zuckt mit den Schultern. „Ich bin Vorführer. Niklas ist daher herzlich egal, was ich über Serviceleute denke.“

„Was ist, wenn er trotzdem fragt, was ich so lange im Kino gemacht habe?“

„Sag ihm einfach, dass ich dich gebeten habe, mir bei etwas zu helfen.“

„Und wenn er nachfragt, ob ich die Wahrheit erzählt habe?“

„Dann wird er von mir erfahren, dass du mir bei etwas geholfen hast.“

„Danke!“

Carl geht über die Wendeltreppe nach oben in den Vorführraum. Eilig reinigt er den Filmprojektor, bevor er die frisch gekoppelte Premierenkopie einlegt. Mit geschickten Fingern fädelt er den Filmstreifen durch das Gewirr der Umlenkrollen von der Filmtelleranlage zum Projektor und von dort wieder zurück. Sorgfältig kontrolliert er anschließend jede einzelne Rolle, damit der Film bei der Vorführung nicht beschädigt wird. Nachdem er mit der Arbeit zufrieden ist, eilt er über die Wendeltreppe hinunter ins Foyer. Dort angekommen öffnet er die Saaltür und winkt Leonard mit seinen Leuten zu sich. „Wir können anfangen.“

„Dann lassen Sie uns den Film starten!“, bittet Monique. Carl dimmt das Licht an der Schalttafel im Saal, dreht den Ton auf und startet den Projektor über die Fernsteuerung. Nach wenigen Sekunden erscheint die Schutzmarke des Filmverleihs auf der Leinwand. Die Anwesenden warten auf den Beginn der Handlung. Als aus den Lautsprechern schließlich die ersten Worte auf Englisch erklingen, spürt Carl die Erleichterung aller Beteiligten. Leonard tritt an ihn heran. „Lass uns den nächsten Saal vorbereiten.“

Gemeinsam schleichen die Männer durch die Lichtschleuse zurück ins Foyer. Dort strömen unterdessen zahllose Besucher aus den Sälen. Einige drängen zu den Toiletten, andere warten auf ihre Begleiter, doch die meisten eilen in Richtung Tiefgarage oder zur benachbarten S-Bahnhaltestelle. Die Servicekräfte des AmphiPlex flankieren geduldig die breite Treppe, um diese mit blauen Kordeln von der oberen Ebene des Kinos abzutrennen. Zielstrebig bewegen sich die beiden Männer gegen den Besucherstrom durch das Foyer. Carl sperrt die Tür zum Vorführraum auf. Hintereinander gehen sie über die Wendeltreppe nach oben.

Leonard folgt den flinken Handbewegungen am Filmprojektor mit stoischem Gesichtsausdruck. „Du hast geübte Finger“, lobt er.

„Danke! Ich mache den Job schon eine Weile.“

„Wie lange bist du Filmvorführer?“

„Etwas über vier Jahre.“

„Ich hätte auf mehr getippt.“

„Warum?“

„Du hast viel Routine und man merkt dir die Begeisterung an der Arbeit an.“

„Es geht so, was die Begeisterung betrifft, aber das AmphiPlex ist ein guter Platz zum Jobben.“

Leonard sieht auf seine Armbanduhr. „Wir sollten nach den Kollegen sehen, damit wir den Saal starten können.“

* * *

Das Foyer des AmphiPlex ist mittlerweile nahezu menschenleer. Niklas inspiziert die blauen Kordeln vor der Treppe, als ihn Leonard zu Kinosaal 11 winkt. Gemeinsam wartet dieser mit Carl auf Monique, um die letzte Sichtung des Abends zu starten. „Womit kann ich Ihnen dienen?“, fragt Niklas betont höflich.

„Wenn ihr wollt, könnt ihr euch den Film ansehen“, lädt Leonard die beiden Kinomitarbeiter ein.

„Danke. Ich muss leider noch arbeiten“, entschuldigt sich Niklas.

„Wie sieht es mit dir aus, Carl?“

„Nicht mein Film, wenn ich ehrlich bin. Ich bleibe außerdem lieber oben im Regieraum für den Fall, dass es in einem der Säle Probleme gibt.“

Leonard nickt ihm verständnisvoll zu. Wie zuvor startet Carl den Projektor über die Fernsteuerung. Nachdem sich Monique bei ihm bedankt hat, verlässt er den Saal Richtung Foyer. Dort bemerkt er Jens. Dieser eilt sofort zu ihm. „Wie läuft’s?“

„Bisher hat sich niemand beschwert.“

„Wunderbar! Dann wird das morgen eine großartige Filmpremiere.“

Carl deutet auf einen leeren Schaukasten.

„Die Filmplakate bekommen wir per Over-Night-Kurier.“

„Dann wird bestimmt alles gut.“

„Du bist nicht sonderlich enthusiastisch? Du solltest bei solchen Events etwas mehr Begeisterung zeigen!“

„Das ist doch nur ein Kinofilm“, Carl zuckt mit den Schultern, „der in zwei Wochen in jedem Kino läuft.“

„Das stimmt zwar, aber wir zeigen ihn als Allererste! Denk doch an die Werbung, die solch eine Premiere für unseren Filmpalast bedeutet.“

„Ist nicht gerade so, dass der Verleih eine große Auswahl in München hat, wenn er sechzehn Säle bespielen möchte.“

Jens tritt einen Schritt zurück, um Carl, der ihn deutlich überragt, zu mustern. „Ich muss dir ein kleines Geheimnis verraten, weshalb ich bei dieser Premiere so aufgeregt bin!“

„Okay?“ Carl schaut Jens mit leerem Gesichtsausdruck an.

„Ich habe mich beim Verleih auf eine Stelle als Disponent beworben. Aufgrund meiner bisherigen Tätigkeit im AmphiPlex stehen die Chancen gut, dass ich genommen werde.“

Carl runzelt die Stirn, doch sein Gesicht bleibt ausdruckslos.

„Das scheint dich nicht sonderlich zu beeindrucken?“

„Ich verstehe deine Begeisterung nicht.“

Jens holt tief Luft und geht zwei Schritte auf Carl zu. „Weißt du denn nicht, was das für mich bedeutet?“, fragt er mit gedämpfter Stimme. Carl schüttelt den Kopf. „Das bedeutet, dass ich einen echten Job in der Filmbranche habe. Etwas wovon fast jeder träumt, der hier im Kino anfängt!“

„Das ist aber nur ein Verleiher und keine Filmproduktion“, kontert Carl.

„Das stimmt zwar, doch der Verleih gehört zu einem Global Player! Dort habe ich viele Möglichkeiten, innerhalb des Konzerns Karriere zu machen. Vielleicht schaffe ich es sogar in eine der internationalen Produktionsfirmen, falls ich hart genug arbeite.“

„Wäre es nicht einfacher, an der Filmhochschule zu studieren?“

Jens bricht in hämisches Gelächter aus. „Der ist wirklich gut!“ Er wischt sich einige Tränen aus den Augen. „Nein im Ernst, welche Chance hat man, wenn man in Deutschland Film studiert? Glaubst du etwa, ich will beim ZDF für irgendeinen Heimatkitsch verantwortlich sein?“ Jens schüttelt energisch den Kopf.

Carl zuckt mit den Schultern.

„Nein. Ich habe Größeres vor! Du wirst schon sehen. Noch ein paar Wochen hier und dann startet meine Karriere beim Film richtig durch!“

„Ich wünsche dir viel Erfolg.“

„Danke, danke! Den werde ich haben“, erklärt Jens, der dabei leichtfüßig auf den Zehenspitzen umhertänzelt.

„Ich muss jetzt aber wirklich hoch in den Regieraum.“

„Natürlich“, bestätigt Jens, der im selben Moment bemerkt, dass ein Mitarbeiter des Verleihs aus einem der Säle heraustritt. Fragend blickt er zu Carl, während er hilflos in Richtung des Kinosaals gestikuliert.

„Der Film ist zu Ende“, beruhigt ihn Carl.

„Ach, ja.“ Ohne auf eine weitere Reaktion des Vorführers zu warten, eilt Jens zum vermeintlich zukünftigen Kollegen. Carl stapft kopfschüttelnd zur Tür des nächstgelegenen Vorführraums. Über die Wendeltreppe gelangt er zum laufenden Projektor. Routiniert wirft er einen Blick auf den Filmteller, inspiziert den Projektor und blickt einen Moment durch das Guckloch auf die Leinwand. Der Filmstreifen läuft ruhig und gleichförmig durch die Mechanik.

Während Carl über den Catwalk schlendert, beobachtet er von oben, wie sich Jens angeregt mit dem Techniker unterhält. Im Regieraum trifft er auf Igor, der die Spätvorstellungen in den Sälen der oberen Ebene betreut. „Servus! Alles klar in deinen Kinos?“

„Alles gut!“, erwidert Igor in seinem eigentümlichen, slawischen Akzent.

„Wunderbar!“

„Zwölf ist fertig.“ Igor deutet mit einem Finger auf die Monitore.

„Hab’s schon gesehen. Einer vom Verleih ist gerade rausgekommen. Solange Jens dem Typen die Ohren blutig quatscht, warte ich lieber hier.“

„Quälgeist gehört in Büro, nicht in Foyer.“

* * *

Leonard wartet bis Carl die Filmkopie im Metallschrank verstaut, bevor er dessen Türen mit Sicherheitsetiketten versiegelt. „Das war der letzte Film für heute“, stellt Leonard erleichtert fest. Carl pflichtet ihm kopfnickend bei. Er schaltet die Technik im Vorführraum mit routinierten Handgriffen aus. Leonard beobachtet ihn von der obersten Stufe der Wendeltreppe. „Ab wann bist du im Kino, Carl?“

„Meine Schicht beginnt um 17 Uhr. Schließlich haben wir in der Vorführung eine lange Nacht vor uns, falls wir alle Filmkopien zerlegen müssen.“

„Das befürchte ich ebenfalls.“ Die beiden gehen gemeinsam die Treppe hinunter. „Wir sehen uns morgen. Gute Nacht!“, verabschiedet sich Leonard an der Tür.

„Gute Nacht.“

Carl sperrt die Tür hinter dem Asiaten ab, hetzt die Wendeltreppe nach oben, verlässt den Vorführraum über den Catwalk und eilt möglichst geräuschlos zum Regieraum. Dort herrscht mittlerweile gespenstische Stille. Er schaltet nacheinander die Überwachungsmonitore aus, die nur noch dunkle Kinosäle zeigen. Die Luft ist warm und stickig, da die Klimaanlage in den Nachtbetrieb gewechselt hat. Eilig schaltet Carl einige Geräte im angrenzenden Vorführraum wieder ein. Aus dem Werkzeugregal holt er ein Etui mit Inbusschlüsseln. Behutsam öffnet er mit dem passenden Werkzeug die Seitenwand des Metallschranks, in dem sich die Premierenkopien befinden. Vorsichtig schiebt er das Seitenteil ein wenig nach hinten, sodass er an die Schrauben kommt, die die Frontpartie mit der Tür am Metallrahmen fixieren. Nachdem er die Schrauben sorgfältig gelöst hat, hebt er die Verkleidung inklusive der Türen mit den Siegeln nach oben weg. Problemlos kann er nun die Filmkopie entnehmen. Er legt die Premierenkopie auf eine Telleranlage. Mit ruhiger Hand fädelt er den Film in den dazugehörigen Projektor ein. Nachdem dieser startbereit ist, sieht Carl auf die Uhr. Unruhig wiegt er den Kopf hin und her. Nach kurzem Zögern beschließt er, den Vorführraum zu verlassen. Gelassen folgt er der Treppe und den Gängen zur untersten Ebene der Tiefgarage. Die Neonbeleuchtung im Treppenhaus ist erloschen, doch ihm reicht der grüne Schimmer der Notbeleuchtung völlig aus, um sich im Gebäude zu orientieren. Vor einer grauen Stahltür mit Warnhinweis bleibt er stehen. Er legt seine Hand auf den Türgriff, drückt ihn aber nicht nach unten, sondern lauscht für einen Moment. Nachdem er sich absolut sicher ist, dass auf der anderen Seite nichts zu hören ist, öffnet er langsam die Tür. Carl blinzelt mehrmals, da er von den Neonleuchten des Parkdecks geblendet wird. Eilig schlüpft er durch die Tür Richtung Audi. Er vermeidet jedoch den direkten Weg zum Wagen. Er umgeht die Kameras, die die Zufahrt zur Parkebene überwachen. Ungeniert huscht er an den geparkten Fahrzeugen vorbei, bis er am A4 angekommen ist. Ohne Zeit zu verlieren, holt Carl die Ausrüstung aus dem Kofferraum. Er sieht sich nochmals um. Erst dann eilt er zurück zur Stahltür. Erneut durchquert er das grün schimmernde Labyrinth des Gebäudekomplexes, bis er vor der Tür des Vorführraums steht. Auch hier hält er inne und lauscht. Stille! Er öffnet die Tür.

Zielstrebig geht er zum Filmprojektor. Carl montiert die Videokamera auf dem Stativ, damit sie durch das Guckloch die Leinwand erfasst. Er schließt das PowerBook an der nächsten Steckdose an. Per FireWire verbindet er die Kamera. Er betreibt diese ebenfalls mit dem Netzteil an einer Steckdose. Glücklicherweise hat Vincent daran gedacht, das internationale Adapterset mitzubringen. Er zieht noch ein langes Audiokabel mit vergoldeten Steckern aus dem Rucksack, das er an der Soundanlage des Kinos anschließt. Nachdem alles verkabelt ist, schaltet Carl die Saalbeleuchtung auf halber Stärke ein und öffnet den Vorhang. Sorgfältig justiert er die Kamera. Nach wenigen Momenten löscht er das Licht und beginnt die Aufzeichnung auf dem Laptop. Er startet den Projektor. Im Gegensatz zu einer normalen Vorführung öffnet er dessen Blende sofort, damit er das Startband mit dem Countdown aufnehmen kann. Zufrieden lehnt er sich zurück. Seelenruhig verfolgt Carl den Mitschnitt auf dem PowerBook.

0b0000011: [Piratenschatz]

Ungeduldig nimmt Brigitta ihrem Freund das PowerBook ab, während er den Rucksack mit der übrigen Kameraausrüstung auf der Werkbank abstellt. Sie schließt den Laptop direkt am Power Mac an und lädt die Aufnahme sogleich in das Videoschnittsystem. Unterdessen holt Carl eine Afri Cola aus dem Kühlschrank. Er küsst seine Freundin zärtlich auf den Nacken. Sie windet sich zur Seite. „Lass das!“

„Okay“, entgegnet Carl traurig. Er setzt sich, öffnet die Flasche und genießt einen Schluck. Sie klickt in der Software herum, bis ein Fortschrittsbalken erscheint. Erst jetzt entspannt sie ihren Körper und schmiegt sich an ihn. Da die beiden gebannt auf den Fortschrittsbalken starren, der sich nur langsam bewegt, greift sie nach seiner Hand. Er erwidert die Geste, indem er den Arm zärtlich um sie legt. „Wie ist der Film?“

„Geht so. Ist eine Romantic Comedy.“

Brigitta legt ihren Kopf auf Carls Schulter. „Auf Romantik hätte ich jetzt auch Lust.“

„Geht mir genauso!“ Carl streichelt ihr sanft über die Wange. „Wir sind bald in Prag, da gönnen wir uns dieses Mal ein wenig Romantik neben der Arbeit.“

„Hm!“, seufzt Brigitta. „Ich dachte mehr an schöne Stunden zu zweit.“

„Die können wir uns auch hier machen.“ Zärtlich küsst er sie auf die Stirn. Brigitta legt die Arme um Carl, um sich an ihm festzuhalten, während er sie hochhebt. Mühelos trägt er seine Freundin ins Schlafzimmer.

Sie streift das Sweatshirt, das ihr ohnehin viel zu groß ist, vom sonst nackten Körper. Während Carl damit beschäftigt ist, sich der Socken und Shorts zu entledigen, schlüpft sie unter die Satinbettdecke. Er folgt ihr von der Bettkante, um das Liebesspiel mit Küssen auf ihr Bäuchlein und die flachen Brüste zu beginnen. Brigitta antwortet auf die Liebkosungen mit kindlichem Gekicher.

* * *

Das Licht des Röhrenmonitors taucht den Computerraum in ein gespenstisches Halbdunkel. Die kurzen schwarzen Haare sind zerzaust und die Müdigkeit steht Carl ins Gesicht geschrieben. Sorgfältig bearbeitet er die Aufnahme aus dem AmphiPlex. Brigitta betritt schlaftrunken das Arbeitszimmer. „Kann nicht mehr schlafen.“

„Sorry, mein Engel.“

„Halb so schlimm! Hab sowieso Sehnsucht nach dir.“ Sie setzt sich, nur mit einem von Carls T-Shirts bekleidet, an den Schreibtisch. Brigitta bemerkt in der Spiegelung des Monitors, dass ihre Haare ungebändigt in alle Richtungen abstehen. Hastig greift sie zu einigen orangeroten Haarspangen. Erst nachdem sie mit dem Spiegelbild im Monitor zufrieden ist, schaltet sie ihn ein. Beinahe unterbewusst kontrolliert sie E-Mails, öffnet verschiedene Chatkanäle im IRC und wirft einen gelangweilten Blick in die abonnierten Newsgroups. „Brauchst du lange?“

„Bin gleich fertig, obwohl ich das Gefühl habe, dass Audio und Video nicht synchron laufen.“

Brigitta fährt ihm liebevoll durch die zerzausten Haare. „Du Perfektionist!“

„Stimmt überhaupt nicht!“, beschwert er sich. „Ich will Qualität abliefern.“

Beiläufig scrollt sie durch lange Listen der aktuellen Film Releases im Usenet. „Wir könnten dieses Mal die Allerersten sein!“

„Wir sind die Ersten, da bin ich mir ganz sicher. Wer sollte sonst noch an eine finale Fassung vor der Premiere kommen?“

„Gute Frage?“, gähnt Brigitta. Sie schaltet den Monitor aus. Ihre Augen sind auf Carls entblößten Körper gerichtet. Sie legt ihre Hand auf seinen Oberschenkel, woraufhin sie die wachsende Erregung bemerkt. „Du hast Sehnsucht nach mir?“

„Das habe ich“, erwidert er, ohne den Blick vom Monitor zu nehmen.

„Ich will ein Baby.“

Carl schreckt aus dem Stuhl hoch und starrt Brigitta entgeistert an. „Hier und jetzt?“

„Am liebsten sofort“, erklärt sie ihm beinahe beiläufig, „aber ich hab die Pille noch nicht abgesetzt.“

Erleichtert atmet Carl durch. Zögerlich setzt er sich wieder an den Mac. Er schiebt Maus und Tastatur zur Seite, damit er beiden Ellenbogen auf der Tischplatte abstützen kann. „Ich glaube“, keucht er aufgeregt, „wir sind noch nicht so ganz bereit für ein Baby.“

„Wie lange wollen wir noch warten?“ Brigitta senkt ihren Blick zu Boden.

„Ich weiß nicht, aber ich fühle mich selbst noch wie ein Teenager.“ Carl streicht ihr mit dem Handrücken sanft durch die Haare, bevor er seine Hand auf ihre Schulter legt. Beim Versuch sie vorsichtig zu umarmen, stemmt sie sich kurz und kraftvoll dagegen. Carl lässt sie los. „Wir sollten abwarten, okay? Du wolltest doch erst die Uni abschließen. Es gibt keinen Grund, gerade jetzt irgendwas zu überstürzen.“

„Ich will aber nicht warten, bis ich zu alt bin.“

„Du bist doch nicht alt!“

„Du hast gut reden!“, regt sie sich auf. „Du bist ein Kerl und außerdem jünger als ich.“ Sie hebt ihren Kopf, um ihm in die Augen zu schauen.

„Müssen wir das wirklich heute Nacht ausdiskutieren?“

„Nein. Ich will aber, dass du dir endlich Gedanken über unsere Zukunft als Familie machst. Schließlich werde ich irgendwann mit meinem Studium fertig sein!“

„Einverstanden!“ Carl mustert Brigittas ausdrucksloses Gesicht. „Ich will doch auch Kinder mit dir. Lass uns in Ruhe darüber reden, wenn wir beide ausgeschlafen sind und nicht an einem eiligen Release arbeiten?“

„Du hast recht“, seufzt sie. Während sie aufsteht, legt er seinen Arm um ihre Hüfte. Brigitta lässt sich geduldig von ihm drücken. Nach einigen Momenten lockert er die Umarmung. Sie dreht sich zur Seite. Für einige Augenblicke streichelt er ihren unrasierten, aber dennoch kaum behaarten Schambereich unter dem T-Shirt, bevor sie ins Schlafzimmer geht.

Sein Blick wandert zurück auf den Monitor. Nachdem er ein letztes Mal die Synchronität von Bild und Ton überprüft hat, zeigt er sich mit der Arbeit zufrieden. Er startet den Export, der die Aufnahme auf die Größe einer einzelnen CD komprimiert. Carl schaltet den Monitor aus und folgt Brigitta.

0b0000100: [Party]

Die Sonne scheint bereits, als Carl aufwacht. Benommen streckt er den schlaksigen Körper. Umständlich windet er sich aus dem Doppelbett. Er nimmt das Sammelsurium an Kleidungsstücken auf dem Korkboden in Augenschein. Unwillkürlich schüttelt er den Kopf. Seufzend fischt er seine Shorts aus dem Chaos. Anschließend sammelt er die übrige Kleidung ein. Auf dem Weg zur Tür stopft er sie in den Wäschekorb. Anstatt das Bad zu betreten, wirft er einen Blick ins Arbeitszimmer, aus dem melodischer Trance erklingt. Brigitta steht vor dem Arbeitstisch in der Mitte des Zimmers, auf dem sie die zweite Videokamera mit diversem Zubehör ausgebreitet hat. Sie zeigt Katinka die Kamera, über deren Technik und Bedienung sie einen ausführlichen Vortrag hält. Carl beobachtet die beiden Frauen für einige Augenblicke. Seine Freundin ist frisch geduscht und trägt bequeme Kleidung. Katinka wirkt in den dunklen Lederklamotten äußerst martialisch. Dennoch gelingt es ihr, die füllige Oberweite feminin zur Geltung zu bringen. Ihre kurzen, schwarzen Haare unterstreichen jedoch ihr maskulines Aussehen. Während Katinka mit der Kamera hantiert, bemerkt sie ihn durch den Sucher. „Hallo, Carl! Brigitta zeigt mir gerade die neue Ausrüstung.“ Behutsam legt sie die Videokamera beiseite und geht auf ihn zu. Er beugt sich ein wenig nach vorne, damit sie ihn mit einer innigen Umarmung und einigen Küsschen auf die Wangen begrüßen kann.

„Hey, Schlafmütze!“, begrüßt ihn Brigitta.

„Hi, ihr Hübschen! Wie gefällt dir die Cam?“

„Sieht sehr gut aus!“ Katinkas blaue Augen strahlen.

„Du wirst gleich sehen, wie gut die Bilder bei schlechten Lichtverhältnissen sind.“

„Hast du sie bereits ausprobiert?“

„Ja! Vincent hat uns zwei Exemplare mitgebracht.“

„Ich kann es gar nicht abwarten, bis wir die Kameras für ein richtiges Projekt zu verwenden!“

„Willst du dafür keine professionelle Filmkamera benutzen?“

„Falls wir es uns irgendwann leisten können, auf 35 mm zu drehen, sage ich bestimmt nicht Nein! Bis dahin bleibe ich lieber realistisch.“

Carl grinst sie an. Katinka kehrt an den Tisch zu Brigitta zurück, die diverses Zubehör in eine Kameratasche packt. Liebevoll nimmt sie die neue Kamera in die Hand. Sie schaut durch den Sucher und schwenkt von Brigitta zu Carl und zurück. „Die Optik ist der absolute Wahnsinn!“ Sie richtet die Kamera auf Brigittas T-Shirt. „Ich kann sogar erkennen, dass Brigi keinen BH trägt.“ Diese dreht sich bei Katinkas Worten mit geröteten Wangen zur Seite. Ihr Freund kichert nur.

„Ich hasse es, eingeengt zu sein!“, schnaubt sie. „Ich bin wirklich froh, dass ich nicht solche Riesendinger habe.“

Katinka legt die Videokamera auf den Tisch, um Brigitta mit dem Handrücken über die Wange zu streicheln. „Das war doch nicht böse gemeint.“

„Oki.“ Brigitta sieht sie verwirrt an.

„Ganz ehrlich, ich wünsche mir auch manchmal, ohne BH rumlaufen zu können.“

Sie antwortet Katinka mit einem zaghaften Lächeln.

„Wie sieht’s mit dem Upload aus?“, fragt Carl.

„Der Film ist draußen und wird fleißig kopiert. Du hattest übrigens recht, wir sind tatsächlich die Ersten.“

„Großartig!“

Julia, Brigittas jüngere Schwester, betritt den Raum. In den hohen Stilettos reicht sie fast an Carls Größe heran. Im Gegensatz zu den anderen hat sie sich deutlich aufgetakelt. Sie grinst ihn herausfordernd an und legt ihre Hand auf seinen Po. Carl bemüht sich, dies zu ignorieren. „Servus! Was macht ihr Schönes?“

„Hallo, Schwesterchen!“, giftet Brigitta zurück.

„Ist der Po deines Schwagers interessant?“, fragt Katinka.

„Ja. Ist sehr hübsch und total knuffig.“ Julia streichelt ihm über die Shorts und zwickt ihm liebevoll ins Gesäß. Er zuckt zwar zusammen, bleibt aber ruhig. Demonstrativ rekelt sie ihren Körper vor ihm. Sie versucht seine Aufmerksamkeit auf den Ausschnitt ihres Minikleids zu lenken. Mit der freien Hand fährt sich Julia durch die dunklen Locken. Mechanisch greift Carl nach ihrem Unterarm. Mühelos entfernt er ihre Hand von seinem Gesäß, obwohl er durchaus Widerstand spürt.

„Ist dir irgendwie langweilig?“, fragt Katinka.

„Ja, total! Die Jungs quatschen im Wohnzimmer nur über Computer und technisches Zeug, von dem ich nix verstehe.“

„Sorry! Ich brauch hier noch ein wenig mit Brigi.“

Julia zieht eine Grimasse.

„Bis später, ich muss erst mal duschen“, entschuldigt sich Carl.

„Soll ich dir zur Hand gehen?“, fragt Julia.

„Nein, nicht nötig.“

„Schade! Ich hätte dich gerne mal richtig verwöhnt.“

Ruckartig greift Brigitta zu einem klobigen Stecker, der auf dem Tisch liegt. Nervös lässt sie diesen durch die Finger gleiten. Ihre Gesichtszüge verhärten sich. In den Augen lodert blanker Hass.

„Es reicht jetzt aber wirklich! Kannst du dein Gestichel bleiben lassen, wenn sich Erwachsene unterhalten?“, weist Katinka Julia zurecht.

Brigitta entspannt sich bei den Worten, während ihre Schwester eine beleidigte Miene aufsetzt.

„Wenn dir langweilig ist, geh runter ins Wohnzimmer. Fummel meinetwegen vor den Jungs an deinen Titten herum! Vielleicht schenken sie dir dann die Aufmerksamkeit, die du heute anscheinend bitter nötig hast. Andernfalls musst du Geduld lernen.“

„Aber du ...“

„Nichts, aber!“ Katinka tritt einen Schritt auf Julia zu, die sofort zurückweicht. „Es gibt absolut keinen Grund, dich bei deiner Schwester ätzend zu benehmen.“

„Okay! Bin schon weg.“ Julia dreht sich mit einer theatralischen Geste um, wirft die Locken über die Schulter und verlässt das Arbeitszimmer. Auf der Treppe brummelt sie einige unverständliche Worte. Brigitta atmet tief durch, nachdem ihre Schwester außer Hörweite ist.

„Sorry“, stöhnt Katinka, „aber die ist heute bereits den ganzen Tag unausstehlich.“

„Du kannst doch nix dafür, dass sie als Zicke geboren wurde.“

* * *