Pädagogische Diagnostik und Differenzierung in der Grundschule - Christoph Schiefele - E-Book

Pädagogische Diagnostik und Differenzierung in der Grundschule E-Book

Christoph Schiefele

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  • Herausgeber: UTB GmbH
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Lehrpersonen müssen im inklusiven Unterricht viel beachten: Sie sollen auf die Lernausgangslage der einzelnen SchülerInnen eingehen und sowohl die individuelle als auch die kooperative Lehr-Lern-Situation gestalten. Das Lehrbuch enthält die Grundlagen einer pädagogischen Diagnostik, die das jeweilige Können der Lernenden in den Blick nimmt. Es zeigt beispielhaft, wie pädagogische Differenzierung im Mathematik- und Deutschunterricht der Grundschule gelingen kann. Aufbauend auf der jeweiligen Fachdidaktik wird die theoriegeleitete Planung inklusiver Lehr-Lern-Settings im Rahmen eines diagnosebasierten Unterrichts dargestellt.

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Seitenzahl: 271

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UTB 5250

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wbv Publikation Bielefeld

Dr.Christoph Schiefele ist akademischer Rat am Institut für Sprachen der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg.

Prof. Dr. Christine Streit lehrt im Bereich Mathematikdidaktik an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Prof. Dr. Tanja Sturm lehrt Inklusive Bildung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Außerdem im Ernst Reinhardt Verlag erschienen:

Füssenich, I., Geisel, C., Schiefele, C.: Literacy im Kindergarten. Vom Sprechen zur Schrift (2. Aufl. 2018, ISBN 978-3-497-02747-7)

Sturm, T.: Lehrbuch Heterogenität in der Schule (2. Aufl. 2016, ISBN 978-3-8252-4615-0)

Sturm, T.: Interaktives Training Heterogenität in der Schule (2013; E-Learning-Software zum Lehrbuch: ISBN 978-3-8463-0090-9; App: ISBN 978-3-8463-0089-3)

Hinweis

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.dnb.de> abrufbar.

UTB-Band-Nr.: 5250

ISBN 978-3-8252-5250-2

ISBN 978-3-846-35250-2 (EPUB)

© 2019 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in EU

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Covermotiv unter Verwendung eines Fotos von © iStock.com/sturti

Abb. 7 i. Innenteil von Christoph Pfisterer; Abb. 8 von Christoph Pfisterer u. Christoph Schiefele

Satz: JÖRG KALIES – Satz, Layout, Grafik & Druck, Unterumbach

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]

Inhalt

          Vorwort

1        Einleitung

2        Pädagogische Diagnostik

2.1     Behinderung und Inklusion – zwei zentrale Bezüge pädagogischer Diagnostik

2.1.1  Behinderung

2.1.2  Inklusion

2.2     Diagnostik – Lernprozesse beobachten und verstehen

2.2.1  Diagnostik – eine theoriegeleitete pädagogische Praxis

2.2.2  Diagnostik – Tätigkeit im Kontext von Erziehung, Bildung und Unterricht

2.3     Diagnostisches Handeln in Schule und Unterricht – ein Überblick

2.3.1  Gesellschaftlicher Rahmen: Fachwissen und schulische Regeln

2.3.2  Gegenstandsverständnis: institutionale und personale Orientierung

2.3.3  Gegenstandsverständnis: menschliche Entwicklung

2.3.4  Diagnostisches Vorgehen: Eigenschafts- und Handlungsorientierung

2.3.5  Güte- und Qualitätskriterien

2.3.6  Reflexiver Einbezug des Kontextes in diagnostische Prozesse

2.4     Diagnosebasiert unterrichten

3        Inklusiver Deutschunterricht

3.1     Sprachliches und literarisches Lernen in der Grundschule

3.1.1  Zu Handlungsfeldern und Gegenständen des Deutschunterrichts

3.1.2  Teilhabeperspektiven

3.2     Diagnostik im Deutschunterricht: Beobachten und Verstehen sprachlicher Lernprozesse

3.2.1  Zum pädagogischen Verständnis der Diagnostik sprachlichen Lernens

3.2.2  Pädagogische Perspektiven diagnostischen Handelns

3.3     Beispiele diagnosebasierten Deutschunterrichts

3.3.1  Inklusives Lernen im Bereich metasprachlicher Fähigkeiten

3.3.2  Inklusives Lernen im Bereich Rechtschreiben

4        Inklusiver Mathematikunterricht

4.1     Mathematisches Lernen in der Grundschule

4.1.1  Erwerb mathematischer Konzepte

4.1.2  Verstehensgrundlagen beim Rechnenlernen

4.2     Diagnostik im Mathematikunterricht: Beobachten und Verstehen mathematischer Lernprozesse

4.2.1  Merkmale handlungsleitender Diagnostik

4.2.2  Von der Diagnose- zur Lernaufgabe

4.2.3  Diagnostische Gespräche zu ausgewählten arithmetischen Inhalten

4.3     Beispiele diagnosebasierten Mathematikunterrichts

4.3.1  Lernen im inklusiven Mathematikunterricht – individuell und gemeinsam

4.3.2  Kooperative mathematische Lernumgebungen

5        Diagnosebasiert unterrichten: Perspektiven über die Fächer hinaus

          Literatur

Sachregister

Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuchs

Verwendung der Icons

Beispiel

Lernfragen

Merksatz

Literaturtipp

Online-Zusatzmaterial

Die Antworten zu den Lernfragen gibt es unterwww.utb-shop.de und www.reinhardt-verlag.de.

Vorwort

Das vorliegende Buch stellt den Versuch dar, unterschiedliche fachliche Perspektiven – erziehungswissenschaftliche, deutsch- und mathematikdidaktische – auf das Themenfeld inklusiven Unterrichts darzulegen. Damit sind wissenschaftliche Perspektiven und Disziplinen einbezogen, die von Lehrpersonen in ihrer alltäglichen unterrichtlichen Praxis wie selbstverständlich miteinander verbunden werden resp. aus denen Ideen und Vorstellungen geschöpft werden. Eine vergleichbare Verbindung der fachdisziplinären Zugänge gibt es bisher auf wissenschaftlicher Ebene nur in Ansätzen. Wenngleich die Termini Inklusion, Diagnostik, Didaktik und auch Unterricht in allen drei hier genannten Diskursen bedeutsame und viel diskutierte Begriffe darstellen, sind sie allerdings zugleich in die Fachdiskurse der jeweiligen Disziplin, mit ihren je eigenen Traditionslinien, Begriffsverständnissen und Diskursen eingebunden.

Entsprechend herausfordernd ist es, die verschiedenen Diskurslinien in einer gemeinsamen Publikation – die sich von einer kooperativen Herausgeberschaft unterscheidet – zusammenzuführen. Trotz des Anspruchs, gemeinsam eine Monografie zu verfassen, wurden die drei zentralen Kapitel federführend von jener bzw. jenem von uns verfasst, die / der fachlich in diesem Bereich ausgewiesen ist: Tanja Sturm für das Kapitel zu pädagogischer Diagnostik, Christoph Schiefele für den inklusiven Deutsch- und Christine Streit für den inklusiven Mathematikunterricht.

In der Zusammenführung haben wir neben Gemeinsamkeiten, wie der zentralen Idee, Schule und Unterricht als Orte und Räume zu gestalten, die allen SchülerInnen fachliche Lern-, Entwicklungs- und Bildungsmöglichkeiten eröffnen ebenso wie die Erfahrungen einer solidarischen und anerkennenden Gemeinschaft, auch Spannungen und Widersprüche erlebt. Letztere zeigen sich v.a. auf der Ebene der fachdisziplinären Verwendung von Begriffen. So werden die Kinder und Jugendlichen in Schule und Unterricht in den fachdidaktischen Diskursen meist als Lernende bezeichnet, während im schulpädagogischen Diskurs eher die Bezeichnung SchülerInnen üblich ist. In diesem Buch verwenden wir beide Begriffe synonym. Eine weitere Diskrepanz stellen die zentralen Gegenstände der wissenschaftlichen Disziplinen dar, die in diesem Buch aufeinander bezogen und miteinander verbunden werden: Sind es die einzelnen SchülerInnen in der jeweiligen sozialen Situation der Klassengemeinschaft und des Unterrichts oder sind es fachbezogene Lehr-Lernprozesse?

Das Buch dokumentiert in der Verbindung der unterschiedlichen Aspekte auch das Betreten eines diskursiven Neulands, in dem die Diskussionslinien stärker aufeinander Bezug nehmen als dies in der Vergangenheit der Fall gewesen ist. Dabei wurden Gemeinsamkeiten ebenso erkennbar wie Unterschiede, die – dort, wo sie uns aufgefallen sind – als solche markiert werden.

Ludwigsburg, Münster und Muttenz im Mai 2019,

Christoph Schiefele, Christine Streit, Tanja Sturm

1      Einleitung

Inklusion ist im zweiten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts zu einem zentralen Thema in Schule und Unterricht avanciert. Unter Verweis auf die Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, kurz UN-BRK, (United Nations 2006; 2008) werden von bildungspolitischer Seite Reformprozesse angestoßen, die Schule und Unterricht nachhaltig verändern können und sollen. Die Neuerungen zeichnen sich wesentlich dadurch aus, dass separative schulische Settings, die je nach Bundesland als Sonder- und / oder Förderschulen bezeichnet und nachfolgend synonym verwendet werden, ab- und inklusive Settings aufgebaut werden. Inklusion steht dabei für einen Bruch mit der Vorstellung einer (leistungs-)homogenen Schülerschaft. Ein Bezugspunkt, der in der Schulpädagogik bereits seit vielen Jahren als „Fiktion“ (Tillmann 2008, 172) verhandelt wird, aber bisher insofern keine bildungspolitische Mehrheit gefunden hat, als nach wie vor Formen der äußeren Differenzierung die schulische Struktur im deutschsprachigen Raum prägen. Trotz innerer ebenso wie von außen angemahnter Kritik (Muñoz 2006; United Nations 2015) an der (frühen) Selektivität, die mit der Mehrgliedrigkeit einhergeht und die Diskriminierungen befördert, wird an dem System bildungspolitisch weiterhin festgehalten. Wenngleich im Zuge der Gestaltung inklusiver Schulen die Zahl von Sonder- und Förderschulen rückläufig ist, bleibt die prinzipielle Separation nach Bildungsgängen und Schulformen im System erhalten; mehrere Bundesländer sichern dies durch sogenannte Schulfrieden (z. B. NRW: CDU et al., 2011). Die Mehrgliedrigkeit erfordert einen kontinuierlichen Vergleich von SchülerInnen mit- und untereinander sowie gegenüber curricularen, sozialen und empirischen Normen, um zu prüfen und zu legitimieren, ob sie noch im ‚richtigen‘ Bildungsgang bzw. Schultyp sind. Während der bildungspolitische Fokus von Inklusion auf der gemeinsamen Unterrichtung von Kindern und Jugendlichen mit und ohne sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf resp. besonderen Bildungsbedarf – insbesondere in den Förderschwerpunkten Lernen, Sprache und emotional-soziale Entwicklung – liegt, wird in den schul- und sonderpädagogischen Diskursen ein grundsätzlicheres Verständnis von Inklusion verhandelt. Dieses ist sozialwissenschaftlich fundiert und damit anschlussfähig an die menschenrechtlichen Prämissen der UN-BRK (Bielefeldt 2010). Es versteht Inklusion v.a. als Abbau jener Strukturen und Praxen, die Behinderungen und Benachteiligungen in schulischen Lern- und Bildungsprozessen hervorbringen und setzt Inklusion dabei in Relation zu Exklusion, sodass eine analytische Beschreibung sowie eine reflexive Auseinandersetzung möglich sind (Sturm 2016a, 133ff.).

Trotz des einseitigen bildungspolitischen Verständnisses von Inklusion, das im Titel der KMK-Empfehlungen (2011) „Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen“ insofern zum Ausdruck kommt, als Inklusion in unmittelbarem Zusammenhang mit einer Gruppe von SchülerInnen verstanden wird, stellt das Dokument vonseiten der Bildungspolitik das erste dar, in dem die allgemeinbildende Schule ohne Ressourcenvorbehalt als Beschulungsort für SchülerInnen mit attestiertem Förderbedarf vorgesehen wird. Dies kann als Anerkennung unterschiedlicher sozialer und biografischer Lernausgangslagen der SchülerInnen einer Lerngruppe verstanden werden. So unterscheiden sich die SchülerInnen darin voneinander, in welcher Art und Weise und in welchem Umfang sie in ihrer (vorschulischen) Lebenswelt mit (gesamtgesellschaftlich) relevanten und kulturell bedeutsamen Gegenständen konfrontiert wurden und sich z. B. mit der Schriftkultur auseinandergesetzt haben. Haben einzelne Kinder diese Schriftkultur als positiv oder als negativ besetzte Gegenstände erfahren und erlebt? Sind ihre bildungsrelevanten Bezugspersonen der Schriftsprache mächtig und haben ihnen z. B. regelmäßig in angenehmer Atmosphäre vorgelesen? Eine Wertschätzung unterschiedlicher Lernausgangslagen, die ein zentrales Primat schulischer Inklusion darstellt, korrespondiert mit der Erwartung an die Lehrpersonen, dass sie diese nicht nur beobachten und verstehen, sondern auch, dass sie sie zum Ausgangspunkt unterrichtlicher Lern-, Entwicklungs- und Bildungsprozesse heranziehen, also bei der Gestaltung individueller und kooperativer Lehr-Lern-Situationen.

Die Beschreibung und Analyse unterschiedlicher gegenstandsbezogener Lern- und Entwicklungsstände von SchülerInnen als Ausgangspunkt für die Konzeption von Lehr-Lern-Arrangements wird in erziehungswissenschaftlichen und fachdidaktischen Diskursen als Diagnostik und / oder Diagnose bezeichnet. Kornmann, einer der Pioniere pädagogischer Diagnostik, bezeichnet diagnostisches Handeln als ein Beobachten und Überprüfen, das als „Entscheidungshilfe“ (Kornmann 1985, 843) für die Gestaltung unterrichtlicher Lehr-Lernangebote dient. Pitsch versteht diagnostizieren als Tätigkeit, der wir permanent nachkommen, um handlungsfähig zu sein und Entscheidungen zu treffen, und formuliert – in Anlehnung an Watzlawick – „man kann nicht nicht diagnostizieren.“ (Pitsch 2015, 43).

Während die Definition von Pitsch Diagnostik als permanente Tätigkeit des Alltags begreift, gilt es, dieses von systematischen und theoriebasierten Diagnosen abzugrenzen, die in professionellen Zusammenhängen vorgenommen werden. Letztgenannte unterscheiden sich mindestens in zweifacher Hinsicht von der Alltagsdiagnostik: Zum einen liegen Sinn und Zweck diagnostischen Handelns in der gezielten Annäherung bzw. Bearbeitung der übergeordneten Lern- und Bildungsziele und zum zweiten sind professionelle AkteurInnen aufgefordert, über ihre Fragestellungen, ihr Vorgehen und ihre Ergebnisse Auskunft zu geben. Das heißt, sie sind dazu verpflichtet, gegenüber ihren KollegInnnen, aber auch gegenüber Eltern und den SchülerInnen, ihre Entscheidungen und das damit einhergehende Vorgehen jederzeit erläutern und begründen zu können.

Der Kern pädagogischen Handelns in Schule und Unterricht ist ein doppelter: Erziehung und Bildung. Beide Aspekte verweisen auf das pädagogische Handlungsziel, Lernprozesse von SchülerInnen zu initiieren und herauszufordern. Entsprechend sind LehrerInnen aufgefordert, diese Lernprozesse, die lernende Auseinandersetzung der SchülerInnen mit unterschiedlichen sozialen und materialen Gegenständen, verstehen und nachvollziehen zu können (Schuck 2004, 350).

Diagnostisches Handeln stellt einen Teil pädagogischen Handelns dar. Als solches bedarf es Wissen und Konzepte über die Sozialisationsbedingungen der SchülerInnen und ihre fachlich-gegenständlichen Lernprozesse ebenso wie über die Fachgegenstände selbst und die lernende Auseinandersetzung mit diesen, wie sie die Fachdidaktik bereitstellt. Ein weiteres Element diagnostischer Prozesse sind sozialwissenschaftliche Methoden, die die Voraussetzung systematischer Erkenntnistätigkeit sind. Mit ihnen erfolgt eine empirische Annäherung an die jeweiligen gegenstandsbezogenen Vorstellungen der Lernenden. Hierzu zählen gezielte Beobachtungen, Analysen von Schülerprodukten, wie z. B. einem geschriebenen Text oder einer bearbeiteten Mathematikaufgabe sowie Gespräche mit SchülerInnen. Diagnostische Situationen können sich aber auch spontan im Alltag ergeben, z. B. wenn eine Lehrperson im Rahmen der Pausenaufsicht die anwesenden SchülerInnen zählt; sich ein / e SchülerIn zu ihr gesellt und mit ihr zählt. Beide Situationen – intendierte und zufällige – erfordern entsprechendes fachdidaktisches und pädagogisches Wissen, um darauf aufbauend Lernprozesse möglichst gezielt initiieren und herausfordern zu können.

Neben diesen erziehungswissenschaftlichen, fachlichen und fachdidaktischen Bezügen und Prämissen ist diagnostisches Handeln in Schule und Unterricht immer auch in die formalen Rahmenbedingungen der Organisation eingebunden, in der sie stattfindet. Die pädagogische Bedeutung diagnostischer Handlungen und daran anschließender pädagogischer Maßnahmen ist nicht gänzlich loszulösen von den schulsystemischen Verwertungszusammenhängen, die neben der gezielten Unterstützung der SchülerInnen auch die Vergabe von Noten umfasst, mit denen ihrerseits Selektionsentscheidungen legitimiert werden (können). In mehrgliedrigen Schulsystemen, wie sie in den deutschsprachigen Ländern üblich sind, ist der letztgenannte Verwertungszusammenhang, der sich von pädagogischen Ideen unterscheidet, durchgängig gegeben (Schuck 2007, 147). Er verliert mit der Gestaltung inklusiver Schulen zwar zunehmend an Bedeutung, aufgehoben ist er jedoch noch nicht.

In diesem Buch fokussieren wir die Gestaltung eines diagnosebasierten Unterrichts in der Primarstufe. Diese verstehen wir als Bildungsstufe und grenzen uns damit von Schularten ab, wie sie in den Bezeichnungen Grundschule (in Deutschland) oder Volksschule (in Österreich) zum Ausdruck kommen. Im Verständnis der Primarstufe als Bildungsstufe beziehen wir alle Schularten ein, die dieser zugeordnet werden: neben inklusiven Schulen zählen hierzu auch separative Formen wie die Förder- und Sonderschulen sowie nicht-inklusive Primarstufenschulen. Ebenso wie den Schweizer Kantonen obliegt es auch den deutschen Bundesländern, über die Dauer der Primarstufe zu entscheiden. Diese liegt zwischen vier und sechs Jahren.

In der Primarstufe „bilden Deutsch, Mathematik und Sachunterricht den fachlichen Kernbereich der Grundschule.“ (KMK 2015, 11). Ihnen kommt entsprechend eine bedeutende Rolle zu. In ihnen werden unterschiedliche Lehr-Lerngegenstände, zu denen v.a. der Erwerb kultureller Symbolsysteme zählt, vermittelt. Ziel dieses Buchs ist es, exemplarisch für die zwei Lernfelder aufzuzeigen, wie fachbezogene, diagnostische Prozesse theoretisch fundiert gestaltet und als Grundlage für pädagogische Förderung in einem inklusiven Unterricht herangezogen werden können. Dieses Vorhaben findet seinen Ausdruck in der Konzeption und im Aufbau des Buchs: Im Anschluss an die Einleitung wird zunächst, losgelöst von fachlichen Inhalten, ein schul- und sonderpädagogisches Verständnis von Diagnostik dargelegt. Dies beginnt mit einer Einführung in zentrale Begriffe, mit denen Diagnostik im Kontext von Schule und Unterricht unmittelbar im Zusammenhang steht: Behinderung und Inklusion. Hieran anknüpfend werden unterschiedliche diagnostische Verständnisse und Vorgehensweisen vorgestellt sowie der Zusammenhang von Didaktik und Diagnostik im schulischen Kontext erläutert. Auf dieser Grundlage erfolgt eine Verortung der diesem Buch – vertieft für die Fächer Deutsch und Mathematik – zugrundeliegenden diagnostischen resp. didaktischen Perspektive.

Die Kapitel drei und vier, die über einen vergleichbaren Aufbau verfügen, sind den zwei Unterrichtsfächern Mathematik und Deutsch gewidmet. Sie beginnen mit einer Skizzierung des Fachverständnisses, das dem Unterricht in der Schulstufe zugrunde liegt. Im Anschluss an die Einführung erfolgt eine Beschreibung zentraler theoretischer Fachbezüge und ihrer Bedeutung in diagnostischen Prozessen ebenso wie in der darauf aufbauenden Planung inklusiver Lehr-Lern-Settings. In beiden Kapiteln wird dies anhand von Beispielen erklärt und illustriert. Das Buch schließt mit einem Kapitel, in dem die zuvor erarbeiteten fachspezifischen Perspektiven exemplarisch aufeinander bezogen werden. Die drei zentralen Kapitel enden mit Verständnis- und Anwendungsfragen, die von den Lesenden bearbeitet werden können, um ihr eigenes Verständnis zu überprüfen. Die Antworten finden sich auf der Homepage des Ernst Reinhardt Verlags.

Durch dieses Vorgehen möchten wir einen Überblick über die Möglichkeiten diagnostischen Handelns in und für pädagogische Prozesse geben, die ihrerseits eng mit den fachunterrichtlichen Bezügen verbunden sind. Wir betrachten das Buch als ein Gesamtwerk, das als solches über eine Addition unterschiedlicher Perspektiven – aus Schul- und Sonderpädagogik sowie den Fachdidaktiken – hinausgeht. Entsprechend empfehlen wir für die Lektüre, die fachbezogenen Kapitel nicht losgelöst von Kapitel zwei zu lesen.

2      Pädagogische Diagnostik

Diagnostik und diagnostisches Handeln sind zwei Begriffe, die etwa seit der Jahrtausendwende innerhalb der Diskussionen um die Gestaltung von Schule und (Fach-)Unterricht stark an Bedeutung gewonnen haben. Den einen Bezugspunkt stellt die Veröffentlichung der ersten PISA-Studie der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, kurz nach der Jahrtausendwende dar (Baumert et al. 2001), den zweiten der Gestaltungsauftrag einer inklusiven Schule und eines inklusiven Unterrichts, der seit 2010 im Anschluss an die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention durch Bund und Länder zunehmend Bedeutung erhalten hat.

PISA-Studien

Unter Verweis auf die PISA-Studie, deren Ergebnisse einer breiten Öffentlichkeit aufzeigten, dass die fachlichen Kompetenzen, die SchülerInnen im deutschen Schulsystem erreichen, nicht nur deutlich niedriger als erwartet liegen, sondern auch im Vergleich mit denen, die in den Schulsystemen anderer OECD-Staaten erreicht werden, unterdurchschnittlich sind, wurde nach Erklärungen für diese ernüchternden Ergebnisse gesucht. Eine mögliche Ursache wird in der wenig entwickelten diagnostischen Kompetenz der Lehrpersonen vermutet (Helmke 2012, 127f.). Hieran schließt sich die Forderung an, Diagnostik in den unterschiedlichen Fächern der Lehramtsstudiengänge ebenso wie in der Fort- und Weiterbildung stärker zu thematisieren, da gelingende Lehr-Lernprozesse ein zentrales Qualitätsmerkmal des Schul- und Bildungssystems darstellen (Schuck 2004, 351).

Inklusion

Den zweiten Bezugspunkt stellt Inklusion dar. Es werden neue diagnostische Herangehensweisen gefordert, die unter der Programmatik einer inklusiven Diagnostik aufgerufen werden (z. B. Amrhein 2016; Schäfer / Rittmeyer 2015). Das Ziel dieses Anliegens ist es, der veränderten schulischen und unterrichtlichen Situation auch im diagnostischen Handeln zu begegnen. Schuck warnte bereits 1990 – konfrontiert mit dem Plädoyer einer integrativen Diagnostik – davor, diagnostische Überlegungen losgelöst von pädagogischen Konzepten zu diskutieren, da sich methodische, strategische und strukturelle Fragen diagnostischen Handelns nicht ohne das jeweils zugrunde liegende pädagogische Konzept, dem sie dienen sollen, betrachten lassen (Schuck 1990).

Förder- und pädagogische Diagnostik

Hierin kommt der zentrale Bezugspunkt einer Abkehr von einer selektionsbezogenen Diagnostik zum Ausdruck, ähnlich, wie er sich auch in dem Begriff der Förderdiagnostik findet, der in den 1970er- und 1980er-Jahren innerhalb der Behinderten- und Sonderpädagogik diskutiert und geprägt wurde. Förderung verweist dabei auf das diagnostische Ziel, konkrete Perspektiven für die pädagogische Arbeit mit den SchülerInnen aus der Diagnostik erarbeiten zu können, sie erschöpft sich also nicht in der Zuweisung zu einer spezifischen Schulart. Die Bezeichnung Förderdiagnostik ist selbst in die Kritik geraten, da sie sich am Begriff der Förderung festmacht und so verstanden werden kann, dass vor allem die Lehrperson im förderdiagnostischen Prozess aktiv ist, während der / die SchülerIn passiv bleibt. Diese Kritik mündete in die Bezeichnung der pädagogischen Diagnostik. Weiter wird kritisiert, dass der Begriff Förderdiagnostik impliziert, dass Förderung direkt aus der Diagnostik abzuleiten wäre.

Diagnostik als unterrichtliche Aufgabe

Die Gestaltung eines inklusiven Unterrichts geht zugleich mit veränderten professionellen Aufgaben einher. Waren vorher Grundschullehrpersonen für den Unterricht und die Lehr-Lernprozesse in der sogenannten Regelgrundschule verantwortlich, wurde den SonderpädagogInnen eine parallele Verantwortung in Sonder- und Förderschulen zuteil. Im Kontext von Inklusion arbeiten sie nun gemeinsam und teilen die Verantwortung für den Unterricht und für alle SchülerInnen, die an ihm teilnehmen. Diagnostik ist ein fester Bestandteil ihres kooperativen pädagogischen Handelns. Der Fokus liegt dabei nicht nur auf dem möglichst frühzeitigen Erkennen von Schwierigkeiten, um das weitere Lernen nicht zu behindern und Teilhabe an Lern- und Bildungsprozessen zu eröffnen, sondern der Auftrag ist umfänglicher und grundsätzlicher zu verstehen. Er umfasst die Aufgabe, die jeweiligen Lern- und (fachlichen) Entwicklungsstände der SchülerInnen zu kennen und diese zum Ausgangspunkt für die Gestaltung adäquater und angemessener Lehr-Lern-Arrangements heranzuziehen, die es den SchülerInnen ermöglichen sollen, ihre aktuellen Verständnisse der sozialen und materialen Welt zu erweitern. Das heißt, der Gegenstand und das Vorhaben von Diagnostik gehen deutlich über die Analyse jener Situationen hinaus, in denen ‚lernen scheitert‘ bzw. in denen die Leistungsanforderungen und normativen Erwartungen, die Schule und Unterricht an die SchülerInnen (einer bestimmten Klassenstufe) stellen, mithilfe der bisherigen pädagogischen Erziehungs- und Bildungsbemühungen nicht erfolgreich erreicht werden. Vielmehr bezieht sie sich grundsätzlich auf alle schulischen und unterrichtlichen Lehr- und Lernprozesse (Schuck 2007, 145).

Um die unterschiedlichen Perspektiven auf Diagnostik im Kontext unterrichtlicher Lehr-Lernprozesse und die damit verbundenen Anforderungen, die aktuell an das diagnostische Handeln von Lehrpersonen gestellt werden, nachvollziehen zu können, sollen in diesem Kapitel zunächst die zwei Begriffe Behinderung und Inklusion vorgestellt werden. Mit beiden ist die Entwicklung des aktuellen Verständnisses eng verbunden. War es lange Zeit v.a. die Sonderpädagogik, die sich mit diagnostischen Fragestellungen in der Schule auseinandergesetzt hat, stellt dies heute ein Themenfeld aller in Schulen tätigen Lehrpersonen dar. An diese Ausführungen anschließend wird Diagnostik als die Lernprozesse beschreibende und verstehende Tätigkeit von Lehrpersonen erläutert, die in unmittelbarem Zusammenhang mit Bildungs- und Lehr-Lernbemühungen steht. Hierfür wird auf die differenzierten Ausarbeitungen der Sonder- und Behindertenpädagogik zurückgegriffen, die sich seit den 1970er-Jahren intensiv und kontrovers mit dem Begriff auseinandersetzt. Anhand eines von Schuck (2000) erarbeiteten Modells werden unterschiedliche diagnostische Herangehensweisen, die ihrerseits in verschiedenen theoretischen Perspektiven verankert sind, dargelegt und miteinander verglichen. Das Kapitel schließt mit einem zusammenfassenden Resümee und Perspektiven sowie mit ausgewählten Verständnisfragen.

2.1      Behinderung und Inklusion – zwei zentrale Bezüge pädagogischer Diagnostik

Inklusion ist, wie skizziert, ein zentraler Bezugspunkt in der Diskussion um Diagnostik in Schule und Unterricht. Der Diskurs um Inklusion ist – ebenso wie der zu pädagogischer Diagnostik – wesentlich durch den zu Behinderung geprägt. Letztgenannter wird hier zuerst eingeführt, bevor näher auf Inklusion eingegangen wird.

2.1.1   Behinderung

Behinderung ist ein Begriff, der alltagssprachlich ebenso Verwendung findet wie in wissenschaftlichen und sozialrechtlichen Diskursen. Innerhalb der sonder- und behindertenpädagogischen Theoriebildung stellt er einen zentralen Begriff dar. Im Zusammenhang mit der Diskussion um schulische Inklusion wird er zunehmend auch in schulpädagogischen und fachdidaktischen Zusammenhängen aufgegriffen und rezipiert – meist in Form seiner schulischen Variante, dem sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf. Sowohl in der Behinderten- bzw. Sonderpädagogik als auch in den Disability Studies, einer interdisziplinär ausgerichteten Forschungsrichtung, die Behinderung als soziale, kulturelle und gesellschaftliche Konstruktion versteht, wird seit den 1980er-Jahren ein intensiver Diskurs zum Behinderungsverständnis geführt (z. B. Eberwein 1998a; Köbsell 2015).

Alltags- und Fachbegriffe

Wie andere erziehungs- und sozialwissenschaftliche Fachbegriffe auch unterscheiden sich wissenschaftlich gebräuchliche Behinderungsbegriffe von ihrer alltagssprachlichen Verwendung. Erstgenannte differenzieren sich zudem je nach theoretischer Perspektive, aus der heraus sie definiert werden.

Eine Übersicht über die Verwendung in erziehungswissenschaftlichen Zusammenhängen haben Moser und Sasse (2008) vorgelegt. Diskussionen aus den Disability Studies finden sich u.a. bei Köbsell (2015) und Waldschmidt (2012).

Grob lassen sich in den deutschsprachigen erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Diskursen – zu letzteren zählen auch die Disability Studies – zwei Verständnisse von Behinderung unterscheiden: eins, das als medizinisches oder ontologisches bezeichnet wird, und eines, das sozialwissenschaftlich fundiert ist. Beide Perspektiven sind nicht nur in verschiedenen historischen Kontexten entwickelt worden, sondern auch mit unterschiedlichen Zielsetzungen formuliert.

medizinische Sichtweise

Die medizinische Sichtweise steht für ein Konzept von Behinderung, in dem diese als körperliche oder psychische Schädigung verstanden wird. Behinderung stellt dabei ein Merkmal oder eine Eigenschaft einer Person dar und ist dem Körper entsprechend inhärent, also ihm innewohnend. Die Schädigung, die mit einer Behinderung gleichgesetzt wird, behindert die Betroffenen daran, vollwertig am gesellschaftlichen Leben partizipieren zu können. Das, was eine Behinderung bzw. eine Schädigung ist, wird durch einen Vergleich zu anderen Körpern und ihren Funktionen ermittelt und bestimmt, die als nichtbehindert gelten. Weicht eine Person bzw. ein Körper von dieser konstruierten Norm ab, gilt sie als behindert. Eine Behinderung liegt z. B. vor, wenn jemand drei statt vier Gliedmaßen hat oder seine Hörorgane nicht in der Lage sind, Schall in elektrische Impulse umzuwandeln, die dann als Höreindruck vom Gehirn verarbeitet werden. Behinderung, die in diesem Modell als Merkmal der Person betrachtet wird, ihr also essentialisierend zugeschrieben wird, begründet die Andersartigkeit von Menschen meist losgelöst von Kultur und Gesellschaft. Jetter (1985)kritisierte dieses Verständnis von Behinderung bereits in den 1980er-Jahren wie folgt:

„Es kann nicht hilfreich für einen Menschen sein, wenn man ihn charakterisiert anhand seiner Unzulänglichkeiten, seiner Normabweichungen, fehlender Tugenden, einer Fülle von Unverständlichkeiten und nur pauschaler Weise auf gerade noch Akzeptierbares“ (Jetter 1985, 286).

Eine ausschließliche medizinische Perspektive, wie sie hier skizziert wird, findet sich heute kaum noch. Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO 2005) hat für die International Classification of Functioning, Disability and Health, kurz ICF, ein Modell entwickelt, in dem Schädigungen im Wechselspiel mit sozialen Bedingungen als Behinderungen konzeptualisiert werden (Langner 2017). Behinderungen werden dabei nicht allein in funktionaler Hinsicht, sondern in Relation zur sozialen und materialen Umwelt der Individuen konzipiert. Beispielhaft kann angeführt werden, ob öffentliche Gebäude und Einrichtungen barrierefrei gestaltet sind und / oder Gebärdensprachdolmetschende für gehörlose Personen zur Verfügung stehen. Trotz dieser Erweiterung des medizinischen Modells um soziale und psychische Aspekte lässt sich Behinderung, so eine zentrale Kritik an der ICF-Konzeption, nur entlang eines Verständnisses von Normalität definieren. Behinderung stellt dabei die Abweichung von Normalität dar und steht damit letztlich für ‚Anormalität‘ oder ‚unnormal sein‘ (Hirschberg 2003, 177f.). Ein weiterer Kritikpunkt an diesem ontologischen Modell von Behinderung ist sein dichotomer Charakter, also eine Entweder-oder-Verwendung von Behinderung / Nicht-Behinderung. Der Behinderung wird das (vermeintlich) Normale, das Nicht-behindert-Sein gegenübergestellt – meist ohne, dass dieses Normale selbst thematisiert wird. Die ausschließende und exkludierende Bedeutung von Normalität in diesem Zusammenhang ist im Ansatz des Ableism differenziert untersucht worden. Vergleichbar einem rassismuskritischen Ansatz liegt dem Ableism-Ansatz (able, englisch für fähig) ein analytisches und emanzipativ ausgerichtetes Erkenntnisinteresse zugrunde. Der Ansatz ermöglicht die Analyse und Beschreibung jener expliziten und impliziten Annahmen über allgemeine menschliche Fähigkeiten, die – durch die Allgemeinheit der Annahmen – Menschen ausschließen (Köbsell 2015; Rommelspacher 1999). Bezogen auf Schule und Unterricht wären dies z. B. altershomogene Annahmen über die kindliche Entwicklung.

In der deutschsprachigen Schweiz wird die ICF im schulisch-unterrichtlichen Kontext herangezogen, wenn diagnostische Prozesse im Rahmen schulischer Standortgespräche, vergleichbar der Feststellung von Förderbedarf und der damit verbundenen Entwicklung eines Förderplans, vorgenommen werden (z. B. für den Kanton Zürich: Hollenweger / Lienhard 2010).

sozialwissenschaftliche Perspektive

Konträr zu dieser askriptiven, also Behinderung als individuelles Merkmal zuschreibenden Perspektive und auch aus der Kritik an dieser wurde ein sozialwissenschaftliches Verständnis von Behinderung entwickelt, das anschlussfähig an die von den Vereinten Nationen formulierte menschenrechtliche Perspektive ist (Bielefeldt 2010). Ein zentraler Unterschied gegenüber dem essentialisierenden Ansatz liegt darin, dass Schädigungen und Behinderungen getrennt voneinander konzipiert werden; d. h. eine (körperliche) Schädigung ist nicht identisch mit einer erfahrenen Behinderung. Behinderungen finden in sozialen Interaktionen und Situationen statt, wenn die soziale Teilhabe – die über die physische Anwesenheit hinausgeht – für eine oder mehrere Personen nicht möglich ist bzw. sie nicht teilhaben dürfen oder können. Ein Beispiel hierfür stellen eine Vielzahl architektonischer Barrieren dar – wie fehlende Rampen, elektrische Türöffner und Fahrstühle – die Menschen, die sich im Rollstuhl fortbewegen, daran behindern, selbstständig Gebäude aufzusuchen und an den Geschehnissen darin teilzunehmen. Öffentliche Einrichtungen, wie Schulen, Universitäten und Ämter, sind hiervon (bisher) nicht durchgängig ausgenommen. Das sozialwissenschaftliche Verständnis lässt sich wie folgt auf den Punkt bringen:

Menschen sind nicht behindert, sondern sie werden durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Zusammenhänge behindert.

Neben architektonischen Bedingungen umfasst dieses Verständnis weitere gesellschaftliche Normen und Erwartungen, wie z. B. sich in die Arbeitswelt einzubringen, schulische Leistungsanforderungen (möglichst selbstständig) zu erfüllen und / oder sich in spezifische Formen der Kommunikationsgestaltung zu integrieren (Kap. 3).

Bezieht man dieses soziale Verständnis von Behinderung auf Schule und Unterricht, so entstehen Behinderungen v.a. dann, wenn SchülerInnen die an sie gestellten Erwartungen in dem dafür vorgesehenen Zeitrahmen und mit den ihnen gewährten pädagogisch-didaktischen Unterstützungen nicht erfüllen (können). Die Normen und Erwartungen beziehen sich dabei auch auf die didaktischen Prinzipien, mit denen unterrichtliche Gegenstände vermittelt werden, und damit letztlich auf eine gelungene adaptive Unterrichtsgestaltung. Behinderungen liegen vor, wenn zwischen den expliziten und impliziten Erwartungen und der Fähigkeit Einzelner eine Diskrepanz vorliegt (Weisser 2018). Hier wird Behinderung relational verstanden; entsprechend ist ihre Genese v.a. in den historischen, kulturellen und sozialen Begebenheiten, in denen der / die SchülerIn lebt und sozialisiert ist, zu suchen und nicht im Individuum (Haas 2012, 405).

Die Erklärungen für diese Diskrepanzen sind vielfältig und je nach Einzelfall zu betrachten und zu analysieren. Besonders gefährdet, schulisch zu scheitern oder kaum Erfolg zu haben, sind in den deutschsprachigen Ländern Kinder aus sozial-ökonomisch benachteiligten Familien. In ihrer Lebenswelt, die vielfach von Armut geprägt ist, erfahren sie Perspektiven auf die materiale und soziale Welt, auf Schule und Bildung, die sich von den Erwartungen unterscheidet, die Schule als gesellschaftliche Organisation an sie als Lernende stellt (z. B. Chassé et al. 2007; Jünger 2008).

sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf

In der Erziehungswissenschaft hat sich das sozialwissenschaftliche Modell weitestgehend durchgesetzt. Bildungspolitisch wird Behinderung – bzw. der schuleigene Begriff des sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs – hingegen, wenn auch nicht durchgehend, aber überwiegend individuell verwendet. So sind es nach wie vor die SchülerInnen, die diesen Bedarf attestiert bekommen – anstelle der Schule oder des Unterrichts. Dies hat auch verwaltungstechnische Gründe, da im Sinne eines Nachteilsausgleichs den so klassifizierten SchülerInnen zusätzliche (pädagogische) Ressourcen gewährt werden. Der damit einhergehende Konflikt wird als „Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma“ (Kornmann 1994) bezeichnet. Die kategorisierende Zuschreibung steht zugleich für das Recht auf zusätzliche Unterstützung; ein Verzicht auf dieses käme einem Verlust des Anspruchs gleich (Katzenbach 2015a). Hiervon wären insbesondere gesellschaftlich benachteiligte SchülerInnen betroffen (Herz 2010).

Das jeweilige Verständnis von Behinderung, das der schulischen Organisation formal zugrunde liegt, ist in Relation zu den schulpädagogischen und fachdidaktischen Überlegungen zu betrachten und zu reflektieren, wie weiter unten mit Bezug auf die Diagnostik aufgezeigt wird.

2.1.2   Inklusion

zentraler Begriff

Inklusion ist im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends zu einem zentralen Leitbegriff der Diskussionen um Schule und Unterricht geworden. Dass Inklusion ein derart stark verhandelter Begriff werden konnte, kann wesentlich auf die Ratifizierung der UN-BRK zurückgeführt werden, die ihrerseits bildungspolitische Reformen zur Folge hat. Damit ist es gelungen, Forderungen und Bemühungen, die seit Jahrzehnten von Eltern und WissenschaftlerInnen formuliert wurden, in das Recht auf gemeinsame Beschulung zu transformieren, das – so sieht es die UN-BRK vor – nicht mehr unter Ressourcenvorbehalt gestellt werden darf. Der Diskurs wird nicht nur in der Schul- und Sonderpädagogik, sondern auch innerhalb der Fachdidaktiken geführt. Diese vielfältigen Diskussionen verweisen nicht nur auf viele unterschiedliche Positionen, die verhandelt werden, sondern fordern auch dazu auf, die jeweiligen zugrunde liegenden theoretischen Perspektiven in den Blick zu nehmen.

Doch Inklusion – alltagssprachlich meist verstanden als gemeinsamer Unterricht von SchülerInnen mit und ohne zugeschriebenem sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf – ist ein Themenfeld, das seit den 1970er-Jahren intensiv in der Erziehungswissenschaft diskutiert wird, lange Zeit unter dem Begriff der Integration (z. B. Eberwein 1998a; Schöler 1993). Schulische Integration wurde dabei als Forderung und Reformidee in bildungspolitischen, in erziehungswissenschaftlichen und in fachdidaktischen Diskursen kaum oder nur als Randthema wahrgenommen.

Überblick zur Entwicklung des Diskurses: Müller 2018; Schnell 2003

Der Diskurs zu Integration wurde wesentlich entlang des Verständnisses sonderpädagogischer Diagnostik geführt. Die Entwicklung der Integrationspädagogik (z. B. Eberwein 1998c; Feuser 1995) erfolgte im Zusammenhang mit der sozialwissenschaftlichen Fundierung des Verständnisses von Behinderung und findet seinen Ausdruck auch in einer intensiv und kontrovers geführten Debatte zum Auftrag und Verständnis sonderpädagogischer Diagnostik (z. B. Jetter 1985; Schlee 1985b).

Im Rückblick lassen sich die Entwicklungen als Kritik am „deterministischen Menschenbild der Psychologie“ (Haas 2016, 119) zusammenfassen.

Die Diskussion erfolgte wesentlich durch VertreterInnen der Sonder- bzw. Behindertenpädagogik, die sich gegenüber medizinischen und schulformzuweisenden Perspektiven abgrenzten (Sturm 2016b). Der veränderte Behinderungsbegriff hatte nicht nur entscheidende Bedeutung für die Gestaltung diagnostischer Prozesse, die nicht mehr allein darauf gerichtet sein sollten, „defizitäre Entwicklungsniveau[s] von Kindern festzustellen, um sie an Sonderschulen zu unterrichten“ (Ricken / Schuck 2011, 110). Die Gliederung des Schulsystems – insbesondere mit Blick auf die Sonderschulen – wurde scharf kritisiert. Die wissenschaftlichen Ausarbeitungen stützten die Forderungen v.a. von Eltern behinderter Kinder, deren Recht auf gemeinsame Beschulung umzusetzen (Schnell 2003, 33ff.). Es ist das Verdienst dieser elterlichen Inititativen, die seinerzeit und unter gänzlich anderen bildungspolitischen Rahmenbedingungen als heute agierten, dass Integration resp. Inklusion, wenn auch zunächst nur in Form von Schulversuchen, eingeführt wurde (Böhm et al. 2018; Moser 2017).

Im europäischen und internationalen Vergleich haben viele Schulsysteme Mitte der 1970er-Jahre Integration als leitendes Prinzip ihres Schulsystems eingeführt, wie z. B. Norwegen (Nilsen 2010), Italien (Bräu et al. 2011) und die USA (Johnson 2012).

Mit der Ratifizierung der UN-BRK durch Bundestag und Bundesrat verpflichten sich der Bund und die Länder nun zur Gestaltung eines „inklusiven Bildungssystems auf allen Ebenen“ (United Nations 2006; 2008, Artikel 24, 1) sowie zu einer adaptiven, an den Bedürfnissen der einzelnen SchülerInnen ausgerichteten Unterrichtsgestaltung (United Nations 2006; 2008, Artikel 24, 1c).

Integration und Inklusion

Bis zur Jahrtausendwende wurde im deutschsprachigen Kontext der Begriff Integration zur Beschreibung verwendet. In der Auseinandersetzung mit dem englischsprachigen Fachdiskurs sowie mit den bildungspolitischen Initiativen, wie z. B. der Salamanca-Erklärung, Aktionsrahmen zur Pädagogik für besondere Bedürfnisse der UNESCO (1994), hielt der Begriff Inklusion Einzug in den deutschsprachigen Diskurs. Wenngleich es Perspektiven wie bspw. die von Hinz (2002) gibt, die zwischen den Begriffen Integration und Inklusion einen qualitativen Unterschied markieren, spricht viel dafür, die Begriffe mit Lütje-Klose und Urban (2014) in theoretischer Kontinuität zueinander zu betrachten bzw. sich die jeweiligen theoretischen Bezugnahmen der Definitionen und Beschreibungen sehr genau anzusehen (auch Wocken 2010).

Wie bei anderen sozialwissenschaftlichen Fachbegriffen – und zu so einem ist Inklusion in den letzten Jahren geworden – gibt es nicht eine allgemeingültige Definition. Vielmehr lassen sich viele Lesarten von Inklusion unterscheiden. Katzenbach (2015b) konstatiert, dass die vermehrte Verwendung des Inklusionsbegriffs zu einer „Unschärfe im Gebrauch“ (Katzenbach 2015b, 21) geführt hat. Trotz dieser Kritik plädiert er dafür, weiter an dem Begriff festzuhalten, wenn Fragen von Behinderung, ihrer Bearbeitung und Überwindung im Kontext von Schule und Unterricht beschrieben und Handlungsalternativen aufgeworfen werden.

Die unterschiedlichen Verwendungsweisen finden sich gleichermaßen in den bildungspolitischen wie auch in den wissenschaftlichen Diskursen zu Schule und Unterricht – v.a. den schul- und sonderpädagogischen sowie den fachdidaktischen. Beide, bildungspolitische und wissenschaftliche Diskurse, können an dieser Stelle nur grob und – dies ist auch eine Folge der zunehmend breit geführten Diskussion – knapp skizziert werden.

KMK-Empfehlungen

Neben den Schulgesetzen der einzelnen Bundesländer und den Konzepten und Leitlinien zur LehrerInnenbildung finden die Überlegungen zu Inklusion ihren Ausdruck auch in den Empfehlungen der Kultusministerkonferenz. Die KMK-Empfehlungen von 2011