PANIK! Zwischen Leben und Tod - Wilhelm Karkoska - E-Book

PANIK! Zwischen Leben und Tod E-Book

Wilhelm Karkoska

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Beschreibung

Mai 2014, 21 Uhr. Im weiten Rund des MMC, Münsters angesagtem Kulturcenter, warten bereits mehr als 1 500 Musikhungrige auf den für 22 Uhr angesetzten Konzertbeginn von Jo and the Firewalls. Die Konzertbesucher aus dem näheren und auch weiteren Umland von Münster, viele auch in die Jahre gekommene Fans, sind früh angereist, wollen sich diesen Tournee-Abschluss vor ihrer Haustür nicht entgehen lassen. Die Firewalls, mit ihrem Frontmann und Sänger Joachim Butol, waren in der Vergangenheit immer mal wieder zu Gast im MMC. Joachim Butol und den Betreiber des MMC, Bob Lennartz, ebenfalls ein in Deutschland gefragter Musiker, verbindet seit Jahren eine innige Freundschaft. Unruhe macht sich breit. Die Fans warten darauf, dass das Konzert endlich beginnt. Da tritt Olli Kuhlberg, der Manager der Band, ans Mikrofon mit der knappen Ankündigung. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass das Konzert heute nicht stattfinden kann. Joachim Butol ist im Moment nicht in der Lage auf die Bühne zu kommen Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt. Wo ist JB? lautet die zentrale Frage. Lange tappt die Kripo im Dunkeln, bis sich zunehmend mehr Ermittlungserfolge einstellen. Reicht das, um das Leben von JB zu retten?...Ein spannender Psychokrimi, der in der Musikszene spielt, tiefsinnig, erregend und begeisternd. Genuss bis zur letzten Zeile. Mille Grazie, Willi Karkoska, für das geile Buch. Das geht ja ab wie die Flummis! AhuuuuuuYeah.Udo LindenbergDer bekannteste deutsche Rockmusiker wird entführt. Und wir rätseln und leiden bis zum Schluss mit ihm. Ein Psychothriller, der im wahrsten Sinne des Wortes fesselnd ist.Martin WeideJournalist und Moderator

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis
PANIK-Tournee-Ende
Erklärung des Verfassers
Prolog
Samstag, 24. Mai 2014, 21 Uhr
Sonntag, 25. Mai, 7 Uhr
Montag, 26. Mai, 6 Uhr
Montag, 26. Mai, 9 Uhr
Dienstag, 27. Mai, 7 Uhr
Dienstag, 27. Mai, 6 Uhr
Mittwoch, 28. Mai, 11 Uhr
Donnerstag, 29. Mai, 9 Uhr
Freitag, 30. Mai, 14 Uhr
Freitag, 30. Mai, 19 Uhr
Samstag, 31. Mai, 7:15 Uhr
Samstag, 31. Mai, 6 Uhr
Samstag, 31. Mai, 7:55 Uhr
Samstag, 31. Mai, 20 Uhr
Samstag, 31. Mai, 21 Uhr
Sonntag, 1. Juni
Montag, 2. Juni, 7:45 Uhr
Dienstag, 3. Juni, 7 Uhr
Dienstag, 3. Juni, 8 Uhr
Dienstag, 3. Juni, 15 Uhr
Dienstag, 3. Juni, 16 Uhr
Mittwoch, 4. Juni, 5 Uhr
Donnerstag, 5. Juni, 8 Uhr
Freitag, 6. Juni, 5 Uhr
Freitag, 6. Juni, Erstes Kommissariat Münster, 8 Uhr
Finale
Freitag, 6. Juni, Erstes Kommissariat Münster, 10 Uhr
Freitag, 6. Juni, Erstes Kommissariat Münster, 12 Uhr
Freitag, 6. Juni, Erstes Kommissariat Münster, 16 Uhr
Freitag, 6. Juni, Erstes Kommissariat Münster, 16 Uhr
Trauerspiel
Samstag, 6. Juni, 5 Uhr, Erste Kommissariat, 8 Uhr
Einige Stunden früher
Samstag, 6. Juni, Erstes Kommissariat Münster, 16 Uhr
Weitere Veröffentlichungen des Autors:

„Mille Grazie, Willi Karkoska, für das geile Buch. Das geht ja ab wie die Flummis! AhuuuuuuYeah.“

Udo Lindenberg

Panik!

Neuauflage von PANIK! Das hammerkrasse Tournee-Ende

Zwischen Leben und Tod

 

 

 

 

 

 

 

 

Für meine Töchter

 

Tanja, Inka und Ronja

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

© 2019 Hunter Verlag

https:// hunter-verlag.de

Illustratin: Mike Müller-Reschreiter, Abtenau-Österreich

Coverdesign: Azrael ap Cwanderay

Korrektorat: Malte Eppert

Lektorat: Malte Eppert

Publisher: Hunter Verlag

Printed in Germany by Hunter-Print.de

ISBN-13: 978-3-947086-88-7

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Erklärung des Verfassers

Inhaltsverzeichnis

 

Prolog 7

 

Samstag, 24. Mai 2014 09

Sonntag, 25. Mai, 7 Uhr 34

Montag, 26. Mai, 6 Uhr 41

Montag, 26. Mai, 9 Uhr 43

Dienstag, 27. Mai, 7 Uhr 53

Dienstag, 27. Mai, 6 Uhr 55

Mittwoch, 28. Mai, 11 Uhr 69

Donnerstag, 29. Mai, 9 Uhr 87

Freitag, 30. Mai, 14 Uhr 93

Freitag, 30. Mai, 19 Uhr 102

Samstag, 31. Mai, 7:15 Uhr 108

Samstag, 31. Mai, 6 Uhr 117

Samstag, 31. Mai, 7:55 Uhr 125

Samstag, 31. Mai, 20 Uhr 139

Samstag, 31. Mai, 21 Uhr 148

Sonntag, 1. Juni 154

Montag, 2. Juni, 7:45 Uhr 161

Dienstag, 3. Juni, 7 Uhr 172

Dienstag, 3. Juni, 8 Uhr 179

Dienstag, 3. Juni, 15 Uhr 189

Dienstag, 3. Juni, 16 Uhr 197

Mittwoch, 4. Juni, 5 Uhr 206

Donnerstag, 5. Juni, 8 Uhr 255

Donnerstag, 5. Juni, 18 Uhr 294

Freitag, 6. Juni, 5 Uhr 297

Freitag, 6. Juni, Erstes Kommissariat Münster, 8 Uhr 305

 

Finale 309

Freitag, 6. Juni, Erstes Kommissariat Münster, 10 Uhr 317

Freitag, 6. Juni, Erstes Kommissariat Münster, 12 Uhr 321

Freitag, 6. Juni, Erstes Kommissariat Münster, 16 Uhr 327

Freitag, 6. Juni, Erstes Kommissariat Münster, 16 Uhr 334

Trauerspiel 345

Samstag, 6. Juni, 5 Uhr, Erste Kommissariat, 8 Uhr 345

Einige Stunden früher 356

Samstag, 6. Juni, Erstes Kommissariat Münster, 16 Uhr 358

 

Weitere Veröffentlichungen des Autors: 362

Prolog

 

Mai 2014, 21 Uhr. Im weiten Rund des MMC, Münsters angesagtem Kulturcenter, warten bereits mehr als 1.500 Musikhungrige auf den für 22 Uhr angesetzten Konzertbeginn von Jo and the Firewalls. Die Konzertbesucher aus dem näheren und auch weiteren Umland von Münster, viele auch in die Jahre gekommene Fans, sind früh angereist, wollen sich diesen Tournee-Abschluss vor ihrer Haustür nicht entgehen lassen. Die Firewalls mit ihrem Frontmann und Sänger Joachim Butol waren in der Vergangenheit immer mal wieder zu Gast im MMC. Joachim Butol und den Betreiber des MMC, Bob Lennartz, ebenfalls ein in Deutschland gefragter Musiker, verbindet seit Jahren eine innige Freundschaft. Die hatten sich vor zig Jahren mal in München bei einem gemeinsamen Konzert getroffen und vom ersten Augenblick an verstanden. Eine Begegnung der außergewöhnlichen Art, quasi ET-mäßig. Bestimmt für die Zukunft.

Seit über 30 Jahren begeistern Joachim Butol und seine Band ihr Publikum auf erfolgreichen Tourneen durch Deutschland und andere europäische Länder. Die Wände in Jo Butols Privatunterkunft, einer Hotelsuite im exklusiven 5-Sterne-Hotel Excelsior in Berlin, zeugen von diesem Erfolg, sind tapeziert mit Goldenen und Platin-Schallplatten. Das Konzert im MMC soll den Abschluss des Mega-Tournee-Spektakels 2014 „Immer weiter am Horizont“ bilden. Ein Tournee-Ende, das die Musiker mit 1.600 erwartungsvoll ausharrenden Gästen zusammen feiern wollen.

Unruhe macht sich breit im MMC. Der Beginn des Konzertes ist seit über einer Stunde überfällig. Die Musiker der Firewalls stehen spielbereit hinter der Bühne, warten darauf, dass Jo erscheint. Der Adrenalin-Spiegel in der zunehmend stickiger werdenden Konzertluft des MMC steigt. Wo ist Joachim Butol? Der Frontmann von Jo and the Firewalls, in der Szene JB genannt, wird vermisst. Zuletzt wurde er um 21 Uhr in der Künstlergarderobe backstage gesehen und wie er kurz darauf das MMC mit einer blonden Unbekannten verließ.

Die Suche nach ihm läuft seit einer Stunde auf Hochtouren, ohne Ergebnis. Das Idol ganzer Generationen scheint wie vom Erdboden verschluckt. Nach 90 unendlich lang erscheinenden Minuten wird das Konzert abgesagt, das verärgerte und enttäuschte Publikum kurz über den Grund informiert. Im Raum bleibt die Frage zurück: Was ist mit Joachim Butol passiert?

Auch am nächsten Tag gibt es kein Lebenszeichen von ihm. Hat sich Jo Butol eigenmächtig vor dem Konzert entfernt, ohne die Bandmitglieder zu informieren? Seine Musikerkollegen glauben nicht an eine freiwillige Auszeit ihres Frontmannes und auch Freundes. Schon gar nicht an diesem besonderen Abend. Das Abschlusskonzert der überaus erfolgreichen Tournee 2014 hätte er sich niemals entgehen lassen. Und ganz bestimmt nicht die Mega-Party mit 1.600 erwartungsvollen Fans. JB liebt die Nähe zu seinen Fans.

Dazu kommt die Tatsache, dass es vor einem Konzert bisher niemals passiert war, dass ein Musiker sich klammheimlich verdrückte. Der Begriff Verbrechen fällt. Grund genug dafür, die Kripo in Münster einzuschalten. Hauptkommissar Benno Klöppel und seine Assistentin Oberkommissarin Lau nehmen am nächsten Tag die Ermittlungen auf, ohne konkrete Anhaltspunkte dafür zu haben, dass hier ein Verbrechen passiert sei. Ein prominenter, in ihren Augen auch leicht durchgeknallter Musiker ist seit nicht einmal 24 Stunden überfällig. Kein Grund zur Beunruhigung. Oder doch? Von JB fehlt jedes Lebenszeichen.

Das unerklärliche Verschwinden Jo Butols wird zum Presseereignis. Ganze Trupps von Journalisten belagern das Erste Kommissariat in Münster, immer darauf aus, aktuelle Informationen zu erhaschen. Spekulationen füllen die Titelseiten zahlreicher Zeitungen.

Derweil läuft der Polizeiapparat auf Hochtouren. Suchstaffeln mit Hunden werden eingesetzt, um im Umland von Münster nach dem beliebten Musiker zu suchen – zunächst ergebnislos. Dann ein erster Erfolg. In einem Waldstück in der Nähe von Münster wird eine Lederjacke gefunden. Wie sich herausstellt, handelt es sich um die von Jo Butol …

Samstag, 24. Mai 2014, 21 Uhr

 

„Anfangen! Anfangen!“ Unruhe machte sich breit im weiten Besucherrund des MMC, einem in der Szene angesagten, bei den Künstlern sehr beliebten Veranstaltungsort für Live-Konzerte in der westfälischen Metropole Münster, der Stadt des Westfälischen Friedens von 1648 – urkundlich belegt. Betrieben wurde das MMC von Thomas Lennartz, einem in Deutschland viel gefragten Profimusiker in der Jazzszene, der eigentlich so gut wie nie vor Ort war, weil er irgendwelchen Engagement-Verpflichtungen nachkommen musste. Auch an diesem Abend war er nicht persönlich greifbar, beglückte zeitgleich das Publikum mit seiner die Töne singen lassenden Bassgitarre als Gastmusiker beim Kenny-Cockham-Konzert in Berlin.

Nationale und internationale Popgrößen hatten sich seit Jahrzehnten in Münsters Music-Center verausgabt, schweißtreibend alles gegeben, um den Konzertbesuchern ein unvergessliches Musik-Event mit nicht selten akrobatischen Einlagen von unzähligen Meistern auf ihren Instrumenten zu bieten – der Lohn für die häufig nicht geringen Eintrittspreise. Auch an diesem Abend sollte es wieder so sein. Sollte …

Der Chor der pfeifenden und „Anfangen“ schreienden Zuhörergemeinde nahm zunehmend ohrenbetäubende Dezibel-Dimensionen an. Das Publikum brachte seinen Unmut durch immer lauter werdende Zurufe zum Ausdruck. Die Firewalls, die backstage darauf warteten, endlich auf die Bühne zu stürmen, sahen sich mehr als ratlos an. Sie wollten die Zuhörer besänftigen und mit ihrer Musik in eine Welt der Hörnerv streichelnden, kunstvoll zusammengefügten Moll- und Durakkorde, gemixt mit musikalischen Phantasien und Emotionen, entführen. Und die Fans warteten auf Jo und seine Jungs. Sie liebten ihr Idol. Seine unverwechselbare, leicht rauchige, nuschelnde Stimme. Joachim Butol war ein Künstler der Ausnahmeklasse, genau wie seine Kollegen bei den Firewalls, von denen jeder sein Musikinstrument auf hohem qualitativem Niveau beherrschte. Wenn Jo Butol danach war, übernahm er schon einmal spontan während eines Konzertes einen Gitarrenpart, zauberte wie Eric Clapton. Münster wartete an diesem Abend auch darauf.

Das noch gar nicht begonnene Konzert dieser vom Ruhm umarmten Musiktitanen stand kurz davor zu kippen. Es hätte um 22:00 Uhr anfangen müssen. Das letzte Konzert im Rahmen der Club- und Hallen-Tournee 2014 war seit einer halben Stunde überfällig. Das Musikspektakel im MMC sollte den Schlusspunkt unter eine bis dahin mehr als erfolgreiche 40-jährige Bandkarriere mit unzähligen die Nation beglückenden Hits in allen möglichen Charts setzen.

Die vom Erfolg verwöhnten Rock’n’Roll-Akrobaten hatten sich das MMC extra wegen seiner familiären, fast schon intimen Atmosphäre mit sehr guter Akustik ausgesucht. Keinen der großen, für die etwas ins Alter gekommenen Jungs sonst üblichen Konzerttempel in Deutschland mit einem durch die Security-Crew gut gesicherten, vom Publikum aber deutlich abgetrennten Bühnenbereich, viel zu weit weg vom großen Teil des Publikums. Die Band hatte es immer wieder in Interviews bedauert, dass unzählige Fans in den hinteren Rängen in vorherigen Konzerthallen vom Geschehen auf der Bühne kaum etwas mitbekamen. Gefühlt waren sie meilenweit entfernt.

Das Bühnenbild mit einer weit in das Zuschauerrund hinausragenden Bühne sollte hier ein wenig Abhilfe schaffen. Die Band liebte es, ganz nah dran zu sein an den zur Musik nicht immer rhythmisch im Takt wippenden, dazu umso lauter klatschenden Konzertbesuchern, an ihren Fans, die sich bei vielen Hits wie in Trance in einem nicht mehr zu dirigierenden Chor aus unzähligen, sich im Refrain vereinenden, nicht immer die richtigen Töne treffenden Kehlen zusammenfanden. Wie die Chöre der Fans vieler Fußballclubs vor einem Spielbeginn klang dies, schaurig beeindruckend.

Jetzt warteten 1.600 zunehmend unruhiger werdende Musikfreunde auf ein Feuerwerk der musikalischen Überraschungen, auf einen Abend, der ihnen als unvergessliches Erlebnis angepriesen worden war. Wie recht die Veranstalter mit diesem Werbeslogan behalten sollten, war im Vorfeld dieses Abschlusskonzertes wohl niemandem klar gewesen. Dieser Event sollte den mittlerweile berechtigterweise verärgerten Konzertbesuchern tatsächlich lange im Gedächtnis bleiben.

„Wo ist John? Dieser verdammte Kerl. Der ist doch sonst immer so pünktlich.“ Piet Drexler, der Schießbudenchef der Band, ein Drummer der absoluten Ausnahmeklasse, meldete sich zu Wort. Er war mit seinen 51 Jahren der Benjamin der Truppe. Ein auf Frauen wirkender Charmeur. Bei einem Konzert band er sich sein schulterlanges blondes Haar regelmäßig hinten zu einem Pferdeschwanz zusammen, gehalten durch eine rote Schleife. Das gefiel der Damenwelt. Wenn Piet auf die Bühne kam, wurde er mit einem Sonderapplaus bedacht. Dieser ansonsten eher unauffällige Typ, dem sein Schlagzeug näher zu sein schien als sonst irgendetwas anderes auf diesem Erdball, konnte seinen Unmut nicht mehr unterdrücken: „Der ist bestimmt noch dabei, irgend so eine Tussi zu vögeln.“

„So kann man es auch nennen. Wäre nicht das erste Mal, dass Jo sich auf diese Art und Weise seinen nötigen Adrenalin-Kick holt. Klar, da war doch eine in seiner Garderobe. Mit der hat Jo sich ganz intensiv unterhalten.“ Charly Stone, der Sologitarrist der Firewalls, der nie älter wurde als 55, aber im wirklichen Leben stramm auf die 65 zuging, stieg nun in das Gespräch mit ein. Er war mit dem nicht gerade üppigen Namen Karl-Heinz Fahrenkötter ausgestattet, der ihm aber zu profan war. „Das passt nicht zu ihm. Er ist doch einer von den Hundertprozentigen. Unpünktlichkeit hasst der wie die Pest. Hat er mit irgendeinem von euch gequatscht?“

„Der ist doch mit dieser Blonden rausgegangen.“ Peter Plaun, im Gegensatz zu seinem Kollegen überzeugte 66 Jahre alt, der Rhythmusgitarrist, wohnhaft in der Bundeshauptstadt Berlin, trug mit seiner Beobachtung zum Gespräch bei.

„Und wenn wir nicht bald rausgehen, ist hier gleich die Hölle los.“ Paul Simpson, 65 Lenze, der Keyboarder mit englischen Vorfahren, schätzte die Lage richtig ein. Die Unruhe wuchs inflationär im MMC. Es würde nicht mehr lange dauern und die explosive Stimmung in der Konzerthalle würde sich in einem riesigen Emotionsknall entladen.

„Es muss jedenfalls sofort was passieren. Sonst steht der Laden gleich Kopf. Und auf irgendeinen Ärger habe ich überhaupt keinen Bock. Wir müssen jetzt ganz cool bleiben.“ Jürgen Koller, er hatte gerade seinen 64. Geburtstag gefeiert, der Bassartist der Band mit seinem nicht zu kopierenden, ureigenen Spielstil, der in der Szene als Basstronik-Groove bezeichnet wurde, in Musikerkreisen hieß er nur Jam, versuchte seine Musikerkollegen zu beruhigen. Er hatte zusammen mit Johnny, der 2 Jahre älter war als er, in einer anderen Zeit, in der gute Musiker noch eine echte Chance hatten, auf dem Erfolg und Ruhm versprechenden Musikmarkt der unbegrenzten Möglichkeiten Karriere und Geld zu machen, die Firewalls ins Leben gerufen. Die anderen Jungs waren nach und nach dazugekommen.

„Du hast gut reden. Und was machen wir jetzt? Die Leute fackeln gleich die Hütte ab.“

„Wir können nicht ohne John raus.“

John, von seinen Kollegen auch Johnny Wirbel oder JB genannt, schüttelte immer irgendwelche Projekte aus den Ärmeln, so, als wenn das für ihn das Normalste von der Welt sei. Der Kerl kam niemals zur Ruhe. Routinemäßig war er immer derjenige, der als Erster das Publikum durch einen coolen Spruch auf das bevorstehende Konzert einstimmte. Ein Mega-Kreativbündel. Schlaf schien er nicht zu benötigen. Er lebte ohnehin einen völlig anderen Lebensrhythmus. Die Nacht machte er zum Tag. Am Tag gönnte er sich dann kurze Ruhepausen. Mit bürgerlichem Namen hieß er Joachim Butol, war so etwas wie der Kopf von Jo and the Firewalls, wenngleich die Band immer Wert auf die Feststellung legte, dass Jo nicht der Bandleader war, sondern dass das ganze Unternehmen vielmehr eine zusammenhängende Einheit ohne nach außen hin besonders in Erscheinung tretende Musikerpersönlichkeiten mit besonderen Rechten sei. Irgendwie war er es aber schon. Bei Auftritten hatte er immer eine besondere Außenwirkung. Alleine seine Funktion als Stimme der Band machte ihn beim Publikum präsenter. Viele Fans identifizierten Jo and the Firewalls über den Gesang von JB und dadurch bedingt mit der Person Joachim Butols.

Zwischen den Musikern entbrannte eine lebhafte, mit viel Emotionsfeuer angereicherte Diskussion.

„Verdammte Scheiße. Ausgerechnet beim letzten Konzert.“

„Ich sehe schon die Headlines in den Zeitungen von morgen vor meinen Augen. ‚Eklat beim Jo and the Firewalls-Konzert im MMC. Musiker völlig am Boden.‘“

„Dann können die Pressefritzen sich wieder einmal so richtig auskotzen.“

„Das ist noch nett ausgedrückt. Ändert aber nichts an unserem jetzigen Problem.“

„Leute, da ist was faul, irgendwas nicht koscher. Johnny würde niemals ohne Grund ein Konzert versäumen.“

„Genauso sehe ich das auch.“

„Ich war in seiner Garderobe. Jo hat seine kompletten Sachen mitgenommen.“

„Da muss was passiert sein.“

„Und was bringt uns diese Feststellung? Wir brauchen jetzt eine Lösung.“

„Charly, du hast doch immer so gute Ideen. Also raus damit.“

Charly Stone hatte sich bis dahin zurückgehalten, kaum an diesem verbalen Durcheinander beteiligt. „Piet, hör auf, mich so blöde anzuquatschen.“ Er fühlte sich offensichtlich von seinem Kollegen angegriffen.

Die Musiker der Firewalls prügelten zunehmend verbal unkontrollierter aufeinander ein, verloren ein wenig die Kontrolle. Wieder einmal versuchte Jam die Wogen zu glätten. „Stopp. Es bringt doch gar nichts, wenn wir uns jetzt gegenseitig an die Gurgel gehen. Aber Piet hat recht. Eine Lösung muss her.“

Die Konzertbesucher waren jetzt nicht mehr zu bremsen. Johnny-Johnny-Anfangen-Aufhören-Geld-zurück-Rufe hallten aus dem Konzertsaal in den Backstage-Bereich. Es herrschte völliges Durcheinander. Dazu gab es ein ohrenbetäubendes Pfeifkonzert.

Zahlreich anwesende Medienvertreter versuchten sich Zugang zum Backstage-Bereich zu verschaffen. Die Presseleute hatten Lunte gerochen, wussten, dass da irgendetwas nicht stimmen konnte. Ihre Bemühungen blieben jedoch ohne Erfolg, die Anweisung für die Security-Leute war eindeutig: Niemand wird nach hinten durchgelassen.

Hinter der Bühne war unterdessen der Teufel los. Im Backstage-Bereich standen bühnenerfahrene Erfolgsmusiker, die mit dieser Situation völlig überfordert zu sein schienen. Die Nerven lagen zum Greifen nahe blank am Boden.

„Ich gehe jetzt raus.“ Jam übernahm weiter die Initiative.

„Und was willst du den Leuten erzählen? Dass Johnny gerade mit irgendeiner Tussi rumvögelt und das Konzert gestrichen ist?“

„Es ist doch sowieso alles im Arsch. Die Sache ist gelaufen. Wir müssen schauen, dass wir jetzt möglichst unbeschadet von der Bühne kommen.“

„Hat jemand Olli gesehen?“

„Ja, der kann doch rausgehen.“

Der Tourmanager der Band, Olli Kuhlberg, stand kurze Zeit später zwischen den Musikern, denen langsam die Nerven durchgingen. Er hatte bis zu diesem Zeitpunkt ohne Erfolg nach Jo gesucht, alle möglichen Leute angerufen, die als Anrufstationen für den Frontmann der Firewalls infrage kamen. Es hätte doch sein können, dass Jo, vom spontanen Burnout- oder Angstattacken-Vampir überfallen, in seiner Scheiß-Lage versucht hatte, zu irgendjemandem Kontakt aufzunehmen. Weg von der Bühne. Weg von seinen Kollegen, die ja auch seine Freunde waren.

Jo schien wie von einer sich wie bei einem Erdbeben plötzlich vor ihm auftuenden Erdspalte verschluckt, nicht mehr erreichbar für irgendjemanden von außen. Mittlerweile war das Konzert eine Stunde überfällig. Jetzt musste die Entscheidung fallen. Noch länger hätte man das Publikum nicht hinhalten können.

„Olli, geh du raus.“

„Das werde ich. Jungs, den Schuh müsst ihr euch nicht anziehen.“ Sichtlich nervös wischte sich der Manager die Schweißperlen von der Stirn. Die Jungs von der Band merkten ihrem gestandenen, bühnenerfahrenen, leicht untersetzten Mann für alle Fälle seine Unsicherheit an. Auch dem ohnehin mittlerweile hypersensiblen Publikum würde diese Flatterphase nicht entgehen. Solch eine Situation hatte Olli Kuhlberg bis dahin bei einem Konzert während seiner langen Profizeit als Tour-Begleiter noch nicht erlebt. Unberechenbare Musiker-Typen waren für ihn keine Seltenheit. Manch ein Konzert kam nur zustande, weil er vor Konzerten aus der Reihe tanzende Musiker mit verrückten Sonderwünschen durch seine ureigene Art und eine entsprechende persönliche Ansprache in die richtige Spur brachte. Die Szene hatte Respekt vor ihm.

Für Olli Kuhlberg kam dieser Bühnenauftritt einem Gang nach Canossa gleich. Vor knapp 940 Jahren hatte es den Investiturstreit gegeben. Im Januar 1077 war Heinrich IV., der im Jahr zuvor von Papst Gregor VII. exkommuniziert worden war, frierend mit Ehefrau und Sohn im Büßergewand zum Castello nach Canossa gezogen. Nur durch die Vermittlung der Gräfin Mathilde von Canossa hatte Papst Gregor VII. den seit drei Tagen barfuß im Schnee wartenden König empfangen und nach dieser Demutsbezeugung den Bann wieder aufgelöst. Olli Kuhlberg jedenfalls fühlte sich jetzt ähnlich beschissen. Auch er musste in gewisser Weise das Publikum um Nachsicht bitten. Er wusste nicht, was ihn erwartete, war auf das Wohlwollen des Publikums angewiesen. Jetzt nur keine Nerven zeigen, souverän diese Absage der ganz außergewöhnlichen Art hinter sich bringen. Das war sein Ziel. Langsam, aber mit sicherem Schritt ging er auf die Bühne, so als wollte er den Beginn des Konzertes und seine Jungs ansagen. Dazu passte nur nicht, dass im selben Moment das grelle, für die Augen unangenehm blendende Neonlicht im MMC anging, die bis dahin noch strahlenden bunten Scheinwerfer ablöste und jedwede noch vorhandene gute Reststimmung abtötete. Der größte Teil der Besucher im Saal hatte es längst gespürt: Auf der Bühne passiert etwas Außergewöhnliches.

„Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten?“

Das immer noch permanente Durcheinander-Gemurmel, Pfeifen, Äußern von Unmutsbekundungen verstummte. Das Publikum registrierte sofort, dass der Mann auf der Bühne etwas Wichtiges zu sagen hatte.

Selbstsicher ging Olli Kuhlberg an das Mikrofon. „Sie werden sich fragen, weshalb ich hier stehe.“

„Sie werden uns das gleich schon erzählen.“ Kopfnickend und wild mit den Armen umhergestikulierend meldete sich ein Konzertbesucher, der aussah und auftrat wie ein Abgesandter der 60er Generation. Er sonnte sich ganz offensichtlich darin, für einen kurzen Moment im Mittelpunkt zu stehen. Laut schrie er seinen Unmut in das weite Rund des MMC. Andere schlossen sich ihm an.

Für Olli Kuhlberg kam es jetzt darauf an, die sich langsam wieder hochschaukelnde Unruhe unter den fast zur Ruhe gekommenen Konzertbesuchern im Keime zu ersticken. Er war Profi genug, hatte viele Konzerte miterlebt, bei denen es nicht nur im Ausnahmefall zu Handgreiflichkeiten mit dem Security-Personal durch empörte Konzertbesucher gekommen war. Fans können unberechenbar sein. Mal war es der Sound, der Zuhörer stinksauer machte, ein anderes Mal erschien ein Konzert den Anwesenden zu kurz, sie fühlten sich um ihr Geld betrogen. Olli wusste genau, würde ihm es nicht gelingen, die Leute zu beruhigen, hätte niemand dafür garantieren können, was am Abend weiter passiert. Das Inventar des MMC war nach einem abgesagten Konzert in so einem Fall möglicherweise keinen Pfennig mehr wert. Zuschauer waren auch aus der weiteren Umgebung von Münster her angereist, um den Tournee-Abschluss live und hautnah mit zu erleben.

Dazu schoss Olli Kuhlberg in diesem Augenblick noch ein anderer, nicht gerade stimmungsförderlicher Aspekt durch den Kopf. In seiner Gedankenzentrale verschaffte sich ein verdammtes Wort immer breiteren Raum: Konventionalstrafe. Die betrug für dieses Konzert nach Abklärung der Schuldfrage immerhin 20.000 Euro. Geld, wofür die Musiker hätten aufkommen müssen, quasi im Kollektiv. So sah es der Gruppenvertrag vor. Olli erinnerte sich, die wieder wütender werdenden Konzertbesucher vor Augen, an Farbbeutel schmeißende Fans bei einem Konzert als Vorband der Weltklasse-Truppe Flying Stones in Hannover, die die Firewalls an diesem Abend einfach nicht haben wollten, sondern ungeduldig darauf warteten, dass endlich ihre Heros auf die Bühne kamen. Das reichte schon aus, um ein Konzert in ein für eine Band nur schwer zu verkraftendes Psycho-Fiasko ausarten zu lassen. So etwas sollte sich unter gar keinen Umständen wiederholen.

Mit deutlicher Stimme bediente Olli Kuhlberg weiter das Mikrofon: „Das werde ich. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass das Konzert heute nicht stattfinden kann. Joachim Butol ist im Moment nicht in der Lage, auf die Bühne zu kommen. Ihre Eintrittsgelder können Sie sich bei Ihrer Verkaufsstelle zurückerstatten lassen.“

„Was ist mit Jo?“

„Ja, genau. Was ist mit ihm?

„Es ist unser gutes Recht, da mehr zu erfahren.“

Durch diese Ansage fühlten sich viele Zuschauer angespornt, in die Debatte mit einzusteigen, hielten sich mit Frage-Zurufen nicht zurück, wollten wissen, was da los sei. Die aufgewühlte Stimmung erhitzte sich inflationär, kroch in den letzten Winkel des MMC.

„Ich bitte um Ihr Verständnis. Ich kann mich dazu im Moment nicht näher äußern. Ich bitte Sie, den Saal zu verlassen.“

Die Pressevertreter sahen ihre Chance gekommen. So leicht ließen sie sich nicht abspeisen und hakten energisch nach. Besonders Karl Köppler, ein bei den Musikern gut bekannter, für den Kulturteil zuständiger Journalist bei der Westfälischen Rundschau, ließ nicht locker. Er galt in der Szene als harter Hund und schrieb für seine Zeitung in der gesamten Region wahrgenommene Artikel, keine Presseberichte für den Papierkorb. In Münster galt er als die ungekrönte Nummer 1 unter seinen Schreibkollegen. „Ist Jo Butol dazu nicht in der Lage, heute das Konzert zu spielen, weil er gesundheitliche Probleme hat? Er ist doch wieder trocken. Oder?“

„Ich weiß nicht was Sie mit Ihrer Frage bezwecken wollen, Herr Köppler. Ich kann mich nur wiederholen: Mehr ist im Moment nicht zu sagen.“ Olli Kuhlberg versuchte nicht zu verbergen, dass ihn diese Fragen völlig nervten. Dennoch reagierte er besonnen und ließ sich nicht provozieren. Grund genug dafür hätte es gegeben. Er blieb ruhig, behielt die für diese Pressekonferenz der besonderen Art notwendige Souveränität.

„Bedeutet das, dass er im Moment nicht gesund ist?“

„Hatte er einen Schwächeanfall?“

So ging es Schlag auf Schlag weiter. Andere Journalisten schossen spitzfindige Fragen nach. Presseleute haben vielfach ein Gespür dafür, wenn der Hauch einer Sensation in der Luft liegt. Vielfach könnte man meinen, sie würden anstehende Topereignisse im Vorfeld förmlich riechen, Geschehnisse, die Material für einen Sensationsartikel mehr in ihren Zeitungen liefern, immer im Dienste einer hohen Leserquote. Presseredakteure sind wie Kletten. Wenn sie sich mal irgendwo an ein Thema drangehängt haben, lassen sie nicht wieder locker.

„Sie werden die Begründung für die heutige Konzertabsage erfahren. Das darf ich ihnen versprechen. Ich wünsche ihnen noch einen guten Nach-Hause-Weg.“ Olli Kuhlberg verließ die Bühne in Richtung Garderobe im eigenen Schweiß badend. Das war sein bisheriges Meisterstück in seiner gesamten beruflichen Laufbahn gewesen. Durch seine ruhige Art hatte er das Publikum besänftigen können. Nicht ein Farbbeutel flog, so wie beim Konzert mit den Flying Stones. Das MMC wurde auch nicht abgefackelt. Nicht ein Tropfen Frustblut floss, weil sich aufgebrachte Fans nicht zurückhalten konnten und ihre Fäuste im Gesicht der Security-Crew platzierten. Geprügelt wurde dennoch reichlich, Gott sei Dank nur mit Worten. Unter lautem Getöse und einem Wirrwarr an Durcheinander-Gerede verließen die Besucher das MMC. Spekulationen, was mit Jo passiert sein könnte, machten die Runde und beschäftigten einen Großteil der Konzertbesucher auf dem Nach-Hause-Weg.

Olli Kuhlberg war mittlerweile zur Band zurückgekehrt, nachdem er sich etwas frisch gemacht und sich selbst runtergebracht hatte, denn auch er hatte während seines Auftrittes unter einem absoluten Adrenalin-Schub gestanden. Die Stimmung in der Garderobe war niedergeschlagen. Die Musiker der Firewalls hatten eine Konzertabsage dieser Art noch nicht erlebt, und das bei über 30 Jahren Bühnen- und Konzerterfahrung.

„Olli, das hast du gut hingekriegt. Vor allem, du hast die Ruhe bewahrt.“

„Wer weiß, was sonst passiert wäre.“

„Jetzt bin ich wirklich gespannt auf die Presse von morgen.“

„Köppler war wieder mal ganz besonders bissig. Wahrscheinlich hatte der Stress mit seiner Freundin.“

„Was wollen die denn schreiben? Die wissen doch nichts.“

„Presse muss nichts wissen, Presse kann spekulieren.“

„Nur zu gerne machen die das“, ergänzte Paul Simpson. „Erinnert ihr euch noch daran, als Jo vor 10 Jahren im Krankenhaus lag? Damals wurde aus einem Bauchtumor, zunächst bösartig und dann doch gutartig, schließlich eine Blinddarmentzündung.“

„Und was machen wir jetzt? Sollen wir auch spekulieren, was mit Jo ist?“ Jam lenkte das Gespräch in die Richtung des eigentlichen Problems. Und das lautete: „Wo ist Jo?“ Der war noch immer wie vom Erdboden verschwunden. Niemand aus der Band hatte von ihm eine erklärende SMS bekommen. Nicht einmal er selbst. Die beiden verband eine tiefe Freundschaft.

„Jam, wenn es ihm dreckig ginge, hätte er sich bei dir doch mit hundertprozentiger Sicherheit gemeldet. Ihr habt doch ein fast brüderliches Verhältnis zueinander.“ Piet brachte die Sache auf den Punkt. Jeder der Musiker stand unter einem Adrenalinschub.

Paul Simpsons Blutdruck kletterte in die Höhe in Richtung 200. Er war Hypertoniker, konnte ohne Blutdruck senkende Mittel nicht mehr vernünftig leben. Die hitzig geführte Debatte setzte sich in der Künstlergarderobe des MMC noch einige Zeit fort.

„Hat er aber nicht.“

„Dann ist da irgendetwas anderes passiert.“

„Das muss mit der Blonden zu tun haben.“

„Mein Gott, ’ne Blonde gab’s doch schon bei vielen Konzerten. Die hätten dann ja alle ausfallen müssen.“

Charly Stone schritt ein: „Leute, wir machen doch jetzt nicht mehr als die Pressefritzen. Wir spekulieren und spekulieren, versuchen uns eine Erklärung zusammen zu basteln. Was soll das bringen? Wahrscheinlich löst sich morgen alles von alleine auf. Und Jo kehrt wieder zurück aus dem weiten Nirwana und entschuldigt sich bei uns. Also cool bleiben.“

„Charly hat recht. Wir sollten einfach abwarten. Das mit heute Abend ist natürlich obergroße Kacke. Das hätte er nicht machen dürfen. Darüber können wir aber reden, wenn er wieder da ist.“

„Stimmt. Lasst uns ins Hotel fahren. Irgendwie bin ich durch diesen ganzen Mist ziemlich daneben.“ Paul war der erste, der andeutete, die Runde der Spekulationen und Szenarien-Konstrukteure aufzuheben und den Tag noch mit einem Schlummer-Drink in der Hotelbar ausklingen zu lassen. Die Firewalls beendeten den Abend nach einem Konzert traditionell in der jeweiligen Hotelbar des Spielortes mit ihrem Spezialgetränk, einem Cocktail mit dem Namen „After Concert“. Einem Mix aus hochprozentigem Whisky mit Fruchtbeilage.

Gesagt, getan. Die Musiker verließen das MMC durch den Backstage-Ausgang. Der auf der Rückseite des MMC parkende Bandbus brachte die sichtlich ratlos wirkenden Popstars ohne weitere Belästigungsversuche durch die Presse ins Hotel. Zurück blieben ein geplatztes Konzert und die Erinnerung an verärgert grölende Zuschauer.

Und dann war da ja noch dieses Problem. Wo ist Jo? Jeder von den Firewalls nahm ein undefinierbares, flaues Gefühl im Magen mit ins Hotel. Ein sich unangenehm anfühlendes Brodeln, das sie permanent beschäftigte. Keiner der Musiker hakte die Angelegenheit an diesem Abend einfach ab. Ihnen war im tiefsten Inneren bewusst: Irgendetwas völlig Außergewöhnliches musste mit Johnny passiert sein. Etwas, was für die gesamte Band in der Zukunft von großer Bedeutung sein würde.

So ganz konnte die Band in der Hotelbar das Geschehene nicht ausblenden. Dafür beschäftigte es jeden einzelnen der Musiker viel zu sehr. Piet wirkte zerzaust, sah völlig genervt aus. Peter Plaun glänzte mit einem wie auf Rot geschalteten Ampelkopf und mit einem Blutdruckwert von mindestens ebenfalls 200 wie bei Paul. Den anderen ging es ähnlich. Der sonst mit viel Genuss einverleibte „After Concert“ wollte an diesem Abend nachvollziehbarerweise einfach nicht munden. Es gab viel Gesprächsstoff. Zur Tagesordnung überzugehen und sich ins Bett zu legen, hätte nichts gebracht. Keiner der Beteiligten wäre zu einem geruhsamen Schlaf gekommen. Jeder der Musiker stand noch voll unter Adrenalin, war weit davon entfernt, entspannt die Decke über den Kopf ziehen und diesem beschissenen Tag Gute Nacht sagen zu können.

Das folgende nächtliche Rätselraten war nichts anderes als eine logische Verhaltenskonsequenz, eine Reaktion, um das Geschehene irgendwie zu verarbeiten, endlich runterzukommen. Über ein Problem zu reden, ist dafür eine gute Methode. Den Firewalls war das nicht unbekannt. In der Vergangenheit gab es zahlreiche emotionsgeladene Nachbesprechungen von Konzerten in der Hotelbar, die, unterstützt durch den Genuss des einen oder auch anderen „After Concert“ zu viel, in der Regel dazu führten, dass danach jeder mehr oder weniger entspannt die verbleibende Nachtruhe genießen konnte. Solch eine hitzige Debatte zog sich auch schon mal über 2 bis 3 Stunden hin. Wie lange würde sie dieses Mal dauern?

„Verdammt, wo ist der Kerl?“

„Ich habe zigmal versucht ihn anzurufen. Aber sein scheiß Handy ist ausgeschaltet.“

„Wie soll’s jetzt weitergehen? Wir müssen doch was unternehmen.“

„Ja, aber was?“

„Johnny ist alt genug. Der weiß genau, was er tut.“

„Scheinbar aber nicht. Sonst hätte er sich gemeldet.“

„Irgendwie müssen wir aber reagieren.“

„Olli, hast du einen Vorschlag?“

„Woher? Im Moment können wir nichts machen. Wir müssen abwarten.“

„Und wie lange sollen wir warten? Vielleicht bis zum Sankt Nimmerleinstag?“ Paul wirkte ziemlich mit seinen Nerven am Ende. Er wusste, dass dieses nächtliche Gequatsche nichts bringen würde und trotzdem für alle mehr als wichtig war.

„Wir sollten uns überlegen, wie wir morgen reagieren. Ihr könnt doch sicher sein, dass morgen früh die Pressegeier vor dem Hotel lauern und auf reichlich Beute aus sind. Denen müssen wir dann was zum Fraß hinwerfen. Sonst geben die keine Ruhe. Köppler ist bestimmt der erste in der Reihe morgen früh.“ Jams Vorschlag wurde von den anderen wieder kopfnickend bejahend angenommen. „Wir sollten morgen dann aber zusammen frühstücken. Ist 10 Uhr ok?“

Der Termin stand für alle – bis auf Jo. Die Party in dieser Nacht war vorbei. Alle waren darüber froh. Die Ereignisse des Tages hatten jeden Beteiligten ein hohes Maß an Kraft entzogen. Dass die Musiker einen Tag gemeinsam mit einem Frühstücks-Buffet begannen, kam eher seltener vor. Jeder hielt das, wie er wollte. Piet war mehr der Frühaufsteher, Charly dagegen ließ sich bei den anderen meistens vor 12 Uhr mittags nicht blicken. Und auch Jo gehörte eher zu denen, die zur späten Mittagszeit in den neuen Tag mit einem Kaffee einstiegen.

 

 

Sonntag, 25. Mai, 10 Uhr

Jam war der erste, der am nächsten Morgen den Frühstücksraum des Seeblick-Hotels, einer romantisch am Aasee in Münster gelegenen 5-Sterne-Herberge, betrat. Olli Kuhlberg hatte für die Firewalls extra den kleinen Konferenzraum reservieren lassen. Die Jungs wollten unter sich sein, in Ruhe den Tag beginnen, noch einmal über das am vorherigen Abend ausgefallene Konzert und natürlich über das Zentralereignis sprechen. Sie wollten eine Strategie entwickeln, wie man weiter mit der Angelegenheit umgehen sollte. Denn eines war gewiss, die Presse stand Gewehr bei Fuß und wartete in der Hotellobby auf weitere Infos. Für die Presse sollte mindestens eine zufriedenstellende Meldung über Joachim Butols gestrige Abwesenheit herausspringen, eine Erklärung für die Absage des Konzertes.

Wie erwartet hatten bereits Karl Köppler und andere Kollegen im Hotel Stellung bezogen und sich den ersten Kaffee einverleibt. Alle warteten gierig darauf, die Firewalls in der Hotellobby abzupassen und aus den Musikern irgendwelche Neuigkeiten herauszuquetschen.

Köppler sah Jürgen Koller, der noch ein wenig verschlafen wirkte, und stürmte direkt auf ihn zu. Um in den kleinen Konferenzraum zu gelangen, in dem ein vielfältiges Frühstücksbuffet aufgebaut war – denn jeder der Musiker hatte seine kulinarischen Vorlieben –, musste die Band durch den großen Frühstücksraum gehen. Das war die Chance für die Pressevertreter, nah an die Musiker heranzukommen. „Guten Morgen Jam. Gut geschlafen? Frühstückt ihr heute mit dem kompletten Team?“

Ohne darauf zu reagieren, ging Jürgen Koller geradewegs zum reservierten Konferenzraum. Die Security des Hotels hielt die Journalisten davon ab, ihm zu folgen. Sie sorgte dafür, dass auch die anderen Bandmitglieder unbeschadet in den Frühstücksraum gelangten. Schnell waren die Jungs beim Thema. Keiner der Bandmitglieder hatte in der Zwischenzeit etwas von Jo gehört. Der Informationsstand des Vorabends war unverändert. Die Spekulationsarie vom Vortag setzte sich bei den Firewalls fort.

„Ganz schöner Rummel heute Morgen.“

„Wundert euch das? Die Pressegeier wittern doch eine Sensation.“

„Und, kriegen sie die?“

„Das liegt nicht an uns. Das liegt an Jo.“

„Das heißt, wir fangen jetzt genau da wieder an, wo wir gestern aufgehört haben?“

„Hat jemand eine bessere Idee?“

„Wir können jetzt jedenfalls nicht zur Tagesordnung rübergehen und so tun, als sei nichts passiert.“

„Die Presse wird keine Ruhe geben, bevor die von uns nicht eine Erklärung bekommen haben.“

„Die sind wie die Geier. Die wittern doch reichlich Beute.“

„Was sollen wir denen erzählen?“

Kuhlberg, der zwischenzeitlich mit der für die Tour zuständigen Konzertagentur Lippe & Tau aus Frankfurt gesprochen hatte, schaltete sich ein. „Ich habe heute Morgen mit Fred Tau telefoniert und gestern übrigens auch die halbe Nacht mit ihm gesprochen. Er machte folgenden Vorschlag: Wir sollen noch einen Tag länger im Hotel bleiben, die Presse abwimmeln und darauf verweisen, dass es heute im Laufe des Tages eine Presseerklärung gibt.“

Fred Tau, der mit der Band schon seit vielen Jahren gut zusammenarbeitete, Jo und seine Macken gut kannte, hatte die Hoffnung geäußert, dass der Frontmann der Firewalls im Laufe des Tages wieder auftauchen werde. Die Band solle seiner Meinung nach zum jetzigen Zeitpunkt das Verschwinden von Jo nicht überbewerten. Paul Simpson nahm diesen Gedanken auf: „Wir müssen Fred zustimmen. Was ist letztendlich bis jetzt passiert? Jo ist uns abhandengekommen. Gut, vor einem Konzert war das eine Premiere, aber machen wir uns nichts vor: Jo war doch immer für eine Überraschung gut. Keiner von uns kann erklären, was da gestern passiert ist. Das kann nur er selber. Ich hoffe, er wird das Rätsel bald auflösen. Ich bestreite aber nicht, das Ganze ist ausgesprochen merkwürdig. Das sind aber viele Dinge im Leben.“

Peter Plaun sprach Jürgen Koller direkt an: „Jam, hast du eine Eingebung, wie es weitergehen soll? Die Jungs von der Presse warten. Die werden wir ohne irgendein Statement von uns nicht los.“

„Peter, das weiß ich auch. Also gut: Wir warten bis 15 Uhr. Olli gibt eine kurze Presseerklärung und wir schalten danach die Kripo ein, wenn Johnny sich bis dahin nicht gemeldet haben sollte. Ist das für euch ok?“

„Von mir aus können wir es so machen. Sollen die dann weiterforschen. Ist doch deren Job. Beamte. Dazu werden die auch noch gut bezahlt.“

Auch Piet erklärte sich einverstanden. Die anderen Musiker der Truppe stimmten ihm zu. Eine Strategie war geboren.

Das Thema war für diesen Morgen gegessen. Was sollten die Firewalls auch machen? Auch sie mussten die Zeit bis 15 Uhr überbrücken. Jeder wartete auf seine Art darauf, dass Jo endlich ein Lebenszeichen von sich ins Universum hinaus in Richtung Münster senden würde.

Olli Kuhlberg vertröstete die in der Lobby des Hotels ausharrende Presse mit der kurzen Meldung: „Meine Damen und Herren, ich werde an gleicher Stelle um 15 Uhr eine Presseerklärung abgeben. Ich bitte um Ihr Verständnis. Mehr ist im Moment nicht zu sagen.“

Diese kurze Erklärung öffnete der Presse die Tür zum Raum der nicht kalkulierbaren Spekulationen. Die würden kommen, da war sich Kuhlberg sicher. Presseleute sind sehr kreativ, oftmals verbissen und darauf aus, Sensationsmeldungen zu produzieren. Was sie bis jetzt erfahren hatten, war nicht mehr als ein Fliegenschiss und zu nichts zu gebrauchen.

Ohne auf die erwarteten spontanen Nachfragen der Pressevertreter einzugehen, ließ Kuhlberg die anwesenden Journalisten zwar nicht im Regen stehen, aber ohne eine befriedigende inhaltliche Aussage zum Verschwinden von Joachim Butol zurück. Den Presseleuten blieb nur übrig, als den gerade noch bestellten Kaffee auszutrinken, das Feld zu räumen und um 15 Uhr wieder zurückzukommen.

Die Zeit bis zum Pressetermin zog sich hin wie Kaugummi. Die Jungs blieben im Hotel. Keiner von ihnen traute sich nach draußen in die Arme der vor dem Hotel ausharrenden, gierigen Journalisten. Jeder von den Firewalls betätigte sich auf seine Weise als Privatdetektiv und versuchte, Freunden und Bekannten irgendwelche Infos zu entlocken. Die Akkus ihrer Smartphones liefen heiß. Irgendwo musste Jo sich doch verkrochen haben. An ein Verbrechen dachte zu diesem Zeitpunkt niemand. Auch die Musiker waren genau wie ihr Agent Fred Tau fest davon überzeugt, dass sich das Rätsel um Jos Verschwinden von allein lösen würde.

Pünktlich um drei Uhr trat Olli Kuhlberg vor die Schar der schon etwas länger wartenden Pressevertreter, die lautstark damit beschäftigt waren, untereinander die Situation zu analysieren und mit ihren Redaktionen zu telefonieren. In Münster hatte sich in der Presseszene zwischenzeitlich in Windeseile herumgesprochen, dass im Hotel Seeblick kurzfristig eine Pressekonferenz zum unerklärlichen Abhandenkommen von Joachim Butol anberaumt worden sei. Das roch verdächtig nach einer Sensationsmeldung. Keiner der für die lokalen Printmedien tätigen Redakteure wollte sich dieses Ereignis entgehen lassen. Auch die Printmedien aus den benachbarten Kreisen hatten Journalisten nach Münster geschickt. Dazu kam das Lokalfernsehen vom WDR, das sein Studio in Münster betrieb. Das Presseaufkommen war erheblich größer als tags zuvor beim abgesagten Konzert im MMC: eine beeindruckende Pressekulisse, die sich so mancher Politiker für seine öffentlichen Auftritte im lokalen Wahlkreis gewünscht hätte.

Kuhlberg wusste, dass er mit seiner Pressemeldung bei den Journalisten einen Sturm an Rückfragen entfachen würde. Er stellte sich auf einen Frage-Antwort-Marathon ein, wirkte entspannt und aufgeräumt. Seine Stimme war klar, nicht zittrig, Anzeichen von Nervosität waren nicht erkennbar. Ruhig stellte er sich vor das aufgebaute Mikrofon.

„Meine sehr geehrten Damen und Herren, vielen Dank dafür, dass Sie hierhergekommen sind. Sie wissen, dass das Konzert der Firewalls gestern Abend im MMC abgesagt wurde. Der Grund ist: Joachim Butol ist seit gestern Abend verschwunden. Er hat sich bisher nicht bei Mitgliedern der Band oder sonst irgendjemandem gemeldet. Allen Beteiligten ist sein Verhalten völlig unbegreiflich. In der Vergangenheit ist bei Konzerten der Firewalls Vergleichbares nicht vorgekommen.

Joachim Butol gilt zudem als absolut zuverlässig. Es kann nicht mehr ausgeschlossen werden, dass besondere Umstände zu seinem Verschwinden geführt haben. Die Firewalls haben sich daher dazu entschlossen, nach dieser Pressekonferenz die Kriminalpolizei Münster einzuschalten. Eine Erklärung von der Agentur der Band, Lippe & Tau aus Frankfurt, für die Polizei ist bereits unterwegs. Bitte stellen Sie jetzt Ihre Fragen.“

„Was verstehen Sie unter besonderen Umständen?“ Karl Köppler war wieder einmal der Erste, der mit einer Frage einstieg. Das Frage-Antwort-Szenario kam ins Rollen.

„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Da gibt es viele Deutungsmöglichkeiten.“

„Können Sie das näher beschreiben?“

„Deutungsmöglichkeiten sind immer spekulativ. Und an Spekulationen werde ich mich nicht beteiligen.“

„Aber Sie haben doch eine Vermutung?“

„Ich habe mich doch gerade klar geäußert. An Spekulationen werde ich mich nicht beteiligen.“

„Sie vermuten also, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte.“

„Das haben Sie gesagt, nicht ich.“

„Aber Sie schließen das nicht aus?“

„Kein Kommentar.“

„Wann ist Jo zum letzten Mal gesehen worden?“

„Gestern Abend. Eine Stunde vor Konzertbeginn.“

Eine Frage jagte die nächste. Der Wissensdrang der Journalisten schien unerschöpflich. Sie glaubten, nun ihre Sensationsmeldung im Laptop zu haben, die Information, auf die sie im Stillen gehofft hatten. In Gedanken bastelten einige der Presseleute bereits an der Formulierung: „Joachim Butol verschwunden. Liegt ein Verbrechen vor?“ Wäre Joachim Butol in der Zwischenzeit aufgetaucht, hätte es bestenfalls für eine knappe Meldung in den Nachrichten gereicht, die ungefähr so hätte lauten können: „Der bekannte Rockmusiker Joachim Butol hat sich heute früh telefonisch bei seinen Band-Kollegen gemeldet. Nach Informationen des Tourmanagers der Band sprach er dabei von einem Burnout als Grund für sein Verschwinden. Weiterhin gab er an, sich zurzeit in einem Hotel in den Niederlanden zu befinden, um sich auszuruhen. Wie uns Olli Kuhlberg weiter mitteilte, geht es Joachim Butol nach seinen eigenen Angaben körperlich gut. Die Polizei schließt eine Entführung aus.“ Besser war da schon die Aussicht auf einen ganz sicher das Interesse großer Teile der Bevölkerung weckenden Kriminalfall. Der Fragemarathon ging weiter. Die Pressehyänen hatten Beute gewittert, davon ließen sie nicht wieder ab.

„Seit gestern Abend 21 Uhr gibt es demnach kein Lebenszeichen mehr von ihm?“

„Das ist korrekt.“

„Was gedenken Sie weiter zu tun?“

„Ganz sicher werden wir nicht mehr länger warten.“

„Das bedeutet? Wollen Sie ohne ihn abreisen?“

„Ich hatte bereits erwähnt, dass die Kripo in Münster eingeschaltet ist. Wir werden heute noch in Münster bleiben, für Befragungen zur Verfügung stehen und morgen abreisen.“

„Heißt das, Sie vermuten, es könnte ein Verbrechen vorliegen?“

Olli Kuhlberg war klar wie Kloßbrühe, dass er an dieser Stelle dem Ganzen ein Ende setzen musste. Die Pressevertreter jedenfalls machten nicht den Anschein, die Veranstaltung ihrerseits beenden zu wollen. „Haben Sie bitte Verständnis dafür, dass ich jetzt keine Fragen mehr beantworten werde. Weitere Informationen erhalten Sie von den Ermittlungsbehörden. Ich möchte da nicht vorgreifen.“

Die Pressekonferenz war vorbei, Kuhlberg geschafft. Das war für ihn ein härteres Stück Arbeit gewesen als die Konzertabsage vom gestrigen Abend.

Solange die Band in Münster weilte, musste jeder von den Musikern damit rechnen, von irgendeinem Journalisten, der plötzlich wie aus dem Nichts auftauchte, mit Fragen überfallen zu werden. Die Ausbeute der Pressevertreter bei diesem kurzfristig angesetzten Statement war nicht sehr ergiebig, bestenfalls gut für eine dramaturgische Headline in den Zeitungen. Damit würde sich die Presse nicht zufriedengeben, sich nicht wie ein ausgehungertes Huhn mit ein paar Futterkörnern abspeisen lassen. Dies war viel zu wenig, die Presseleute waren hungrig nach Informationen, verlangten nach mehr Details. Das bisher Erfahrene reichte gerade mal für einen kurzen Artikel in der Montags-Ausgabe. Da musste mehr rauszuholen sein. Die Firewalls stellten sich auf einen Tagesverlauf mit unvorhersehbaren Ereignissen ein.

„Wir müssen auf die Kripo warten. Ich schlage vor, dass niemand das Hotel verlässt. Hier ist es ganz sicher ruhiger als draußen.“ Jam machte wieder einmal einen Vorschlag, der von den anderen akzeptiert wurde. Bis zum Eintreffen der Kripo konnte es nicht mehr lange dauern.

Kurze Zeit später stand ein ungleiches Paar vor der Rezeption des Seeblick-Hotels und hielt der Hotelangestellten ihre Polizeiausweise vor die Nase. „Kripo Münster. Wir werden von Herrn Kuhlberg erwartet.“

„Natürlich. Ich melde Sie sofort an.“

Kurz darauf stand Olli Kuhlberg in der Lobby des Hotels. „Kuhlberg, Tourbetreuer der Band. Es ist schön, dass Sie so schnell kommen konnten.“

„Hauptkommissar Klöppel. Meine Assistentin, Frau Oberkommissarin Lau.“ Erfahren professionell stellte HK Klöppel das Team vor. „Ich würde mir zunächst gern einmal das Zimmer von Joachim Butol anschauen. Das können Sie doch sicher veranlassen?“

Olli Kuhlberg wandte sich an die Rezeptionsdame des Hotels. Die schien einen Moment lang irritiert zu sein, fing sich aber sofort wieder. „Einen Moment bitte. Ich werde den Manager des Hotels, Herrn Köhler, dazubitten. Mit ihm können Sie dann alles Weitere klären.“

Kurz darauf öffnete der Hotelmanager das Zimmer von Joachim Butol. Das Hotelzimmer war nur für eine Nacht gebucht worden, entsprechend sah es in der Räumlichkeit aus – nicht so, als wollte sich ein Hotelgast für längere Zeit hier einquartieren. Der Koffer war nicht ausgepackt, nur das Notwendigste hatte Jo Butol daraus entnommen. Im Kleiderschrank hingen ein paar Garderobestücke und auch Outfits für die Konzerte. Bei den Firewalls hatte jeder Musiker seinen eigenen Stil, den er nach außen präsentierte. Jo war mehr der Coole, so mit Lederhose, Nietengürtel, Lederschuhen und engem Shirt mit einem politischen Slogan drauf. Das aktuelle trug die Aufschrift „Lieben ohne Grenzen“.

Benno Klöppel und Karin Lau sahen sich im Zimmer um, ohne dass ihnen etwas Besonderes auffiel. Dem Hotelmanager gefiel der Auftritt der beiden ganz und gar nicht, zumal HK Klöppel darauf bestand, das Zimmer nicht mehr zu betreten, solange die Ermittlungen im Hotel noch nicht abgeschlossen seien: „Es kann sein, dass wir in den nächsten Tagen das Zimmer noch einmal näher untersuchen müssen.“ Daraufhin ließ der Hauptkommissar das Zimmer versiegeln. Hotelmanager Köhler blieb nichts weiter übrig, als dieser Maßnahme zuzustimmen.

„Es gibt hier doch sicher Möglichkeiten, unter vier Augen zu reden.“ HK Klöppel verpackte Fragen gern einmal in Aussagen.

„Natürlich. Ich schlage vor, Sie gehen in den kleinen Konferenzraum. Den hatte die Agentur ohnehin für die Musiker gebucht.“

Tourmanager Kuhlberg ergänzte die Ausführungen des Hotelmanagers: „Die wären sonst nicht zum ruhigen Frühstücken gekommen. Sie können sich denken, dass die Abwesenheit von Joachim Butol nicht anonym geblieben ist. Und Sie kennen doch die Presse.“

Hauptkommissar Klöppel, ein 40-jähriger, in feinen Zwirn gekleideter Staatsdiener von schlanker Gestalt, sah sich im Frühstücksraum um und musterte aufmerksam die Örtlichkeit bis in die letzte Ecke hinein. Mit seinen 190 cm Körpergröße hatte er einen guten Weitblick. Er trug halblanges blondes Haar mit einem ordentlich nach rechts gekämmten Scheitel. Bekleidet mit einem dezent blaugestreiften Anzug von gehobener Qualität sowie einem weißen Oberhemd ohne Krawatte, hätte er auch als Manager in der freien Wirtschaft oder als Politiker in Berlin durchgehen können. Eine gewisse Außenwirkung konnte man ihm nicht absprechen. Ein echter Frauentyp eben, bei dem alles zu stimmen schien bis hin zu seinen hochwertigen schwarzen Lederhalbschuhen, die auf sein gesamtes übriges Outfit abgestimmt waren. Dazu war er noch zu haben. Für die Kripo in Münster arbeitete er seit drei Jahren und hatte während dieser Zeit einige Fälle erfolgreich gelöst. Ursprünglich kam er aus dem Ruhrgebiet. Als waschechter Bochumer konnte er seinen Ruhrpott-Dialekt, der immer mal wieder durchkam, nicht vertuschen. „Könnten Sie die Mitglieder der Firewalls dazu bitten?“

„Kein Problem.“

Kurze Zeit später war die gesamte Truppe im Frühstücksraum versammelt.

„Hauptkommissar Klöppel. Meine Assistentin Oberkommissarin Lau, Kripo Münster. Ich bin ein großer Bewunderer Ihrer Musik.“

Bei dieser Aussage ihres Chefs konnte Oberkommissarin Lau nur die Augen verdrehen. Innerlich dachte sie: „Der und ein Fan von Joachim Butol und den Firewalls. Dass ich nicht lache!“

„Ihr Kollege, Joachim Butol, ist seit gestern spurlos verschwunden?“

„Das stimmt.“ Kuhlberg war der Erste, der Klöppel antwortete.

„Sie gehen davon aus, dass ihm etwas Außergewöhnliches passiert sein könnte. Sie haben doch Vermutungen.“

Wieder übernahm Kuhlberg. „Sicher, es kommt schon mal vor, dass sich ein Musiker völlig unerwartet eine Auszeit vom Business gönnt. Aber Jo Butol? Niemals.“

„Wieso sind Sie sich da so sicher?“

„Ach wissen Sie, ich kenne ihn jetzt schon eine Ewigkeit. Auf solchen Touren kommt man sich menschlich schon sehr nahe, erfährt so viel Neues und in vielen Fällen auch Überraschendes voneinander. Solch ein Verhalten vor einem Konzert passt nie und nimmer zu ihm. Jo ist die Zuverlässigkeit in Person. Er tickt wie ein Schweizer Uhrwerk, wenn Sie verstehen, was ich damit sagen will.“

„In Ihrer Branche mal für eine gewisse Zeit unterzutauchen ist nach Ihrer Meinung aber doch nichts Besonderes. Das machen viele, haben Sie angedeutet. Warum nicht jetzt auch Jo Butol?“

HK Klöppel ließ nicht locker. Jo Butol war gerade mal seit weniger als 24 Stunden überfällig. Nach solch einer kurzen Zeit aus dem bekannten Ereignis einen Ermittlungsfall zu machen, entsprach nicht seinem kriminalistischen Vorgehensmuster. Hätte er sich von dem leiten lassen, hätte er mindestens bis zum nächsten Tag gewartet und erst dann offiziell die Ermittlungsarbeit aufgenommen. Er fühlte sich zu früh am Platz. Aus kriminalistischer Sicht war noch nichts Entscheidendes geschehen. Ein durchgeknallter Star-Musiker hatte sich vor einem Konzert verflüchtigt, nicht mehr und nicht weniger. Dennoch: Klöppel vertagte die Angelegenheit nicht bis zum nächsten Tag. Sein kriminalistischer Spürsinn sagte ihm ganz gegen seine Erfahrung: „Benno, darum musst du dich kümmern. Und zwar unmittelbar.“ Unter diesem Eindruck stieg Hauptkommissar Klöppel in die Ermittlungsarbeit ein. Nach einer kurzen Dienstbesprechung mit seiner Assistentin setzte er die Allgemeinbefragung der Musiker der Firewalls fort: „Wann haben Sie Joachim Butol zuletzt gesehen?“

Olli Kuhlberg wandte sich an den Sologitarristen der Firewalls. „Piet, du hast ihn doch so gegen 21 Uhr noch in der Garderobe des MMC getroffen.“

„Ja, ich wollte vor dem Konzert noch mal kurz mit ihm reden. Er hatte aber keine Zeit. Da war doch auch diese blonde Tussi.“

Oberkommissarin Karin Lau war attraktiv, schlank, 29 Jahre alt, ungeschminkt, blond und hatte die Haare nach hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie war eine Einser-Absolventin der Polizeischule in Münster-Hiltrup, die aussah wie eine Sozialpädagogikstudentin der Fachhochschule Münster. Bekleidet war sie mit einer dunkelblauen Jeans, einer weißen, leicht gekräuselten Bluse und rotem Blazer, dazu blauweiß gestreiften Turnschuhen. Sie fühlte sich von dieser Aussage des Drummers der Firewalls offenbar angesprochen. Bis dahin hatte sie sich noch dezent zurückgehalten, nun aber hakte sie energisch, mit leicht angehobener, fast schon sarkastisch-patzig klingender Stimme nach. „Eine Blondine also. Dann kann ich Ihre Charakterisierung als ‚blöde Tussi‘ natürlich verstehen. Kannten Sie sie?“ Sie fühlte sich durch dieses Macho-Gehabe persönlich angegriffen. Während ihres Studiums war sie Mitglied bei den Grünen gewesen, Spezialgebiet Frauenrechte. Die Einschätzung von Piet Drexler hatte bei ihr voll ins Schwarze getroffen und ganz offensichtlich ihr Ego berührt.

„Oh entschuldigen Sie. Ich wollte nicht … Nee, die habe ich vorher noch nie gesehen.“ Piet Drexler lenkte ein, er hatte den Braten längst gerochen.

OK Lau machte mit der Befragung weiter. „Können Sie oder irgendjemand sonst von den Anwesenden diese Frau näher beschreiben?“

Es folgte allgemeines Gemurmel der Musiker untereinander. „Ich hatte die ja nur kurz im Blick.“ „Ich habe die gar nicht gesehen.“ Auch Jam trug seinen Teil zum Gespräch bei. So ging es weiter, ohne Struktur, nur ein Durcheinander an Satzfragmenten war zu hören. Karin Lau versuchte, die Sprachfetzen aufzufangen und sich Notizen zu machen.

Klöppel nahm seine Kollegin zur Seite. „Frau Lau, so funktioniert das nicht. Haben Sie das nicht auf der Polizeischule gelernt? Vernehmungen sind immer allein durchzuführen. Sonst kommt nicht viel dabei rum. Das sind Künstler. Die sehen sich ständig auf der Bühne. Erst recht, wenn sie interviewt werden. Die haben dann immer viel zu reden, wollen vor ihrem Interviewer glänzen. Geben wir jedem von ihnen dazu die Gelegenheit. Wir brauchen von jedem eine Aussage. Aber als Soloauftritt.“

Hauptkommissar Klöppel wandte sich an die wartenden Musiker der Band. „Meine Herren, wir würden Sie gerne einzeln befragen. Eine bestimmte Reihenfolge haben wir nicht festgelegt. Darf ich mit Ihnen anfangen?“ Er zeigte auf Charly Stone.

Die im Konferenzzimmer angebrachte Uhr stand mittlerweile auf 17 Uhr. Die Befragung hatte gerade erst begonnen, befand sich noch in den Kinderschuhen. Allen Beteiligten waren sich einig: Das würde dauern, bis alle durch waren. Der Abend war damit verplant.

Alle anderen verließen den Befragungsraum und warteten im Nebenzimmer auf ihren Auftritt. Lust darauf hatte keiner von ihnen.

„Sie heißen also Charly Stone. Ist das so etwas wie ein Künstlername?“ Karin Lau begann mit der Befragung.

„Wenn Sie so wollen.“

„Und wie heißen Sie mit bürgerlichem Namen?“

„Karl-Heinz Fahrenkötter.“

„Na ja, dann sollten Sie lieber bei Charly Stone bleiben.“ Der Bumerang für die „blöde Tussi“ war ihr geglückt. „Wann haben Sie gestern Joachim Butol zuletzt gesehen?

„Das muss so gegen 21 Uhr gewesen sein.“

„Also eine Stunde vor dem Konzertbeginn?“

„Ja. Ich wollte ihm einen Vorschlag unterbreiten. Ich war mit der von ihm festgelegten Reihenfolge der Stücke, die wir in Münster spielen wollten, nicht so ganz einverstanden.“

„Kann man sagen, dass Sie verärgert waren?“

„Ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Nee, nee, verärgert war ich nicht. Eine etwas veränderte Reihenfolge wäre meiner Meinung nach nur besser gekommen.“

„Aber Sie haben nicht mit ihm geredet?“

„Ich habe ihn angesprochen. Er hat mich aber abblitzen lassen.“

„Sie deuteten an, dass er nicht alleine war.“

„Ich hatte doch schon gesagt, da war diese blonde Frau. Die kannte ich aber nicht.“

Klöppel stieg in das Gespräch mit ein und wirkte ein wenig ungeduldig. „War das bei Ihnen üblich, dass sich kurz vor einem Konzert unbekannte … was weiß ich, ich sage mal ‚Fans‘, in der Garderobe aufhalten konnten?“

„Absolut nicht. Ich habe mich da auch gewundert. Normalerweise kommt niemand ohne Ausweis in den Backstage-Bereich rein.“

„Aber es scheint ja Ausnahmen zu geben.“

Oberkommissarin Lau meldete sich wieder zurück und führte die Befragung energisch fort. „Können Sie diese Frau beschreiben? Außer, dass sie blonde Haare hatte?“

„Ich war ja nur ganz kurz mit in der Garderobe von Johnny. Wissen Sie, wir schauen uns die Frauen, die bei Konzerten einfach so auftauchen, nicht mehr genau an.“

„Aber irgendetwas muss Ihnen doch aufgefallen sein. Irgendeine Kleinigkeit. Was hatte diese Frau an? War sie eher dick oder schlank?“

„Frau Lau, ich habe Ihnen doch gerade gesagt, dass ich die nur kurz gesehen habe. Ich glaube, sie hatte einen kurzen roten Rock an. Ach ja, sie trug schwarze Nylon-Strümpfe und hatte schlanke Beine. Und sie trug so eine Art T-Shirt mit kurzen Armen in weiß.“

„Das ist Ihnen also aufgefallen.“

„Ich stehe nun einmal auf Nylons. Die geben einem Bein das gewisse Etwas. Sie würden auch gut zu Ihnen passen, bei Ihrer Figur.“

Karin Lau wirkte etwas verunsichert. Diese Form von Komplimenten war sie nicht gewohnt. Irgendwie fühlte sie sich aber auch geschmeichelt. „Sie können doch bei Ihrer Frauenkenntnis sicherlich auch etwas zum Aussehen sagen. Die Augenfarbe wird Ihnen doch aufgefallen sein.“

„Nein, die Frau saß doch von der Eingangstür weggewandt seitlich in der Garderobe. Ich konnte sie mir nicht genau ansehen.“

„Und das Alter? Versuchen Sie sich ihr Bild noch einmal vor Augen zu führen.“

„Wenn ich sage, dass die 40 war, ist das spekulativ. Vielleicht war sie auch älter, was weiß ich.“

Wieder stieg Hauptkommissar Benno Klöppel ein. „Ist Ihnen in der letzten Zeit irgendetwas Außergewöhnliches an Joachim Butol aufgefallen? Hat er sich in der Band anders verhalten als sonst? Wirkte er nervöser oder angespannter? Da könnte jede Kleinigkeit wichtig sein.“

„Also, ich habe nichts bemerkt. Der war wie immer. Ich kann Ihnen da nicht helfen.“

„Vielen Dank, Herr Fahrenkötter. Oder muss ich sagen ‚Mr. Stone‘? Wenn Ihnen dennoch noch etwas einfällt, hier ist meine Karte.“

„Danke.“ Charly Stone bewegte sich langsam auf den Ausgang vom Konferenzsaal zu.

„Ach ja, noch eine Frage zum Schluss. Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Joachim Butol einschätzen?“

„Wenn Sie meinen, ob wir Stress miteinander hatten, muss ich Sie enttäuschen. Wir hatten ein gutes, freundschaftliches Verhältnis zueinander. Wissen Sie, bei den Firewalls ist der gute Zusammenhalt ein wesentlicher Meilenstein für den Erfolg. Wenn man sich untereinander nicht grün ist, kann da nichts gehen.“

Die Befragung der anderen Musiker zog sich hin. Niemandem war etwas aufgefallen. Alle hatten ein sehr gutes Verhältnis zu Joachim Butol, untereinander natürlich auch. Hauptkommissar Klöppel und seine Assistentin Karin Lau konnten nichts Brauchbares aus den Musikern herausquetschen. Vor dem Beginn der Befragungen stand ein großes Fragezeichen im Raum – an diesem Zustand hatte sich bis jetzt nichts verändert.

Nach der Befragung von Paul Simpson, er war der Letzte in der Reihe gewesen, sahen sich HK Klöppel und seine Assistentin etwas ratlos an. Klöppel wirkte ein wenig gereizt. „Ein bisschen mehr hatte ich mir schon versprochen. Aber so? Alle haben sich lieb. Jeder wünscht dem anderen nur das Beste. Eine glückliche Familie. Wer es glaubt, wird selig.“

Karin Lau antwortete auf die Schlussfolgerung ihres Chefs: „Erfolgreiche Musiker sind auch nur Menschen.“

„Ja, eben. Deswegen. Kennen Sie eine Familie, in der es nicht ab und an mal knallt? Irgendetwas stimmt da nicht, das sagt mir mein kriminalistischer Spürsinn. Und der hat mich bisher nicht im Stich gelassen. Wir müssen bei dieser blonden Nirwana-Gestalt anfangen. Ich glaube, da liegt der Schlüssel.“

„Aber nicht mehr heute, Herr Klöppel. Haben Sie mal auf die Uhr geguckt? Ich habe schon seit über einer Stunde Feierabend. Ich weiß genau, weshalb ich mich bis jetzt noch nicht für einen festen Partner entschieden habe. Weshalb haben Sie eigentlich keine Beziehung? Oder gibt es da etwas, was Sie verschweigen? Jeder hat doch so seine Geheimnisse.“

„Frau Lau, Sie lenken ab. Wir sollten jetzt überlegen, wie wir weitermachen.“

„Die Firewalls sind doch morgen noch in der Stadt. Wir bitten sie einfach zum Frühstückskaffee um 9 Uhr ins Kommissariat und nehmen uns jeden einzeln noch einmal vor. Wir brauchen doch nur zwei Fragen zu wiederholen: ‚Wie war Ihr Verhältnis zu Jo Butol? Ist Ihnen noch etwas zum Aussehen der blonden Unbekannten eingefallen?‘“

Der Vorschlag von Oberkommissarin Lau sagte Klöppel zu. „Frau Lau, Respekt! Gute Idee. Aus Ihnen wird noch einmal was.“

„Gut, das wird den Herren allerdings nicht gefallen. Und mit dem Kaffee wird’s etwas schwierig. Unser Kaffeeautomat ist doch schon seit Tagen defekt.“

„Dann müssen die das eben so aushalten. Sie werden dadurch schon keinen Schaden erleiden. Außerdem, ein 100-prozentiger Fruchtsaft am Morgen ist allemal besser als eine Koffeindröhnung. Von denen trinkt doch jeder am Morgen eine ganze Kanne alleine.“ Karin Lau war keine Freundin von übermäßigem Kaffeekonsum. Sie stieg maximal mit einer Tasse entkoffeiniertem Kaffee in den neuen Tag ein. Dazu gab es ein Glas reinen Fruchtsaft.

Im Nachbarraum, in dem alle Firewalls und Olli Kuhlberg warteten, teilten die beiden ihre Entscheidung den Anwesenden mit. Denen blieb nichts weiter übrig, als den 9-Uhr-Besuch im Ersten Kommissariat zuzusagen. HK Klöppel ergänzte: „Ich lasse Sie dann morgen früh vom Hotel abholen. Dann haben Sie auch mit der Presse nichts zu tun. Die wird vor dem Hotel warten. Ich darf Sie ebenfalls bitten, nichts zur Sache zu sagen. Das übernehmen wir, sollte es notwendig werden.“

Die Musiker verließen den Raum. Benno Klöppel und Karin Lau blieben noch für kurze Zeit im Raum zurück. „Bei solch einer Band ist doch immer ein Rattenschwanz an Technikern und Sicherheitspersonal mit dabei. Da sollten wir zumindest morgen mal nachfragen.“

„Sollten wir. Aber nicht mehr heute.“ Karin Lau war geschafft. Sie wollte jetzt nur noch nach Hause, da sie um 20 Uhr eine Verabredung hatte. Es war zwar nichts Ernstes, ihr war es aber dennoch wichtig, möglichst pünktlich zu erscheinen. Die Uhr zeigte schon kurz vor acht an.

Sonntag, 25. Mai, 7 Uhr

 

Nur langsam wurde Joachim Butol wach, blickte mit seinen schläfrigen Augen um sich, ohne seine Umgebung tatsächlich wahrzunehmen. Er schaute ins Leere, erkannte Konturen eines spärlich eingerichteten Raumes mit einem runden Tisch aus modrig riechendem Holz und dazugehörigen Stühlen, die wohl schon bessere Tage gesehen hatten. Das alles glich mehr der Möbelausstattung des Vorzeltes auf einem Campingplatz. Seine Augenlider waren schwer wie Blei, senkten sich immer wieder, wenn er versuchte, die Augen offen zu halten. Seine Sinneseindrücke waren getrübt. Er hatte keine Orientierung, spürte Schmerzen in seinen Gliedern und war kurz davor wieder einzuschlafen. Sein Körper wehrte sich wie von einer inneren Stimme befohlen dagegen. „Nicht einschlafen! Wach bleiben! Du bist doch sonst so agil.“ Mit Erfolg. JB sackte nicht weg, wurde zunehmend wacher und auch klarer im Kopf. Er nahm mehr und mehr wahr, was um ihn herum passierte, blickte in das Gesicht einer sich über ihn beugenden, ihn freundlich anstrahlenden Frau mit langen blonden Haaren, blauen Augen und schwarz geschminkten Augenbrauen, die nach vorne fallend seine Gesichtshaut streichelten. Die tiefrot geschminkten Lippen der unbekannten Blondine vereinigten sich vorsichtig mit seinen. Er fühlte den warmen Atem dieser Frau, der nach billigem Wein roch. Der Versuch sich aufzurichten misslang.

Joachim Butol spürte Fixierungsschnallen an seinen Händen und Füßen, nahm wahr, dass er an das Bett gefesselt war, auf dem er lag. Ein Faktum, dass ihm spontan zunächst wenig Angst einflößte. Im ersten Moment hielt er das Ganze für einen Scherz, einen PR-Gag, den sich irgendwelche hirnlosen Werbefritzen hatten einfallen lassen, um noch mehr öffentliche Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken, den von Millionen von Fans aller Altersgruppen bewunderten und geliebten Popstar Nummer eins in Deutschland.

Dieses Gefühl hielt jedoch nicht lange an. Er spürte, dass dies keine Werbeaktion war, sondern brutale Realität. Seine ansonsten eher blasse Gesichtsfarbe wurde zu einem Puterrot. Er merkte, wie das Blut in seinen Adern kochte. Er neigte ohnehin zur Hypertonie, nahm immer wieder Blutdrucksenker. Tausend Gedanken gingen ihm in diesem Moment strukturlos durch den Kopf. Sein sich weiter normalisierendes Bewusstsein ließ die Erkenntnis in ihm reifen, dass er sich in einer außergewöhnlichen Situation befand.