Papiermenschenlied - Lily Beier - E-Book

Papiermenschenlied E-Book

Lily Beier

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Beschreibung

Vivien hat Probleme. Der Vater vor noch nicht allzu langer Zeit verstorben, die Mutter dem Alkohol verfallen und der Kontakt zu anderen Menschen mehr als schwierig, weil sich das Mädchen total abschottet. Auch der eingeschalteten Psychologin verschließt sie sich. Dafür flüchtet sie sich in eine Fantasiewelt. Was sie dort erlebt, schreibt sie in Fantasy-Geschichten auf. Dort ist sie Prinzessin Vivien und ihre Freundinnen und Klassenkameraden sind die Mitspieler. Ihre Psychologin tritt als böse Hexe auf, die ihren Vater gefangen hält. Um ihren Vater frei zu bekommen, soll Vivien für die Hexe ein schwieriges Rätsel lösen: 10 Schlüsselwörter muss sie finden und aufschreiben. Prinzessin Vivien weiß nicht, wie sie diese Aufgabe lösen soll. Verzweiflung droht sie zu überwältigen. Dann kommen zwei neue Schüler in ihre Klasse, die Brüder Ben und Kai. Sofort verteilt Vivien zwei neue Rollen für ihre Fantasy-Story: der attraktive Ben wird zu Prinz Camael, dem edlen Ritter, der etwas seltsame und immer völlig schwarz gekleidete Kai zum düsteren Nekromantenprinz. Dann nimmt die Geschichte ihren Lauf, aber völlig anders als Vivienne gedacht. Und auch ihr reales Leben erfährt einige ungedachte Wendungen. Ungewöhnliche und eigenwillige Mischung aus Comming of Age Geschichte und Fantasy-Story.

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Seitenzahl: 149

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Lily Beier

Papiermenschenlied

Titel

Papiermenschenlied

Lily Beier

 

 

 

Impressum

 

Copyright: Chiara-Verlag im vss-verlag

Jahr: 2021

 

 

Lektorat/ Korrektorat: Annemarie Werner

Covergestaltung: Chris Schilling

 

Verlagsportal: www.vss-verlag.de

Gedruckt in Deutschland

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.

 

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verfassers unzulässig.

 

Prolog

 

Bereits in dem Moment, als Prinzessin Vivienne die finstere Hütte im Wald das erste Mal betrat, überkam sie ein ungutes Gefühl. Sie wusste, finstere Mächte waren hier am Werk. Eine Welle schwarzer Magie schlug ihr entgegen, raubten ihr den Atem.

Sei vorsichtig, ermahnte sie sich. Lass sie nicht in deinen Kopf.

Denn genau darin war die Person, die hier hauste, besonders gut. Sie schlich sich in die Köpfe ihrer ahnungslosen Opfer und stahl ihre Geheimnisse, bevor sie es mitbekamen. Besser wäre es, überhaupt nichts zu sagen, doch das war leider nicht möglich. Immerhin war Prinzessin Vivienne aus einem ganz bestimmten Grund hier. Sie wollte Antworten und war bereit, jeden erdenklichen Preis dafür zu bezahlen. Aber niemals würde sie dafür ihre tiefsten Geheimnisse offenbaren. Die Sicherheit ihres Reiches, Zephir, konnte sie alleine gewährleisten.

Prinzessin Vivienne seufzte schwer. Seit über zwei Jahren kam sie regelmäßig hierher, kam ihrem Ziel jedoch kaum näher. Die finstere Kreatur, der diese Hütte gehörte, war überaus wortgewandt und gab in ihren langen, erschöpfenden Gesprächen kaum etwas darüber preis, was Vivienne eigentlich wissen wollte. Stattdessen verwirrte sie die junge Prinzessin mit ihrem ewigen Gerede über Dinge, von denen das Mädchen keine Ahnung hatte.

Auch heute war es nicht anders. Seit quälenden dreißig Minuten wandte Vivienne sich nun schon auf dem unbequemen Stuhl und wünschte sich fort von diesem Ort.

„Warum seid Ihr heute hergekommen, Prinzessin?“

Sie nahm all ihren Mut zusammen und begegnete den stahlblauen Augen der Hexe. Auf den ersten Blick sah sie gar nicht aus wie eine Hexe, sondern wie eine ganz gewöhnliche Frau. Wenn Vivienne nicht ihre finstere Macht beim Betreten der Hütte gespürt hätte, so hätte sie vielleicht gar nicht vermutet, dass sich hinter der schmucklosen Fassade ein bösartiges Wesen verbarg. Doch sie kannte das wahre Gesicht der anderen Frau. Und manche Geheimnisse würde sie mit in ihr Grab nehmen, bevor sie sie als Pfand dieser schrecklichen Person verriet.

„Dasselbe wie jedes Mal. Und ich hoffe, dass Ihr mir endlich verratet, was ich wissen will. Lange mache ich bei Euren Spielchen nicht mehr mit!“

Die Hexe lachte laut auf. Vivienne lief ein eiskalter Schauder den Rücken hinunter. „Ihr wisst genauso gut wie ich, dass Ihr immer wieder zu mir zurückkommen werdet. Ihr könnt nicht anders.“

 

„Vivien?“

Das Kratzen des Stiftes auf dem Papier wurde für einen Moment unterbrochen, setzte dann wieder ein.

„Nur noch ein Absatz.“

 

Leider hatte die bösartige Frau damit Recht. Prinzessin Vivienne blieb keine Wahl. Einzig die böse Hexe im nördlichen Graufirnenwald wusste, was mit ihrem Vater geschehen war. Und Vivienne würde nicht ruhen, bis sie es herausfand.

 

„Vivien!“

„Ist ja gut!“

Mit einem unterdrückten Seufzen packte ich den Kuli zurück in meine Tasche und reichte der Frau auf der gegenüberliegenden Seite des Schreibtisches den Block. Das Papier war unliniert, deswegen war meine Schrift noch unleserlicher als sonst. Aber da ich stark bezweifelte, dass irgendjemand diese Zeilen lesen würde, störte mich das nicht weiter.

Die Hexe überflog die drei Seiten, die ich in den letzten vierzig Minuten produziert hatte und legte die Stirn n Falten. Das tat sie gerne. Ihre Stirn war ganz runzelig, obwohl sie noch nicht alt sein konnte. Ende dreißig, vielleicht. Stahlblaue Augen blitzten hinter den Gläsern ihrer randlosen Brille, mausbraune, kinnlange Haare fielen unordentlich in ihre Stirn. Sie trug schon wieder einen unförmigen Strickpulli, diesmal in grün mit Schneeflockenmuster. Beim letzten Mal waren es pinke Rentiere, was ich schon ziemlich gruselig fand, Weihnachten hin oder her. Nicht, dass ich viel von Mode verstand. Aber jeder Mensch mit auch nur einem winzigen Funken Selbstachtung würde in den Spiegel schauen, bevor er sein Haus verließ.

Hm, vielleicht besaßen Hexen auch gar kein Spiegelbild, so wie Vampire. Das würde Einiges erklären. Meine Mundwinkel hoben sich.

„Was findest du so lustig, Vivien?“

Für einen winzigen Augenblick hatte ich vergessen, dass ich hier unter Dauerbeobachtung stand. Wenn ich auch nur falsch atmete, würde die Hexe mich mit ihren Blicken durchbohren und pikiert fragen, warum ich ausgerechnet so und nicht anders geatmet hatte und ob das ein Warnschrei meiner unterdrückten Gefühle sei.

„Nur ein Gedanke“, gab ich zurück. Mehr würde sie nicht aus mir herausbekommen.

Die Hexe zuckte mit den Schultern, als ob ihr meine abweisende Antwort nichts ausmachte, doch ein Nerv in ihrer linken Schläfe zuckte. Wenn ich nicht hingestarrt hätte, wäre es mir vermutlich gar nicht aufgefallen, aber nach beinahe zwei Jahren kannte ich ihre Ticks.

Madame war unzufrieden mit mir. Das war nichts Neues. Wie es aussah, war sie ein Star auf ihrem Gebiet und ich dummes Blag versaute regelmäßig ihre super Statistik. Pech gehabt. Hexen hatten in meinem Kopf nichts verloren. So wie Prinzessin Vivienne würde ich standhaft bleiben, egal, was auch geschah.

Die Hexe nahm die drei Seiten und legte sie oben auf eine rote Mappe, die mittlerweile beachtliche Ausmaße erreicht hatte. Sie ließ eine Hand auf dem Pappdeckel liegen.

„Du kommst jetzt seit fast zwei Jahren zu mir, Vivien.“

Ich hasste die Art, wie sie meinen Namen aussprach. Sie hing ihn an jeden Satz, als ob es ihr so besser gelingen würde, in meinen Kopf vorzudringen. Alles, was es bewirkte, war, dass ich noch weniger Lust hatte, mit ihr zu reden.

„Weil alle meinen, es wäre eine gute Idee“, gab ich zurück.

„Das ist es ja auch, Vivien. Ich würde dir sehr gerne helfen, aber dazu müsstest du mit mir reden. Alles, was du machst, ist dich hier hin zu setzen und Fantasygeschichten zu schreiben.“

Ich zuckte mit den Schultern. Was sollte ich auch sonst tun? Die Geschichte meines Königreiches, Zephir, erzählte sich nicht von alleine. Sie sollte sich lieber freuen, dass sie zu einer Schlüsselfigur geworden war. Die Idee der bösen Hexe, die als Einzige wusste, was mit dem König geschehen war, wäre mir gar nicht gekommen, wenn ich sie nicht kennen gelernt hätte.

„Du schreibst sehr gut, Vivien“, gab sie zu, „aber das ist nicht der Grund, warum wir uns jeden Mittwoch treffen.“

Für mich schon. Es war wie eine Fallstudie, der Hexe fünfundvierzig Minuten lang gegenübersitzen zu können. Ihr Charakter gewann mit jedem Moment, den ich hier verbrachte, an Tiefe.

„Anfangs habe ich das zugelassen, weil du sonst gar nicht mit mir geredet hättest, aber mittlerweile sind wir darüber längst hinweg. Wir sollten uns lieber über wichtigere Dinge unterhalten.“

„Es gibt nichts Wichtigeres.“

Die Worte platzen aus mir heraus, bevor ich sie zurückhalten konnte. Sofort verfluchte ich mich innerlich. Schon wieder hatte sie es geschafft, mir mehr zu entlocken, als ich zu geben bereit war.

„Findest du wirklich, dass das einzig Wichtige in deinem Leben in den Geschichten passiert?“

Wieder zuckte ich mit den Schultern. Jetzt hatte sie Blut geleckt und würde nicht aufgeben, bis ich ihr noch mehr Informationen zum Fraß vorwarf. Ihre Stimme, tief und beruhigend, hüllte mich ein, doch ich verstand kein Wort von dem, was sie sagte. Stattdessen sah ich Prinzessin Vivienne vor mir, die sich in den Fängen einer finsteren Magiewirkerin befand. Ich brauchte gar nicht die Augen zu schließen, um die Prinzessin in ihrem goldenen Kleid vor mir zu sehen, wie sie zitterte und bangte und hoffte, endlich ihren Vater zu finden.

„Vivien?“

Ich blinzelte. Die Hexe sah eindeutig genervt aus.

„Hast du mir zugehört?“

Ich versuchte mich an einem Lächeln, doch das nahm sie mir nicht ab.

„Ich weiß langsam wirklich nicht mehr, was ich mit dir machen soll.“

„Lassen Sie mich gehen“, schlug ich vor.

„Das kann ich nicht. Das Amt bezahlt dafür, dass du jede Woche herkommst, sonst könntest du nicht bei deiner Mutter wohnen bleiben. Und das willst du doch, oder?“

Ich verzog das Gesicht, blieb ihr aber eine Antwort schuldig. Darauf lief es immer hinaus. Langsam nervte es, von jedem Mitarbeiter des großen, mächtigen Amtes daran erinnert zu werden, wie leicht sie mich in irgendein Pflegeheim stecken konnten.

„Ich kann dich zwar nicht gehen lassen“, fuhr die Hexe fort, „aber ich glaube, es wäre gut, wenn wir uns eine Weile nicht sehen würden.“

Oh. Okay. Damit hatte ich nicht gerechnet. Obwohl ich sie nicht besonders leiden konnte, war die Hexe in den letzten zwei Jahren eine Konstante in meinem Leben gewesen. Der Gedanke, sie nicht jeden Mittwoch sehen zu können war merkwürdig.

„Ich werde unseren nächsten Termin in zwei Monaten festsetzen. In der Zwischenzeit solltest du dir über einige Dinge klar werden.“

„Okay“, sagte ich, zog meine Jacke an und setzte meinen Rucksack auf. Ich kam immer direkt nach der Schule her.

„Außerdem habe ich eine Aufgabe für dich.“ Die Hexe lächelte. Plötzlich fühlte ich mich ziemlich unwohl. Ihre Aufgaben waren immer extrem sonderbar. Typisch Psycho-Hexe eben.

„Was denn?“, fragte ich, obwohl ich es eigentlich gar nicht wissen wollte.

„Ich möchte, dass du bis zu unserem nächsten Treffen zehn Worte aufschreibst, die dein Leben beschreiben.“

„Zehn Worte?“

Ich könnte ohne Probleme in zwei Monaten über zehntausend Worte schreiben. Das wusste die Hexe anscheinend auch, denn ihr Lächeln wurde noch breiter. „Nur zehn, nicht eins mehr.“

Wieder zuckte ich mit den Schultern. Wenn sie es so wollte, blieb mir wohl keine Wahl. Immer noch besser als ein Traumtagebuch zu führen, wozu sie mich am Anfang gezwungen hatte. Zehn Worte konnten nicht allzu schwer sein. Es mussten nur die Richtigen sein.

 

1. Wort: Papiermenschen

Der erste Satz einer Geschichte ist immer einer der Wichtigsten. Zwar gibt es Menschen, die finden, Prologe seien so überflüssig wie ein Blinddarm, aber ich persönlich mag sie. Der Autor erhält die Chance, im Vorfeld etwas über seine Erzählung preis zu geben, was die Leser sonst erst später oder gar nicht erfahren würden. Beim ersten Lesen ergeben Prologe nicht immer Sinn, doch wenn im Verlauf des Buches etwas geschieht, was im Prolog bereits angekündigt wurde, gibt es einen „Aha!“-Moment bei jedem, der die Geschehnisse aufmerksam verfolgt. Ich habe schon Bücher weggelegt, wenn mir der Prolog nicht gefallen hat. So viel zu der Wahl des richtigen Anfangs.

Normalerweise machte ich mir nicht viel aus dem, was die Hexe sagte. Die wöchentlichen Treffen waren mir unangenehmer als der jährliche Zahnarztbesuch. Ganz ehrlich, während der Zahnarzt nur in meinen Schlund starrte, als wären dort die Geheimnisse des Universums verborgen, versuchte die Hexe immer, in meinen Kopf hinein zu schauen. Wem gefiel das schon?

Vielleicht war es ihren schwarzmagischen Tricks zu verdanken, dass ihre Aufgabe mir in den nächsten Tagen nicht mehr aus dem Kopf ging. Immer häufiger dachte ich darüber nach, welche zehn Worte mein Leben beschreiben würden. Für jemanden, der jeden Tag hunderte Worte zu Papier brachte, war es eine ganz neue Erfahrung, sich kurz fassen zu müssen. Daran konnte es liegen.

Also begann ich das, was um mich herum geschah, genauer unter die Lupe zu nehmen. Leider musste ich schnell feststellen, dass ich absolut keine Idee hatte, wo ich anfangen sollte, zu suchen. Das Leben plätscherte an mir vorbei, wie sonst auch. Bald würde es Zeugnisse geben, danach stand der Beginn des zweiten Halbjahrs an. Obwohl ich in einer der größeren Städte am Rande des Ruhrgebiets wohnte, passierte nicht allzu viel.

Die Pausen verbrachte ich immer mit denselben Leuten an demselben Ort. Auch an diesem verregneten Donnerstag war das nicht anders. Wir saßen an einem der hintersten Tische der Schulcafeteria, mit Büchern und Schreibkram um uns herum, aßen unser mitgebrachtesoder gekauftes Frühstück und unterhielten uns über die kniffeligen Mathehausaufgaben für die nächste Woche. Na ja, die anderen unterhielten sich darüber. Ich dachte über die verflixten Worte nach, die ich in den nächsten knapp sieben Wochen sammeln musste und hörte den Unterhaltungen im Hintergrund zu.

„Die Aufgabe 2b finde ich besonders fies“, erklärte Libby gerade und kniff ihre perfekt gezupften, blonden Augenbrauen zusammen. Eigentlich hieß sie Lara Andrea, aber seitdem vor etwa einem Jahr ihre Brüste anfingen zu wachsen, benahm sie sich wie ein läufiger Cheerleader. In dem festen Entschluss, der neue Superstar unseres Gymnasiums zu werden, hatte sie ihre Brille gegen Kontaktlinsen und ihre konservativen, von Mama gekauften Blusen gegen bauchfreie Tops getauscht. Auch im Winter, weswegen wir sie vor nicht ganz drei Monaten im Krankenhaus besuchen mussten. Nierenbeckenentzündung. Ihren Namen verdankte Libby einer ziemlich kranken Idee, die ich eines Nachts hatte – sie wurde Anführerin einer Rotte Zombiecheerleader, deren Ziel es war, den Weltuntergang herbeizuführen. Mittlerweile hatte ihre Geschichte vierzehn Kapitel und es war noch kein Ende in Sicht.

„Ich finde die Textaufgaben viel schlimmer!“, mischte sich Katharina, a.k.a. Isabella ins Gespräch ein. Mit ihrer dunkleren Hautfarbe, schwarzen, welligen Haaren und riesigen, goldenen Ohrringen sah sie ein bisschen aus wie eine Zigeunerin. Eine hübsche, extrem übergewichtige Zigeunerin. Ihr Busen war schon vor zwei Jahren überdimensional groß, aber erst seitdem Libby mehr Haut zeigte, traute sie sich, es ihr gleich zu tun. Manchmal sah sie aus wie eine schlechte Kopie des schlankeren, wenn auch nicht unbedingt hübscheren Möchtegern-Cheerleaders. Wenn sie nicht bei allen Sachen immer erst Libby um Erlaubnis fragen würde, wäre sie bestimmt ein faszinierender Mensch. Deswegen machte ich sie zur Heldin einer Geschichte, in der eine Zigeunerbande auszog, um geheime Zaubersprüche zu finden, die Umbra, das Nachbarland von Zephir, beschützten. Die Idee kam mir erst vor etwa zwei Monaten, deswegen hatte ihre Geschichte erst sechs Kapitel.

„Du verstehst die Textaufgaben nie“, bemerkte Libby mit einem herablassenden Grinsen. Leider hatte sie damit Recht. Isabella war nett, konnte aber mit dem Rest unserer kleinen Gruppe intellektuell nicht mithalten.

„Soll ich dir den Ansatz erklären?“

Amanda war und blieb einfach Amanda. Kein Spitzname, den ich für sie erfinden könnte, würde besser zu ihr passen. Im Gegensatz zu Libby und Isabella hatte Amanda sich seit der fünften Klasse kaum verändert. Ihre Brille war ihr nicht peinlich und auch, wenn sie nicht mehr in Pferdepullis herumlief, sah sie immer noch aus als wäre sie zehn Jahre alt. Braune, lange Haare, zu einem Zopf geflochten, hingen ihren Rücken hinab. Später wollte sie einmal Lehrerin werden. Schon heute bewies sie immer wieder, wie sehr sie für den Job geeignet war. Alle mochten sie und sie hatte Nerven wie Drahtseile. Sonst würde sie wohl kaum freiwillig regelmäßig mit uns abhängen.

Sie war die erste Person in der neuen Schule gewesen, mit der ich mich angefreundet hatte. Schon als Elfjährige wollte ich nicht mit anderen Leuten sprechen, aber sie hat einfach nicht locker gelassen. Bis heute weiß ich nicht, ob ich ihr dankbar sein soll, oder nicht. Ihre Geschichte war die erste längere, die ich jemals fertig geschrieben habe. Es ging um die Eule Amanda, die mit ihren unmöglichen Geschwistern durch die Welt flog und versuchte, sie zu erziehen. Nicht eine meiner besten Ideen, aber hey, ich war elf. Mittlerweile hatte ich ihr schon zwei Folgebände gewidmet und eine wachsende Sammlung Kurzgeschichten. Das machte sie zu so etwas wie meinem Lieblingsschreibobjekt.

Während Amanda die Textaufgabe erklärte, ließ Libby ihren Blick gelangweilt durch den Raum schweifen. Die coolen Leute fand man eben nicht hier unten in der Cafeteria, sondern oben in der Aula oder, bei gutem Wetter, auf dem Hof. Warum sie sich überhaupt noch mit uns abgab, verstand ich nicht. Gewohnheit, vielleicht. Unsere merkwürdige Gruppe existierte schon seit der fünften Klasse, also seit vier Jahren. Früher waren wir einfach der „Streberclub“ und stolz darauf. Doch mit vierzehn erwartete Libby vermutlich andere Dinge vom Leben als mit elf.

Gar nicht so schlecht, der Gedanke. Das könnte ich in ihre Geschichte einbauen. Der Zombiecheerleader bekam Gewissensbisse, ob die Apokalypse wirklich so eine tolle Idee war… Bevor ich mich beherrschen konnte, hatte ich schon einen Absatz zu Papier gebracht.

„Was meinst du, Vivien?“

Ich blinzelte überrascht. In den letzten Jahren hatte ich mir antrainiert, zu reagieren, wenn jemand meinen Namen sagte. Die ewigen Anschuldigungen, ich würde niemals zuhören, gingen mir tierisch auf die Nerven. Auch wenn sie stimmten. Oder gerade weil sie stimmten.

„Entschuldigung. Ich habe gerade über die Textaufgabe nachgedacht.“

Libby schnaubte. „Du bist schon Klassenbeste, was willst du denn noch?“

Ich zuckte mit den Schultern. Nur weil ich immer brav meine Hausaufgaben machte. Es war leichter, zumindest schriftlich sehr gute Leistungen zu erbringen, dann ließen die Lehrer mich im Unterricht meistens in Ruhe und ich konnte schreiben. „Amanda ist besser als ich.“

„Ja, aber nur weil sie auch mal die Zähne auseinander kriegt. Bleifinger, eben.“

Man, ich hasste diesen blöden Spitznamen. Libby wusste das auch, das sah ich an ihrem Grinsen. Erwachsen wie ich war, streckte ich ihr die Zunge raus, anstatt eine Antwort zu geben.

Amanda seufzte und erklärte: „Lara wollte wissen, was du davon hältst, heute nach der Schule in die Stadt zu fahren.“

Unversehens verzog ich das Gesicht. In die Stadt fahren hieß nicht länger, Eisessen zu gehen und dann wieder nach Hause zu fahren. Heutzutage war es ein Codewort für „Shoppen gehen“. Libby und Isabella fuhren total darauf ab, durch alle möglichen Läden zu hetzen und Klamotten anzuprobieren. Für mich waren diese Trips ungefähr so attraktiv wie Fußpilz. Nicht nur, weil mein Budget kaum das Frühstücken in der Cafeteria erlaubte. Selbst, wenn die Amazone so viel Geld nach Hause schaffen würde wie Libbys Dad, müssten mir schon beide Arme amputiert worden sein, bevor ich auch nur darüber nachdenken würde, mich freiwillig solchen Qualen auszusetzen.

„Ich hab schon was vor“, murmelte ich und starrte angestrengt auf den Block, der vor mir lag. Absätze zu schreiben war so einfach! Aber mir war immer noch kein einzelnes Wort eingefallen.

„Du hast immer irgendwas vor.“

Geh mir nicht auf die Nerven, Libby.

Zum Glück schellte es, bevor ich etwas erwidern konnte. Amanda warf mir einen fragenden Blick zu, aber ich schüttelte den Kopf. Mist. Konnte man mir meine Wut etwa ansehen? Ich musste mich besser unter Kontrolle haben um neugierigen Fragen aus dem Weg zu gehen.

Siebte Stunde. Biologie, eines der interessanteren Fächer, aber diesmal gelang es mir nicht, den Ausführungen der Kröte zu folgen. Ausnahmsweise war nicht ich es, die Herrn Gottscheidt diesen Namen verpasst hatte. Er war auch nicht besonders fantasievoll. Jeder, der den dicklichen Mittvierziger mit dem riesigen Mund ansah, dachte automatisch an einen Kröte. Deswegen hatte er auch nur eine winzige Nebenrolle in einer längeren Geschichte bekommen, die ebenfalls in Zephir spielte. Hüter der Heiligen Teiche, der sich in eine Kröte verwandeln konnte. Passend, oder nicht?

Am Anfang der Stunde hatte ich mich gemeldet, um meine Hausaufgaben vorzulesen. Seitdem ließ er mich in Ruhe, wie erwartet. Geistesabwesend notierte ich Stichpunkte von der Tafel, doch nicht ein Wort des Geschriebenen kam in meinem Hirn an. Immer wieder fiel mein Blick auf die leere Seite in meinem Notizbuch.