Paradiese, Übersee - Felicitas Hoppe - E-Book

Paradiese, Übersee E-Book

Felicitas Hoppe

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Beschreibung

Eine weit gespannte Reise durch die Kontinente und Zeiten, mit einem veritablen Ritter auf einem Pferd, einem ihn begleitenden Schreiber und drei Abenteurern auf der Suche nach dem kostbaren Fell der seltenen Berbiolette. Mit »Paradiese, Übersee« ist Felicitas Hoppe ein hinreißendes Kabinettstück gelungen: Verkleidet, maskiert und gerüstet treten wir uns selbst gegenüber.

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Seitenzahl: 232

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Felicitas Hoppe

Paradiese, Übersee

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

I. Übersee1.2.3.4.5.6.II. Wilwerwiltz1.2.3.4.5.6.7.III. Paradiese1.2.3.4.5.6.7.8.9.[Karte][Danksagung]

I.Übersee

1.

Am Vorabend des zweiundzwanzigsten Zwölften betraten der Ritter und der Pauschalist das Festland von der Nordseite her.

Während der Ritter sofort vom Pferd sprang, um den Kühen am Straßenrand Ehre zu erweisen, denn Weihnachten, das Fest aller Tiere, stand vor der Tür, war der Pauschalist hoch zu Ross sitzen geblieben, ohne auch nur einen Augenblick darüber nachzudenken, wo sie waren und wie sich der Gast zu verhalten hat in einem ihm durch und durch fremden Land. Seit ihrer Abreise fiel ihm der Ritter nämlich zur Last mit seinem ewigen Lied, dass wir nur Gäste auf Erden sind, ganz zu schweigen von den kleinen Bündeln gepressten Strohs, die er auf sämtliche Taschen und Fächer seines aufwändig verpackten Körpers verteilt bei sich trug, und einem Rucksack mit Feuerholz, den er jetzt umständlich öffnete, um die Scheite herauszuholen, die er hin und her schichtete und selbstvergessen gegeneinander rieb, als sei er damit beauftragt, das Feuer zu erfinden.

Doktor Stoliczka wäre das nie passiert, diktierte der Pauschalist. Doktor Stoliczka hätte sich mit Sicherheit zwei Tage vor Weihnachten nicht auf den Bahnhof von Kalkutta verirrt und versucht, zwischen Kühen, Hunden und anderen Tieren ein Feuer anzuzünden, mit dessen Hilfe man sich daran zu erinnern versucht, wie es einmal gewesen ist, als man sich noch in den harmlosen Vorgärten der Kindheit aufhielt, als die Dinge noch gefährlich waren. Vermutlich hat Doktor Stoliczka überhaupt keine Kindheit gehabt und trat ohne jeden Übergang in das wirkliche Leben. Jetzt dagegen ist nichts mehr gefährlich, die Dinge gehen einen ruhigen Gang, sogar in Kalkutta hat sich alles geglättet. Am Bahnhof stehen die Kühe, der Ritter reibt Hölzer gegeneinander und will alles in allem Pfadfinder bleiben.

Was den Ritter betraf, war das wahr. Der Rest war gelogen, denn der Lärm auf dem Bahnhof war beträchtlich, ein einziges Hinundherrennen schwer bepackter Gestalten, die ausnahmslos keine Reisenden waren, sondern gepeinigte Händler und Flüchtlinge, ihr Leben zwischen sich auf Taschen, Koffer und Körbe verteilt, und der Pauschalist, das Diktiergerät zwischen Hemdkragen und Hals geklemmt, fühlte sich unwohl. Er schwitzte. Er träumte schlecht. Schon seit Wochen träumte er schlecht, genau genommen seit jenem Tag, an dem sie ein Schiff bestiegen und Europa verlassen hatten.

Er hatte alles studiert. Die gesamte Geschichte der Kreuzzüge, die unaufhörliche Wiederentdeckung der Kontinente, Ende und Anfang aller Eroberungen, die wahre Natur des Reisens, die Lust der Sammler und Jäger, den Wahn menschlicher Erfindungen, die verzweifelte Notwendigkeit, sich hierhin und dorthin zu bewegen. Nichts, glaubte er, sei ihm fremd geblieben, und sein unaufhörlich wachsender Text lag ihm so nahe, dass er ihn sich beim besten Willen, obwohl er sich gern Frischluft verschafft hätte, nicht mehr vom Herzen reißen konnte, ohne Schaden zu nehmen. Das meiste konnte er schon auswendig hersagen, ohne dass ihm eine lebendige Seele lauschte.

Reden wir also nicht mehr über Doktor Stoliczka, diktierte der Pauschalist, reden wir lieber von etwas anderem, nämlich davon, wie uns Doktor Stoliczka abhanden kam. Nur wer von uns wirklich am längeren Hebel sitzt, ist noch nicht ausgemacht, vermutlich aber er, denn schließlich gibt nach wie vor er unsere Richtung vor.

Neben ihm auf dem Bahnsteig hockte der Ritter und versuchte, ein Feuer in Gang zu halten, das nicht richtig brennen wollte. Er kannte den Text des Pauschalisten in- und auswendig, als wäre in seiner Rüstung Platz für ganze Jahrhunderte schiefen Denkens. Der eine schweigend, der andere unaufhörlich sprechend, hatten sie gemeinsam Europa durchquert, hatten alle Verkehrsmittel der Welt probiert und schließlich ein Schiff nach Indien bestiegen, nachdem man ihnen in sämtlichen Gasthöfen und Hotels des alten Kontinents auf die Frage, ob noch ein Platz frei sei am runden Tisch, beschieden hatte, es seien sogar drei Plätze frei, der Doktor sei aber längst wieder abgereist und habe keinerlei Nachricht hinterlassen, für den einen nicht, für den anderen erst recht nicht. Er sei überhaupt nur sehr kurz da gewesen, habe sich, soweit man das wissen könne, umgeschaut in der Stadt, sich bei Tisch aber niemals blicken lassen, habe immer auf seinem Zimmer gegessen und so gut wie gar kein Gepäck bei sich gehabt.

Oder womöglich doch? Ja, man erinnerte sich an das eine oder andere Stück, an ein kleines, etwa faustgroßes Zelt, eine Lupe, ein Fernglas und an eine Kamera, von der der Doktor behauptet hatte, sie sei etwas ganz Besonderes, wobei niemand verstand, was daran besonders sein sollte, außer dass sie groß und umständlich gewesen sei, eine Kamera, sagte der Rezeptionist in Wien, die man hierzulande nicht mehr benutzt, viel zu groß, viel zu schwer.

Andere erzählten, Stoliczka sei mit einem, womöglich sogar zwei Trägern unterwegs gewesen, wieder andere, er habe einen Tropenhelm und eine Uniform getragen, noch andere, es sei keine Uniform, sondern ein Botanikerkittel gewesen. Der Portier in Budapest behauptete sogar, er sei mit einer Dame gesehen worden, was der Pauschalist für ganz und gar unwahrscheinlich hielt. Ein Kellner des Grand Hotel in Prag dagegen behauptete, Stoliczka habe eine Katze in einem Korb bei sich getragen, den man sich auch gleich einer Kiepe auf den Rücken habe schnallen können. Das sei ihm absonderlich vorgekommen, aber Stoliczka habe gelacht und gesagt, er reise niemals ohne Katze.

Wieder einer sagte, er sei reitend, ein anderer dagegen, er sei radelnd unterwegs gewesen. Nein, er habe einen Fahrer bei sich gehabt, der auf der Zimmerschwelle seines Herrn geschlafen habe wie ein Hund, allerdings habe er jeden Abend die Schwelle gewechselt. Das sei kein Fahrer gewesen, sondern wirklich ein Hund, behauptete ein Zimmermädchen in Lissabon, das, während es die Fenster weit öffnete, die Betten aufschlug und die Handtücher im Badezimmer wechselte, in Erinnerung an den Doktor nicht aufhören konnte zu lachen, worauf der Pauschalist dermaßen in Zorn geriet, dass er einen halben Tag lang damit drohte, die Reise abzubrechen.

Sie seien verabredet gewesen, schrie er und stampfte so heftig mit dem Fuß auf, als wollte er sich mitten entzweireißen, worauf das Zimmermädchen, immer noch lachend, nicht zögerte, ihn darauf hinzuweisen, dass es ihr vollkommen gleich sei, wer dieser Mann sei, wie er heiße und ob er einen Bart trage oder nicht. Denn dieser Stoliczka sei überhaupt nicht von Interesse, habe nie Trinkgeld gegeben, obwohl er behauptet habe, in höherem Auftrag unterwegs zu sein, ein Schmetterlingsforscher oder etwas in der Art jedenfalls, der sich darüber aufgeregt habe, dass man überall jenseits der Grenzen seinen Namen falsch schreibe. Einen Namen übrigens, den er selbst gar nicht richtig habe buchstabieren können, woraus man allgemein schloss, der Mann reise überhaupt unter falschem Namen. In Wahrheit aber, sagte das Mädchen, habe er nichts zu verbergen gehabt, sondern sei einfach ein Wichtigtuer gewesen, eine Art Angler auf der Durchreise, der jedem vormachen wollte, er sei in Forschungsangelegenheiten unterwegs.

In Lille und in London war man anderer Meinung. Absonderlich sei der Mann wohl gewesen, allerdings höflich und unaufdringlich und der Sprachen vollkommen mächtig. Bezahlt habe er immer in bar, jeden Tag einzeln, immer am Vorabend seiner Abreise, sei dann aber am kommenden Morgen doch nicht abgereist. Aber bezahlt ist bezahlt, auch wenn man hierzulande nicht mehr gewöhnt ist, dass die Gäste bar zahlen und dazu auch noch in verdächtig kleinen Scheinen.

Um sich über die Erfolglosigkeit ihres Unternehmens hinwegzutäuschen, hatten sich der Ritter und der Pauschalist in Momenten größeren Zweifels sogar gegenseitig bei der Hand gehalten, denn allen Zweifeln zum Trotz waren sie in derselben Sache unterwegs. Der Ritter mit einem ungeöffneten Brief, während der Pauschalist immerhin eine Fotografie besaß, die allerdings zwei Männer zeigte, von denen der eine wie der andere Doktor Stoliczka hätte sein können. Beide waren nicht schön, aber gut gekleidet. Der eine trug einen Tropenhelm, der andere einen Arztkittel, der eine war bärtig, der andere bebrillt, und beide trugen Gesichter von Eroberern unterwegs zum Gipfel.

 

Der Ritter legte Holz nach, und der Pauschalist, der ihm vom Pferd aus dabei zusah, wie man frische Kastanien aus dem Feuer holt, spürte zum ersten Mal seit ihrer Ankunft Appetit. Genau genommen hatte er seit Wochen nichts gegessen, denn seit sie in einem Hafen, dessen Namen ihm entfallen war, ein Schiff bestiegen hatten, war etwas in ihm hochgekrochen, ein leises Taumeln, das ihn in große Unruhe versetzte. Zeit seines Lebens hatte er sich gegen den Gedanken der Seekrankheit gewehrt, der ihm wie der Vorbote einer unendlichen Kränkung erschien und ihn mit scharfem Neid gegen den Ritter erfüllte, der an der Reling stand, Begeisterung zeigte und nicht vergaß, die Tiere zu füttern. Eine Möwe, eine Katze, die später spurlos verschwand, und den Hund des Kochs, der sich ausschließlich von der Gnade der mitreisenden Passagiere ernährte und den sie seither nicht mehr losgeworden waren.

Der Pauschalist hasste den Hund. Vom ersten Moment ihrer Begegnung an hatte er ihn gehasst. Der Hund war ihm viel zu lebendig, immer und überall schlich er sich zwischen die Tische, schnappte sich den einen oder anderen Happen und hat, diktierte der Pauschalist, seinen wirklichen Herrn schon vor der Abreise verraten, indem er sich auf die andere Seite schlug. Er hat ihn einfach verlassen, hat einfach die Schwelle gewechselt, wie der Fahrer des Herrn Doktor Stoliczka.

Der Pauschalist war nämlich verliebt in Vergleiche und in das Motiv des Verrats, und so hatte er kurzerhand beschlossen, den Hund in ein Motiv zu verwandeln, wie er sich alles, was ihm zu nahe trat oder auf unbestimmte Weise lästig wurde, unterwarf, indem er es zum Motiv oder Bild erklärte, gelegentlich auch zu einer Metapher oder zu einem Symbol.

Nur blieb in diesem Fall das Verfahren erfolglos, denn der Hund ließ sich beim besten Willen nicht bändigen. Kein Zweifel, der Hund war kein Überläufer, ein Verräter schon gar nicht. Er hatte bei äußerst klarem Verstand die Seiten gewechselt, weil er wusste, dass der Koch ihn nicht als Gefährten mit sich führte, sondern einzig als Vorrat für die Not, als lebendige Nahrung, die beim erstbesten Schiffbruch geopfert würde. Der Ritter dagegen hatte weder Hintergedanken noch Hunger. So hatte der Hund sich ihm angeschlossen.

Schon am dritten Abend ihrer mühsamen Reise sah der Pauschalist die beiden nebeneinander an der Reling im Sonnenuntergang stehen. Sie schauten auf das Meer, und der Ritter fragte: Wie alt bist du? Dreihundert, antwortete der Hund. Dann hast du viel von der Welt gesehen, sagte der Ritter. Nur wenig, antwortete der Hund. Dann möchtest du mehr zu sehen bekommen?, fragte der Ritter. Alles, sagte der Hund. Dann schließ dich uns an, sagte der Ritter. Wohin seid ihr unterwegs?, fragte der Hund. Überallhin, sagte der Ritter. Dann komme ich mit, antwortete der Hund. In diesem Moment ging die Sonne unter, und man läutete zu Tisch.

 

Hätte er nicht schon im Hafen keinen einzigen Bissen heruntergebracht, spätestens seit diesem Abend wäre dem Pauschalisten alles im Hals stecken geblieben, was der Koch ihnen auftrug. Dabei hätte er sich eigentlich mit dem Koch verbünden müssen, denn während er im Begriff war, seinen Reisegefährten zu verlieren, hatte der Koch seinen Hund längst verloren. Der Koch wusste das genau, denn wenn er ihn verzweifelt bei seinem Namen rief, machte der Hund nicht die geringsten Anstalten, seinem Herrn zu folgen. Stattdessen drehte er sich wie ein Kreisel um die eigene Achse und legte sich dann dem Ritter zu Füßen.

Am Ende wusste der Pauschalist selbst nicht mehr, ob seine Abwesenheit bei Tisch der Seekrankheit oder dem Hund geschuldet war. Jedenfalls war es ihm schon am zweiten Tag nicht mehr möglich, die Messe zu betreten. Beim Anblick der Speisen wurde ihm so übel, dass er sich zweimal auf das weiße Tischtuch erbrach, weshalb er den Rest der Reise halb liegend in seiner Kabine, halb im Wind an Deck zu überstehen versuchte, was ihn fast in den Wahnsinn trieb, denn er hatte begriffen, dass er hier, ohne Aussicht auf Rettung, ohne jede Möglichkeit einer Flucht, dazu verdammt war, weder zu leben noch zu sterben. Ein Zustand, der sich von seinem Leben an Land zwar nur geringfügig unterschied, sich auf dem Schiff jedoch ins Entsetzliche steigerte, zumal niemand sonst die geringsten Anzeichen von Übelkeit oder Beschwernis zeigte und der Kapitän ihm versichert hatte, die See sei ruhig und kein Sturm im Anzug.

Der Pauschalist litt. Er litt so sehr, dass an ein Diktat nicht mehr zu denken war. Er lag in seiner Kabine und bewegte die Lippen, um Worte zu formen, sich an seinen Auftrag zu erinnern, an Doktor Stoliczka, an die Hinweise, die Motive, den ganzen unendlichen Text, der in seinem Kopf durcheinander geriet, nein schlimmer, sich langsam verlor. Er schlief nicht, er wachte nicht, er lag einfach da, das Diktiergerät in der schweißnassen Faust, und träumte in seinem fiebrigen Halbschlaf alles noch einmal von vorn. Die Reise, die Städte und Schienen, die Busse und Bahnen, Pferde, Wiesen und Wälder, Tage und Wochen, Berge und Täler, die ganze sinnlose Wanderschaft durch die Hotelzimmer, das Foto von Doktor Stoliczka, von dem er nicht wusste, welcher es war. War es der mit der Brille, der mit dem Bart, der mit dem Schmetterlingsnetz oder der mit dem Tropenhelm?

Und war der Hund nicht in Wahrheit die Katze? Hatte er nicht an der Reling, vor wie vielen Tagen?, eine Katze gesehen, zwischen Ritter und Hund, und hatte der Hund nicht dreihundert gesagt? Aber warum dreihundert? Mit dem Ritter musste er sprechen, ihn warnen. Nur vor was und vor wem? Der Ritter hatte ihn längst verlassen, war übergelaufen, ein Verräter, genau wie der Hund. Oder war der Koch selbst der Verräter? Und hatte der Kapitän nicht gelogen, die See sei ganz ruhig, kein Sturm sei im Anzug? Wieso verschwamm ihm dann alles vor Augen?

Doch, das Diktiergerät ist noch da, gleich hier in der Faust. Aber wo ist der Text? Die Kassetten, die Schätze, das wortreiche Material. Hatte er sie womöglich dem Ritter anvertraut? War er nicht verpflichtet, dem Auftrag verpflichtet, dem Doktor verpflichtet, alles zu sammeln und zu berichten, alles zu Papier zu bringen? Aufstehen, hingehen, dem Ritter alles entreißen! Schneller sein und der Erste, nicht der Zweite, der Dritte. Aber wahrscheinlich hat sich der Ritter die Kassetten längst in die Rüstung zwischen das Stroh gestopft oder dem teuflischen Hund in den Pelz genäht. Auf den Hund kommt es an, der Hund ist es, den man erwischen muss, das Fell über beide Ohren ziehen, dem Ritter das Fell vor die Füße werfen, da hast du dein Fell, du Verräter!

Doch was ist das Fell gegen den verschlossenen Brief in der Hand eines Ritters? Auf den Brief kommt es an, auf das Wort, nicht das Bild. Aber wo ist die Katze? Wahrscheinlich hat man sie längst samt Fell in die Suppe gesteckt und verspeist. Sie sitzen am runden Tisch in der Messe und rühren die Suppe, der Ritter den Fuß auf dem Hund, als hätte er einen Drachen erschlagen. Der Koch sitzt dabei und hebt freundlich die Kelle. Der Heuchler. Ist noch ein Platz frei am Tisch? Nicht nur einer, gleich drei. Erst steckt man die Katze tief in die Suppe, dann nimmt man die Kelle, fischt hinab auf den Grund und macht sich an die Substanz.

Doktor Stoliczka hätte das nie getan, diktierte das Fieber dem Pauschalisten, dieser harmlose freundliche Herr mit Angel und Schmetterlingsnetz im Wappen. Aber mich täuscht er nicht, ich erwische ihn doch, womöglich in Moskau oder in Brüssel. Verabredet sein, wissen Sie, was das bedeutet, mein Herr? Sie sind nicht gekommen. Aber mich können Sie nicht betrügen, ich habe es auf den ersten Blick gesehen, das ist keine Kamera, auch kein Fernrohr. Man hebt es ans Auge und sieht nichts als Streifen und Punkte, lauter unklare Muster. Sie wollten mich täuschen, mit einem Kaleidoskop betrügen, das ist der ganze Grund für die Wellen, für die Erfindung der Seekrankheit. Dabei haben Sie nie mit eigener Hand einen Fisch gefangen, auch keinen Schmetterling, da bin ich mir sicher. Man kann sich nämlich nicht durch die Welt bewegen, wenn man eine Katze auf dem Rücken trägt.

 

So träumte der Pauschalist und warf sich im Fieber nach links und nach rechts, in der Faust das Diktiergerät, seinen Schlüssel zur Welt, während der Ritter damit beschäftigt war, die Schnüre, mit denen man den Pauschalisten ans Bett gebunden hatte, immer wieder aufs Neue festzuzurren, denn dreimal hatte der Pauschalist versucht, sich und sein Elend über die Reling zu werfen, weil er zum ersten Mal in seinem Leben entschlossen war zu sterben.

Kümmern Sie sich um Gottes willen um den Mann, bevor es zu spät ist, sagte der Kapitän. Und der Ritter tat, was er konnte, um ihn zu befestigen in der festen und in der beweglichen Welt, im Kopf und am Bett, und wich jetzt nicht mehr von der Seite seines Reisegefährten. Er hielt ihm die Hand, strich ihm die Lippen mit Brühe ein und legte ihm Tücher auf das Gesicht, damit der Pauschalist alles vergessen sollte, das Land und das Meer und vielleicht sogar Doktor Stoliczka und den Hund, der auf den Füßen des Ritters lag.

So fuhren sie dahin, der eine fiebernd, der andere schwitzend, weil der Ritter nicht daran dachte, seine Rüstung abzulegen, obwohl es jeden Tag wärmer wurde. Auch hütete er sich zu sprechen, denn er wollte den Pauschalisten nicht stören in der Unterwelt seiner Träume mit den Geschichten von Doktor Stoliczka, die man sich während der Mahlzeiten in der Messe am Offizierstisch erzählte, wo der Doktor offenbar allgemein bekannt war.

Die ganze Runde, vom Kapitän bis zum Dritten Offizier, bedauerte das Fehlen seiner Gesellschaft. Nicht nur weil er ein unterhaltsamer Esser, sondern vor allem weil er ein unentbehrlicher Kartenspieler war, dessen Name irgendjemand aus unerklärlichen Gründen zwei Tage vor seiner geplanten Abreise von Lissabon weiter nach Indien aus der Liste der Passagiere gestrichen hatte, versehen mit dem schwungvollen handschriftlichen Vermerk: Längst wieder abgereist!

2.

Der Hund hatte sich schon selbst versorgt, das Futter lag auf der Straße. Er steckte seine Nase tief in alles und fiel dem Ritter nicht zur Last. Nebenbei führte er Kunststücke aus Schiffszeiten vor, vielleicht hatte er sie aber auch von woanders, denn er schien weder das Meer noch den Koch zu vermissen. Er schnappte freundlich nach diesem und jenem, alles hätte er aus der Luft geholt, doch es gab nur Kastanien, an denen der Pauschalist sich zweimal die Hand verbrannte, weil er auf einmal nicht nur hungrig war, sondern gierig, als müsse er alles nachholen, was ihm an Bord entgangen war.

Über die Überfahrt verloren sie kein Wort. Sie hatten überlebt, das war alles. Und zusammen mit seinem heftigen Fieber hatte der Pauschalist auch seine Scham hinter sich gelassen. Er war jetzt wieder ganz obenauf, sprach ungerührt seinen Text und beobachtete den Ritter beim Schwitzen und der Versorgung des Feuers, um das sich bereits eine kleine Gruppe von Tieren und Gästen geschart hatte, die ihre Vorräte aus Beuteln, Körben und Taschen holten und über dem Feuer zu rösten begannen.

Inmitten des Lärms der ein- und ausfahrenden Züge, der rennenden Menschen und schreienden Händler herrschte um das Feuer eine seltsame Ruhe. Aber es war nicht das Feuer, das ihnen die Gäste bescherte, es war fraglos die Rüstung des Ritters, die in der Dunkelheit leuchtete wie eine bewegliche Laterne. Er verteilte nach allen Seiten Kastanien und schnitzte in reinster Turnierlaune kleine Lanzen aus Feuerholz. Als ihm der Vorrat schließlich ausging, zog einer der Herumsitzenden ein Spiel aus der Tasche und legte auf dem Bahnsteig zwischen Kühen und Knochen die Karten aus.

Der Ritter, der von Karten nichts wusste, weil er das Brettspiel allen anderen Spielen vorzog, beobachtete den Vorgang schweigend, aber Doktor Stoliczka, diktierte der Pauschalist, hätte das nie getan, niemals hätte er seine Zeit mit Kartenspielen vergeudet, diesem Spiel eines sinnlos gemischten Zufalls, der nachher angeblich Ordnung ergibt. Denn was für Ordnungen sind das? Sinnlose Reihen und Folgen von Farben, Bildern und Zahlen, die einen Gewinn versprechen, der aus nichts besteht als aus Illusion, aus leblosen Königen, Damen und Buben. So sind die Menschen beschaffen, Karten spielend am Bahnsteig hockend, ohne jemals den Zug zu besteigen. So kommt man nicht voran in der Welt, so kann man nicht leben, nicht reisen, nur sterben. Ohne Plan, ohne Auftrag, in diesem ewigen Zustand angehaltenen Daseins.

Am liebsten hätte der Pauschalist die Karten gegriffen und ins Feuer geworfen. Er hasste die Karten seit der ersten Nacht ihrer gemeinsamen Reise, wo in einem kleinen Hotel in Wien eine junge Frau sich gleich an der Rezeption dicht an ihn herangedrängt hatte und, indem sie ihm ein paar Karten unter die Nase rieb, rief: Ziehen Sie, mein Herr, ziehen Sie, ich will Ihnen alles zeigen.

Der Pauschalist hatte sich weggedreht, die Frau und die Karten kamen ihm gleichermaßen unappetitlich und unzeitgemäß vor. Aber er konnte sich ihrem Ruf nicht entziehen, da der Ritter längst vor der Frau in die Knie gegangen war, sich dann wieder erhob, sie leicht am Arm fasste und hinübergeleitete in die schmutzige Sesselecke des Foyers, wo er ihr ein Glas Wasser bestellte, eine Geste, die der Pauschalist so überflüssig wie unangemessen fand. Später gerieten sie darüber in Streit, das heißt nicht eigentlich in Streit, denn der Ritter ließ nicht mit sich streiten. Er saß einfach da, das Visier seines Helms heruntergeklappt, und wartete, bis der Pauschalist mit seiner Belehrung zu Ende war.

Denn während dem Pauschalisten die Karten widerlich waren, waren sie dem Ritter bloß gleichgültig. Er saß in der Ecke und schaute von dort aus ungerührt der Frau dabei zu, wie sie ungefragt die Karten auslegte, indem sie sie, fünf hintereinander, mit rascher Entschlossenheit aus dem gelben Stapel zog, weil sie genau wusste, dass der Pauschalist die Karten um keinen Preis selbst angefasst hätte. Dann drehte sie die Karten eine nach der anderen um und zeigte ihm seine Bilder in folgender Reihe: GEDANKEN, BRIEF, KRANKHEIT, EIFERSUCHT, GESCHENK. Doch bevor sie beginnen konnte zu sprechen, legte ihr der Ritter, der zwar nicht die Karten, dafür aber die Gefahr begriff, einen Finger auf die Lippen, und sie verstummte sofort. Dann nahm er die Karten und versuchte zu mischen, was ihm misslang. Lachend griff die Frau nach den Karten und legte dem Ritter seine Reihe wie folgt: BOTSCHAFT, REISE, TREUE, UNVERHOFFTE FREUDE, TOD.

Es liegt, diktierte der Pauschalist, der sich auch jetzt, Wochen später, mit einem genauen Gefühl des Unwohlseins, Bild für Bild an die Reihen erinnerte, nichts in den Karten als die Bosheit derer, die sie uns legen, ihr lächerlicher Wunsch nach Herrschaft, nach Bildern und Macht, nach Bedrohung, Vergleichen und Ordnung, nach Form ohne Sinn. Denn wo wäre darin Erkenntnis enthalten? Aber das war ja nicht anders zu erwarten auf dieser Reise, eine Luft zum Ersticken, weder hier noch in Wien die geringste Bewegung, weshalb Stoliczka Wien verlassen hat und auch wir bald abreisen werden.

Stattdessen blieben sie sitzen und starrten auf das erlöschende Feuer, wie letzte Bewohner auf einer Insel inmitten von einem Meer aus Körben, Säcken und Koffern. Der Pauschalist war nicht wirklich imstande herauszufinden, was ihn lähmte. War es der Lärm, oder war es die Stille? Denn der Heftigkeit jeden Eindrucks zum Trotz erschien ihm alles in weiter Ferne, wie eine Kulisse, die undeutlich verschwimmt, als sei er auf einmal kurzsichtig geworden, als entzöge die Szenerie sich seinem tapferen Willen, zu sehen und gleichzeitig zu begreifen, um wenigstens so zur Ruhe zu kommen. Selbst die Männer, die weiter die Karten warfen, dabei rauchten und mit der Zunge schnalzten, empörten ihn auf unklare Weise.

Kulissenschieber nach Feierabend, diktierte der Pauschalist, wie hingelehnt in die Szenerie, bewegungslos in das Pflaster geschmolzen, als wären sie Schatten kleiner Fakire, Turbane um das Gemüt und die Beine lässig um die Hälse gewickelt, ewig wie abgestorbene Pflanzen, doch jeder ein kleiner Tempel für sich. Wenn sie hin und wieder leise lachten, erschien ihm das wie ein Verrat an dem Bild, als lachten sie nur über ihn, um ihn noch tiefer in die Verwirrung zu stürzen. Wirklich lebendig war einzig der Hund, obwohl er seit Stunden keine Kunststücke mehr aufgeführt hatte und jetzt träumend mit seinen Erinnerungen beschäftigt zwischen zwei kauenden Kühen lag.

Er fürchtete den Hund. Er fürchtete ihn, wie er die Männer fürchtete, die nicht aufhören würden, die Karten zu mischen, wie die Züge, die riesig waren und überfüllt und von denen er glaubte, auch sie seien nichts als Teil der Kulisse, dieser ganzen Illusion von Bewegung, an der er keinen Anteil hatte. Er wäre am liebsten aufgesprungen, in den erstbesten Zug gestiegen, um endlich wieder irgendwohin unterwegs zu sein, doch hielt ihn eine Angst zurück, die an die Überzeugung grenzte, jeder Zug würde sich als Luftschloss erweisen, sobald er den Fuß auf den Einstieg setzte.

Denn in Wahrheit, diktierte der Pauschalist, sind die Züge gar keine Züge, sondern in die Länge gezogene Schiffe, und die Schatten der Schaffner, die in den Türen hängen, werfen riesige Ruder aus und treiben die Maschine voran bis ans andere Ende der Welt. Er sah sich laufen, das Laufen war mühsam, als liefe er knöcheltief durch Wasser, von Bahnsteig zu Bahnsteig, um immer wieder umsonst nach einem der Geländer zu greifen, bis er vollkommen verlassen auf dem letzten Bahnsteig zurückblieb, die Hand in die Höhe gestreckt wie eine Fahne der Ergebung, die sich nur mit letzter Kraft in harmloses Winken umdeuten lässt.

 

Im Morgengrauen erhob sich der Ritter, um die Tiere zu füttern, die Pferde zu bürsten und dem Hund von irgendwoher einen Schluck Wasser zu verschaffen, während der Pauschalist nicht nach Wasser, sondern nach einer Zeitung verlangte. Seit Tagen hatte er keine Zeitung mehr in der Hand gehabt und fühlte sich bereits nicht mehr mit von der ganzen Partie, denn er liebte Zeitungen über alles, auch wenn er niemals darüber sprach, denn er hielt sich leidenschaftlich bedeckt.

Aber mit einer Zeitung in der Hand, fühlte er, wäre er sicher. Nicht nur durch die Nachricht, den Schlüssel zur Welt, das tägliche Wiedererkennen der Zeit, den Kalendervergleich, die Überprüfung des Datums und der Dinge überhaupt, sondern allem voran durch die herrliche Gewissheit, dass jeden Tag aufs Neue immer noch alles da ist. Die Wörter erstens, die Welt zweitens und drittens die Welt in den Wörtern, diese druckschwarze Wirklichkeit, ohne die wir nichts wissen von dem, was wir sind und was uns geschieht, ohne die wir nicht wüssten, diktierte der Pauschalist, welches Ausmaß das Unglück erreichen kann und dass wir, weil wir das lesen können, auf der Seite der Geretteten sind.

Aber nicht nur das versetzte ihn in gehobene Stimmung. Es war auch der Körper der Zeitung selbst, ihr Geruch, das Papier, der Rest von Druckerschwärze am Daumen, das leise Rascheln beim Wenden der Seiten, die Größe der Seiten, Schutz und Schild, ein Zaun aus Papier, ein großer gedruckter Augenblick, der sich in allen Städten der Welt beliebig auseinander und wieder zusammenfalten lässt.

Überall hatte er morgens beim Frühstück die Zeitung gelesen, während der Ritter in alten Illustrierten längst abgereister Gäste blätterte, die er auf ihren Zimmern fand. So an einem Tisch sitzend, einer vor dem Angesicht des anderen friedlich verborgen, waren sie eine Zeit lang beinahe ein schönes Paar gewesen, der eine lesend und eifernd, der andere blätternd und murmelnd, der eine verwickelt, der andere vollkommen unberührt, sodass man hätte glauben wollen, der Ritter könne überhaupt nicht lesen, doch das war nicht der Fall, er war nur mit Lesen schon fertig.