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Seit 1925 wurde Paris zur wichtigsten Stadt in Joseph Roths Leben: Hier fand er zu seinem unverkennbaren Stil, hier verbrachte er, nachdem Frankreich für ihn zum Exilland geworden war, die letzten anderthalb Jahrzehnte seines kurzen Lebens, und hier wurde er am 30. Mai 1939 beigesetzt. Als er im Auftrag der «Frankfurter Zeitung» zum ersten Mal in die französische Hauptstadt kam, wirkte diese auf ihn wie eine Offenbarung. Paris forderte ihn in seiner Modernität und überwältigenden Vielfalt heraus. Das unmittelbare Ergebnis war eine Reihe von Briefen und Feuilletons, mit denen sich Roth als ein radikaler Chronist der flirrenden Metropole erwies. Auch als Roth nicht ständiger Frankreich-Korrespondent wurde, blieb Paris der Mittelpunkt seines unsteten Lebens in Hotels, Bars und Bistros. Der Band enthält Roths gesammelte Paris-Feuilletons sowie einige bislang unveröffentlichte Briefe und ein materialreiches Nachwort, das seinen Spuren durch die Stadt folgt und seine Arbeiten in ihre Zeit einordnet.
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Joseph Roth
PARISER NÄCHTE
Feuilletons und Briefe
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Jan Bürger
C.H.BECK textura
Joseph Roth als Mitarbeiter der Frankfurter Zeitung. Bleistiftzeichnung von B. F. Dolbin, 1926, DLA.
Seit 1925 wurde Paris zur wichtigsten Stadt in Joseph Roths Leben: Hier fand er zu seinem unverkennbaren Stil, hier verbrachte er, nachdem Frankreich für ihn zum Exilland geworden war, die letzten anderthalb Jahrzehnte seines kurzen Lebens, und hier wurde er am 30. Mai 1939 beigesetzt. Als er im Auftrag der «Frankfurter Zeitung» zum ersten Mal in die französische Hauptstadt kam, wirkte diese auf ihn wie eine Offenbarung.
Paris forderte ihn in ihrer Modernität und überwältigenden Vielfalt heraus. Das unmittelbare Ergebnis war eine Reihe von Briefen und Feuilletons, mit denen sich Roth als ein radikaler Chronist der flirrenden Metropole erwies. Auch als Roth nicht ständiger Frankreich-Korrespondent wurde, blieb Paris der Mittelpunkt seines unsteten Lebens in Hotels, Bars und Bistros.
Der Band enthält Roths gesammelte Paris-Feuilletons sowie einige bislang unveröffentlichte Briefe und ein materialreiches Nachwort, das seinen Spuren durch die Stadt folgt und seine Arbeiten in ihre Zeit einordnet.
Joseph Roth, geboren 1894 in Brody, Ostgalizien, gestorben 1939 im Pariser Exil, war einer der innovativsten Journalisten seiner Zeit und wurde mit den Romanen «Hiob» (1930) und «Radetzkymarsch» (1932) zu einem Klassiker der Literatur des 20. Jahrhunderts. Wenige deutschsprachige Autoren haben solche internationale Bekanntheit erlangt wie er.
Jan Bürger, geboren 1968, ist Literaturwissenschaftler und Schriftsteller. Er arbeitet seit 2002 im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Bei C.H.Beck liegen von ihm vor: «Der Neckar. Eine literarische Reise» (2013) und ein weiterer, sehr erfolgreicher Band mit Reportagen von Joseph Roth «Reisen in die Ukraine und nach Russland» (Hrsg. 2015).
I. SIE MÜSSEN HIEHER!
Panoptikum am Sonntag
Das Kind in Paris
An Benno Reifenberg, Paris, den 16. Mai, 1925
Wie man eine Revolution feiert
Wirkung eines Boulevard-Blattes
Amerika über Paris
«An Straßenecken»
An Benno Reifenberg, Paris, am 26. März 1926
Reisebrief für das Bäderblatt der Frankfurter Zeitung
II. HALBWELTEN
Bericht aus dem Pariser Paradies
Das nachgemachte Ceylon
Der Herr Minnesänger
III. ABSCHIEDSBRIEFE AN EINEN REDAKTEUR
An Benno Reifenberg, Paris, le 29. Avril 1926.
An Benno Reifenberg, Paris, le 9. V 1926
An Benno Reifenberg, Paris, am 13. Mai 1926.
IV. HEIMAT FÜR HEIMATLOSE
20 Minuten vor dem Kriege
Der Fakir und sein Publikum
Die zaristischen Emigranten
Aus: Juden auf Wanderschaft
Ehre den Dächern von Paris!
V. SPÄTE BETRACHTUNGEN
Ödön von Horváths Tod
Rast angesichts der Zerstörung
Ein Kind im Wartezimmer der Polizei
Die Kinder der Verbannten
Im Bistro nach Mitternacht
Das bittere Brot
Frauen vor dem Schaufenster
Clemenceau im Panoptikum
Betrachtungen an einer Strassenecke
NACHWORT (Von Jan Bürger) – Die Hauptstadt der Welt
1
2
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Editorische Notiz
Für Benno Reifenberg[1]
Eines Tages – es war ein Sonntag – wich die Scheu, mit der ich oft an dem Musée Grévin vorbeigegangen war. Es regnete in Abständen. Die Wolken, die aus Schwefel zu sein schienen, strömten ein gelbes Licht aus. Am Nachmittag bekamen die sonntäglich gekleideten Menschen den Ausdruck abgekämpfter, feierlicher und vergeblich auferstandener Schatten. Es war, als ob der Sonntag, zu dem sie ausgezogen waren, ausgefallen sei. An seiner Stelle befand sich eine Art verregneter und trüber Lücke, die den verflossenen Samstag vom künftigen Montag trennte und in der die verlorenen Spaziergänger umherschwankten, geisterhaft und körperlich zugleich und alle wie aus Wachs. Mit ihnen verglichen waren die wächsernen Puppen im Musée Grevin aufrichtigere Imitationen. Das gelbe Licht der Lampen in den fensterlosen Räumen, die niemals den Tag gekannt hatten, vermischte sich so innig mit dem Dämmer, der aus den Winkeln kam, daß beide aus dem gleichen Stoff zu sein schienen und Hell und Dunkel Geschwister. Die Gestalten der Geschichte und die bescheinigte Authentizität ihrer Gesichter, Bratenröcke, Kostüme, Zylinder; die Schatten, die sie wie zum Beweis ihrer Lebendigkeit auf den Fußboden warfen; die wächserne Starrheit ihrer Stellungen; und schließlich die unheimliche Stummheit, die lebende Zeitgenossen und längst Verstorbene gleichmäßig ausströmten: das alles kam mir wie eine angenehmere Fortsetzung und Bestätigung jenes gelben Sonntags vor, den ich eben verlassen hatte. Manche Persönlichkeiten hielten den einen Fuß vorgestreckt, die Hose warf unter dem Knie ebenso lebenswahr unbeabsichtigte Falten wie über dem Hals das Kinn ein Doppelkinn, und hundert kleine Nachlässigkeiten des Schneiders und der Natur waren bemüht, selbst dem verstockten Zweifler die wahre Existenz der Figuren zu beweisen. Ja, der Zuschauer kam oft dazu, mit dem eigenen Wunsch die Absicht des Panoptikums zu unterstützen.
Auf den Gesichtern der lebendigen Besucher wieder lagerte ebenfalls eine Stummheit, die aus Ehrfurcht, Schrecken und Staunen bestand, wie ein matter Widerschein jener Figuren. Niemand wagte laut zu sprechen. Alle flüsterten oder murmelten, als befänden sie sich wirklich in der Nähe der bedeutenden oder furchtbaren Persönlichkeiten und als könnten sie durch einen stärkeren Laut die Puppen zu einem unwilligen Fluch veranlassen. Ein Geruch von lange ungelüfteten Kleidern schwebte um alle Denkmäler und machte sie noch realer. Gleichzeitig aber mit der Furcht, die sie einflößten, fühlte man eine Art Mitleid mit ihnen, den ewig eingeschlossenen, und empfand es fast als ein Unrecht, daß ihre Vorbilder, die noch lebten, in der schönen freien Luft und an den grünen Tischen der Weltgeschichte atmen und handeln durften. Es war, als stünde hier, im Panoptikum, der wahre Poincaré zum Beispiel und draußen führe irgendwo in einem Auto zu einem offiziellen Ereignis der nachgemachte. Denn alles Wesentliche und Kennzeichnende schien die wächserne Puppe dem lebendigen Vorbild abgelauscht und weggenommen zu haben, so daß dieses ohne seine stabilen Züge in der Welt herumlief. Und ebenso wie die Zeitgenossen der Erde, so schienen die toten Heroen dem Jenseits entwendet worden zu sein; und für die Dauer meines Aufenthalts im Panoptikum war es mir klar, daß sich in der Unterwelt nur die billigen Durchschnittsschatten aufhalten konnten, die für die Geschichte wie für das Musée Grevin überhaupt nicht von Bedeutung waren.
Im Sterbezimmer Napoleons auf St. Helena roch man das schwelende Licht, obwohl es von einer elektrischen Birne kam, und man erstarrte in Ehrfurcht vor dem doppelten Schweigen des Todes: dem metaphysischen und dem imitierten. Für die Ewigkeit festgehalten war die Ewigkeit selbst und das Flügelrauschen des Todesengels hatte seine Flüchtigkeit verloren und war beständig geworden, eingefangen im Sterbezimmer. Die authentischen Gegenstände aus Napoleons Besitz, seine Taschenuhr zum Beispiel, die auf dem Nachttisch lag, strömten eine überzeugende Echtheit aus, wie Gewürze Düfte verbreiten. Jede kleinste Lücke zwischen den nachgemachten Tatsachen, in die etwa die Phantasie des Betrachters hätte schlüpfen können, war ausgefüllt mit einer nachgemachten Wahrscheinlichkeit zumindest. Also war die Wirklichkeit nicht nur imitiert, sondern sogar übertroffen. Es war eine Welt, in der jede körperliche Erscheinung der menschlichen Phantasie vorgriff, um sie überflüssig zu machen, und in der alles plastisch vorhanden zu sein schien, was man sich sonst mit geschlossenen Augen kaum in verschwimmenden Umrissen ausmalen darf. Die Schatten waren eben Körper geworden und warfen eigene Schatten.
Über allem lag eine makabre Stimmung. Aber sie entströmte nicht so sehr den dargestellten Katastrophen (wie etwa der Christenverfolgung in Rom und der unterirdischen Welt der Katakomben), sondern viel eher der unerbittlichen Körperlichkeit, in die alle Ausgeburten der Phantasie hineingesprungen waren, dieser wächsernen Härte, umgeben von historisch unanfechtbaren Requisiten und diesem legitimen Geschichtsunterricht, an dem nicht mehr gezweifelt werden konnte, einfach, weil er aus Wachs war und gar nicht vom Fleck zu rühren. Es war wie eine Begegnung mit okkulten Erscheinungen, obwohl alles Okkulte und der Vernunft schwer Zugängliche rationalistisch präpariert allen irdischen Sinnen aufgedrängt wurde. Man konnte Wunder mit körperlichen Augen sehen und war infolgedessen ein bißchen niedergedrückt und in Sorge, die liebe Erde zu verlieren, auf der man so gerne glaubend und zweifelnd herumwandert.
Nur in einer einzigen Abteilung – Palais de[s] Mirages, im Märchenpalast also – war die Begegnung mit dem Wunderbaren nicht schrecklich, sondern heiter. In diesem Palast sind alle Wände und die Decke aus Spiegeln. In der Mitte stehen ein paar Säulen, deren Aufgabe es ist, nicht die Decke zu stützen, sondern sich selbst zu vervielfältigen. Es ist ein besonderes System drehbarer Spiegel, die ein unwahrscheinliches Getöse verursachen, sobald man sie in Bewegung bringt. Um das Getöse zu übertönen, veranstaltet ein Orgelmechanismus eine Opernmusik, die aus Porzellanhimmeln, Messingsphären und Stanniolplaneten zu kommen scheint. Eine Zeitlang ist es stockfinster. Eine Pause, die dazu dient, die erregten Sinne auf ein neues Märchen vorzubereiten, und allen Besuchern Gelegenheit gibt, die Körper ihrer vertrauten Begleiterinnen wie fremde Wunder im Finstern zu fühlen. Dann leuchtet es langsam auf, von hunderttausend Lampen und Ampeln, violett, gelb, grün, blau, rot und man befindet sich im orientalischen Palast, der von durchsichtigen Säulen getragen wird. Vor einigen Minuten waren es noch dichtbelaubte Eichen und Ahornbäume und man befand sich in einem deutsch-französischen Märchenwald mit Orgelgezwitscher. Bald dröhnt es wieder und flugs stehn wir unter einem blauen Sternen- und Kometenzelt.
Erst in diesem Palast gelangten die Besucher aus der flüsternden Furcht in ihre natürliche Spektakelfreude. Denn so sehr auch hier das Unwahrscheinlichste wirklich geworden war, so blieb doch diese von vornherein zugestandene Märchenhaftigkeit ein Kinderspiel, verglichen mit den Wahrscheinlichkeiten und Wirklichkeiten der menschlichen Geschichte. Es war keineswegs merkwürdig, aus dem Wald in die Alhambra mit einem Schlag versetzt zu werden. Aber unmöglich schien die Kreuzigung Christi, der Tod Napoleons, die Ermordung Marats, das Zirkusspiel der Römer. Ja, selbst die zeitgenössischen Politiker, deren Leistungen erst in hundert Jahren die panoptikale Reife erlangt haben werden, wirkten schon so, wie sie dastanden, im Bratenrock und Zylinder, unmöglich und gespenstisch. Wie wenige von all den Besuchern wußten, daß sie vor sich selbst erschrocken waren und eigentlich noch in den Straßen hätten erschrecken müssen – – vor ihrem eigenen Spiegelbild in einem Schaufenster! Da gingen sie wieder herum, aus Wachs und aus Gips, mit allen Schrecknissen des Panoptikums in der eigenen Brust, und eines jeden Seele war eine Folterkammer. Es regnete immer noch, schief und strichweise, die gelben Wolken galoppierten über den Dächern und tausend Regenschirme schwankten unheimlich über den Köpfen der Unheimlichen …
Erstdruck: Frankfurter Zeitung, 10. Juni 1928; als Druckvorlage diente der von Roth selbst zusammengestellte Band Panoptikum. Gestalten und Kulissen, München 1930, S. 7–11.
1
Benno Reifenberg (1892–1970), Journalist, 1924–1930 verantwortlicher Feuilleton-Redakteur der Frankfurter Zeitung.