Park - Marius Goldhorn - E-Book

Park E-Book

Marius Goldhorn

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Beschreibung

Arnold, Mitte zwanzig, reist nach Athen, wo er Odile wiedersehen wird. Bevor sein Flieger geht, streift er durch Paris. Arnold sortiert Spam aus seinen Mails und wechselt seine Bildschirmhintergründe, er notiert Gedichte und wartet darauf, dass Odile ihm schreibt. In den Nachrichten hört er von einem Anschlag in der Stadt und fragt sich: Warum fühlen sich Terror, Unruhen und Gewalt nicht wirklich bedrohlich an? Oder warum dringt die Bedrohung nicht zu ihm durch? Auch dann nicht, als in Athen auf einer Demonstration die Situation eskaliert.

Park erzählt von der Oberfläche unserer Gegenwart, in der das Virtuelle genauso nah ist wie die Realität, und von einem Protagonisten, der gerade deshalb umso deutlicher spürt, dass es da noch mehr geben muss. Mit literarischem Wagemut und in lakonischen Sätzen schickt Marius Goldhorn ihn durch ein unsicheres Europa.

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Seitenzahl: 178

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Marius Goldhorn

Park

Roman

Suhrkamp

1

Arnold ging in die Einstellungen. Es war 14.21 Uhr. Er änderte die Farbe seines Desktophintergrunds von Orange zu einer Art Gelbgrün, mit dem er eigentlich nichts verband. Arnold öffnete den Chat mit Odile.

Arnold schrieb: ich bin jetzt im zug nach paris.

Er drückte auf Senden, schloss das MacBook und nahm das Buch Der Platz der Gehenkten von Hubert Fichte. Er legte es auf den ausgeklappten Tisch. Zwei schwerbewaffnete Polizisten patrouillierten im Abteil. Sie ließen sich von der arabisch sprechenden Familie die Papiere geben, dann von den jungen Männern mit den Sporttaschen. Arnold blickte aus dem Fenster, der Platz neben ihm war frei. Er sah vertrocknete Felder, Solarmodule auf renovierten Dorfhausdächern und Strommasten in der Sonne.

Arnold klappte das MacBook auf. Er öffnete den Chat mit Odile. Arnold blickte ungefähr eine Minute auf den Chat und wartete auf die Sprechblase mit den drei Punkten. Odile tippte nicht. Arnold öffnete den Chat mit Veysel.

Arnold schrieb: was machst du?

Veysel tippte.

Veysel schrieb: nichts

Veysel schrieb: warte auf lieferdienst. wie ist es in der heimat

Arnold schrieb: im rhein sterben die fische wegen der hitze. aber ich bin schon im zug nach paris.

Veysel schrieb: warum

Arnold schrieb: warum im zug?

Veysel schrieb: paris

Arnold schrieb: fliege von paris nach athen in zwei tagen. habe keinen flug von deutschland aus gefunden, von paris hat 10 euro gekostet

Veysel schrieb: haha

Veysel schrieb: warum athen

Arnold schrieb: fahr zu odile, helfe da beim filmdreh, sie hat mich gefragt vor ein paar wochen

Veysel schrieb: wie helfen

Arnold schrieb: keine ahnung

Veysel schrieb: was sollst du da machen

Arnold schrieb: haha keine ahnung

Veysel schrieb: haha

Arnold schrieb: was hast du bestellt?

Veysel schrieb: asia

Eine Schaffnerin betrat den Waggon. Arnold nahm sein iPhone und öffnete sein Ticket. Er legte das iPhone mit dem QR-Code auf das Buch. Die Schaffnerin scannte den QR-Code und bedankte sich. Arnold bedankte sich. Arnold dachte daran, wie er einmal unter einer Hochspannungsleitung gestanden hatte, an das Geräusch, das sich wie feiner Regen anhörte. Er betrachtete die roten Plastikverkleidungen im Waggon, die roten Plastikschalen der Sitze, die Fensterrahmen, den roten Synthetikteppich.

Ein für diese Arbeit zu junger Mann mit glänzender Haut schob einen Getränkewagen vorbei. Ein dickes Kind spielte auf seinem Nintendo. Arnold betrachtete das Display. Das Kind fuhr einen Jetski-Parcours, gegen die Zeit. Es verlor und blickte Arnold erschöpft an. Arnold wandte sich ab, blickte wieder aus dem Fenster und machte mit den Lippen etwas, das tröstend aussehen sollte, ein Gesicht, das eigentlich für das Kind bestimmt war. Arnold schlief ein. Er saß auf einem Pferd, es hatte eine Geschwindigkeitsanzeige auf dem Widerrist implantiert. Er stellte einen neuen Geschwindigkeitsrekord auf. Arnold wachte auf. Er schämte sich, wie er das Pferd behandelt hatte.

Arnold öffnete den Chat mit Odile. Sie hatte nicht geantwortet. Er scrollte nach oben und las im Chatverlauf. Nachricht vom 01.06., 20.09 Uhr: würde mich sehr freuen, wenn du lust hättest, den dreh im august zu unterstützen.

Arnold schloss den Chat. Er blickte auf den gelbgrünen Desktop. Er dachte an die Ausreden, die er formuliert hatte. Er schämte sich. Als er die Nachricht vor zwei Monaten bekommen hatte, googelte er gerade, wo man eine verlorene Aufenthaltserlaubnis hinbringen konnte. Er war dabei, durch irgendein Forum zu scrollen, als er mehrere Nachrichten von Odile erhielt. Immer wieder las er ihre Einladung nach Athen, während er das Portemonnaie durchsuchte, sich das Passfoto des Jungen anschaute und den irritierend aggressiven Stier, der auf das Dokument gedruckt war. Eine U-Bahn fuhr ein, und Arnold gab das Portemonnaie dem Lokführer, der in seiner Erinnerung ein haarloser Arm war. Die U-Bahn-Türen schlossen sich, und in Arnold stieg plötzlich der Verdacht auf, dass der Lokführer ein Nazi sein könnte. Arnold hatte sich den Lokführer vorgestellt, wie er das Portemonnaie in den Tunnel warf, wie alle zehn Minuten eine neue Bahn den Aufenthaltstitel etwas mehr zerstörte. Aber die Asylverfahren wurden mit Sicherheit auch digital gespeichert, also war das alles nicht so schlimm, hatte Arnold gedacht. Vielleicht gab der Lokführer das Portemonnaie auch einfach an der richtigen Stelle ab. Und wie er dagestanden und sich das alles gefragt hatte, hatte Arnold immer wieder Odiles Nachrichten gelesen. Dann hatte er geschrieben: ja unbedingt. Er hatte die Zeile wieder gelöscht und geschrieben: ich kann nicht, ich habe eine sonderbare blutung unter dem fuß. Er hatte die Zeilen gelöscht und geschrieben: ich werde mich umbringen heute abend. Dann hatte er auch diese Zeilen gelöscht, war entlang der Gleise geeilt und hatte geschrieben: ok. Und auf Senden gedrückt. Unzufrieden mit seiner Antwort hatte sein Gehirn wieder zurück zum Lokführer geschaltet, und als Arnold verwirrt und unerklärlich gehetzt aus der Station ging, hatte er geschrieben: ich habe an dich gedacht. Arnold wünschte sich, dass Odile ihre Nachrichten zehn Minuten später abgeschickt hätte, dann hätte er sie genießen können oder wenigstens adäquat antworten, und dem Besitzer der Aufenthaltserlaubnis wären fünf oder fünfzig Behördengänge erspart geblieben. Odiles Nachrichten waren die Art von Nachrichten, die man unterwegs und unvorbereitet erhielt, die von da an bis in die Unendlichkeit mit diesem wahllosen Ort und den zufälligen Handlungen der Menschen an ihm verknüpft waren. Städte, wurde Arnold da klar, waren voll von diesen Zonen. Und diese Nachrichten von Odile, diese erste Kontaktaufnahme nach mehr als einem halben Jahr würde ewig mit der verlorenen Aufenthaltserlaubnis und dem Lokführer verbunden sein und das alles mit der U-Bahn-Station Hansaplatz. Arnold öffnete den Chat mit Odile und löschte alle Nachrichten bis zum 01.06.

Arnold blickte aus dem Fenster. Auf einen Feldweg zwischen verdorrten Kulturpflanzen, auf braune Wiesen, durchhängende Hochspannungsleitungen, ein paar abgekämpfte Bäume, manchmal eine Siedlung oder grüne Schallschutzwände mit Graffiti. Ab und an parkte ein SUV in der Ödnis. Arnold nahm sein MacBook unter den Arm und ging zur Toilette. Eine schwangere Frau kam ihm entgegen.

Arnold hatte Schwierigkeiten, seine Hose zu öffnen und gleichzeitig das MacBook in der Hand zu halten. Er legte das MacBook auf das kleine Waschbecken und streifte den Wassersensor. Arnold griff nach seinem MacBook und wischte das Wasser mit seinem T-Shirt auf. Er betrachtete den Wasserstrahl. Er dachte: Es sieht perfekt aus, wie animiert. Arnold dachte an die unverschämte Fragilität eines schwangeren Bauches. Er dachte daran, dass Infantizid im Tierreich als natürliches Verhalten angesehen wurde. Dass also Guppys, Löwen und Schimpansen oder Delfine Nachkommen der eigenen Art töteten. Vielleicht aus sozialem Stress. Arnold wiederholte die Worte: natürliches Verhalten. Neben dem Wasserhahn stand: Kein Trinkwasser.

Eine Stunde und sechsundzwanzig Minuten später trat Arnold aus dem klimatisierten Waggon in die Hitze des Pariser Nordbahnhofs. Menschen suchten Ausgänge, eine nervöse Rentnergruppe zog Rollkoffer hinter sich her. Arnold stellte sich vor, wie Odile in einer Bahnhofshalle aus dem 19. Jahrhundert, an eine gusseiserne Säule gelehnt, auf ihn wartete, mit einem Pappschild, auf dem irgendetwas Ironisches und Liebevolles stand. Arnold fragte sich, ob sie jemals in Paris gewesen war. Er wusste es nicht.

Draußen, über der Stadt flog lustlos ein Helikopter. Arnold dachte: Die Luft ist sauer und warm und schwer von Abgasen. Menschen telefonierten oder verkauften irgendwelche Plastiksachen am Straßenrand. Häuser lagen unter halbtransparenten Gerüstplanen. Arnold beobachtete eine Gruppe Männer. Sie standen vor Stapeln Rubellosen auf mobilen Holztischen, die von Fahrradspannern zusammengehalten wurden. Arnold dachte: Seitdem die Welt untergeht, sieht alles besser aus. Die Männer rauchten billige Zigarillos und trugen schöne, alte Lederschuhe. Arnold wartete auf ein Körpersignal, das ihm Aufbruch oder Entdeckerlust vermittelte. Ein Mann drückte ihm einen Werbeprospekt für einen Meditationsworkshop in die Hand.

Arnold nahm sein iPhone. Es war 17.03 Uhr. Er dachte: In drei Tagen bin ich in Athen. Er öffnete Google Maps, blickte auf die Karte und den blauen GPS-Punkt. Arnold dachte: Eigentlich bin nicht ich das, sondern mein iPhone. In 1,4 Kilometer Entfernung steckte die rote Nadel im Place de la Bataille de Stalingrad.

Während er der Route folgte, löschte er vier Spam-Mails, las, Elon Musk habe sich in eine Privatklinik einweisen lassen und von den Waldbränden in Portugal. Und er schaute sich die Straßenzüge an. Und die Gesichter darin. Eine Frau in einem orangenen T-Shirt fragte ihn nach Feuer. Sie hob die Augenbrauen und machte eine eindeutige Geste mit dem Daumen. Arnold dachte an die Geste für Feuerzeug und an die für Fotoapparat. Arnold suchte eine Weile in seinen Hosentaschen, obwohl er wusste, dass er kein Feuer hatte. Arnold sagte: Sorry.

Auf dem Weg fiel Arnold sein erster Paris-Besuch ein. Er glaubte sich zu erinnern, es wäre nachts und sie vorher in Verdun gewesen. Arnold war mit seiner Französischklasse und einem Schlachtfeldführer durch Bunkerruinen geklettert und über die gemähten Anlagen spaziert. Der Schlachtfeldführer hatte sich auf einen Geschützturmüberrest gestellt und gesagt: Manchmal, heute noch, wenn es regnet, geben die Felder Schädel und Schenkel preis. Oder so ähnlich. Arnold hatte nur aus Ruhmsucht ein Skelett finden wollen, war aber nicht in der Lage gewesen, mit dem Schlachtfeldführer zu sprechen, wahrscheinlich aus Angst, etwas Falsches zu sagen. Er hatte das Massive-Attack-Album Mezzanine auf seinem iPod gehört, abwechselnd auf den Hirschkäfer auf dem Cover und aus dem Fenster geschaut. In der letzten Reihe hatten die anderen Sangria getrunken. Und dann waren sie im Dunkeln nach Paris gekommen. Es hatte geregnet, irgendwie so musste es gewesen sein.

Arnold nahm sein iPhone. Er öffnete Mail und schrieb:

notiz

damals fühlte ich mich wie ein besucher, ein reisender mit einem geheimnis, heute, als sei ich selbst aus einem massengrab gestiegen.

Er schickte die Mail an sich selbst.

Arnold legte seinen Ausweis auf den Tresen. Der Rezeptionist schob eine Aluschale, in der ein rotes Curry schwamm, beiseite und verlangte eine Touristengebühr. Arnold legte geräuschlos sieben Euro auf den Tresen, auf den die Pariser Skyline in rotem Sonnenuntergang gedruckt war. Arnold wollte sich an einem Automaten ein Getränk kaufen. Der Rezeptionist blickte ihn fragend und gelangweilt an. Arnold gab ihm einen Schein, den er, ohne Arnold anzuschauen, in Münzen wechselte. In der nach erhitztem Plastik riechenden Klimaanlagen-Luft zog Arnold ein Dosenbier. Arnold ging die Treppe hinauf ins Obergeschoss. An seinem Schritt bemerkte er eine erträgliche Ablehnung gegen das Leben im Allgemeinen. Er dachte an die Hunderttausenden Kilometer, die seine Füße noch gehen könnten, und hielt die Schlüsselkarte vor den Sensor. Arnold stellte sich vor, dass Odile im Zimmer wartete. Er musste lächeln. Sie würde auf dem Bett liegen, Cola light trinken und Fernsehen schauen. Arnold stellte sich vor, wie er den Kopf gegen die Tür lehnen, die Augen schließen und durchatmen würde. Stattdessen öffnete er die Tür. Ein Gemisch unterschiedlicher Desinfektionsmittel lag in der Luft. Das Zimmer sah heruntergekommener aus als online. Nur die Oberflächentextur schien mit den Fotos übereinzustimmen, darunter war alles kleiner, dreckiger, verlebter. Mit sehr geringem Aufwand wurde hier ein Belle-Époque-Schlafzimmer simuliert. Arnold legte sich auf das Bett. Er betrachtete den Styroporstuck an der Decke. Er schaltete den Fernseher ein. Er dachte an Paris, zu dem ihm nichts einfiel außer ungerechte Architektur, breite Boulevards, um Barrikaden zu verhindern. Er nahm sein MacBook, das WLAN war stabil. Er schaute sich ein paar Videos der Unruhen von 2005 an, und er dachte, wie zufrieden ihn die Aufnahmen plündernder Menschen damals gestimmt hatten. Die Bilder waren ihm wichtig oder neu vorgekommen, weil er dieses schaukelnde, rauschende Schwarz-Weiß-Bild einer Kameradrohne nie zuvor gesehen hatte. Sein jugendliches Ich war davon überzeugt gewesen, dem Beginn von etwas sehr Großem beizuwohnen, zum Beispiel dem Ende des Kapitalismus. Arnold wusste damals noch nicht, dass alles verebbt, alle Aufstände und jedes Gefühl. Arnold hoffte, dass in den Innenstädten bald Geschäfte internationaler Bekleidungsketten geplündert würden, und öffnete den Chat mit Odile.

Arnold schrieb: jetzt in paris. in drei tagen bin ich da.

Er drückte auf Senden. Er blickte auf den Chat. Sie schrieb nicht. Odile tippte nicht. Arnold hörte den Stadtgeräuschen zu, ihrem Auf- und Abbranden, ein Rauschen, und diesem für das menschliche Ohr unverortbaren Helikopterschall. Vielleicht hatte er Hunger.

Arnold ging einen Boulevard hinab. Er steckte sich Kopfhörer in die Ohren und machte Green von Hiroshi Yoshimura an. Er dachte: Paris ist verlassen im August, die Leute fahren an die Küste, und die Alten sterben allein in ihren Wohnungen an Hitzschlägen, ihre Enkelkinder planschen im Atlantik, das sind die Gesetze der Natur. Arnold dachte an die Reproduktionen von Paris auf Fototapeten. Er dachte an Eiffelturm-Schlüsselanhänger, die er auf einem Markt in Tirana gesehen hatte, an die Eiffelturm-Kopien auf fränkischen Bauunternehmergrundstücken, auf Plätzen in Kabul, in Hangzhou und an Filme, die in Paris spielten. Paris hatte sich im Attraktivitätswettbewerb gegen andere Städte zu Tode gesiegt. Das Einzige, was ihm hier fremd vorkam, war die Geschwindigkeit der Fußgänger. Arnold dachte an das Paris-Syndrom: Halluzinationen und Wahnvorstellungen, Herzrasen, Schwindel und Hautausschlag, und das alles nur wegen enttäuschter Erwartungen. Arnold kam es nutzlos vor, irgendetwas zu erwarten. Der Satz war aus dem Buch der Unruhe von Fernando Pessoa. Arnold hatte das Buch der Unruhe zu Hause auf dem Sofa gelesen. Draußen hatte es nicht aufhören wollen zu regnen, Odile war weggezogen und er völlig ausgeschaltet gewesen. Eine Zeit lang hatte er gedacht, er könnte Energie sammeln, indem er Schlaftabletten nahm und schlief, ansonsten las, online war und Instant-Ramen aß. Wie er wieder begonnen hatte, am Leben teilzunehmen, fiel ihm jetzt, hier in Paris, nicht mehr ein, nur, dass er sich an anderes Essen erst wieder hatte gewöhnen müssen. Hätte es damals nicht geregnet, hätte er das Buch der Unruhe im Park gelesen. Dort, wo die Mädchen und ihre Jungs Gras rauchten. Er konnte sich an diese letzten Monate nur vage erinnern und fragte sich für einen Moment, ob er wirklich nichts erwartete.

Arnold aß Ful Mudammas und Taboulé. Er dachte an die Population von 12 724 901 Menschen. Er stellte sich Frankreich vor. Arnold sah Romantikhotels, Jugendstil, Landurlaube und Töpferkurse in restaurierten Städtchen vor sich: Ich würde gerne über blankes Kopfsteinpflaster zu einem Töpferkurs gehen. Arnold stellte sich die anderen Mitglieder im Töpferkurs vor. Weiße Franzosen mit rosa Fingern. Er hatte Angst, dass er wegen seiner mangelnden Französischkenntnisse von der Gruppe isoliert werden würde, die sich dann als eine Weltuntergangssekte zu erkennen gab. Sie wankten auf ihn zu und schlitzten ihn mit kurzen, scharfen Gravurmessern an, um sein Blut aus den gerade gebrannten, noch warmen Schalen zu trinken. Arnold biss sich auf die Lippe.

Obdachlose lagen auf dem Gehweg, auf den Abluftgittern der U-Bahn-Schächte. Sie spielten Vergnügungspark-Tycoon-Games auf alten Smartphones und wurden von den Ladenbesitzern der Handyhüllen-Shops verscheucht. Arnold ging an Lagern aus Wurfzelten und Schlafsackknäueln vorbei, an den Rändern der Parks und Bahntrassen, in Eingängen kurzzeitig leerstehender Geschäfte. Er betrachtete Führungskräfte mittelständischer Unternehmen auf ihrem Weg zum Abendessen. Er beobachtete mittelmäßig gekleidete Studenten, die Rollgitter vor Cafés schlossen. Und Rentnerinnen, die ihre Zwergpudel und Terrier ausführten, in deren Fell sich Ruß und Straßenstaub sammelte. Die Stadtführungen fanden, vielleicht wegen der Hitze, auch noch am Abend statt: Deutsche vor allem. Arnold betrachtete die weißen Waden, aufgeschürft von den Reißverschlüssen der abnehmbaren Beine der Trekkinghosen. Die müden Alten, auf ihnen die ganze Last ihres Lebens, waren mit Kopfhörern umständlich verkabelt. Kurzhaarige Frauen pressten ihre weißen Handtaschen an sich. Eine Reiseführerin sprach leise in ihr Mikrofon. Arnold dachte: Sie verhalten sich, als seien sie vom Versorgungsnetzwerk abgekoppelt. Er fragte sich, wie lange es dauern würde, bis man Eintritt bezahlen musste, um die Stadt betreten zu dürfen.

Arnold ging Richtung Norden. Er hörte Pot Au Feu von Delia Derbyshire. Es war ein schwüler Abend. Zwischen Plattenbauten versuchte Arnold dreimal, Odiles E-Mail-Passwort zu erraten. Er musste sich zwingen, es nicht öfter zu versuchen, sie würde sonst eine E-Mail erhalten, dass jemand versuche, sich in Paris in ihrem Account anzumelden. Er las, dass die Hitze in Japan Hunderte Tote forderte, Zwölftausend waren ins Krankenhaus eingeliefert worden. Mancherorts hatte es seit März nicht mehr geregnet. Er googelte Odile, es gab keine neuen Treffer.

Eine Stunde und zehn Minuten später erkannte Arnold das Metroschild Stalingrad wieder. Er ging in einen Kiosk und setzte sich dann davor auf einen weißen Plastikstuhl. Es war sehr bequem. Arnold betrank sich mit Blick auf irgendeine Rotunde hinter der Bahntrasse. Er las, dass das Gebäude früher eine Zollstation gewesen war. Heute befand sich darin ein puristisches Konzept-Restaurant namens Grand Marché Stalingrad. Arnold dachte: Die Mechanismen der Umdeutung der Vergangenheit, einer ironischen Musealisierung, heißen Food und Design. Jugendliche in Hoodies kauften im Kiosk Softdrinks. Businessmenschen warteten nach dem Businessdinner erschöpft auf Taxis. Der Kioskbesitzer mit weißem Hemd und Sakko kam mit Tee heraus. Arnold schätzte ihn auf fünfzig.

Der Kioskbesitzer sagte: Willst du auch Tee?

Arnold sagte: Ja, gerne.

Der Kioskbesitzer sagte: Woher kommst du?

Arnold sagte: Aus Berlin.

Der Kioskbesitzer sagte: Ah, gut.

Arnold sagte: Und du?

Arnold fühlte sich wohl.

Der Kioskbesitzer sagte: Aus Lagos, Nigeria.

Arnold sagte: Trinkt man Palmwein in Nigeria?

Der Kioskbesitzer sagte: Natürlich, wie auch im Rest der Welt.

Arnold sagte: Kennst du Amos Tutuola?

Der Kioskbesitzer sagte: Nein, wer ist das?

Arnold sagte: Ein Schriftsteller.

Der Kioskbesitzer sagte: Aus Nigeria?

Arnold sagte: Ja, aus Nigeria.

Der Kioskbesitzer sagte: Lebt er noch da?

Arnold sagte: Nein, er ist tot, glaube ich.

Der Kioskbesitzer sagte: Fela Kuti kommt aus Nigeria.

Arnold sagte: Ja, stimmt.

Der Kioskbesitzer lachte.

Arnold sagte: Er ist berühmt.

Der Kioskbesitzer sagte: Ja, und er ist auch tot. Er ist an Aids gestorben, hat aber sein ganzes Leben die Existenz von Aids geleugnet.

Arnold sagte: Oh.

Der Kioskbesitzer sagte: Aber Aids ist Vergangenheit, Geschichte, wie die alten Griechen.

Arnold sagte: Oder die E-Mail.

Der Kioskbesitzer sagte: Ja, genau, wie Windows XP.

Arnold dachte: Ich glaube an die E-Mail.

Der Kioskbesitzer nahm sein iPhone und machte Fela Kuti an. Blechbläser schallten aus den kleinen Lautsprechern.

Der Kioskbesitzer erzählte, dass er bald zurück nach Lagos ziehen werde.

Der Kioskbesitzer sagte: Seitdem mir derselbe Nazi zweimal in einem Monat die Scheibe eingeschlagen hat, hab ich genug, der Hund. Sie kommen aus jedem Winkel, wie Zombies, es werden immer mehr hier, sollen sie alleine untergehen.

Fela Kuti sang Unverständliches. Der Kioskbesitzer stand auf und mimte mit wahnsinnigem Gesicht einen Zombie, Hund oder den Nazi. Arnold fühlte sich gut.

Junge Männer gingen in den Kiosk. Der Kioskbesitzer folgte ihnen. Arnold nahm sein iPhone. Es war 21.54 Uhr. Er aktualisierte seine E-Mails, nur Spam. Die jungen Männer verließen den Kiosk. Der Kioskbesitzer kam zurück.

Der Kioskbesitzer sagte: Ich heiße Ibrahim.

Arnold sagte: Ich heiße Arnold.

Ibrahim sprach über seine bevorstehende Rückkehr nach Lagos.

Ibrahim sagte: Bald werden die Türme von Lagos, Abuja und Kano den Eiffelturm überragen.

Arnold sagte: Okay.

Ibrahim zeigte Arnold Fotos seiner Eltern und Geschwister in großen, hell gefliesten Apartments auf seinem iPhone.

Ibrahim sagte: Und was machst du in Paris?

Arnold sagte: Ich fahre zu meiner Freundin. Also, ich fliege weiter nach Athen.

Arnold wurde angenehm bewusst, dass er die Kontrolle über sich oder zumindest das Gespräch verlor. Er musste lächeln.

Ibrahim ging in seinen Kiosk. Er kam mit Schnaps heraus und schenkte in zwei kleine Gläser ein, in die der Eiffelturm graviert war.

Arnold sagte: Sie ist nicht meine Freundin, nur eine Bekannte.

Ibrahim sagte: Das ist wie in diesem Film. Ich habe ihn letztens wieder gesehen.

Arnold sagte: Welchen?

Ibrahim sagte: Ich kann mir keine Titel merken, du kennst ihn auf jeden Fall. Über diesen jungen Mann, der seine Frau sucht, in New York, glaube ich. Er geht vor wie ein Detektiv, aber er findet sie nicht, und man merkt, er wird langsam wahnsinnig, und dann bereitet er diesen Anschlag auf eine Bank vor, eine wichtige Bank, er platziert die Bombe, und währenddessen rastet der CEO der Bank aus, nicht wegen des Jungen, sondern einfach so, er löscht irgendwelche Konten und nimmt Geld aus dem Tresor. Die Bank fliegt in die Luft, und der Junge und der CEO sind tot. Banknoten und Papiere regnen vom Himmel auf die Schaulustigen. Und man denkt, das hat er nur für sie gemacht.

Arnold sagte: Kenn ich nicht.

Ibrahim sagte: Auf jeden Fall kennst du den.

Arnold sagte: Wie hieß der Film?

Ibrahim sagte: Ich weiß es nicht mehr, sorry.

Arnold sagte: Sorry.

Ibrahim sagte: Egal.

Sie rauchten Excellence. Sie schwiegen eine angenehme Weile. Dann erzählte Ibrahim von den Yoruba und der Palms Shopping Mall, und Arnold fragte manchmal nach irgendeinem Detail. Dann blickten sie wieder schweigend über die Straße auf die Bahntrasse. Nicht ein Mal stand ein Warten in ihrem Schweigen. Arnold und Ibrahim tauschten E-Mail-Adressen aus. Bei der Verabschiedung schenkte Ibrahim ihm eine Schachtel Excellence und ein pinkes Feuerzeug auf dem think true – good life stand.

Ibrahim sagte: Pass auf dich auf.

Arnold nickte.

Arnold lag im Bett. Er hörte den Hustenanfällen seines Zimmernachbarn zu. Über Arnold begann ein Pärchen zu ficken. Arnold musste an die Geräusche bei Versuchen, sich unter Wasser zu unterhalten, denken. Er erinnerte sich, wie er als Kind im Schwimmbad oder in der Badewanne oder im Meer den Mund geöffnet und, so laut er nur konnte, geschrien hatte, weil er davon ausgegangen war, dass ihn niemand hören konnte. In Arnold gingen die Zeiten durcheinander. Er sah seinen kindlichen Hals verkrampfen, seine kindliche Halsschlagader pulsieren, platzen, Wasser sich rot verfärben. Arnold wurde von der List of films set in Paris angeleuchtet. Die Liste war zeitlich geordnet von 1890 bis heute. Arnold war betrunken. Das Pärchen wechselte seine Stellung. Nicht alles, aber einiges drehte sich.

Er hatte geschlafen. Jemand streichelte seine Wange mit den Fingerspitzen. Er öffnete die Augen. Niemand sonst war hier. Er schaute auf den hellroten Synthetikvorhang, hinter ihm sah er die Sonne. Sie kam ihm viel zu groß vor. Er richtete sich auf, es herrschte Stille.

Er sagte: Hallo.

Dann nichts weiter.

Dann wiederholte er: Hallo.