Partystimmung - Heinrich Peuckmann - E-Book

Partystimmung E-Book

Heinrich Peuckmann

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Beschreibung

Anselm Beckers dritter Fall führt ihn in das High Society Milieu Dortmunds. Marko Knäpper, ein Bauunternehmer, wird erschlagen in seiner Villa gefunden. Eine Spur führt in die Dortmunder Nordstadt – zu einem Musiker, der obdachlose Kinder und Jugendliche bei sich aufnimmt. Kurz darauf wird einer der Jugendlichen erschossen. Steht der Tod des Jungen in Verbindung mit dem Mord an Knäpper?

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ASCHENDORFF

CRIMETIME

HEINRICH PEUCKMANN

PARTYSTIMMUNG

KRIMINALROMAN

Aschendorffs

EPUB-Edition

Vollständige E-Book-Ausgabe des im Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2008/2012 Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster

ISBN der EPUB-Ausgabe: 978-3-402-19662-5

ISBN der Druckaugabe: 978-3-402-12751-3

Sie finden uns im Internet unter

www.aschendorff-buchverlag.de

1

1.

Als das schwarze Gittertor mit den vergoldeten Spitzen im Scheinwerferlicht seines Alfa Romeo auftauchte, griff er nach der Fernbedienung, richtete sie auf das Tor und drückte fest auf den Knopf. Mit einem Ruck begannen sich die Torflügel nach innen zu bewegen. Einen Augenblick lang wartete er noch, dann fuhr er hindurch und benutzte sofort wieder die Fernbedienung, um das Tor hinter sich zu schließen.

Er fuhr den Kiesweg hoch, an dessen Rand ein paar Markierungslampen angesprungen waren, und parkte den Wagen rechts neben der Villa. Hier war es stockfinster. Mit dem Blick in den Rückspiegel wartete er, bis die Lichter am Wegrand erloschen waren, dann stieg er aus. Er liebte es, sich dem Eingangsportal im Dunkeln zu nähern. Er stellte sich dann vor, dass sich die Villa im Tiefschlaf befand, und er es sei, der sie wieder zum Leben erweckte. Er und niemand anders.

Alles war still, nur von der Straße hörte er das Geräusch vorbeifahrender Autos. Tief sog er die frische Abendluft ein.

Plötzlich hatte er das Gefühl, dass für den Bruchteil einer Sekunde etwas in der Villa aufgeleuchtet war. Er stutzte. War es ein Lichtschein gewesen? Aber das konnte nicht sein. Er wohnte allein. Der einzige Mensch, der außer ihm einen Schlüssel hatte, tat alles, um so selten wie möglich hierher zu kommen. Gebannt schaute er zu dem Haus hinüber, das sich wie ein Ungetüm vor ihm erhob. Aber es leuchtete nichts mehr auf. Niemand war ihm zuvor gekommen, um es aufzuwecken. Lautlos und in völlige Dunkelheit getaucht lag die Villa da.

Er schüttelte den Kopf. Nein, es konnte nichts im Inneren des Hauses geleuchtet haben. Wahrscheinlich hatte sich der Lichtschein eines Autos in einer Scheibe gespiegelt. Er wunderte sich über sich selber. Warum war er so ängstlich, das passte gar nicht zu ihm!

Er ging auf die Eingangstür zu, tastete dabei nach dem Schlüssel in seiner Jackentasche und schloss die Tür auf. Gerade in dem Moment, als er sie einen Spalt breit geöffnet hatte, leuchtete es wieder. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr, das war keine Spiegelung. Jemand war im Haus. Jemand hatte sich an etwas zu schaffen gemacht oder wartete auf ihn. Er zögerte. Sollte er die Polizei rufen? Ach was, wozu die Polizei? Das war etwas, das er selber regeln musste. War er ein Kerl oder eine Memme? Er ließ sich nicht einschüchtern, von niemandem!

Vorsichtig schloss er die Tür und schlich sich an der großen Treppe vorbei zum Arbeitszimmer. Von dort, so schien es ihm, war der Lichtschein gekommen. Er lauschte. Ein schleifendes Geräusch war zu hören, als würden Schubladen aufgezogen und danach wieder zugeschoben. Verdammt, was hatte das zu bedeuten? Was erlaubte sich diese Person? Wut überkam ihn, er gab sich keine Mühe mehr, unentdeckt zu bleiben, stürmte hinüber, riss die Tür auf und hörte sich im selben Moment brüllen: „Was machen Sie da? Was fällt Ihnen ein?“

Dann sah er die Person, direkt vor seinem Schrank mit den Schubladen unten und den Aktenregalen darüber stand sie, eine Taschenlampe in der Hand, die sie schnell ausschaltete. Er brauchte einen Moment, bis er verstand, dann drückte er den Lichtschalter. Für einen Moment waren sie in gleicher Weise geblendet.

„Ach, so ist das.“ Seine Stimme wurde leiser, bekam dafür aber einen bedrohlichen Unterton. „Jetzt verstehe ich. Ist ja klar, was du hier suchst. Versuch bloß nicht, mir was vorzumachen. Aber dass ich dich dabei erwischen würde, damit hast du wohl nicht gerechnet, stimmt‘s? Du hast geglaubt, du kannst hier unbemerkt reinkommen, dir das holen, was du haben willst und dann verschwinden. Aber darin hast du dich getäuscht. Lass sofort meine Schubladen in Ruhe, hast du gehört. Geh weg da. Und überhaupt, was fällt dir ein, hier einzudringen? Hier darf nur rein, wen der liebe Marko einlädt. Hast du gehört? Nur wem ich es erlaube, sonst niemand! Ja, komm ruhig, komm ruhig auf mich zu. Aber lass die Hände dabei unten. Verdammt, hast du gehört, du sollst die Hände unten lassen.“

Seine Stimme wurde lauter, die nächsten Sätze schrie er.

„Nimm sofort die Hände runter, verdammt noch mal, und leg meinen Pokal weg. Den habe ich errungen nach hartem Kampf. Willst du mich etwa damit bedrohen? Mit meinem eigenen Pokal? Wage es nicht, du Ratte, das sage ich dir, wehe, wenn du es wagen solltest … Verdammt, was machst du da? Lass das, hör sofort auf damit!“

Er riss seine Arme hoch, aber es war zu spät. Er spürte einen Schlag gegen seinen Unterarm, im selben Moment einen heftigen Schmerz, den er ungläubig zur Kenntnis nahm und der ihn unaufmerksam werden ließ. Für einen Augenblick nur, aber lang genug, um schutzlos zu sein für einen zweiten Schlag, den er zuerst gar nicht richtig spürte. Nur ein plötzliches Dröhnen nahm er wahr, das sich von der linken Stirnseite im ganzen Kopf ausbreitete. Ein Dröhnen wie von einer riesigen Maschine.

„Elendes Schwein!“, schrie er und spürte gleichzeitig, wie ihm die Beine wegknickten, wie er den Halt verlor, nach hinten stürzte, ohne sich dabei mit den Händen abstützen zu können und hart auf dem Boden landete. Das Dröhnen blieb, dieses furchtbare Dröhnen, das keinen klaren Gedanken zuließ und nach und nach ergänzt wurde von einem stechenden Schmerz, der ihm das Gefühl gab, als wollte sein Schädel zerplatzen. Nur mühsam schaffte er es, seine Hand zu heben, um sich über die Stirn zu wischen, aber er konnte die warme Flüssigkeit nur spüren, er schaffte es nicht mehr, die Hand vor seine Augen zu führen. Blut, dachte er, was sollte es anderes sein als Blut?

Alles wurde verschwommen, alles außerhalb von ihm zog sich zurück. Dazu gehörten auch die Schritte, die sich jetzt rasch entfernten, während das Dröhnen im Kopf nachließ, langsam zuerst, dann immer schneller, genauso wie der Schmerz. Stattdessen wurde es leer in seinem Kopf, so leer, wie er es noch nie gefühlt hatte. Was ist los mit mir, dachte er. Was war das für ein Dröhnen gewesen und was ist das jetzt für eine Stille? Warum entfernte sich alles, warum wurde alles kleiner, immer kleiner? Dann sah er noch einen Lichtpunkt ganz weit weg und dann umgab ihn Nacht. Nur noch tiefschwarze, lautlose Nacht.

2

2.

Anselm beugte sich über sie. Er küsste ihren Hals, ließ seine Zunge über die weiche Haut ihres Halses gleiten, streichelte ihren warmen, festen Busen, während sie begann, immer schwerer zu atmen. Er genoss es, ihren heftigen Atem zu hören, während seine Zunge tiefer glitt, ihren Busen erreichte, so dass er ihre Brustwarzen zwischen seine Lippen nehmen konnte und ganz sanft daran saugte, wobei er gleichzeitig mit seiner Hand über die Innenseite ihrer Oberschenkel fuhr. Sie begann, leise zu stöhnen, spreizte ihre Beine und er spürte ihre feuchte Wärme. Er streichelte und küsste sie weiter, bis sie sich ihm entgegendrängte, seinen Kopf zwischen ihre Hände nahm und ihn zu sich heranzog. Er genoss es, in sie einzudringen, bewegte sich langsam zuerst und sah, dass sie dabei ihre Augen geschlossen hatte. Er legte seinen Kopf ganz nah an ihren und begann, sich schneller zu bewegen, da hörte er plötzlich, dass sie etwas rief.

Was ist denn, dachte er. Was ruft sie denn da? Bis er merkte, dass es gar nicht ihre Stimme war, sondern eine sehr viel hellere. Mein Gott, der Junge, dachte er. Verdammt, was will der denn hier, gerade jetzt und dann auch noch im Schlafzimmer seiner Mutter? Von einem Moment zum anderen hörte er auf, sich zu bewegen, blieb einfach ruhig liegen, über Tanja gebeugt, die ebenfalls wie erstarrt dalag. Zwei, drei endlos lange Sekunden verrannen, dann hörte Anselm wieder die Stimme des Jungen.

„Mama, ich hab Hunger!“

Nervensäge, dachte Anselm, warum musste er ausgerechnet jetzt damit kommen? Warum konnte er mit seinem blöden Hunger nicht noch ein paar Minuten warten? Das machte der doch absichtlich.

Tanja schien Ähnliches zu denken, jedenfalls zögerte sie, bevor sie den Kopf hob.

„Thomas, lass uns jetzt allein“, sagte sie mit einer Stimme, der Anselm deutlich den unterdrückten Ärger anmerkte, „ich komme ja gleich, dann mache ich dir etwas Leckeres.“

Anselm konnte nicht sehen, wie der Kleine reagierte, aber er spürte, dass er noch in der Schlafzimmertür stand.

„Geh jetzt“, fuhr Tanja mit flehender Stimme fort, „du siehst doch, dass Mama jetzt …“

… nicht kann, dachte Anselm. Du siehst doch, dass Mama gerade beschäftigt ist! Er musste sich das Lachen verkneifen. Nein, nicht peinlich, dachte er, sondern lächerlich war diese Situation. Aber er wollte nicht lachen, denn er wusste, dass er damit alles verderben würde, was sich zwischen ihm und Tanja abspielte. Endgültig. Endlich hörte er Schritte, die sich entfernten.

Was jetzt, dachte Anselm. Soll ich etwa so tun, als wäre nichts gewesen? Soll ich weitermachen, als wäre der Kleine gar nicht da gewesen? Er spürte, dass es nicht ging, dass es bei ihm nicht mehr ging.

Tanja hatte es auch gemerkt. Sie nahm seinen Kopf in ihre Hände und küsste ihn sanft.

„Sei ihm nicht böse“, sagte sie. „Er hat die Scheidung nicht überwunden. Irgendwie hängt er noch immer an seinem Vater. Er will einfach nicht wahr haben, dass er uns verlassen hat.“

Sie schwieg, er wusste auch nicht, was er sagen sollte. Es stimmte ja, sie konnte wirklich nichts dazu.

„Ich habe Verständnis, wenn es jetzt nicht mehr geht“, sagte sie leise.

Die Formulierung gefiel ihm nicht. Sie klang gerade so, als ob er überhaupt nicht mehr könnte, aber darum ging es gar nicht. Wer konnte schon mit einer Frau schlafen, wenn plötzlich deren halbwüchsiger Sohn in der Tür stand und zusah. Da musste man ein besonders hart gesottener Typ sein und so einer war er nicht.

Er wälzte sich auf die Seite und starrte zur Decke. Sie ließ ihn in Ruhe. Erst nach ein paar Minuten hob sie ihren Kopf, blickte ihn an und lächelte.

„Bis dahin“, sagte sie, „bis Thomas kam, war es schön, Anselm. Ja, so schön, wie ich es lange nicht mehr erlebt habe.“

Er blickte sie an – ihre Augen verrieten ihm, dass sie es ernst meinte.

„Wir holen es nach“, fuhr sie fort, „schon bald. Das heißt, wenn du es möchtest.“ Noch immer sah sie ihn lächelnd an. „Möchtest du?“

Er zögerte noch einen Moment, bevor er nickte. So, wie sie ihn anlächelte, reizte sie ihn wieder. Er küsste sie. Und während seine Zunge nach ihrer tastete, hörte er plötzlich in der Wohnung Ballergeräusche. Der Junge, dachte er, jetzt hatte er sich in seinem Zimmer vor den Computer gesetzt und eines seiner Ballerspiele angestellt. Jetzt war er beschäftigt, wer weiß wie lange.

Plötzlich spürte er eine Erregung wie vorhin, er war selbst überrascht darüber, genauso wie sie. Als er sich plötzlich auf sie legte, konnte sie nur ein leises „Oh“ murmeln, während er wieder in sie eindrang und dabei sicher war, dass er sich nicht noch einmal stören lassen würde. Da konnte passieren was wollte.

Später saßen sie in der Küche zusammen. Sie hatte dem Jungen Nudeln gekocht, aber er hatte so gut wie nichts davon gegessen. Anselm wunderte sich nicht darüber. Von wegen Hunger, es war doch schon vorher klar gewesen, worum es ihm wirklich gegangen war.

Für sie beide hatte sie Tee gekocht, grünen, den Anselm seit einiger Zeit bevorzugte. Sie saßen sich am Tisch gegenüber, schlürften den Tee und schauten sich an.

Plötzlich fing sie an zu lachen.

„Komisch war das schon“, sagte sie.

Er musste nicht fragen, was sie meinte.

„Wir beide im Schlafzimmer und plötzlich der Junge in der Tür.“

Er konnte ebenfalls ein Lachen nicht unterdrücken.

„War auch für mich neu“, sagte er. „Aber du solltest darüber nicht spotten. Was ist, wenn er jetzt einen seelischen Schaden kriegt? Daran denkst du wohl gar nicht.“

Sie prustete noch lauter los. „Vom Beobachten der Liebe oder von seinen Ballerspielen?“, fragte sie dann. Er sah, dass sie wieder ernst wurde.

Stimmt, darüber müsste sie sich eher Gedanken machen, dachte er. Über die stumpfsinnige Ballerei des Jungen am Computer. Obwohl, wer konnte wissen, was so ein Junge dabei empfand, wenn er seine Mutter in flagranti erwischte. Welchen seelischen Schock das auslösen konnte. Anselm wusste es nicht, er war kein Psychologe.

Er sah auf die Uhr. Es war kurz nach zwölf mittags, Samstagmittag, genauer gesagt. Er hatte sein Handy ausgeschaltet, um vor unangenehmen Anrufen sicher zu sein. Das war zwar gegen die Vorschriften, aber er wollte sich das schöne Gefühl, ein freies Wochenende vor sich zu haben, nicht nehmen lassen.

Spätestens in gut drei Stunden würde er von Münster nach Hause fahren. Er würde dabei die Radioübertragung der Bundesligaspiele hören. Borussia war in Abstiegsgefahr. Völlig überraschend war die Mannschaft in den Tabellenkeller abgerutscht, obwohl vor der Saison ein UEFA-Cup-Platz als Ziel ausgegeben worden war. Heute musste gegen Frankfurt, einen Mitkonkurrenten um den rettenden 15. Tabellenplatz, gewonnen werden. Unbedingt musste ein Sieg her, sonst fürchtete Anselm um sein Hobby an den Wochenenden. Was blieb davon noch übrig, wenn Borussia in der zweiten Liga spielte? Aber so weit wollte er nicht denken. Erstmal wollte er die Begegnung mit Tanja genießen, mit der Tochter seines ermordeten Kollegen Schreibers, die er bei der Fahndung nach dessen Mörder kennen gelernt hatte. Sie war es gewesen, die ihn noch mal nach Münster gelockt hatte und irgendwie war es dabei passiert. Es war eine jener Situationen gewesen, von denen man im Nachhinein nicht sagen konnte, wie genau sie abgelaufen waren. Irgendwie halt und trotz des Zwischenfalls mit dem Jungen hatte er sie genossen.

Aber auf die Frage, ob er nun eine feste Beziehung mit ihr wollte, hätte er trotzdem keine Antwort gewusst. Ja, es war schön, mit ihr zusammen zu sitzen, Tee zu trinken und zu reden. Es war schön, die Nähe einer Frau zu spüren wie schon lange nicht mehr, aber sie war ja nicht allein. Sie hatte diesen Jungen, der ihn vorhin, als er gekommen war, kaum begrüßt hatte und der ihm danach im schönsten Moment die Stimmung vermiest hatte. Beinahe jedenfalls. Wollte er das überhaupt – eine Frau mit einer halbwüchsigen Nervensäge zur Freundin haben? Könnte er dafür die Geduld aufbringen, geschweige denn die Verantwortung übernehmen?

Ach was! Er merkte, wie er leicht den Kopf schüttelte. Was dachte er da? So weit war es noch lange nicht. Sie hatten sich ja gerade erst kennen gelernt. Er sollte nicht den zweiten oder dritten Schritt vor dem ersten bedenken.

„Woran denkst du?“, fragte sie.

„An nichts.“

Sie sah ihn fragend an.

„An nichts gibt es nicht.“

„Naja, ich denke daran, dass ich gleich nach Hause muss. Ich muss das Wochenende nutzen, um meine Bude in Ordnung zu bringen. Das habe ich schon viel zu lange vor mir hergeschoben.“

Er war sich nicht sicher, ob sie ihm die Erklärung abnahm, aber sie tat es.

„Du hast ja auch kaum Zeit dazu“, antwortete sie. „ich weiß ja noch von Papa, wie das ist in eurem Beruf.“

Er nickte. So viel Verständnis tat ihm gut. Bei Birthe wäre das anders gewesen. Die hatte immer auf gleiche Anteile bei der Hausarbeit gepocht, egal wie belastet Anselm durch seinen Beruf war. Eigentlich fand er Birthes Position richtiger, aber irgendwie gefiel ihm die von Tanja besser. Vielleicht war er doch ein Chauvi, wie seine Mitarbeiterin Sibel es manchmal behauptete.

Sie stand auf und legte sanfte Schlagermusik auf, was ihm jetzt wirklich zu weit ging. Jazz oder Oldies, vielleicht auch Klassik, das konnte er ertragen. Aber nicht diese Schnulzen. Beim Musikgeschmack müsste sie sich auf jeden Fall ändern, dachte er und musste wieder grinsen. Jetzt war er sogar schon beim vierten Schritt vor dem ersten.

Sie fragte ihn, was er morgen vorhabe, dann, wenn er seine Wohnung aufgeräumt hätte.

Er zögerte. Sollte er so schnell wiederkommen? War das nicht alles zu überstürzt? Aber warum nicht, dachte er dann. Die Nervensäge müsste sich eben an ihn gewöhnen. Und er sich an sie. Er rechnete nach. Wenn er morgen lange schlief, danach durch den Werner Stadtwald joggte, was mal wieder dran wäre, könnte er gegen Mittag in Münster sein. Warum nicht? Ein familiärer Sonntagnachmittag, das wäre mal was Anderes.

In dem Moment klingelte das Telefon. Anselm hätte hinterher nicht sagen können, warum er plötzlich ein unangenehmes Gefühl hatte, aber er hatte es sofort. Dabei konnte er gar nicht gemeint sein mit dem Anruf – es wusste ja niemand, dass er hier war. Trotzdem beobachtete er gespannt, wie Tanja zum Sideboard ging, nach dem Hörer griff und sich meldete. Im nächsten Moment blickte sie ihn an und reichte ihm den Hörer.

„Für dich.“

Er glaubte, nicht richtig gehört zu haben.

„Warum denn für mich?“

Sie zuckte mit den Schultern.

Ungläubig starrte auf den Hörer, dann meldete er sich.

„Da bist du ja endlich“, rief eine Stimme. „Na, Gott sei Dank!“

Anselm wusste gleich, dass es Rautert war, sein Chef. Verdammt, wer hatte ihm verraten, dass er hier war? Anselm war so verwirrt, dass er völlig vergaß zu fragen, wer Rautert auf die Idee gebracht hatte, ausgerechnet hier anzurufen.

„Bist du noch da?“, rief Rautert.

„Ja, was ist denn?“

„Was soll schon sein? Einer ist ermordet worden, in einer Villa im Dortmunder Süden. Glaubst du, sonst würde ich dich suchen? Ein bekannter Bauunternehmer, Marko Knäpper. Vielleicht kennst du ihn.“

„Marko Knäpper? Nie gehört?“

„Na, dann wirst du ihn ja kennen lernen – so weit man eine Leiche noch kennen lernen kann – meine ich natürlich.“

„Jetzt sofort?“

„Wann denn sonst? Du stellst vielleicht Fragen. Irgendwie bist du wohl durcheinander, was?“ Er kicherte kurz, was Anselm verunsicherte. Was wusste Rautert über ihn und vor allem woher?

„Los, beeil dich! Sommerweg 5. Eine kleine Seitenstraße im Süden, lässt Wermann dir ausrichten. Und lass demnächst dein Handy eingeschaltet!“

Anselm drückte das Gespräch weg.

„Hast du irgendwem verraten, dass ich hier bin?“, fragte er Tanja.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, niemandem.“

Dann war völlig unerklärlich, wie Rautert auf seine Spur gekommen war. Hatte er vielleicht eine Sonderfortbildung in Sachen Personenfahndung durchlaufen? Anselm trank noch den letzten Schluck von seinem Tee, dann stand er auf.

„Ich muss gehen.“ Er merkte selbst, wie resigniert seine Stimme klang.

Sie nickte. „Ich hab es schon geahnt. Dann wird es wohl nichts mit morgen, oder?“

Er zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht. Eigentlich geht es nicht, dass mir schon wieder ein Wochenende komplett kaputt gemacht wird. Ich werde mich melden.“

Sie gab ihm noch schnell einen Kuss, bevor er die Wohnung verließ.

„Pass auf dich auf“, sagte sie. „Seit dem Mord an Papa hab ich viel mehr Angst als vorher.“

Es rührte ihn, dass sich jemand Sorgen um ihn machte. Er konnte sich gar nicht erinnern, wann er das zum letzten Mal erlebt hatte.

Aus dem Zimmer des Jungen drangen noch immer die Ballergeräusche zu ihnen herüber.

3

3.

Es war tatsächlich eine große Villa in einer kleinen, stillen Seitenstraße, der sich Anselm näherte. Hinter einem hohen Gitterzaun inmitten eines kleinen Parks lag sie mit einem Eingang, den man getrost ein Portal nennen konnte. Das Portal wurde von einem Polizisten in Uniform bewacht. Vor der Villa, auf dem Parkweg, standen die Polizeiwagen. Wermann war schon da, bestimmt auch Sibel und Rautert. Dazu natürlich der Dok. Der hatte sein Auto mit dem Schalke-Wimpel aber vor dem Anwesen auf dem Bürgersteig an der Straße geparkt. Es wirkte fast so, als wollte er sich von der Polizei distanzieren.

Hoffentlich fängt er nicht an, mit mir über Fußball zu reden, dachte Anselm. Das wäre es noch, Schalke wird Meister und Borussia steigt ab. Nicht auszudenken, welche Lästereien ich mir dann anhören müsste, nicht nur vom Dok, auch von anderen im Freundeskreis, die nicht mal Schalkefans waren.

Er verdrängte den Gedanken und versuchte, sich auf die Umgebung zu konzentrieren, in der der Ermordete gelebt hatte. Manchmal gab es hier erste Hinweise, die sonst in keiner Spurensicherung auftauchten. Anselm hatte sich angewöhnt, zu gucken, wie die Opfer wohnten, um sich einen ersten Eindruck von ihnen zu verschaffen.

Der Park um die Villa herum kam ihm merkwürdig vor. Im vorderen Teil war er sehr gepflegt, fast akkurat. Weiße Steine bildeten den geschwungenen Weg, daneben standen silberne Markierungslampen. Direkt hinter dem hohen Gitter befand sich eine Buschreihe, die den Blick auf die Villa verdeckte. Daran schloss sich ein Blumenbeet mit Hortensien an – rosa, rot und lila. Seiner Mutter hätte das gefallen, dachte Anselm. Sie liebte Hortensien. Bestimmt wurde dieser Teil des Parks regelmäßig gepflegt. Der hintere dagegen war verwildert. Unter hohen Bäumen wuchsen irgendwelche Büsche, die keinen Platz ließen für Blumen. Abgebrochene Zweige lagen herum. Anselm staunte, als er hierher kam. Was hatte das zu bedeuten? Wollte hier jemand mehr darstellen als er war? Hauptsache, die Außensicht stimmt – was sich dahinter verbirgt, ist nicht so wichtig. Oder schaffte es jemand immer nur, den vorderen Teil des Parks in Schuss zu halten, während ihm für den Rest die Zeit fehlte?

Der Alfa Romeo, der von der Straße aus sichtbar neben der Villa geparkt war, schien auf die erste Annahme zu deuten. Anselm guckte kurz auf die Ledergarnitur. Hellbraunes, fleckenloses Leder, er nahm es mit flüchtigem Blick wahr. Autos interessierten ihn nicht besonders, Protzautos am allerwenigsten. Dann gab er sich einen Ruck und ging zum Eingang.

Wermanns und Sibel Dogans Stimmen führten ihn in einen hinteren Raum, von dem aus man einen Blick auf den verwilderten Teil des Parks hatte. Die beiden waren mit der Untersuchung des Tatorts beschäftigt, während Rautert am Fenster stand und die Szene beobachtete. Der Dok hatte sich gerade über den Toten gebeugt, der in der Nähe der Tür lag. Anselm sah, dass das Blut, das aus einer klaffenden Wunde an der linken Stirnseite getreten war, verkrustet und rotbraun war. Der Kopf sah schlimm aus, merkte er. Es kam ihm so vor, als wäre die gesamte linke Hälfte eingeschlagen worden. Trotz seiner vielen Dienstjahre fiel es Anselm immer noch schwer, so einen Anblick zu ertragen.

„Hallo“, sagte er und unterdrückte den zweiten Satz, der ihm auf der Zunge lag. Da hat aber jemand gewütet, wollte er sagen.

„Na endlich“, erwiderte Sibel. Ihre Stimme klang seltsam gereizt. Er beschloss, es zu überhören und stellte sich neben den Dok, der weiter mit der Leiche beschäftigt war.

„Schon länger tot, oder?“ Er sagte es beiläufig, um den Dok nicht bei seiner Arbeit zu stören.

Der Dok nickte. „Wahrscheinlich schon gestern Abend.“

„Erschlagen.“

Der Dok nickte. „Mit einem stumpfen Gegenstand.“

Anselm kam nicht umhin, sich tiefer zu beugen, um sich den Toten genauer anzusehen. Der Blick, der aus den weit aufgerissenen Augen sprach, gefiel ihm nicht. Es war ein spöttischer, leicht überheblicher Blick. Dazu lag so etwas wie ein Erstaunen darin. Erstaunen vermutlich darüber, dass es jemand gewagt hatte, die Hand gegen ihn, ausgerechnet gegen ihn zu erheben. So kam es Anselm vor. Was hatte das zu bedeuten, was war das für ein Mann?

Eine Strähne in seinem dunkelblonden Haar war hell, fast weiß gefärbt. Einer, der auf sein Äußeres viel Wert legt, dachte er. Außerdem war er ein drahtiger, durchtrainierter Typ von knapp vierzig Jahren.

Rautert kam näher. Er hatte Anselm Zeit gelassen, um sich zu orientieren, jetzt hielt er es für notwendig, ihn mit den Fakten vertraut zu machen.

„Marko Knäpper“, sagte er. „42 Jahre alt, Bauunternehmer. Eine große Nummer im Raum Dortmund.“

Anselm nickte. „Und warum sind wir erst jetzt hier, wenn er schon gestern Abend ermordet wurde?“

„Weil er erst heute Mittag gefunden worden ist.“ Wieder klang Sibels Stimme gereizt. Selbst Rautert schien es bemerkt zu haben, jedenfalls schaute er sie fragend an.

„Ist was?“ Ihr Verhalten begann Anselm zu nerven.

„Nichts Besonderes, sieht man mal davon ab, dass es lange gedauert hat, bis wir dich gefunden haben und bis du anschließend da warst.“

Das war eine Bemerkung, die einzig Rautert zustand, aber nicht ihr. Trotzdem, Anselm beschloss, nicht darauf einzugehen. Er wollte keinen Streit.

„Wisst ihr schon was über das Tatwerkzeug?“

Jetzt kam auch Wermann zu ihm herüber, stellte sich neben ihn und zeigte auf ein kleines Bücherbord rechts neben einem Aktenschrank, auf dem aber keine Bücher, sondern Pokale standen.

„Sieht so aus, als wenn einer von den Pokalen fehlt“, sagte er. „Es gibt da eine kreisrunde Stelle, die nicht so verstaubt ist. Gefunden haben wir aber nichts.“

Anselm atmete tief durch. Also hatte der Täter das Tatwerkzeug mitgehen lassen. Und wenn er das getan hatte, war er auch in anderer Hinsicht vorsichtig gewesen und hatte bestimmt Handschuhe getragen. Wenig oder keine Spuren hieß das. Mist! Fast war er versucht, das Wort laut auszurufen.

„Wer hat ihn denn gefunden?“

„Seine Frau, Sonja Knäpper heißt sie. Vor knapp zwei Stunden war das, gegen zwölf Uhr.“

Also ziemlich genau zu dem Zeitpunkt, als der Junge in Tanjas Schlafzimmer erschienen war und eine Verhaltung bei ihm bewirkt hatte, dachte Anselm. Er hatte Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken.

„Und wieso erst gegen Mittag?“, fragte er. „Hat sie ihn nicht schon gestern Abend vermisst?“

„Sie sind nicht mehr verheiratet“, erklärte Rautert. „Die Frau lebt getrennt von ihm mit ihrer gemeinsamen Tochter in Unna.“

„Es war abgemacht, dass er die Tochter heute Morgen abholen sollte, wie jedes zweite Wochenende. Als er nicht kam, ist die Frau hierher gefahren, weil das ungewöhnlich für ihn war. Sie hat noch einen Schlüssel vom Haus. Und da hat sie ihn gefunden“, ergänzte Sibel.

Anselm nickte. Langsam schritt er durchs Zimmer. Ein paar Schubladen des Schrankes waren aufgezogen, andere zugeschoben. Aus einer davon hing noch halb ein Briefbogen. Anselm sah Wermann an.

“Hast du die geöffnet und gesucht?“

Wermann schüttelte den Kopf. „Ich habe alles so gelassen, wie es war und nur nach Fingerabdrücken gesucht.“

So wie er Anselm dabei ansah, musste er gar nicht fragen. Keine Fingerabdrücke also, außer denen des Toten vermutlich.

„Dann hat hier also jemand was gesucht.“

Wermann nickte. „Geld kann es aber nicht gewesen sein. Das Portemonnaie des Ermordeten steckte noch in seiner Hosentasche.“ Wermann zeigte auf den Schreibtisch, wo es aufgeklappt lag. „Ist ganz schön was drin, über fünfhundert Euro.“

Also kein Raubmord. Aber was hat der Typ dann gesucht? Anselm brauchte Wermann nur anzusehen, da nickte er schon.

„Ich halte die Augen offen. Wenn mir was auffällt, sag ich es dir.“

„Gut.“ Anselm atmete tief durch. „Und wie ist der Mörder reingekommen? Gibt es Spuren an den Türen?“

Wermann schüttelte den Kopf. „Keine. Gibt hier nur ein Fenster, das schlecht schließt. Könnte sein, dass der Täter dadurch rein gekommen ist. Oder …“

„… er hatte einen Schlüssel“, ergänzte Anselm.

„ …oder Knäpper hat ihn selber rein gelassen, weil er ihn kannte.“

„Na prima, dann haben wir ja so ziemlich alle Möglichkeiten.“ Anselm atmete tief durch. „Lasst uns mit der Frau anfangen, mit dieser …“ Ihm fiel der Name nicht ein.

Sibel, Rautert und Wermann halfen ihm nicht. Stattdessen schauten sie sich verlegen an. Was sollte das denn bedeuten?

„Nun los!“, drängte er. „Wo ist sie, diese Frau…?“

„Zu Hause.“ Sibel sagte es fast tonlos. „Sonja Knäpper ist zu Hause.“

„Ich höre wohl nicht richtig!“ Anselm schüttelte wütend den Kopf. „Wieso ist die denn zu Hause?“

„Weil ihre Tochter unter Schock stand“, erklärte Sibel. „Das ist ein siebenjähriges Mädchen. Die hat ihren Vater plötzlich da liegen gesehen, in all seinem Blut. Da hatten wir Angst, dass sie seelischen Schaden nimmt. Deshalb haben wir der Mutter erlaubt, dass sie sie nach Hause bringt und dort beruhigt!“

„Na gratuliere!“ Anselm gab sich keine Mühe, seinen Ärger zu unterdrücken, der unterschwellig sowieso die ganze Zeit vorhanden war. Die Sache hier drohte ihm nämlich, sein Wochenende kaputt zu machen.

„Was sind wir hier eigentlich?“, fragte er. „Sind wir von der Polizei oder von einem Herz-Jesu-Samariter-Verein?“

Keiner antwortete.

„Seid ihr wahnsinnig?“, rief er deshalb so laut, dass es auch der Polizist vor der Tür hören musste. „ Wenn die Frau etwas mit der Tat zu tun hat, wenn sie es war, die mit ihrem Schlüssel hier rein gekommen ist, was dann? Dann kann die jetzt in aller Ruhe Spuren beseitigen. Und das dank der gütigen Mithilfe der Polizei.“

„Komm, so sah die Frau nicht aus. Ich habe es ja auch genehmigt“, beschwichtigte Rautert. „Das Kind drohte zu kollabieren. Sollen wir unnötig ein kleines Mädchen in Gefahr bringen? Die Frau läuft uns ja nicht weg.“

Die Aussage, dass die Frau nicht so aussah, als hätte sie etwas mit dem Mord zu tun, machte nichts besser. Seit wann sah man Mördern ihre Tat an? Wenn es so weit wäre, könnten sie das Morddezernat auflösen und die Arbeit den Streifenpolizisten überlassen. Oder dem Ordnungsamt oder wer weiß wem!

„Komm“, sagte Sibel, weniger versöhnlich als vielmehr bestimmt. „Es bringt ja nichts, wenn wir darüber streiten. Die Frau wartet schon auf uns. Lass uns nach Unna fahren.“

„Genau“, lenkte Rautert ein. „Wermann, der Dok und ich machen hier den Rest. Guckt ihr, ob ihr beim Gespräch mit der Frau Ermittlungsansätze findet. Gemeinsame Besprechung dann …“

„… am Montag“, ergänzte Anselm und fixierte genau Rauterts Augen. „Erst am Montag, sag jetzt wenigstens das.“

Rautert zögerte.

„Also gut, vor mir aus auch am Montag“, sagte er dann mit leichtem Seufzer. „In der Zwischenzeit läuft hier die Spurensicherung. Dann können wir alles, was wir bis dahin haben, am Montagmorgen auswerten. Solange halten wir die Sache aber unter der Decke.“ Er sah sie der Reihe nach an. „Soweit das geht, meine ich natürlich.“

Anselm wusste, dass er den Montagstermin ohne seine Meckerei wegen der Frau niemals durchgekriegt hätte. Andernfalls hätten sie sich morgen Nachmittag oder vielleicht sogar morgen früh treffen müssen.

Bevor er das Haus verließ, lief er noch kurz in das große Wohnzimmer, das eine Terrasse auf der von der Straße abgewandten Seite hatte. Ein geräumiges Zimmer, fand er. Spuren, dass hier irgendwelche Auseinandersetzungen stattgefunden hatten, konnte er nicht entdecken. Dafür bemerkte er in einem Glasschrank ein ganzes Arsenal an Getränken, 20 Jahre alten Givers-Whisky, Weinbrand, Grappa, selbst alter Genever stand da, von dem Anselm gern mal ein Gläschen getrunken hätte.

Gut versorgt, dachte er, für wer weiß welche Fälle.

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4.

Sie schwiegen. Anselm steuerte seinen Wagen. Sibel saß auf dem Beifahrersitz, den Blick starr geradeaus gerichtet. Irgendwas hat sie, dachte er. Einen Moment lang irritierte es ihn, dann nahm er sich vor, nicht mehr darüber nachzudenken. Konnte ihm doch egal sein, weshalb sie zickte. Aber es war ihm nicht egal. Immer wieder kamen seine Gedanken auf sie zurück. Es war ihm lieber, wenn sie gut miteinander auskamen. Viel lieber sogar!

Sie ist eifersüchtig, dachte er plötzlich. Klar, das musste es sein. Es hatte lange gedauert, bis Rautert ihn gefunden hatte. Es hatte ebenso lange gedauert, bis er von dem Ort, an dem er sich befunden hatte, zum Tatort gekommen war. Warum das so gewesen war, konnte sie sich schnell ausrechnen. Wahrscheinlich war das nicht mal schwierig für sie gewesen. Die Frauen ahnen immer alles sofort, dachte er. Ganz instinktiv wissen sie, wann irgendwo was läuft. Sie hat unsere nächtliche Begegnung im Auto nicht vergessen, als wir uns geliebt haben. Sie hat sich mehr davon versprochen als ich. Ganz klar, anders kann es nicht gewesen sein.

Sein Vorwurf vorhin, dass es schwachsinnig gewesen war, die Frau vom Tatort weggehen zu lassen, konnte jedenfalls nicht der Grund für ihr Schweigen sein. Der hatte ja Wermann und Rautert genauso gegolten wie ihr. Und die hatten nicht gezickt.

Überhaupt, was für ein dummes Getue um ein Kind, dachte er. Die Kleinen weinen doch heutzutage bei jeder Gelegenheit. Die Heulshows in den privaten Fernsehprogrammen geben ihnen das vor. Wäre ja schlimm, wenn das Mädchen nicht mal beim Tod des eigenen Vaters weinen würde. Aber wahrscheinlich sah er das wieder viel zu unsensibel, dachte er. Gut, dass niemand seine Gedanken erraten konnte, sonst würde derjenige es ihm garantiert vorwerfen.

Die Vorstellung, dass sie eifersüchtig sein könnte, amüsierte ihn zuerst, aber je länger er darüber nachdachte, desto mehr störte es ihn. Eifersucht war keine gute Grundlage für eine Zusammenarbeit. Er musste sich auf sie verlassen können, vor allem, wenn es gefährlich wurde. Und überhaupt, richtigen Anlass zur Eifersucht gab es gar nicht. Er wusste ja selbst nicht, wie es mit Tanja weitergehen sollte.

Auf jeden Fall nahm er sich vor, ihr nichts von Tanja zu erzählen. Sein Privatleben ging niemanden etwas an. Wenn sie schon jetzt so komisch reagierte, wer konnte wissen, wie sie dann erstmal auf einen Bericht über Tanja reagieren würde?

Als sie nach Unna rein fuhren, begann sie, im Handschuhfach nach einem Stadtplan zu suchen. Von Unna, das wusste er, hatte er einen darin liegen.

„Wir müssen zur Iserlohner Straße“, sagte sie. „Das ist ganz einfach zu finden. Bleib auf dem Ring bis zu einer großen Ampel, dann musst du nach links abbiegen.“

Er war froh, dass sie wieder mit ihm sprach, wenn es sich auch nur auf das äußerst Notwendige beschränkte. Auf das eben, was ihren Dienst betraf.

Die Adresse war ein Apartmenthaus, das ganz in der Nähe einer Schule lag. Ernst-Barlach-Gymnasium, las er auf einem Schild. Es war ein schönes Haus mit versetzt gebauten Wohnungen, so dass niemand dem anderen ins Fenster gucken konnte. Sah nicht billig aus, genauso wenig wie die Wohnung dieser Sonja Knäpper, die sie kurz darauf, nachdem sie zwei Treppen hinauf gelaufen waren, betraten. Die Stühle und der Tisch in der Küche waren aus Kirschholz, die Möbel im Wohnzimmer, in das sie geführt wurden, waren dunkel und eckig, wie sie gerade im Trend lagen. So viel wusste auch Anselm. Im Trend natürlich für denjenigen, der es sich leisten konnte.

Aber die Möbel waren es nicht, die seine Aufmerksamkeit erregten. Sie selbst war es, diese Sonja Knäpper. Hellblond war sie, etwas über dreißig Jahre alt mit einem schmalen Gesicht, einer ebenso schmalen Nase und heller, fast durchsichtiger Porzellanhaut. Er verglich sie im Stillen mit Tanja, die braune Haut und ein rundes Gesicht hatte – die eher eine Frau zum Anfassen war, ein Kumpeltyp. Diese dagegen wirkte zerbrechlich, auf jeden Fall vornehm. Kein Wunder, dass ein Typ mit Geld wie dieser Knäpper auf sie angesprungen war, dachte er. Eine Frau wie Tanja hätte ihm nicht gefallen. Dafür wäre sie ihm viel zu …- er suchte nach einem passenden Wort – …zu normal gewesen.

Sonja Knäpper bat sie, in den Sesseln Platz zu nehmen, während sie sich auf die Couch setzte.

„Wie geht es Ihrer Tochter?“, fragte Sibel und sah Anselm dabei trotzig an.

„Sie schläft. Gott sei Dank, jetzt schläft sie.“ Sie nickte zur Bekräftigung. „Während der ganzen Rückfahrt hat sie geschluchzt.“

Diese sanfte Tour nervte Anselm. „Glauben Sie nicht, dass Ihre Tochter es so lange ausgehalten hätte, bis wir Sie befragt haben?“, sagte er. „Wenn sie doch sowieso geweint hat.“

Sonja Knäpper sah ihn erstaunt, fast ein wenig beleidigt an. Klar, inzwischen hatte sie sich an den Schmusekurs gewöhnt, dachte er. So was musste ja dabei herauskommen. Jetzt war er der Böse.

„Caroline ist sehr sensibel“, antwortete sie. „Sie nimmt sich alles sofort zu Herzen, selbst Dinge, die sie nicht direkt betreffen. Aber der Tod ihres Vaters betrifft sie ja, und wie er das tut! Ihre Sensibilität war auch ein Grund für die Trennung von Marko. Der hatte nicht viel Verständnis für sie. Wenn er sah, dass Caroline sich etwas zu sehr zu Herzen nahm oder zaghaft war und sich etwas nicht zutraute, sprach er ihr nicht Mut zu, sondern wurde immer fordernder. Dann hat er sie angeschrien, zum Weinen gebracht, zweimal hat er sie auch …“ Sie drehte sich zum Fenster und blickte hinaus. Anselm folgte ihrem Blick und sah auf das obere Stockwerk der Schule. Die Klassenräume waren leer, die Stühle waren auf die Tische gestellt. Klar, es war Samstag. Früher, als er noch zur Schule gegangen war, hatten sie auch samstags Unterricht gehabt, wenn auch nicht mehr so spät.

Ihm war aufgefallen, dass sie vom Vater ihres Kindes gesprochen hatte, nicht von ihrem Mann. Überhaupt schien sie ihm seltsam gefasst zu sein. Dabei war es doch ihr Ehemann gewesen, der ermordet worden war. Irgendwann muss sie ihn ja mal geliebt haben. Hatte sie so wenig Interesse an seinem Schicksal? Oder gab es da Verwundungen, die sehr tief gingen? Vielleicht sogar bis zu einem Motiv?

„Ich musste an Caroline denken“, fuhr sie fort, wich dabei aber Anselms Blick aus. „Für Marko war Sensibilität Schwäche, einmal hat er sogar von Lebensuntüchtigkeit gesprochen.“

So ganz schien Anselm das nicht zu stimmen. Knäppers Frau wirkte doch selber zerbrechlich – jedenfalls nicht so, als würde sie sich jederzeit und mit Freude ins pralle Leben stürzen. Wirkte sie vielleicht nur so und war es gar nicht? Oder konnte dieser Marko Knäpper gut trennen? Die Frau an seiner Seite sensibel, vielleicht sogar zerbrechlich, aber sein eigenes Kind so durchsetzungsfähig wie er selbst, weil es ihm ja irgendwann nachfolgen soll. Anselm konnte sich vorstellen, dass es Männer gab, die so dachten.

„Lebensuntüchtig, wissen Sie, was das für ein Wort ist?“, fragte sie plötzlich.

Anselm ahnte, worauf sie hinaus wollte, schüttelte aber trotzdem den Kopf.

„Nee, was denn?“

„Die Nazis haben das verwendet bei ihrem Euthanasieprogramm. Das muss man sich mal vorstellen! So ein Wort gebraucht der, und das bei seiner eigenen Tochter.“

„Trotzdem hat ihn Ihre Tochter aber noch besucht. Das war doch der Grund dafür, warum Sie heute Kontakt mit ihm aufnehmen wollten, oder?“