Zweites Leben - Heinrich Peuckmann - E-Book

Zweites Leben E-Book

Heinrich Peuckmann

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Beschreibung

Am Anfang von Peuckmanns neuem Krimi steht der brutale Überfall auf einen Geldtransporter. Mit einer Panzerfaust bedrohen die Täter die beiden Geldboten. Sie selbst tragen eine Clowns- und eine Horrormaske, als handle es sich um einen Karnevalsauftritt. Mehr als 700.000 Euro beträgt ihre Beute. Anselm Becker ist verwirrt. Was hatte die Verkleidung zu bedeuten? Und vor allem, haben sie von den Geldboten oder von Bankangestellten einen Tipp bekommen? Aber die Überprüfung bringt nichts. Lange tappen Anselm Becker und seine Mitarbeiterin Sibel Dogan im Dunklen, bis Anselm Becker plötzlich auffällt, dass er in diesem Fall nicht mit der üblichen Polizeiroutine weiterkommt. Im Gegenteil, manchmal scheinen die Täter genau das Gegenteil von dem gemacht zu haben, was die Polizei annehmen musste. Erst als Anselm Becker das erkennt, spürt er, dass er den Tätern näher kommt und fühlt gleichzeitig, dass auch sie ihm näher kommen. Wer verfolgt hier eigentlich wen? Nicht nur spannend wie seine drei Vorgängerbände ist dieser Krimi, er verbreitet zusätzlich eine geheimnisvolle, bedrohliche Stimmung. Erst als ein Mord geschieht, ahnt Becker die Lösung und gerät prompt in Lebensgefahr. Eines ist allen Anselm-Becker-Krimis gemeinsam. Hinter der spannenden Handlung schimmert wieder ein großes gesellschaftliches Thema auf, das diesmal weit zurückreicht. Bis in den deutschen Herbst, in die Zeit des Terrorismus.

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ASCHENDORFF

CRIMETIME

HEINRICH PEUCKMANN

ZWEITES LEBEN

KRIMINALROMAN

Aschendorffs

EPUB-Edition

Vollständige E-Book-Ausgabe des im Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2009/2012 Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster

ISBN der EPUB-Ausgabe: 978-3-402-19663-2

ISBN der Druckaugabe: 978-3-402-12785-8

Sie finden uns im Internet unter

www.aschendorff-buchverlag.de

1

1.

Wir sind kurz vor ein Uhr aus Richtung Unna gekommen und haben bei Bönen die Autobahn überquert.

Wir waren genau im Zeitplan gewesen, denn es war nichts Ungewöhnliches passiert. Den ganzen Tag über war es diesig gewesen, deshalb habe ich nicht viel sehen können von dem Verkehr vor und hinter uns.

‚Pass auf’, habe ich zu meinem Kollegen gesagt, ‚du musst nicht rasen, wir sind gut in der Zeit.’ Er ist dann tatsächlich langsamer gefahren, als wir auf die Straße Richtung Hamm einbogen. Ich habe aufgehört, nach vorn zu starren, sondern habe durch das Seitenfenster auf die nebligen Felder geblickt. Es entspannt mich, mal nichts von dem Verkehr um mich herum mitzukriegen und auch nicht an das denken zu müssen, was wir hinter uns transportieren. Wenn man das dauernd tut, wird einem mulmig zumute.

Mein Kollege hat leise angefangen zu pfeifen, wie immer, wenn er sich wohl fühlt, aber ich habe diesmal nicht mit Gesumme eingestimmt, wie wir das manchmal machen. Ich hatte nämlich im Rückspiegel plötzlich zwei grell aufleuchtende Scheinwerfer entdeckt, die sich mit hoher Geschwindigkeit näherten. Sie gehörten zu einem Wagen, der direkt auf uns zuschoss und ich habe gedacht: Warum rast der denn so? Ist ihm nicht klar, wie gefährlich das ist bei diesem Wetter? Gleichzeitig bin ich unruhig geworden. Will der was von uns, habe ich gedacht. Im selben Moment war mir klar, dass ich aufpassen musste und den Wagen keine Sekunde lang aus den Augen verlieren durfte. Ich weiß nicht mehr, wie ich darauf kam, es war so ein Gefühl, das mich nicht mehr los ließ, mehr nicht.

Kurz darauf sah ich, dass der Wagen, ein Ford Transit, langsamer wurde und sich der Abstand zwischen uns nicht mehr verringerte. Für einen Moment habe ich aufgeatmet. Einer, der nicht weiß, was er will, habe ich gedacht. So was kommt öfter vor. Ich habe wieder aus dem Seitenfenster geschaut und versucht, vor mich hinzuträumen.

Aber ein paar Sekunden später sah ich, dass der Wagen plötzlich an uns vorbeischoss, das heißt, gesehen habe ich das gar nicht richtig. Ich habe nur einen Schatten bemerkt, der vorbei flog. Jetzt war ich sicher: Da stimmt was nicht. Es ist zwar normal, dass uns jemand überholt, aber dieses Tempo und dann der Wechsel der Geschwindigkeit, mal schnell, mal langsamer, dann rasend schnell, ist völlig ungewöhnlich. Aber zunächst sah es so aus, als wäre nichts dran an meiner Befürchtung. Der Wagen behielt sein hohes Tempo bei, als er uns überholt hatte und schien sich zu entfernen. Die Strecke war frei, keine Autos hinter uns, keine, die uns entgegen kamen. Dann aber bremste er scharf, ganz plötzlich, wie aus heiterem Himmel. Mein Kollege musste ebenfalls heftig auf die Bremse treten, wir schlitterten über den Asphalt, gerade in dem Moment, als ein dicker Baum am Wegrand stand. Als wir daran vorbei rollten, löste sich ein Schatten hinter dem Baum und sprang auf uns zu.

‚Pass auf, das ist eine Falle’, habe ich geschrien. ‚Zieh an dem Wagen vorbei, fahr weiter!’

Aber es war zu spät gewesen. Mein Kollege versuchte zwar noch, von der Bremse aufs Gaspedal zu wechseln, aber da gab es plötzlich einen fürchterlichen Knall, direkt an meiner Beifahrertür. Für einen Moment war ich wie betäubt. Als ich wieder zu mir kam, war die Beifahrertür offen und ich spürte etwas Kaltes in meinem Nacken.“

Der Mann verstummte. Er atmete ein paar Mal heftig ein und aus, als hätte er einen Jogginglauf hinter sich. An­selm Becker drängte ihn nicht, weiterzuerzählen, er konnte sich vorstellen, was der Mann durchgemacht hatte. Er musste ihm Zeit lassen, wenn er einen genauen Bericht von ihm haben wollte. Etwas anderes ging nicht.

Auch er atmete tief durch, wandte den Blick von dem Mann ab, der vor ihm auf dem Beifahrersitz eines Streifenwagens saß und die Füße auf den Asphalt der Straße gestellt hatte und blickte hinüber zu den Feldern, über die der Nebel waberte. Dort, wo er sich auflöste, trat die feuchte Ackerkrume hervor. Es wehte ein kalter Wind herüber, der sich aber nicht in den kahlen Bäumen am Straßenrand verfing, sondern über die Straße hinweg blies und vertrocknete Blätter und Papierfetzen in den Straßengraben fegte. Anselm stellte den Kragen seiner Jacke hoch und steckte die Hände in die Taschen.

Der Kollege des Mannes saß mit hängendem Kopf in einem Polizeibulli. Seit Anselm angekommen war, hatte er seine Haltung nicht verändert, deshalb hatte Anselm erst gar nicht versucht, ihn anzusprechen. Es würde noch lange dauern, bis der Mann ansprechbar war. Zu tief saß der Schock.

Anselm blickte sich um. Der Transporter stand quer auf der Straße, das Heck in Richtung Straßenrand. Die Hecktüren standen offen, genauso wie sie ihn vorgefunden hatten. Gleich vier Streifenwagen, zwei Passats, zwei Bullis, parkten drum herum, dazu ein paar Privatwagen, darunter sein Golf. Die Kollegen in ihren weißen Arbeitsklamotten waren mit der Spurensicherung beschäftigt, Wermann leitete den Einsatz, Sibel Dogan, seine Mitarbeiterin, sah ihm dabei zu. Auch heute trug sie wieder ihre Lieblingskleidung, schwarze Jeans und eine schwarze, eng sitzende Jacke, passend zu ihrem Haar.

Anselm wandte den Blick von ihr ab und beobachtete ebenfalls eine Zeitlang das Treiben, dann wandte er sich wieder dem Mann zu.

„Weiter! Was geschah dann?“

„Ich habe gleich gespürt, dass das Kalte in meinem Na­cken die Mündung einer Pistole war. So fest hat die Person schräg hinter mir sie in meinen Nacken gedrückt, dass ich den Kopf nicht wenden konnte, um zu sehen, wer es war. Die Person hat auch gar nicht sagen müssen, dass ich aussteigen soll. Mit dem Druck der Pistolenmündung hat sie mich so dirigiert, dass ich es ohne Aufforderung tat. Mein Kollege ist auch ausgestiegen, zuerst habe ich geglaubt, dass er ebenfalls mit einer Pistole bedroht würde. Aber das ging ja gar nicht, die Fahrertür war fest verschlossen gewesen. Er musste sie von sich aus geöffnet haben. Erst als ich auf der Straße stand und nach vorn blickte, habe ich gesehen, warum er es getan hatte. Da stand zwischen unserem und dem anderen Wagen eine zweite Person auf der Straße, die ein spitz zulaufendes Ding auf uns gerichtet hielt, das an einer Stütze angebracht war, die die Person an die Schulter gepresst hatte. Ich habe einen Moment gebraucht bis ich kapierte, dass es eine Panzerfaust war. Trotz Panzerfaust und Pistole im Nacken habe ich noch immer nicht begriffen, in welcher Situation wir uns befanden, denn die Person, die da vor uns stand, trug eine Maske. So eine Clownsmaske, wie man sie bei Karnevalsfeiern aufsetzt. Es war ein ironisch grinsendes Gesicht, so dass ich gedacht habe, die Sache ist gar nicht ernst gemeint, sondern ein dummer Spaß, um uns einen Schrecken einzujagen. Ja, das habe ich tatsächlich geglaubt, denn als der Pistolendruck in meinem Nacken nachließ, konnte ich aus den Augenwinkeln sehen, dass auch die zweite Person eine Maske trug. Das war eine Horrormaske, die aber mit dem Blut, das ihr aus dem Mund zu laufen schien, ebenfalls komisch wirkte. Es hat nicht viel gefehlt und ich hätte gelacht. Mein Gott, wenn ich daran denke …

Erst nach einem heftigen Stoß mit der Pistole in die Seite und dem Winken, dass wir zur Hintertür unseres Wagens gehen sollten, war mir endgültig klar, dass es ernst war und dass wir uns in Gefahr befanden. In schrecklicher Gefahr! Mein Gott, wenn der Typ mit der Panzerfaust schießt, habe ich plötzlich gedacht, wenn der die Nerven verliert und abdrückt, dann gibt es uns im nächsten Moment nicht mehr. Dann bleiben von unserem Transporter vielleicht noch ein paar Trümmer übrig, aber von uns gar nichts mehr.

Wir haben dann zusammen die Tür unseres Geldtransporters aufgeschlossen, es geht ja nur, wenn wir das gemeinsam machen, und wir hatten dabei den Typen mit der Horrormaske und der Pistole in der Hand immer hinter uns. Ich habe gesehen, dass meinem Kollegen die Hände genauso zitterten wie mir und als es nicht schnell genug klappte, spürte ich sofort wieder die Pistole im Rücken. Im selben Moment, als die Tür offen war, kam der Typ mit der grinsenden Maske angelaufen, jetzt aber ohne Panzerfaust. Vermutlich hatte er sie inzwischen im Ford Transit abgelegt. Er riss die ersten beiden Kassetten aus dem Transporter und lief an uns vorbei zu seinem Auto. Ein paar Sekunden später war er zurück und riss die nächsten Kassetten heraus. Ich habe das gesehen und gestaunt, wie schnell und vor allem lautlos das ging. Aber richtig begriffen habe ich es nicht. Es kam mir vor wie in einem Film, den ich aber gar nicht sehen wollte. Noch zweimal kam er zurück und als ich erwartete, dass er zum fünften Mal angerannt kommen würde, weil sich noch zwei Kassetten im Wagen befanden, ertönte plötzlich ein Schuss. Aus, habe ich gedacht, aus und vorbei. Endgültig. Mit mir oder meinem Kollegen. Oder mit uns beiden. Ich habe für einen Moment an meine Kinder gedacht. Jetzt wirst du nie erfahren, was aus ihnen werden wird, habe ich gedacht. Sie werden alleine durchkommen müssen, ohne deine Hilfe, ohne deinen Rat. Aber es war merkwürdig, mein Kollege stand weiter ungerührt neben mir und auch ich verspürte keinen Schmerz. Erst da merkte ich, dass die Luft aus einem der Hinterräder entwich.

Dann hörte ich, dass auch der Typ hinter uns losrannte. So schnell ging das alles, dass ich zuerst gar nicht begriff. Erst als ich das Quietschen von Reifen hörte und augenblicklich später sah, wie der Transit an uns vorbeiraste in die Richtung, aus der wir gekommen waren, wusste ich, dass die Gefahr vorüber war und wir mit dem Leben davon gekommen waren. Erst da begriff ich richtig, dass das Geld weg war, mehr als eine halbe Million. Weg. Von einem Moment zum anderen.“

Der Mann hob den Kopf und sah Anselm an, als wollte er fragen, was er von seinem Bericht hielt. Anselm nickte. Das war anschaulich gewesen, er konnte sich vorstellen, wie der Überfall abgelaufen war. Aber er hätte auch genickt, wenn der Bericht weniger ergiebig gewesen wäre. Es war wichtig, den Zeugen zu bestärken und sein Vertrauen zu gewinnen. Und wie konnte man das besser als mit vorsichtigem Lob? Es half bei den weiteren Befragungen, die Zeugen gaben dann mehr von dem preis, was sie dachten oder vermuteten. Trotzdem, Anselm hatte noch jede Menge Fragen, aber er merkte, dass er dem Mann eine Verschnaufpause gönnen musste.

Sibel drehte sich zu ihm um. Als sie sah, dass er die Befragung unterbrochen hatte, winkte sie ihn heran. Anselm steckte wieder die Hände in seine Taschen.

„Bist du weitergekommen?“, fragte sie, als er neben ihr stand.

„Ich habe einen Überblick, wie der Unfall stattgefunden hat.“

„Schon erste Spuren?“

Anselm schüttelte den Kopf. „Nichts bis jetzt.“

Sibel nickte. „Dachte ich mir.“

„Wieso dachtest du das?“

„Weil es zu schön wäre, wenn mal was auf Anhieb klappt. Aber wir wissen ja zur Genüge, dass das bei uns nicht passiert.“

Anselm grinste. „Und bei euch?“

„Den Ablauf hat dir der Mann ja bestimmt erzählt. Den Geldtransporter ausbremsen, dann die Beifahrertür aufsprengen. Das macht man mit ein bisschen Sprengstoff, Zünder drin und … bumm, so leicht geht das. Man muss natürlich genau dosieren, sonst fliegt einem der ganze Wagen um die Ohren, aber das ist für routinierte Leute nicht schwierig, meint Wermann.“

„Also Profis?“, fragte Anselm.

„Vermutlich.“

„Und sonst?“

„Reifenspuren, weil die Diebe ihren Wagen scharf gewendet haben. Sonst nichts.“

„Klar“, antwortete Anselm, „wäre ja auch zu schön, wenn ‘s anders wäre.“

Jetzt war es Sibel, die grinste.

Anselm starrte noch einmal auf das offene Heck des Geldtransporters. Wie ein gähnender Schlund kam er ihm vor. An der Seite des dunkelblauen Wagens prangte in gelber Schrift, nicht zu groß aber doch erkennbar, der Firmenname: Weltes Sicherheitstransporte. In der Ferne bemerkte er plötzlich einen Hubschrauber. Er wusste, dass es der Polizeihubschrauber sein musste, der die Autobahn nach dem flüchtenden Transit absuchte. Es war ja klar, dass die Diebe über die Autobahn geflüchtet sein mussten, weshalb sonst hatten sie ihren Transit gewendet, weshalb sonst hatten sie den Überfall ganz in der Nähe der Autobahnauffahrt Bönen verübt? Aber Anselm hatte wenig Hoffnung, dass sie ihn noch erwischen würden. Zu viel Zeit war verstrichen zwischen Überfall und ihrer Ankunft am Tatort. Zu nah lag die Autobahnauffahrt nach Hannover oder Richtung Ka­mener Kreuz.

Er schaute auf die Uhr. Es war kurz nach vierzehn Uhr, dienstags. Die Woche hatte noch gar nicht richtig begonnen und dann so was, dachte er. Aber wo stand geschrieben, dass er es einfach haben sollte, ausgerechnet er, Anselm Becker. Rautert, sein Chef, würde ihn das auf jeden Fall fragen, falls er von Anselms Gedanken wüsste. Nein, jemand wie er war nicht auf die Welt gekommen, damit irgendetwas glatt lief. Nicht in seinem Beruf und auch sonst nicht.

Er rieb sich das Kinn und spürte die Stoppelhaare. Wenn er nach Hause kam, müsste er sich sofort rasieren. Bei seinem ausgeprägten Kinn stand ihm kein Zweitagebart. Nach Hause, dachte er. Wo war das überhaupt, sein Zuhause? War das seine Junggesellenwohnung in Werne oder war es die Wohnung von Tanja in Münster? Er schüttelte den Kopf. Das war jetzt nicht das Problem, über das er nachdenken müsste. Jetzt musste er erst mal ein anderes lösen.

Er bemerkte, dass ihn sein Zeuge erwartungsvoll anschaute. Also hatte er jetzt selbst ein Interesse daran, dass die Befragung weiterging. Er trug einen Dienstanzug mit der Aufschrift der Firma auf dem Jackett.

„Können Sie den Ford Transit ein bisschen genauer beschreiben?“, fuhr Anselm mit der Befragung fort.

„Nur, dass er weiß war. Und alt. Ich hatte sogar das Gefühl, dass er ein paar Rostflecke hatte. Aber so genau habe ich das in der Aufregung nicht gesehen.“

Gut, Anselm nickte und wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Das war im Wesentlichen das, was sie schon aus Rauterts Bericht erfahren hatte, als er sie hierher beordnet hatte.

„Und die Täter? Ich meine, ist Ihnen noch was anderes an denen aufgefallen, außer dass sie Masken trugen? Zum Beispiel, ob sie jung oder älter waren?“

„Über das Alter kann ich nichts sagen, außer dass sie nicht sehr alt gewesen sein können. So wie der eine mit den Kassetten gerannt ist, da war das bestimmt kein Opa.“

„Und sonst?“

„Der mit der Panzerfaust war kräftig, der andere kleiner, etwas zierlich sogar.“

„Ach.“ Anselm war überrascht. „Kann es sein, dass es Mann und Frau waren?“

„Mann und Frau?“ Der Mann blickte ihn an. „Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Beide trugen weite, dunkle Anoraks, so dass ich ihren Körperbau nicht sehen konnte. Aber jetzt, wo sie es sagen …“ Er schwieg einen Moment lang. „Obwohl, vorstellen kann ich mir das nicht“, fuhr er dann fort. „So wie die zur Sache gegangen sind, kann das eine Frau? Jedenfalls waren es Profis.“

Sie haben nicht zufällig Vorurteile gegenüber Frauen, wollte Anselm erwidern, unterließ es aber. Er wollte die Aussage des Mannes haben, nicht ihn verunsichern oder gar ärgern.

„Möglich, dass es Profis waren“, antwortete er stattdessen. „Deshalb haben sie auch Handschuhe getragen, stimmt’s?“

„Handschuhe? Ne, die hatten sie nicht an. Handschuhe habe ich an denen nicht entdeckt.“

Anselm sah den Mann ungläubig an. Das war doch nicht möglich! Leute, die so ein Ding abzogen und keine Handschuhe trugen, so was gab’s gar nicht!

„Sind Sie auch sicher?“

„Ganz sicher. Das war’s doch, wohin ich am meisten geschaut habe. Auf die Hände des Diebes, der die Kassetten weggeschleppt hat.“

Ja dann. Anselm blickte hinüber zu Herbert Wermann und den anderen Leuten von der Spurensicherung. Dann würden sie vielleicht doch Spuren finden und die Sache wäre schnell erledigt. Aber glauben konnte er es immer noch nicht. Handschuhe waren die primitivste Sicherheitsmaßnahme, wieso sollten die Diebe ausgerechnet die vernachlässigt haben? Waren sie sich so sicher, dass sie nichts anfassen würden? Aber wer konnte das schon?

„Und ihre Stimmen?“, fragte er weiter, „haben Sie vielleicht daran etwas erkannt? Klang eine vielleicht weiblich?“

„An den Stimmen habe ich gar nichts erkannt“, antwortete der Mann. „Einfach deshalb nicht, weil die kein Wort gesprochen haben.“

„Keines?“

„Keines! Alles ging durch Zeichen und außerdem so schnell, dass Reden völlig überflüssig war.“

Jetzt verstand Anselm überhaupt nichts mehr. Diebe, die kein Wort sprachen, um sich nicht über ihre Stimme zu verraten, die aber keine Handschuhe trugen und folglich in Kauf nahmen, dass sie Fingerabdrücke hinterließen. Das passte doch nicht zusammen. Sie müssten diese Aussage noch mal bei dem Fahrer des Geldtransporters überprüfen.

Er blickte wieder hinüber zur Autobahn. Der Hubschrauber war verschwunden. Schon dort hinten, direkt an der Auffahrt, war die Straße gesperrt worden. Solange sie hier Spuren sicherten, wurde der Verkehr über Bönen umgeleitet. Aber sonst, das war ja klar, war die Straße gut befahren. Mensch, dass er daran nicht gedacht hatte!

„Was meinen Sie, wie lange der Überfall gedauert hat?“

Der Mann zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht, ich habe ja nicht auf die Uhr geguckt. Aber es ist rasend schnell gegangen.“

„Wie viel Minuten ungefähr?“

„Vier, vielleicht fünf Minuten.“

Anselm staunte. Wenn das stimmte, wäre es ja wirklich rasend schnell gewesen.

„Trotzdem“, rief er und merkte selbst, wie seine Stimme dabei lauter wurde, „während der Überfall ablief, müssen doch Autos vorbei gekommen sein. Das ist doch eine viel befahrene Straße.“

„Autos nicht, aber ein Motorradfahrer.“

„Ja und? Hat der Fahrer nichts gemacht? Der muss doch gesehen haben, was passiert.“

„Gemacht direkt hat er nichts. Nur das Visier hochgeklappt, rübergeglotzt und als er die Masken gesehen hat, ist er weitergefahren.“

„War das alles?“ Anselm schüttelte den Kopf, die Sache wurde immer rätselhafter.

„Doch“, antwortete der Mann. „Etwas hat er noch gemacht. Ich glaube, er hat gegrinst. Jedenfalls kam es mir so vor. Vielleicht hat er das alles für einen Karnevalsscherz gehalten. Die Grinse- und die Horrormaske, ist ja jetzt, Ende Januar, die Zeit dafür.“

„Für einen Karnevalsscherz? Glauben Sie das im Ernst?“

„Na ja, oder für einen anderen Spaß, was weiß ich. Versteckte Kamera oder so. Läuft ja dauernd so was im Fernsehen, wo man Leute reinlegt und sich hinterher drüber lustig macht. Anders kann ich es mir nicht erklären.“

Anselm nickte. Na gut, in diesem Punkt kam er auch nicht weiter.

„Und der Motorradtyp oder das Kennzeichen“, fragte er, „haben Sie da etwas erkannt?“

„Nichts. Wie sollte ich? Den einen Typ mit der Pistole im Rücken, den anderen, der die Geldkassetten wegschleppt und dann zwei, drei Sekunden lang ein Motorradfahrer, der vorbeifährt. Wie soll ich mir dabei etwas merken?“

Anselm nickte. Stimmte, das war mal wieder eine Antwort, die plausibel klang, obwohl er sich grad hier eine andere erhofft hatte. Warum geschah das Unerwartete immer an Stellen, an denen man es nicht gebrauchen konnte und das Erwartete immer da, wo es nicht weiterhalf?

„Und die Diebe? Wie haben die auf den Motorradfahrer reagiert?“

„Die haben kurz gezuckt. Ich habe es deutlich in meinem Rücken gespürt. Ich glaube, wenn der Fahrer gestoppt hätte, hätten sie geschossen.“

Anselm nickte. Also gehörte der Motorradfahrer nicht zur Bande.

„Ich habe noch eine Frage“, sagte er. „Haben Sie mal ein Auto bemerkt, das sie verfolgt hat? Nicht heute, sondern in den letzten Tagen. Oder sonst irgendwelche Leute, die sie bei ihrer Arbeit beobachtet haben.“

Der Mann überlegte einen Moment lang, dann schüttelte er den Kopf. „Es sind ja dauernd Autos hinter uns, wie soll mir da ein bestimmter Wagen auffallen?“

„Vielleicht dadurch, dass es sie eine Zeitlang begleitete, dann verschwand und von irgendwo her wieder auftauchte“, versuchte Anselm seine Erinnerung aufzufrischen. „Zum Beispiel bei der Geldübergabe in der Nähe einer Bank oder einer Sparkasse. Ist Ihnen da nichts verdächtig vorgekommen?“

Der Mann schüttelte wieder den Kopf. „Wir stehen unter Zeitdruck. Wir bekommen unseren Plan, den wir einhalten müssen. Verspätungen müssen wir sofort unserer Zentrale melden. Das ist ja ein Teil unseres Sicherheitssystems. Uns darauf zu konzentrieren, reicht uns. Für alles andere fehlt die Zeit.“

Anselm atmete tief durch.

„Schade“, sagte er dann. „Wenn Ihnen dazu später noch was einfallen sollte, lassen Sie es mich sofort wissen.“

Der Mann nickte. „Ich werde drüber nachdenken. Aber ich glaube nicht, dass ich etwas übersehen habe.“

„Gut, meine Kollegin kommt gleich zu Ihnen und wird Ihre Personalien aufnehmen. Die Schwarzhaarige da drüben. Wir werden uns bestimmt noch mal bei Ihnen melden.“

Anselm wandte sich ab und ging zu dem Fahrer hinüber, der noch immer wie festgenagelt im Bulli saß. Auch er trug Dienstkleidung mit der Firmenaufschrift. Eine dunkelhaarige Polizistin hatte ihm gerade einen Becher mit Kaffee gereicht. Wahrscheinlich war es ihre eigene Thermosflasche, die sie in der Hand hielt. Anselm fragte, ob er auch einen Schluck bekommen könnte. Sie lächelte.

„Klar, ich habe immer genug vorrätig.“

Der Kaffee war lauwarm, Anselm genoss ihn trotzdem in kleinen Schlucken. Der Fahrer des Geldtransporters trank auch, tat es aber wie geistesabwesend. Unklar, ob er überhaupt merkte, dass es Kaffee und nicht etwa Tee war. Anselm merkte an seinem fahrigen Blick, dass er sich noch immer nicht gefasst hatte.

„Brauchen Sie einen Arzt?“

Der Fahrer schüttelte den Kopf. „Ich will nach Hause. Ich will jetzt erst mal für mich sein.“

„Kann ich verstehen.“ Anselm nickte. „Ich komme morgen zu Ihnen und stelle meine Fragen. Sind Sie damit einverstanden?“ Was sollte es für Sinn machen, jemanden zu befragen, der sowieso keine klaren Antworten geben konnte?

Der Fahrer lächelte dankbar.

Als Anselm sich Wermann näherte, bemerkte er dessen grantiges Gesicht mit der faltigen Stirn.

„Lass mich bloß in Ruhe mit deinen Fragen“, rief er, noch bevor Anselm irgendetwas sagen konnte.

„Ich hab gar keine.“

„Das wäre mal was völlig Neues.“

„Ne, wirklich nicht. Du machst das schon. Morgen früh sprechen wir über alles.“

Wermann starrte ihn mit offenem Mund an. „Bist du krank“, fragte er. „Oder frisch verliebt? Oder beides?“

Anselm konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Es war gut, dass Wermann den wirklichen Grund nicht ahnte. Anselm wollte nämlich weg hier. Er fror. Der kalte Wind war durch seine Lederjacke bis auf die Haut vorgedrungen. Er spürte die Kälte besonders im Rücken, außerdem war seine Jeanshose klamm. Einen ersten Eindruck vom Tatort und Hergang hatte er jetzt, mehr gab es hier für ihn nicht zu tun. Im Grunde genommen ging es ihm wie dem Fahrer. Er brauchte jetzt einen Ort, an dem er sich sammeln konnte.

Er winkte Sibel heran.

„Wenn Du die Adressen der beiden Überfallenen hast, lass uns abhauen. Lass uns irgendwohin, wo wir in Ruhe überlegen können.“

Sie nickte. „Ich weiß auch schon, wo wir das könnten. Es gibt ganz in der Nähe ein schönes Plätzchen, da war ich schon mal.“

Während sie sich die Adressen notierte, ging Anselm zu dem Baum am Wegrand hinüber. Es war eine alte Eiche mit einem kräftigen Stamm. Anselm lehnte sich für einen Moment dagegen und blickte über die Schultern auf die Straße.

Gerade als sie losfahren wollten, kam ein Pkw mit der Aufschrift der Geldtransportfirma. Zwei Männer sprangen heraus und kümmerten sich sofort um ihre beiden Arbeitskollegen.

„Können wir sie mitnehmen?“, fragte der eine der beiden Anselm.

Anselm nickte. „Wir sind so weit. Den Rest machen wir morgen.“ Dann stieg er in sein Auto, wartete, bis Sibel mit ihrem Wagen vorausfuhr und folgte ihr.

2

2.

Zuerst befuhren sie die Straße Richtung Hamm, die der Transporter eigentlich nehmen wollte, Sibel voraus, Anselm in seinem Wagen hinterher.

An der nächsten Hauptstraße bog Sibel nach links ab Richtung Kamen und kurz darauf fuhr sie auf einen Parkplatz, der versteckt hinter einem Wall mit Büschen lag.

Sie parkten direkt vor einem Hotel. Links davon befand sich ein Teich, der sich an der Außenseite des Hotels vorbei bis weit in die Landschaft erstreckte. Ein idyllischer Ort, der tatsächlich zum Spazierengehen einlud.

„Wo sind wir hier?“, fragte Anselm, als Sibel neben ihm stand.

„Das ist der Selbachpark. Sieht schön aus, oder?“

„Woher kennst du den?“

„Meine Cousine hat hier im Hotel vor einiger Zeit Hochzeit gefeiert. Da war ich dabei. Ein schönes Fest.“

Arrangierte Hochzeit oder Liebesheirat, wollte Anselm fragen, unterließ es aber. Sie mussten nicht bei jeder Gelegenheit ihren Kulturkampf austragen.

„Wenn ich Hochzeiten feiere, habe ich mich noch nie um die Gegend rund um den Veranstaltungsort gekümmert“, sagte er.

Sie kicherte. „Hätte ich normalerweise auch nicht. Aber ich muss wohl ein bisschen zu hastig getrunken haben, jedenfalls musste ich …“

„… an die frische Luft“, ergänzte Anselm. „Verstehe. Aber was sagt ein gewisser Herr Mohammed dazu, dass seine Anhängerin Sibel Alkohol trinkt?“

„Komm, werd nicht jetzt fundamentalistisch“, antwortete sie. „Ich werfe dir auch nicht Dinge vor, die du machst und die nach der Bibel verboten sind.“

„So? Und das wäre?“

„Na, wie hart du manche Verdächtige anpackst, die reine Nächstenliebe ist das nicht.“

„Aber es dient der Wahrheitsfindung.“

„Und mein Trinken diente dazu, einer Ehe das notwendige Glück zu wünschen.“

Nicht schlecht gekontert, dachte er. Sie mussten beide lachen.

„Okay, lass uns einen kleinen Spaziergang machen. Alles von dieser Landschaft hier wirst du an jenem Hochzeitsabend vermutlich nicht gesehen haben.“

„Du bist ein Spötter.“

Sie liefen seitlich an dem Hotel vorbei. Anselm hatte den Reißverschluss seiner Jacke so hoch wie möglich gezogen, um nicht am Hals zu frieren, außerdem steckte er wieder die Hände in die Taschen. Zuerst reichte der Teich bis direkt an den Weg, der durch ein Gitter gesichert wurde. Dann schob sich ein Rasenstück dazwischen, auf dem Trauerweiden standen, deren Ruten bis in das Wasser reichten.

Anselm merkte, dass er jetzt nicht mehr so fror wie noch am Parkplatz. Die hohen Bäume, die das Gelände umstanden, hielten den kalten Wind ab.

„Richtige Spuren haben wir bis jetzt nicht“, fing er an. „Sieht alles sehr routiniert aus. Deutlich die Handschrift von Profis.“

„Du meinst die Nähe des Tatorts zur Autobahn und dann die Schnelligkeit, mit der alles geschah.“

Anselm nickte. „Das auch.“

Für einen Moment unterbrach er sich und blickte hinüber auf den Teich. Dort jagten sich lautstark zwei Bless­hühner. Als könnten sie über das Wasser laufen, so schnell jagten sie hintereinander her. Ein paar Enten saßen am Ufer gegenüber und sahen teilnahmslos zu. Fast wie im richtigen Leben, dachte Anselm. Zwei, die sich kloppen und der Rest begnügt sich mit der Rolle des Zuschauers. Auch Sibel verfolgte für einen Moment das Treiben.

„Wie genau der Überfall geplant war, zeigt sich noch an einem anderen Punkt“, fuhr Anselm dann fort.

„Du meinst die Sache mit dem Sprengstoff.“

„Genau. Die Gauner haben den Tatort nicht nur ungefähr geplant, sondern auf den Meter genau. Der eine Täter muss hinter dem Baum gewartet haben, und der andere muss Maßarbeit geliefert haben. Anders geht das gar nicht. Der Typ im Transit musste den Geldtransporter genau in Höhe des Baumes ausbremsen, hinter dem sein Kumpel wartete. Deshalb hat er bei der Verfolgung mehrfach das Tempo gewechselt. Erst schnell, dann zögerlich bis zum richtigen Zeitpunkt und dann blitzschnell vorbei und bremsen. In dem Moment hatte der andere Täter Zeit, den Sprengstoff mit dem Zünder an die Beifahrertür zu kleben und dann … bumm.“

Es fiel ihm auf, dass er dieselbe Formulierung wie vorhin Sibel gebraucht hatte.

„Stimmt.“ Sie nickte. „Die wussten also genau Bescheid über Route und Zeitplan.“

„Aber der Beifahrer will nicht bemerkt haben, dass sie ausgekundschaftet worden sind. Wir müssen dazu unbedingt noch den Fahrer befragen. Trotzdem, eines ist merkwürdig.“

Sibel sah ich ihn gespannt an.

„Die Täter haben kein Wort miteinander gesprochen, um sich nicht über ihre Stimmen zu verraten. Aber Handschuhe sollen sie nicht benutzt haben, behauptet der Beifahrer.“

„Das passt doch nicht zusammen!“

„Finde ich auch. Dass sie geglaubt haben, sie würden nichts anfassen, kann nicht der Grund gewesen sein. Die müssen doch damit rechnen, dass wir irgendwann ihren Transit finden. Also hatten sie einen anderen Trick.“

Sie schritten jetzt über eine Holzbrücke. Auf der anderen Seite stießen sie auf die Liegewiese einer Badeanstalt, die durch einen Zaun begrenzt wurde. Verlassen lag sie da. Nur die Gestelle für die Müllsäcke erinnerten an den Trubel, der hier im Sommer herrschen musste.

„Und wenn die so ausgebufft sind, so professionell …“ Anselm zögerte, fort zu fahren.

„… dann war das vielleicht nicht ihre erste Tat“, ergänzte Sibel. „Dann ist das vielleicht auch nicht ihre letzte, ist es das, was du sagen wolltest?“

Anselm nickte. „Könnte sein, dass das erst der Anfang war, und wir es noch mal mit denen zu tun bekommen. Wir beide direkt oder unsere Kollegen irgendwo in einer anderen Stadt.“

„Aber es ist eine große Summe gestohlen worden, bestimmt über eine halbe Million. Wie viel genau wird uns die Firma mitteilen. Das müsste doch erst mal reichen für zwei Personen, findest du nicht?“

„Müsste, könnte, sollte. Was weiß ich, wie viel Geld solche Leute brauchen. Jedenfalls sind sie brutal, denk an die Panzerfaust. Wer so ein Ding auf einen Menschen richtet …“

Sie gingen langsam den Weg zwischen Teich und Liegewiese. Ein Bussard kreiste am Himmel, sie hörten sein piepsiges Schreien.

„Egal, ob sie noch mal zuschlagen wollen oder nicht“, sagte Anselm schließlich, „wir müssen diesen Fall lösen, so schnell wie möglich, bevor sich die Spuren verwischen. Wie sollen wir vorgehen?“

„Auf jeden Fall müssen wir die Bankangestellten durchchecken“, sagte Sibel. „All die, die mit der Übergabe des Geldes zu tun haben. Vielleicht gibt es da etwas Auffälliges. Einer, der in Finanznöten steckt und deshalb vielleicht was verraten hat. Oder einer, der sich erst vor kurzem um diesen Job bemüht hat, weil er von vornherein die Absicht für einen Überfall hatte.“

„Lass uns aber nicht zu viel Zeit da reinstecken. Die Leute werden von ihren eigenen Banken sorgfältig ausgesucht und durchgecheckt, meine ich. Unwahrscheinlich, dass sich da was ergibt.“

„Trotzdem, wir müssen ausschließen, dass unsere Täter auf diesem Weg Infos oder andere Hilfe bekommen haben.“

Anselm nickte. „Auf jeden Fall müssen wir uns noch mal die beiden Fahrer vornehmen. Das heißt, den einen habe ich noch gar nicht befragen können, so wie der unter Schock stand …“

„… hatte er wohl kaum was mit dem Überfall zu tun. Sonst wäre er doch auf das, was passierte, vorbereitet gewesen.“

„Oder er ist ein begnadeter Schauspieler.“

„Vielleicht.“

„Und außerdem müssen wir der Spur mit der Panzerfaust folgen. So was kann man nur bei der Bundeswehr klauen. Lass uns überprüfen, wo da Diebstähle gemeldet sind.“

„Mach ich. Dass wir nach einem geklauten Ford Transit suchen müssen, darauf wird Wermann ja wohl von alleine kommen.“

„Bestimmt.“ Sibel lachte. „Gut, dass er das nicht gehört hat. In letzter Zeit ist er sehr empfindlich geworden.“

Anselm war das auch aufgefallen. Wermann war an manchen Tagen schnell eingeschnappt. Irgendwas hatte er.

„War’s das?“, fragte Anselm.

„Meiner Meinung nach ja.“

„Gut, dann werde ich jetzt Rautert informieren.“ Er zog sein Handy aus der Jackentasche und wählte die Nummer seines Chefs. In aller Kürze schilderte er ihm den Ablauf des Überfalls, sagte, wie sie weiter vorgehen wollten und dass sie noch keine richtige Spur hätten.

„Sei doch nicht gleich so pessimistisch!“, rief Rautert. „Die Ermittlungen fangen gerade erst an. Wer weiß, was eure Befragungen ergeben. Ich sehe das nicht so aussichtslos wie die Lage bei Borussia.“

Oh Gott, jetzt kam das wieder. Rauterts Witzeleien über Borussia, die nach verkorkster Saison endlich wieder nach oben wollte, aber eine Hinrunde gespielt hatte, die zum Weglaufen war. Schon seit Wochen ließ er keine Gelegenheit aus, Anselm damit aufzuziehen. Aber heute spürte er deutlich einen versöhnlichen Ton in Rauterts Stimme. Komm, sieh das nicht alles zu schwarz, sollte das heißen. Wenn es um Borussia geht, bist du doch auch kein Pessimist.

Stimmte. Wenn Rautert das damit sagen wollte, hatte er Recht. Trotzdem, Anselm konnte Rauterts Meinung nicht einfach so stehen lassen.

„Warte mal ab, wir kommen noch!“, rief er. „Unsere Mannschaft muss sich erst einspielen. Die vielen neuen Spieler, das braucht seine Zeit.“

„Meinst du mit dem Einspielen noch die ganze Rückrunde, oder glaubst du, dass es schneller geht?“ Anselm hörte Rautert kichern.

„Wenn du noch weiter so lästerst, werde ich dafür sorgen, dass du in unserem Stadion Lokalverbot kriegst.“

Jetzt prustete Rautert los. „Das wäre schade, denn im Moment kriegt doch bei euch jeder Zuschauer fürs Kommen Schmerzensgeld.“

Nicht schlecht gekontert, Anselm grinste. Er schaute auf die Uhr. Es war jetzt kurz nach vier. „Wir sehen uns morgen. Dann kannst du weiter lästern. Vor allem aber soll Wermann berichten.“

Bevor Rautert etwas erwidern konnte, drückte Anselm das Gespräch weg.

„Und wir?“ fragte Sibel, während er das Handy zurück in die Tasche steckte.

„Wir machen jetzt Feierabend. Ohne Wermanns Bericht kommen wir sowieso nicht weiter. Und die wichtigste Befragung, die des Fahrers, können wir erst morgen machen.“

Sibel nickte. Er wollte sie gerade fragen, ob man im Hotel einen Kaffee trinken könne, da sagte sie schon, dass ihr ein früher Feierabend gut passen würde. Dann könne sie doch noch einen Termin einhalten, von dem sie schon geglaubt hätte, ihn absagen zu müssen. Anselm hütete sich zu fragen, was das für ein Termin sei. Es hätte wie Interesse an ihren Privatverhältnisse aussehen können und den Eindruck wollte er auf jeden Fall vermeiden, um nicht alte Wunden aufzureißen. Sie verabschiedeten sich auf dem Parkplatz vor dem Hotel. Sibel fuhr sofort los, Anselm sah den Rücklichtern ihres Wagens nach.

Werne oder Münster, dachte er. Junggesellenabend oder Familienabend mit Tanja? Er wusste es nicht, so sehr er auch nachdachte. Schließlich setzte er sich einfach ins Auto und fuhr los. Er müsste sich ja erst gleich, wenn er in Bergkamen an der Autobahn nach Münster vorbeikam, entscheiden, dachte er. Bis dahin hatte er Zeit genug zu überlegen. Die Autobahnauffahrt kam näher, er wusste es noch immer nicht, glaubte an die Eingebung im letzten Augenblick und rollte über die Brücke hinweg.

Was war das jetzt gewesen, dachte er. War das eine Entscheidung gewesen oder das Gegenteil davon, das einfache, willenlose Sich-Treiben-Lassen? Verdammt, warum wusste er immer noch nicht, was er wollte? Sein Zaudern, seine ewigen Ausreden waren unfair gegenüber Tanja. Er wusste doch, dass sie auf seinen Anruf wartete und sich freute, wenn er vorbeikäme. Aber er war es, der immer auswich. Mal schob er die Arbeit vor, mal fühlte er sich zu müde, einmal hatte er sogar Krankheit vorgeschützt, obwohl er topfit war. Er hatte sich dabei gefühlt wie in seiner Schulzeit: Ich kann heute nicht zur Klausur kommen, weil ich Kopfschmerzen habe. Irgendwie passte der Vergleich ja auch. Wie ein kleiner Oberstufenschüler hatte er sich verhalten, der sich vor einer Entscheidung und der Verantwortung drückte. Fehlte nur noch, dass er beim nächsten Mal den Geburtstag seiner Oma vorschob. Er kam sich selbst mies bei seinen Ausreden vor.

Tanja dagegen zeigte immer Verständnis. Ob sie es durchschaute, wenn er ihr etwas vormachte? Verdammt, vielleicht sollte sie nicht so verständnisvoll sein. Vielleicht würde es ihm helfen, wenn sie mal klar ihre Erwartungen nannte. Gleichzeitig fand er den Gedanken blöd. Wer war er denn, dass er sich nur durch den Druck eines anderen zu seiner Entscheidung durchrang und nicht von selber dazu fand?

Er schaute auf die Uhr, es war jetzt kurz vor halb sechs.

In Werne parkte er vor seiner Wohnung, ging aber nicht nach oben, sondern gleich weiter zum Griechen neben der Stadtbücherei. Er hatte nichts zu Mittag gegessen, zwei Souflaki würden ihm jetzt gut tun, merkte er.

Um halb sieben saß er dann bei Fränzer an der Theke. Seit er die Autobahn überquert hatte, hatte er geahnt, dass es darauf hinauslaufen würde. Auf einen Abend beim Bier an der Theke. Ab dem dritten Bier wurde er lockerer. Es gab Gespräche quer über die Theke hinweg mit zwei Rentnern und einem Mann von Anfang vierzig. In etwa gleichem Alter also wie Anselm. Mal ging es um den Werner Bahnhof, der endlich renoviert worden war und nun, so fanden die Werner, ein kleines Schmuckstück darstellte. Dann um den Winter, der auch in diesem Jahr keiner geworden war. Schon jetzt, Ende Januar, wäre die Vogelwelt in Frühlingsstimmung gekommen, berichteten übereinstimmend die Rentner. Anselm konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Nein, diese Vögel aber auch, können die nicht ein bisschen anständiger sein? Vor allem im katholischen Werne.

Irgendwann, als ihn das Gespräch nicht mehr interessierte, griff er zu seinem Handy und rief seine Mutter an. Er glaubte, sie würde sich freuen, aber das Gegenteil war der Fall.

„Junge, wo bist du?“, rief sie, noch bevor er selbst etwas erzählen konnte. „Was sind das da für Geräusche im Hintergrund?“

„Mama, lass doch die Geräusche. Erzähle mir lieber, wie es dir geht.“

Aber sie ließ sich nicht davon abbringen.