Teufelszeug - Heinrich Peuckmann - E-Book

Teufelszeug E-Book

Heinrich Peuckmann

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  • Herausgeber: Aschendorff
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2012
Beschreibung

Von einem ominösen Anrufer zu einer einsamen Stelle am Kanal gelockt, hört der Chemiker Dr. Schwientzik plötzlich ein Klicken im Gebüsch. Als er kurz darauf niedergeschlagen wird, hält er den Anschlag für einen missglückten Mordversuch. Anselm Becker, Kommissar bei der Kripo Dortmund, und seine neue Kollegin Sibel Dogan kümmern sich um den Fall. Während sie noch ermitteln, werden im Dortmunder Raum zwei Frauen auf brutale Weise ermordet. Rasches Handeln von Seiten der Polizei ist gefragt, um die Mordserie so schnell wie möglich zu beenden. Handelt es sich um Taten eines Wahnsinnigen? Oder folgen die Morde einem Plan? Ausgerechnet von einem Mönch erhält der Kirchenkritiker Anselm Becker entscheidende Hinweise für seine Ermittlungen. Mit atemloser Spannung erzählt Heinrich Peuckmann eine Geschichte von höchster Aktualität.

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Seitenzahl: 438

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ASCHENDORFF

CRIMETIME

HEINRICH PEUCKMANN

TEUFELSZEUG

KRIMINALROMAN

Aschendorffs

EPUB-Edition

Vollständige E-Book-Ausgabe des im Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2005/2012 Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster

ISBN der EPUB-Ausgabe: 978-3-402-19660-1

ISBN der Druckaugabe: 978-3-402-03196-5

Sie finden uns im Internet unter

www.aschendorff-buchverlag.de

1

1.

Vom Kanal wehte ein leichter Wind herüber, der die Blätter der Sträucher erzittern ließ. Ihr leises Rascheln war das beherrschende Geräusch, das im Versteck hinter den Büschen zu hören war. Nur manchmal wurde es unterbrochen, wenn sich der Wind für Augenblicke legte und Rufe weit aus der Ferne herüberdrangen. Dann war auch Vogelgezwitscher zu hören, bis die Blätter erneut zu zittern begannen.

Er tat gut, dieser Wind, denn die Luft war frisch und angenehm kühl an dem drückenden Spätsommermittag.

Gut zweihundert Meter entfernt von dem Versteck, halb verdeckt von den Sträuchern, reckte sich massig ein Kohlekraftwerk in die Höhe. In seiner Nähe führte eine Brücke über den Kanal, die Spaziergänger benutzten, um in das Naturschutzgebiet auf der anderen Seite zu gelangen. Aus dem Turm des Kraftwerks stieg eine Dampfwolke in den blauen Himmel.

In die andere Richtung, einen halben Kilometer entfernt, befand sich der Jachthafen mit der Gastronomie. Vor allem von dort kam das Rufen bei Windstille.

Ein Lastkahn schob sich lautlos heran. Aus dem Blickwinkel des Verstecks, das unterhalb des Dammes neben einem Lehmweg lag, waren nur die Aufbauten zu erkennen. Langsam schoben sie sich näher, dann schien das Schiff Fahrt aufzunehmen, die Aufbauten wuchsen und zogen im nächsten Moment, von leisem Tuckern begleitet, vorüber. Der Schiffer hatte seine Mütze in den Nacken geschoben und starrte geradeaus, als hätte er in der Ferne einen Punkt auf der Wasserfläche fixiert. Was sich jenseits des Dammes tat, am Fuße der Böschung, interessierte ihn nicht. Aber selbst wenn er herübergeschaut hätte, hätte er von dem, was sich hinter den Büschen verbarg, nichts entdecken können. Der Blättervorhang war dicht, das Versteck im Gebüsch lag im Dunkeln.

Genau so, wie es geplant war. Der Platz ermöglichte einen freien Blick auf den Kanal und den Weg, der über den Damm führte, ohne dass die Gefahr bestand, selbst entdeckt zu werden. Außerdem waren Brücke und Jachthafen weit genug entfernt, um vor unerwünschten Zeugen sicher zu sein. Einigermaßen sicher jedenfalls, denn natürlich gab es Spaziergänger, aber selten an diesem Abschnitt des Kanals. Außerdem waren sie schon von weitem zu erkennen, so dass im Notfall Zeit genug blieb, um zu verschwinden. Der Platz war gut gewählt für das, was gleich passieren würde. Sehr gut sogar.

Jetzt wurde es wieder windstill. Der passende Moment um zu lauschen, ob sich Schritte näherten. Aber es blieb ruhig. Jetzt könnte er kommen, jetzt wäre eine günstige Gelegenheit. Günstig natürlich für den Plan, nicht für den Mann. Für den ganz und gar nicht. Ein Blick zur Armbanduhr. Nein, noch fünf Minuten bis zum verabredeten Zeitpunkt. Wer schrieb dem Kerl eigentlich vor, dass er pünktlich sein sollte? Ein Blick aus dem Gebüsch. Nichts war zu sehen, rein gar nichts. Mist! Wer konnte wissen, wie lange die Situation so günstig bleiben würde?

Ein vorsichtiger Griff zur Pistole. Da war sie, bereit gelegt in einer Astgabel. Kalt fühlte sich der Griff an, abstoßend kalt. Der Puls beschleunigte sich, als das kalte Metall in der Hand lag.

Ablenkung täte jetzt gut. Ein Blick zum Himmel zum Beispiel, in den die Dampfwolke stieg, bis sie am Rand zerfaserte, in kleinere Wölkchen zerfiel, die abdrifteten und sich schließlich auflösten. Oder ein Lastkahn müsste sich aus der Ferne nähern. Nein, besser nicht. Man konnte nie wissen, wieviel ein Schiffer von den Geräuschen jenseits des Dammes mitbekam. Wenn etwas seinen Verdacht erregte und er über Funk die Polizei verständigte, und wenn dann zufällig ein Polizeiwagen in der Nähe wäre … Zehn Minuten Vorsprung waren notwendig, mindestens.

Plötzlich fuhr eine Windböe durch die Büsche, schüttelte die Zweige heftig, und im selben Moment war der Mann doch zu sehen. Langsam, sich mehrfach umblickend, näherte er sich aus Richtung Jachthafen. Jetzt nur nicht hektisch werden. Zuerst der kontrollierende Blick. Kein Zweifel, das war sein Gesicht. Er trug eine schwarze Hose, ein ebenso schwarzes Hemd und darüber, trotz der Wärme, eine braune Wildlederjacke, die er auch getragen hatte, als er beobachtet worden war. Ob er nicht schwitzte in seiner Kleidung? Egal, das würde gleich keine Rolle mehr spielen. Schon in zwei, drei Minuten würde es völlig belanglos sein.

Einen Moment lang zögerte der Mann, dann schien es so, als hätte er das Gebüsch ins Auge gefasst und käme direkt darauf zu.

Jetzt nichts Voreiliges tun. Ihn nahe genug herankommen lassen. Der Mann warf im Licht der untergehenden Sonne einen langen Schatten auf den Damm. Erst wenn der Schatten die Büsche verdunkelte, durfte der Schuss fallen, nicht vorher. Und dann, wenn er gefallen war, würde der Schatten in sich zusammensacken und es würde wieder Licht auf die Büsche fallen. Das Dunkel würde verschwinden. Der Gedanke daran erzeugte Glücksgefühle.

Die Waffe fühlte sich nicht mehr kalt an, ihr Griff war warm geworden unter dem Druck der Hand. Ein sehr viel angenehmeres Gefühl als eben, das Stärke verlieh und das plötzlich einem jähen Schrecken wich. Sie war gar nicht durchgezogen, sie war nicht funktionsfähig! Verdammt, wie konnte das passieren? Das hätte längst erledigt sein müssen! Aber es blieb noch Zeit, der Mann war zehn Schritte vom Gebüsch entfernt. Noch ganze zehn Schritte.

Also durchziehen … zehn, neun … zurückspringen lassen … acht, sieben … verdammt, warum springt sie nicht richtig zurück … sechs, fünf … schießen … vier, drei … nun geh endlich los. Aber die Pistole gibt keinen Schuss frei, sie klemmt. Also noch mal durchziehen … zwei, eins … jetzt schieß endlich … Aber sie klemmt, verdammt noch mal, sie klemmt.

Der Mann stand jetzt direkt vor dem Gebüsch, er musste das Klicken der Pistole gehört haben. Er starrte auf die Zweige, als glaubte er, etwas dahinter erkennen zu können.

Wenn er jetzt die Zweige auseinander biegt, sieht er alles. Dann kapiert er, was passieren sollte, schlagartig. Und der ganze Plan, die übernommene Aufgabe, die Anerkennung … alles zerstört durch einen dummen Fehler. Er darf die Zweige nicht auseinander biegen, er darf nicht sehen, was sich dahinter verbirgt. Da, da liegt ein Ast, den irgendwer hierhin geworfen hat. Die Pistole fallen lassen, den Ast greifen, was anderes geht nicht mehr. Soll er jetzt die Äste auseinander biegen.

Aber der Mann zögerte. Ahnte er etwas?

Nun mach schon, worauf wartest du? Du hast doch gehört, dass sich hier jemand versteckt. Willst du ihn nicht sehen?

Jetzt war seine Neugier doch größer, er griff nach einem der Zweige, er bog ihn zur Seite, langsam, ganz langsam.

Jetzt muss es sein, im nächsten Moment. Noch einmal einatmen, tief einatmen. Dann ausholen und aufpassen, dass der Schlag nicht an einem Ast des Busches hängen bleibt.

Der Mann bog den Zweig plötzlich mit einem Ruck zur Seite, und im selben Moment traf ihn der Ast mit voller Wucht an der Stirn. Er ließ den Zweig los, sein Körper taumelte, schwankte nach vorn, dann nach hinten. Er versuchte, das Gleichgewicht zu finden, schaffte es aber nicht. Im nächsten Moment fiel er um und schlug rücklings auf die Böschung.

Jetzt weg hier, nichts wie weg. Die Pistole mitnehmen, am besten auch den Ast. Losrennen, weg vom Kanal, hinein in das Naturschutzgebiet. Sich nicht mehr umblicken.

Wenn der Mann doch nicht ohnmächtig war, wenn er sich aufrappeln würde, könnte er nur einen Schatten sehen, auf keinen Fall ein Gesicht. So, wie er getroffen worden war, würde er es auf keinen Fall schaffen, hinterherzurennen. Unter einer Eiche lagen mehrere trockene Äste, hier wird der Ast nicht auffallen. Hoffentlich nicht! Bloß keine Spuren hinterlassen. Bloß nicht die Aufgabe gefährden! Und jetzt weiterrennen, bis zu jenem Gebüsch, in dem alles vorbereitet steht, was für die Flucht nötig ist. Ein kurzer Kontrollblick über den Weg, der zu dem Gebüsch führt. Niemand zu sehen, also los. Da ist es. Nur noch ein paar Schritte, und dann dahinter verschwinden. Jetzt kann nichts mehr schief gehen. Wenigstens das hat geklappt. Wenigstens die Flucht.

Ein Kahn näherte sich aus Richtung der Brücke. Tief lag er unter der Last seiner Ladung im Wasser. Er war auf dem Weg zum nächsten Kraftwerk ein paar Kilometer entfernt, um Steinkohle zu entladen. Der Schiffer hatte freie Sicht, kein anderer Kahn, kein Motorboot kam ihm entgegen. Er hatte genügend Zeit, hinüberzublicken zum Ufer. Aber dort war alles ruhig. Niemand ging um diese Zeit am Kanal spazieren. Und was sich an der Böschung abspielte, ob dort ein Mann lag mit blutender Stirn oder nicht, konnte er sowieso nicht sehen.

2

2.

Anselm Becker saß an seinem Dienstcomputer und tippte eine Anzeige wegen Dealerei. Es war Dienstagnachmittag, er hatte den üblichen Kleinkram zu erledigen. Der Typ vor seinem Schreibtisch war ein Stammkunde, der sich auf dem Stuhl lümmelte, Kaugummi kaute und mit jeder Regung zu verstehen gab, dass ihn überhaupt nicht interessierte, was Anselm tippte. Er war mit deutlich mehr Stoff erwischt worden als er für den Eigenbedarf brauchte, trug eine verschlissene Lederhose mit Fransen an den Beinen, dazu eine schwarze Jeansjacke, die neueren Datums zu sein schien. Nur an zwei Knopflöchern war sie ausgefranst. Anselm beobachtete gerne genau. Es war Training für jene Momente, in denen es auf die kleinste Kleinigkeit ankam.

Der Typ bekam mit Sicherheit nicht mit, wie genau Anselm ihn musterte, zu sehr war er mit seiner Eigendarstellung beschäftigt. Und Anselm seinerseits tat alles, um Desinteresse zu demonstrieren. Seine Art, auf die Lümmelei zu reagieren. Früher hätte er sich um ein Gespräch bemüht, hätte versucht herauszufinden, an welcher Stelle seines Lebens er nicht die Kurve gekriegt hatte. Aber die Momente, in denen er das Gefühl hatte, durch Erklärungen etwas bewirken zu können, waren selten gewesen. Sehr selten sogar.

Hinzu gekommen war, dass er vor ein paar Monaten die dämliche Entscheidung getroffen hatte, in die Schleswiger Straße im Dortmunder Norden zu ziehen. Seitdem war sein Interesse an solchen Typen auf null abgekühlt. Es war ein Haus mit Resten einer Jugendstilfassade gewesen, die ihn an sein Elternhaus erinnerte und ihn deshalb veranlasst hatte, die Wohnung zu mieten. Ein Fehler, denn schräg gegenüber lag eine Grünanlage, die hübsch ausssah, wenn sie verlassen da lag. Aber verlassen war sie höchstens bei Platzregen. Ansonsten war sie bevölkert von Leuten, die Anselm zunehmend auf den Geist gingen.

Wenn er nach dem Aufwachen aus dem Fenster schaute, waren die ersten Alkis da. Wenn er nach dem Frühstück das Haus verließ, trudelte die Drogenszene ein. Wenn er am späten Nachmittag nach Hause kam, gab es zwischen den Besoffenen und Bekifften keinen Platz mehr. Die Kinder taten ihm Leid, weil sie keinen Ort zum Spielen hatten. Dauernd schlichen sie um die Anlage herum, als suchten sie nach einer Stelle, an der sie sich austoben könnten. Aber die gab es nicht.

Eines Tages hatte Anselm sich gefragt, ob die Suche nach einem Spielplatz wirklich der Grund war, weshalb sie dort auftauchten. Oder hatte die Lebensweise der Szene schon begonnen, sie zu faszinieren? Je länger er in der Schleswiger Straße wohnte, desto mehr hielt er es für möglich. Und desto mehr störte ihn, was dort passierte.

Wer zugedröhnt war, pinkelte oder kotzte dahin, wo er gerade stand. Ein paar Mal in der Woche stand ein Krankenwagen auf dem Seitenstreifen, dann war wieder einer zusammengeklappt.

Eines Tages hatte er sich bei dem Gedanken ertappt, zu bedauern, dass der Zusammengebrochene vom Vortag, ein völlig abgemagerter Typ, der an normalen Tagen stundenlang vor sich hinstierte, wieder auf der Bank saß. Ein Gedanke, der ihn zutiefst erschreckt hatte. Da war ihm klar geworden, dass er dort weg musste, so schnell und so weit wie möglich.

Harald, sein früherer Klassenkamerad und jetziger Skatbruder, der in Werne an einem Gymnasium unterrichtete, hatte ihn überredet, es mit der Kleinstadt zu versuchen. Die Fachwerkidylle von Werne mit dem alten Rathaus am Markt, in dem sich eine Kneipe befand, schien genau das Richtige zu sein. Bei einem Spaziergang hatte Harald ihm das Städtchen gezeigt. In der Schulstraße, ganz in der Nähe einer Grundschule, hatte er eine kleine Wohnung gefunden. Vor drei Monaten war das gewesen.

Seitdem bemühte sich Anselm bei dienstlichen Begegnungen mit der Szene um absolut korrekten Umgang. Zu groß war seine Sorge, dass sich der unerwünschte Gedanke wieder einstellte.

Der Typ tat so, als gäbe er mit jeder Antwort ein weltbewegendes Geheimnis preis. Dabei waren seine Daten längst gespeichert, Anselm prüfte nur, ob die Einträge noch stimmten. Nur bei der Schilderung des Drogenverkaufs wollte er sich an nichts erinnern. Anselm ersparte sich die Mühe, nachzuhaken und übernahm die Angaben der Streifenpolizisten. Denn wie es weiterging, war auch klar. Gleich, nach Aufnahme der Anzeige, würde der Typ nach Hause gehen, schließlich konnte er einen Wohnsitz vorweisen. Immer dieselbe Leier, über die Anselm ebenfalls nicht mehr nachdachte. Auch dies aus Selbstschutz.

Gerade, als er dem Typen das Blatt zur Unterschrift hinhielt, ging die Tür auf. Rautert kam rein, genauer gesagt Oberkommissar Rautert, Anselms Chef. Rautert begriff gleich, welchen Kunden Anselm verarztete.

„Na, sind wir fertig?“, fragte er und guckte den Dealer mit durchdringendem Blick an. „Dann können wir ja gehen und weiter unsere Geschäfte betreiben, die die Menschheit voranbringen.“

Manchmal schlug Rautert einen Tonfall an, der die Typen wenigstens für Augenblicke aus der Fassung brachte. Deshalb verzieh Anselm ihm den Sarkasmus. So war es auch jetzt. Der Typ verlor seine coole Haltung.

„Was haben Sie denn für eine Ahnung von Geschäften? Immer das dicke Beamtengehalt, da kapieren Sie doch gar nicht, was draußen los ist.“

Rautert grinste. „Aber immerhin ehrlich verdient.“ Eine Antwort, die den Typen noch weiter provozierte. Er blitzte Rautert an, aber der tat so, als bemerkte er es gar nicht, sondern klopfte ihm fest auf die Schulter.

„Und jetzt Abmarsch. Wir wollen hier wieder menschliche Gespräche führen.“

Bis gerade war Anselm mit Rauterts Auftritt einverstanden gewesen, bei dem Stichwort „menschliche Gespräche“ befürchtete er das Schlimmste. Rautert hatte nämlich die Angewohnheit, für gute Stimmung sorgen zu wollen. Deshalb kam er manchmal in den Raum gerannt, rief alle zusammen und erzählte Witze. Zum Beispiel, welches Wort jeder in Dortmund kennen müsste. „Vietnam“ hieß es. Konnte einem nämlich immer mal einer begegnen, der fragte: Weisse, vietnam Bahnhof geht? Die Antwort war dann: Jau. Alte Hüte, die längst die Kleinsten in der Grundschule erzählten.

Jetzt nicht einer von diesen Witzen!, dachte Anselm. Und auch kein Gespräch über Fußball! Nicht, dass Anselm kein Interesse an Fußball hätte, weiß Gott nicht. Seit Borussia die Ecken im Westfalenstadion zugebaut hatte und es im freien Verkauf wieder Karten gab, ging er drei- oder viermal in der Saison hin. Aber Rautert verstand nichts davon. Er wusste nur, was in den Zeitungen über die Form der Spieler oder den Zustand der Mannschaft stand. Wie der Ball laufen musste, welche Taktik funktionierte und welche nicht, davon hatte er keine Ahnung.

Er wollte gerade rufen, dass er noch nicht fertig sei mit dem Kunden, da erschien hinter Rautert eine junge Frau im Türrahmen. Sie trug eine schwarze Jeanshose, dazu einen ebenso schwarzen, knapp sitzenden Pulli. Die Lippen waren dunkelrot gemalt. Donnerwetter! Anselm schätzte sie auf höchstens fünfundzwanzig. Nicht nur an ihren funkelnden dunklen Augen, sondern am gesamten Gesichtsausdruck merkte er, dass sie Türkin war. Abwechselnd starrte er sie, dann Rautert an, der grinsend näher kam, als wollte er sagen: Na, da staunst du. Mit so einer Überraschung hast du nicht gerechnet, stimmt‘s?

Der Dealer nutzte Anselms Verwirrung, legte das unterschriebene Protokoll auf den Schreibtisch und verschwand.

„Na, da staunst du!“, rief Rautert jetzt auch, „wen ich dir da mitgebracht habe.“ Beinahe hätte Anselm in seiner Verwirrung genickt.

„Darf ich dir Frau Dogan vorstellen, Frau Sibel Dogan?“

Anselm erhob sich, noch immer verwirrt. Wozu wollte Rautert ihm diese Frau vorstellen, die jetzt strahlend auf ihn zukam?

„Guten Tag, Herr Becker.“

Ach, seinen Namen kannte sie auch schon?

„Tag, Frau Dogan.“ Er blickte wieder zu Rautert hinüber, der noch immer mit breitem Grinsen dastand. Nun sag schon, was du von ihr hältst. Tue ich nicht alles, um dich bei Laune zu halten?, sollte das bedeuten.

Langsam wurde es Anselm zu blöd. Sie waren hier nicht beim Ratespiel im Kindergarten. Rautert schien seine Gedanken zu erraten.

„Das ist also deine neue Kollegin“, sagte er. „Grad frisch von der Polizeischule, voller neuer Ideen. Von dir die Routine und von ihr neue Ideen, das müsste was werden mit euch beiden.“ Dabei kniff er Anselm ein Auge zu.

Anselm begriff sofort, wie Rautert den Satz gemeint hatte. Er hatte mitgekriegt, dass Anselm sich vor ein paar Monaten von Birthe getrennt hatte. Besser gesagt hatte Birthe sich von ihm getrennt. Aber solche Anspielungen sollte er lassen. Zum Kuppler taugte er noch weniger als zum Fußballexperten. Außerdem konnte sein Satz missverstanden werden: Von dir die Routine … Da konnte er doch gleich sagen, dass er Anselm für einen alten Sack hielt. Aber er wusste, dass Rautert es nicht böse meinte, deshalb ließ er sich nichts anmerken.

„Das ist ja eine schöne Überraschung“, sagte er. „Wissen Sie, bis vor ein paar Minuten wusste ich noch gar nicht, dass ich eine Mitarbeiterin bekomme. Mein Chef, der Herr Rautert, liebt nämlich Überraschungen.“

„Papperlapapp.“ Offensichtlich hatte Rautert Anselms ironischer Ton amüsiert. „Sag mir lieber, ob es da nicht einen Fußballnationalspieler gleichen Namens gibt. Das müsstest du doch wissen.“

Oh Gott, jetzt kamen doch noch Rauterts gesammelte Fußballweisheiten. Aber bevor er etwas erwidern konnte, antwortete schon die Frau.

„Mustafa heißt er mit Vornamen. Spielte beim 1. FC Köln, wo er jetzt ist, weiß ich nicht. Aber er ist nicht mein Bruder.“ Sie schwieg einen Moment lang. „Leider“, fügte sie dann hinzu. „Der Name ist unter Türken so häufig wie bei den Deutschen Müller oder Schulze.“

Rautert machte ein verdutztes Gesicht.

„Übrigens heißt er nicht Dogan“, fügte sie hinzu. „Das g ist stimmlos. Doan wird das ausgesprochen.“

Donnerwetter, jetzt war auch Anselm erstaunt. Geschickter hätte sie gar nicht darauf hinweisen können, wie ihr Name auszusprechen war. Er begann, Sympathie zu entwickeln. Auch Rautert schien beeindruckt zu sein. „Nationalspieler Mustafa Doan also“, sagte er. „Dann natürlich auch Frau Kommissaranwärterin Sibel Doan. Wir werden es uns merken.“

Er lächelte, die Frau nickte. „So ganz frisch von der Polizeischule bin ich übrigens nicht. Ein paar Monate Streifendienst hab ich schon hinter mir.“

Anselm ging um seinem Schreibtisch herum. „Schön, dass Sie als nächste Station zu uns kommen.“ Er reichte ihr die Hand. „Hilfe ist nämlich willkommen. Und neben ihren neuen Ideen brauche ich jemanden, der Türkisch kann. Vor allem, wenn ich türkische Frauen befragen muss.“

„Tja“, antwortete sie und verzog die Mundwinkel, „ich weiß nicht, ob ich Ihnen da so gut helfen kann.“

„Wollen Sie etwa sagen, dass Sie kein Türkisch können?“

„Das nicht. Aber richtig gut spreche ich es auch nicht.“ Sie lächelte wieder. „Meine Eltern haben Wert auf Integration gelegt.“

„Naja, für uns wird‘ s schon reichen. Sind ja keine philosophischen Diskussionen, die ich mit den Befragten führe.“

„Frau Doan wird Schreibers Zimmer beziehen“, erklärte Rautert. „Seit dessen Pensionierung …“

In diesem Moment betrat Wermann das Zimmer. „Da hat sich ein Mann gemeldet und behauptet, es wäre ein Mordversuch auf ihn verübt worden. Er glaubt, es sollte auf ihn geschossen werden. Das ist was für uns.“

„Mordversuch?“, fragte Anselm. „Wo denn?“

„Am Lippe-Seitenkanal, etwa in Höhe des Kraftwerks von Bergkamen.“

„Von Bergkamen?“ Rautert sah Anselm an. „Das ist ja direkt vor deiner Haustür. Na, dann kennst du ja den Weg.“

Anselm hatte es nicht gern, auf sein neues Zuhause angesprochen zu werden. So ganz überzeugt, dass die Kleinstadt das Richtige für ihn ist, war er noch nicht.

„Ist das auch sicher?“, fragte er. „Ich meine, bildet der Mann sich nicht etwas ein?“

Wermann zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht. Aber seine Stimme soll ganz vernünftig geklungen haben, als er die Werner Polizei anrief. Jedenfalls haben die Kollegen das so eingeschätzt. Deshalb meinen sie, wir sollten uns darum kümmern.“

Anselm nickte. „Tun wir. Du kommst mit und sicherst die Spuren. Wo ist der Mann jetzt? Steht er noch am Kanal?“

„Ne, der ist im Werner Krankenhaus. Hat eine Platzwunde an der Stirn, die mit vier Stichen genäht wurde. Von da aus hat er sich bei der Polizei gemeldet.“

„Wieso eine Platzwunde? Ich denke, es sollte auf ihn geschossen werden.“

„Ist es aber nicht“, entgegnete Wermann. „Irgendwas sei schief gelaufen bei dem Anschlag, meint der Mann. Deshalb sei er mit einem Gegenstand niedergeschlagen worden, damit der Täter unerkannt entkommen konnte.“

„Schief gelaufen ist gut“, sagte Rautert.

Wermann musste selber schmunzeln über seine Formulierung.

Anselm bemerkte die auf sich gerichteten Augen von Sibel Dogan.

„Wollen Sie mit?“ Einen Moment lang hatte er die Hoffnung, sie würde absagen. Seit Schreiber nicht mehr da war, hatte er seine Fälle allein erledigt. Er hatte sich angewöhnt, dabei seinen Gedanken nachzuhängen, außerdem musste er niemandem erklären, warum er dieses zuerst und jenes danach tat. Ein bisschen Zeit, sich umzustellen, könnte sie ihm schon lassen. Aber den Gefallen tat sie ihm nicht.

„Gerne“, sagte sie, „ist ja heute mein erster Arbeitstag hier. Und außer dass ich dem Polizeipräsidenten vorgestellt worden bin, habe ich noch nichts geleistet.“

Rautert nickte, als wollte er sagen: Siehst du, fleißig ist sie auch noch.

„Könnten Sie vielleicht mit dem eigenen Auto fahren?“, fragte Anselm. „Wissen Sie, das ist fast vor meiner Haustür. Je nachdem, wie spät es wird, bleibe ich gleich da.“

„Sie wird mit Wermann zum Tatort fahren“, mischte sich Rautert ein. „Die erste Vernehmung im Krankenhaus führst du alleine. Wenn der Mann überhaupt vernehmungsfähig ist. Wermann, du erkundigst dich inzwischen bei der Werner Polizei nach dem Tatort und untersuchst ihn zusammen mit Frau Dogan.“

Anselm nickte. Das war ein Vorschlag, wie er zu Rautert passte. Pragmatisch, die Interessen aller berücksichtigend. Rautert war eben ein guter Chef, bis auf … Naja, niemand war perfekt.

3

3.

Anselm erkannte den Mann sofort, als er in die Ambulanz kam. Er saß auf einem Stuhl im Wartezimmer und trug einen Kopfverband, der einem Turban glich.

Anselm taxierte ihn. War er ernst zu nehmen? Oder gehörte er zu den Wichtigtuern, die mit Hirngespinsten die Polizei in Atem hielten? Mit dem Turban wirkte er alles andere als seriös, aber sein wacher Blick sprach dagegen. Die Kleidung, die schwarze Hose, das schwarze Hemd, dazu eine braune Wildlederjacke, die neben ihm auf dem Stuhl lag, alles kam Anselm ganz normal vor. Auf keinen Fall überkandidelt. Er war schlank und wirkte durchtrainiert, Anselm schätzte ihn auf knapp über vierzig.

Mit raschen Schritten ging er auf ihn zu. „Haben Sie bei der Polizei angerufen?“

Der Mann erhob sich, im selben Moment verzog er schmerzverzerrt das Gesicht.

„Bleiben Sie doch sitzen.“

Der Mann schüttelte leicht den Kopf. „Es sind nur die Kopfschmerzen, sonst geht es.“ Er reichte Anselm die Hand. „Ja, ich war das.“

Anselm stellte sich vor. „Warum hat die Werner Polizei Sie denn nicht abgeholt, sondern Sie hier einfach sitzen lassen?“, fragte er dann.

„Oh, die waren hier, sehr schnell sogar“, antwortete der Mann, „aber ich wollte nicht mit zur Wache. Es tat mir ganz gut, einen Moment allein zu bleiben und meine Gedanken zu ordnen. Nach dem Schreck.“

Anselm fühlte seinen Eindruck bestätigt. Nein, so redete kein Aufschneider.

„Dann sind Sie also in der Lage, mir ein paar Fragen zu beantworten?“

„Auf jeden Fall. Ist ja auch in meinem Interesse.“

Anselm blickte sich um. „Wo kann man hier in Ruhe reden?“

„Wissen Sie was?“ Der Mann blinzelte ihn unter seinem Turban an. „Am liebsten wäre es mir, wir würden drüben ein paar Schritte im Stadtwald laufen. Frische Luft täte mir gut.“

Anselm fand die Idee gut. Sah man von den Autofahrten nach Dortmund und zurück ab, hatte er die restliche Zeit im stickigen Büro verbracht.

Sie liefen einen breiten Waldweg entlang. Ein Jogger kam ihnen entgegen, verwundert blickte er auf den Mann mit dem weißen Turban. Die Blätter zeigten im Sonnenlicht eine gelbliche Färbung. Unmerklich leitete der Sommer seinen Abschied ein.

„Dann erzählen Sie mal.“

„Aber wo anfangen?“ Der Mann fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.

„Am besten damit, was am Kanal passiert ist.“

„Am Kanal, natürlich. Also, ich bin dahin bestellt worden. Jemand wollte mir etwas Wichtiges mitteilen, das meinen Betrieb betrifft.“

Anselm unterbrach ihn. Er hatte völlig vergessen, sich nach Namen und Beruf des Mannes zu erkundigen.

„Achim Schwientzik“, sagte der Mann. „Doktor Achim Schwientzik genauer gesagt. Ich arbeite im großen Chemiewerk, in der Fermentation.“

„Ach …“ Anselm wollte sich gerade erkundigen, was eine Fermentation ist, unterließ es aber, um den Mann nicht noch mal zu unterbrechen. Das Chemiewerk kannte jeder. Es war der Hauptarbeitgeber der Stadt Bergkamen, aber was da produziert wurde, darum hatte er sich noch nicht gekümmert. Dass der Mann Akademiker war, wunderte ihn nicht. Auf einen Intellektuellenberuf hätte er auch von sich aus getippt.

„Also, ich sollte am Kanal entlanggehen bis kurz vor die Fußgängerbrücke. Dort gäbe es einen Lehmweg, der hinunterführe in das Naturschutzgebiet. Und genau da, vor einem Gebüsch, sollte ich jemanden treffen. Da bin ich auch hingegangen zur verabredeten Zeit, aber es war niemand zu sehen.“

Er schwieg einen Moment lang, auch Anselm sagte nichts. Trockenes Laub knisterte unter ihren Schuhen.

„Wissen Sie, ich muss jetzt ein bisschen aus meinem Gefühl heraus formulieren“, fuhr Dr. Schwientzik fort. „Es war zwar niemand zu sehen, aber ich hatte trotzdem das Gefühl, dass jemand da war. Gehört habe ich ihn nicht, nur gespürt. Ein diffuses Gefühl, das mir von einem Moment zum anderen Angst einjagte, wie ich sie noch nie gespürt habe. Warum sollte mir jemand etwas antun, ich habe keine Feinde. Höchstens mal welche, die sich mal über mich geärgert haben, aber richtige Feinde? Auf keinen Fall. Aber ich hatte die Gefahr trotzdem geahnt. Warum, kann ich nicht erklären.“

Anselm blickte heimlich auf die Hände des Mannes und sah, dass seine Finger zitterten.

„Ich wusste, dass es zu spät war, um wegzurennen. Ich saß in der Falle. Deshalb gab es nur noch eines. Ich musste wissen, wer sich im Gebüsch verbarg. Wenn ich ihn entlarvte, gab es vielleicht eine Chance, ihn zu verunsichern. Glauben Sie nicht, dass mir das alles so klar war in dem Moment. Ich habe ganz instinktiv gehandelt.“

„Sie sind also auf das Gebüsch losgegangen und sind dann niedergeschlagen worden. Aber Sie haben doch erzählt, dass auf sie geschossen werden sollte.“

„Wissen Sie, da war etwas Entscheidendes, kurz bevor ich die Zweige auseinander biegen wollte. Da habe ich nämlich ein Klicken gehört, ein metallisches, lautes Klicken. Als wenn jemand mit einer Pistole auf mich zielt, aber der Schuss nicht losgeht. Ja, genau so hat es sich angehört.“

„Haben Sie selbst eine Pistole? Wissen Sie, wie sich so ein Geräusch anhört?“

„Nein, Waffen sind mir ein Gräuel. Aber so stelle ich es mir vor, das Klicken einer Waffe, die nicht losgeht.“

Zum ersten Mal war Anselm enttäuscht. Wenn das alles sein sollte, was seinen Verdacht nährte, war das dürftig. Zumal der Doktor selbst zugab, von Pistolen nichts zu verstehen. Wie kam er dann dazu, einen solchen Verdacht zu äußern? Hatte er vielleicht doch Feinde? Oder gab es andere Gründe, die er Anselm verschwieg? Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Sollte Schwientzik erst mal zu Ende erzählen.

„Dann weiß ich nur noch, dass ich einen Ast runterbog, im selben Moment traf mich ein Schlag mit voller Wucht gegen die Stirn. Ich muss nach hinten gekippt sein, vielleicht war ich für einen Moment besinnungslos. Jedenfalls lag ich rücklings auf der Böschung, als ich wieder zu mir kam. Blut lief mir übers Gesicht. Ein Jogger kam vorbei, der mich zum Jachthafen geschleppt hat. Von da aus bin ich mit dem Taxi zum Krankenhaus gefahren. Selber zu fahren habe ich mir nicht zugetraut. Den Rest kennen Sie ja.“

„Noch nicht. Sie müssen mir noch sagen, wer Sie zum Kanal gelockt hat.“

„Tja, wenn ich das wüsste.“ Schwientzik kratzte sich am Kinn. Das leichte Zittern der Finger war noch immer da. „Aber ich weiß es nicht.“

„Sie wissen es nicht?“

„Nicht richtig jedenfalls. Jemand hat vorgestern bei mir angerufen und gesagt, dass es da etwas gäbe, das meinen Betrieb beträfe und das ich unbedingt wissen müsste. Deshalb sollte ich zum Kanal kommen.“

„Können Sie sich an die Stimme erinnern? War es eine Männer- oder Frauenstimme? War sie jung oder alt?“

„Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Wissen Sie, das ist mir gleich aufgefallen. Die Stimme klang hell, fast wie verzerrt. Ich habe das während des Gesprächs nicht für wichtig gehalten. Manchmal ist unsere Telefonanlage nämlich gestört, vor allem, wenn meine Frau gleichzeitig im Internet surft. Aber jetzt glaube ich, da hat jemand die Stimme absichtlich verzerrt. Hat auf Band gesprochen, es technisch verändert und mir dann am Telefon abgespielt.“

„Haben Sie Fragen gestellt, auf die die Stimme geantwortet hat?“

„Das ist mir erst gerade, als ich darüber nachdachte, aufgefallen. Es gab tatsächlich keine Antworten auf meine Fragen. Alles wirkte wie abgespult.“

„Und der Anruf war bei Ihnen zu Hause?“

„Ja, und das kann auch kein Zufall sein. Anrufe im Betrieb werden registriert. Da wollte mich jemand erreichen, der selber unerkannt bleiben wollte.“

Anselm nickte. Wenigstens das klang logisch. Außerdem gefiel ihm, wie sachlich Schwientzik den Ablauf darstellte. Sah man vom Zittern seiner Finger ab, hatte er sich gut im Griff.

„Also können Sie die Stimme nicht genauer beschreiben?“

Doktor Schwientzik schüttelte den Kopf. „Eher eine junge als eine ältere Stimme. Aber ob von einem Mann oder einer Frau …“ Er zuckte mit den Schultern.

„Haben Sie Ihrer Frau von dem Anruf erzählt?“

„Um Gottes willen. Warum soll sie sich unnötig Sorgen machen? Ich habe geglaubt, das ist eine Kleinigkeit, die schnell erledigt ist.“

„Und warum sind Sie auf so einen dubiosen Anruf hin zum Kanal gegangen? Sie machen auf mich den Eindruck eines Mannes, der klar analysieren kann.“

„Warum, warum?“ Schwientzik schüttelte den Kopf, gleichzeitig verzog er das Gesicht. „Weil ich meine Arbeit liebe. Schon als Student habe ich mir gewünscht, in so einer Firma zu arbeiten. Ich habe geglaubt, da will uns jemand was ans Zeug flicken. Ist doch klar, dass es nur was Übles sein kann, wenn er sich anonym meldet und geheimnisvoll tut. Chemiewerke stehen immer unter besonderer Beobachtung. Ich habe geglaubt, ich könnte Schaden von meiner Firma abwenden. Von mir aus können Sie das für lächerlich halten.“

Bei jedem anderen hätte Anselm es getan, aber dem Mann neben sich nahm er das ab.

Sie stießen an eine Straße, die in die Innenstadt führte. Anselm spürte, dass es dem Doktor unangenehm war, von Passanten mit seinem Turban gesehen zu werden. Es konnten ja auch Mitarbeiter seiner Firma darunter sein. Er machte den Vorschlag, umzudrehen. Schweigend gingen sie durch das Wäldchen.

„Was mir Sorgen macht, Herr Becker“, fuhr Schwientzik schließlich fort, „ist die Tatsache, dass es der Typ noch mal versuchen könnte. Und dann …“ Schwientziks Mundwinkel zuckten. „Ich weiß nicht, ob ich noch mal so viel Glück haben werde.“

„Sie gehen also doch davon aus, dass es ein Mann war.“

„Ich weiß es nicht. Der Wucht des Schlages nach müsste es ein Mann gewesen sein. Die Stimme am Telefon dagegen klang schrill. Danach könnte es eine Frau gewesen sein.“

„Und irgendeinen noch so abwegigen Verdacht, wer Ihnen nach dem Leben trachten könnte, haben Sie nicht?“

„Das ist es ja, was mich so fertig macht. Stellen Sie sich vor, diese Person hätte mich erschossen. Dann wäre ich jetzt tot und wüsste nicht mal warum.“

Anselm war sich nicht sicher, ob Schwientzik das ironisch gemeint hatte oder ob echte Verzweiflung dahinter steckte. Dem Doktor traute er beides zu.

„Ich bleibe dabei, dass ich keine Feinde habe, die Grund hätten, auf mich zu schießen. Es ist mir schleierhaft, was da passiert ist und aus welchem Grund.“

„Wenn es denn wirklich das Klicken einer Pistole war. Vielleicht war es auch nur das Klappern einer Kette am Handgelenk oder ein Schlüsselbund.“

„Ach, und weshalb sollte einer, dessen Kette oder Schlüsselbund geklappert haben, mich niederschlagen?“

Anselm zuckte mit den Schultern.

„Ich merke schon, dass Sie mir nicht glauben.“

„Das habe ich nicht gesagt. Wir müssen alle Möglichkeiten prüfen.“

„Gut, das ist Ihre Sache. Ich bin mir sicher, was ich gehört habe. Und das macht mir Angst, Herr Becker, schreckliche Angst sogar.“

Anselm verstand ihn, trotz seiner Zweifel.

„Fühlen Sie sich stark genug, mit mir zum Tatort zu fahren?“

„Ich muss sowieso dahin, um mein Auto abzuholen.“

Er zog ein Handy aus der Jackentasche und wählte eine Nummer.

„Ja, Karin, ich bin es. Es dauert noch etwas, bis ich nach Hause komme. Nein, mach dir keine Sorgen, es geht schon wieder. Bleib bei den Kindern und sag ihnen nichts. Hast du gehört? Sag einfach, ich hätte mir den Kopf gestoßen. Den Turban, den ich jetzt noch trage, mache ich sowieso gleich ab.“

Sie fuhren zum Kanal. Anselm legte eine CD von Buddy Holly ein, den er im Moment gerne hörte. „Heartbeat, why do you miss, when my baby kisses me…“ Komisch, dass ihn in letzter Zeit Oldies interessierten. Aber bei dem Techno-Kram konnte man wirklich nicht unterscheiden, welche Band gerade spielte. Da klang eine Musik wie die andere.

Für einen Moment musste er an Birthe denken, die ihn schon lange nicht mehr geküsst hatte. Kein Anlass also, dass sein Herzschlag aussetzen musste. Schwientzik neben ihm schwieg. Anselm ließ ihn in Ruhe. Er war sich sowieso nicht sicher, was er von der Sache halten sollte.

Am Jachthafen ging Schwientzik sofort zu seinem Auto, einem Passat, öffnete den Kofferraum und holte den Erste-Hilfe-Koffer raus. Dann bückte er sich vor dem Seitenspiegel und begann, den Turban abzuwickeln. Als er zu der Stelle kam, die genäht worden war, schnitt er den Verband von dem Rest, der durch das Blut angetrocknet war, ab und klebte die Enden mit Pflasterstreifen fest. Dann grinste er Anselm an. „Waren ja nur vier Stiche. Meine Frau hätte einen Schock gekriegt, wenn sie mich so gesehen hätte.“

Anselm staunte über seine Übersicht. Nein, ein Spinner trat anders auf, auch wenn seine Vermutungen auf reichlich tönernen Füßen standen.

Sie liefen an der Badmintonhalle vorbei, die neben dem Jachthafen lag. Unten, im Vorderbereich der Halle, befand sich das Restaurant mit dem Biergarten davor. Auch jetzt saßen einige Gäste an den Tischen und blickten auf den Kanal, auf dem sich ein kleines Motorboot näherte.

Anselm kannte den Ort, er hatte hier mit Harald mal gespielt. Zwei Euro für zwanzig Minuten, dann ging das Licht über dem Spielfeld aus und man musste die nächste Münze in den Automaten werfen. Er hatte feststellen müssen, dass seine Kondition erschreckend schwach geworden war.

Den Weg am Kanal entlang war er noch nie gegangen. Er genoss den Blick auf das gekräuselte Wasser, von dem nun, am Abend, eine frische Kühle aufstieg. Ansonsten war es noch immer drückend. Anselm sah, dass sich weit in der Ferne dunkle Wolken zusammenbrauten.

Wermann und die Neue erkannte er schon von weitem. Er war erstaunt, wie untätig sie herumstanden. Hatte Wermann etwa schon alle Spuren gesichert? Oder war er so schnell fertig geworden, weil die Neue mit frischen Ideen geholfen hatte? Dann musste sie wirklich tüchtig sein. Anselm schüttelte den Kopf. Die Neue, er sollte sich angewöhnen, sie beim Namen zu nennen. Frau Dogan oder besser Doan.

Er stellte die beiden Doktor Schwientzik vor, dann zog er Wermann zur Seite.

„Was ist los? Warum steht ihr hier rum?“

Wermann zuckte mit den Schultern. „Weil‘s nicht viel zu entdecken gibt, deshalb. Bin schon seit einer halben Stunde fertig. Aber es ist mir trotzdem nicht langweilig geworden. War ganz nett, mit der Kleinen zu plaudern.“

„Mit Frau Dogan.“

„Natürlich, mit Frau Dogan. Die hatte übrigens auch keine Ideen, was man noch untersuchen könnte. Ganz so veraltet scheinen unsere Methoden nicht zu sein.“

Anselm schloss aus dieser Bemerkung, dass Rautert seinen Spruch von den taufrischen Ideen, die Frau Dogan von der Polizeischule mitbrachte, auch ihm gegenüber geäußert haben musste. Entweder hatte Rautert seinen Spruch nur so dahingeplappert oder er hielt seine ganze Abteilung für vergreist.

„Was heißt das, dass es nicht viel zu entdecken gab?“ Während er das fragte, drehte er sich zu Frau Dogan und dem Doktor um. Er sah, dass sie ihm ein paar Fragen stellte, vermutlich dieselben, die er ihm auch schon gestellt hatte.

„Das heißt, dass es hier keine Spuren gibt. Oder besser gesagt, von manchen jede Menge. Und von anderen gar keine.“

„Nun komm, Rautert hat vorhin auch schon gewollt, dass ich Rätsel löse. Mein Bedarf ist für heute gedeckt. Wovon jede Menge und wovon keine?“

„Von Fußspuren zum Beispiel alles, was du willst. Große, kleine, breite, schmale. Ich habe mal nachgemessen. Es schwankt zwischen Größe 37 bis 43.“

„Also von Frauen und Männern.“

„Und von Kindern und Jugendlichen. Drüben, im Gebüsch direkt neben dem Weg, habe ich genauer nachgesehen. Da gibt es zwei unterschiedliche Fußabdrücke, beide um die Größe 41, plus, minus eins. So genau lässt sich das nicht sagen, weil der Boden fest ist. Vorausgesetzt, dass er kein anderes Gebüsch meinte, von dem aus der Anschlag verübt wurde.“

„… verübt worden sein soll.“

„Hast du Zweifel daran?“

„Du doch auch, oder nicht?“

„Mich macht vor allem stutzig, dass ich keinen Schlaggegenstand gefunden habe. Angeblich hat ihn doch jemand niedergeschlagen. Aber ein Ast oder Knüppel, der dafür geeignet wäre, liegt nirgendwo rum.“

„Also, daran zweifle ich am wenigsten. Die Narbe an der Stirn ist echt.“

„Trotzdem.“ Wermann schüttelte den Kopf. „Wenn alles hektisch abläuft und es auf Bruchteile von Sekunden ankommt, würdest du dann einen Ast mit dir rumschleppen?“

Anselm zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht“, sagte er. „Wer versteht schon, was in solchen Tätern vorgeht?“

„Das solltest du aber. Schließlich bist du bei der Polizei.“

„Ich? Je länger ich dabei bin, desto weniger habe ich das Gefühl, manche Täter begreifen zu können.“ Anselm blickte sich um. „Und sonst? Irgendwas im weiteren Umfeld?“

„Im Naturschutzgebiet jede Menge Mopedspuren, sogar welche von einem oder zwei Motorrädern.“

„Von Mopeds und Motorrädern? Wo bleibt denn da der Naturschutz?“

„Der kommt unter die Räder.“ Wermann grinste. „Vor allem den Kids sind Blesshühner und Haubentaucher schnurzegal. Die sehen nur die Gelegenheit, mal richtig brettern zu können.“

„Also auch nichts, das uns weiterbringt?“

„Weiß ich nicht. Jedenfalls hab ich Abdrücke von zwei Motorradreifen ein Stück vom Tatort weg genommen. Motorräder im Naturschutzgebiet, das ist wirklich selten. Mal sehen, ob uns das weiterhilft.“

„Komm, er soll uns vormachen, wie es passiert sein soll.“

Sie ließen sich von dem Doktor die Örtlichkeiten bestätigen, dann baten sie ihn, noch mal über den Damm näherzukommen, ließen ihn auf das Gebüsch zugehen und einen Ast auseinander biegen. Mitten in der Bewegung hielt Schwientzik inne und sagte, in diesem Moment hätte ihn der Schlag getroffen.

Anselm ließ sich den Ablauf nicht nur vorführen, um festzustellen, ob seine Vorstellung mit der Realität übereinstimmte. Er wollte auch sehen, wie der Doktor sich dabei verhielt. Zögerte er irgendwann, war er für einen Moment unsicher? Aber es fiel ihm nichts auf. Genauso, wie Schwientzik es vormachte, hatte er es erklärt. Und genauso hatte Anselm es sich vorgestellt.

Sie wiederholten das Experiment, diesmal stellte sich Wermann ins Gebüsch. Als der Doktor die Zweige auseinander bog, simulierte Wermann einen Schlag mit einem Ast. Er war dafür ein Stück weit in das Naturschutzgebiet gelaufen, bis er einen gefunden hatte. Der Doktor zeigte, wie er zurückgetaumelt und auf die Böschung gestürzt war. Im selben Moment kam tatsächlich ein Jogger über den Damm gelaufen. Anselm musste grinsen. Komisch, wie sich manches im Leben wiederholt, dachte er. Irgendwie schienen die Möglichkeiten, die es bereit hielt, begrenzt zu sein.

Im selben Moment fiel ihm etwas ein. „Haben Sie nach dem Namen des Joggers gefragt?“

Der Doktor schüttelte den Kopf. „Dazu war ich viel zu durcheinander. Es war ein junger Mann, keine dreißig Jahre alt, mit Walkman im Ohr. Fragen Sie nicht, was der für Musik gehört hat. Abgestellt hat er sie übrigens nicht. Deshalb konnte ich kaum mit ihm sprechen. Aber geholfen hat er mir, das ist wahr.“

Wahrscheinlich war‘s Techno, dachte Anselm, sagte es aber nicht, sondern fragte stattdessen: „Was glauben Sie, was das für ein Gegenstand war, mit dem Sie getroffen wurden?“

„Ein Ast, was denn sonst?“

„Und was macht Sie so sicher?“

„Das Klicken der Pistole, der verhinderte Schuss. Da wollte mich jemand erschießen, Herr Becker, nicht mich niederschlagen. Und erst, als es nicht klappte, hat er die andere Möglichkeit gewählt, ganz spontan. Da kann er sich nur gegriffen haben, was in der Nähe lag. Und was soll anderes im Gebüsch liegen als ein Ast?“

Das klang logisch. Ein Naturwissenschaftler eben, der klar analysieren konnte, der aber nicht eiskalt war. Anselm spürte, dass seine Angst echt war.

„Aber es lag kein Ast im Gebüsch“, sagte er.

„Dann haben ihn Kinder mitgenommen, die inzwischen hier gespielt haben. Oder er war es selbst.“ Schwientziks Stimme klang heiser.

„Einen Ast mitnehmen?“, fragte Anselm. „Und dann ein Täter, der in Panik flüchtet?“

Anselm spürte Schwientziks Verunsicherung. Plötzlich wurde er aggressiv.

„Verdammte Scheiße!“, rief er, „heute Morgen war noch alles in Ordnung, da habe ich mir um nichts Sorgen machen müssen. Höchstens mal, ob ich die Produktionszahlen schaffe. Aber jetzt … Nie und nimmer hätte ich gedacht, dass ich in so was reingerate. In eine Sache, von der ich nur begreife, dass sie gefährlich ist.“ Er sah sie der Reihe nach an.

„Helfen Sie mir“, sagte er mit leiser Stimme. „Tun Sie alles, um rauszufinden, was da gelaufen ist. Bitte.“

Anselm bat Wermann, Schwientzik bei der Heimfahrt zu begleiten. Er sollte hinter ihm herfahren, um sicher zu gehen, dass er gut zu Hause ankam. Danach sollte er zurückkommen und Sibel Dogan abholen.

Dass Schwientzik bei sich zu Hause Gefahr drohte, glaubte er nicht. Der Täter oder die Täterin hatte ihm nicht zu Hause aufgelauert, sondern zum Kanal gelockt. Das musste einen Grund haben. Außerdem konnte er sicher sein, unerkannt entkommen zu sein. Keine Notwendigkeit also, den Anschlag sofort zu wiederholen.

Anselm verabredete sich nur für den nächsten Tag bei Schwientzik zu Hause, ließ sich die Adresse geben, es war eine Straße in Kamen, dann ging er ein paar Schritte mit Sibel Dogan im Naturschutzgebiet spazieren.

„Was halten Sie von dem Fall?“

„Genau dasselbe wie Sie.“

„Ach, und was halte ich davon?“

„Sie haben Zweifel, ob es wirklich ein Anschlag war.“

„Das haben Sie gemerkt?“

„Jeder hat es gemerkt, auch der Doktor.“

Anselm beobachtete genau den Weg. Tatsächlich entdeckte er an mehreren Stellen Mopedspuren. Es war nicht zu begreifen. Einen Ort, an dem Tiere unbelästigt blieben, gab es wohl nicht mehr.

„Trotzdem müssen wir die Sache ernst nehmen“, sagte er. „Denn wenn sie stimmt, dürfen wir keinen Fehler machen. Dann ist der Mann wirklich in Gefahr.“

Sie standen plötzlich vor einem kleinen See, der bevölkert war von Wasservögeln. Wenigstens auf dem Wasser blieb den Tieren die Chance, in Ruhe gelassen zu werden, dachte er. Natürlich nur so lange, bis der erste auf die Idee käme, hier Kanu zu fahren. Manchen war alles zuzutrauen.

Anselm zeigte auf die schwarzen Vögel mit der Blässe über dem Schnabel. „Das sind Blesshühner“, sagte er. „Und dahinten, das müssen Kormorane sein.“ Die großen, schwarzen Vögel bevölkerten zwei Bäume direkt am Ufer.

„Kormorane? Nie gehört.“

Er ärgerte sich. Warum hatte er damit angefangen? Als er so alt war wie sie, hatte er sich auch nicht für Vogelarten interessiert. Er schaute zum Himmel, der sich immer mehr zuzog.

„Gehen wir zurück“, sagte er, „ich glaube, es wird Zeit.“

Gleichzeitig mit Wermann erreichten sie den Parkplatz. Anselm schlug vor, in Werne ein Bier zu trinken, aber beide schüttelten den Kopf.

„Die Strecke nach Dortmund ist weit“, sagte Wermann. „Das ist mir zu riskant.“

„Und als Muslimin sollte ich sowieso nichts trinken“, fügte Sibel Dogan hinzu.

„Sie sollten nicht?“, fragte Anselm. „Was heißt das?“

Sie lachte. „Dass Allah manchmal weit weg ist. Dass er gar nicht alles sehen will.“

„Tragen Sie deshalb auch kein Kopftuch?“

Das war ihm so rausgerutscht. In Bergkamen hatte es vor ein paar Monaten einen heftigen Streit um eine Kindergärtnerin gegeben, die vor ihrer Heirat ohne Kopftuch zur Arbeit gekommen war, nach ihrer Hochzeit aber plötzlich behauptete, dass sie das Tuch brauche. Angeblich, weil es zu ihrer Identität gehöre. Der Bürgermeister hatte versucht, die Frau loszuwerden, war aber vor Gericht gescheitert. In allen Zeitungen hatten Berichte darüber gestanden.

Anselm hatte keine Kinder. Er hatte sich auch nie vorgestellt, welche zu haben. Erst als er die Berichte las, hatte er sich gefragt, wie er als Vater auf eine Kindergärtnerin mit Kopftuch reagieren würde. Die Vorstellung hatte ihm nicht behagt.

Sie entgegnete nichts, sondern verabschiedete sich kurz, Wermann grinste zum Abschied. Anselm schaute ihnen nach, bis der Wagen hinter einer Halle verschwunden war.

Dann fuhr er zur Rathauskneipe in Werne, setzte sich in eine Ecke, beobachtete die Leute und versuchte, an Birthe zu denken. Er fragte sich, ob er noch etwas für sie fühlte, aber der Gedanke an sie wurde immer wieder verdrängt von demjenigen an den Doktor.

Ein Chemiker, der behauptete, keine Feinde zu haben und auf den ein Anschlag verübt worden war. Der aber misslungen war, weil sich der Schuss nicht gelöst hatte. Klang unwahrscheinlich. Andererseits wirkte der Mann nicht wie ein Aufschneider, sondern wie jemand, der seine Gefühle im Griff hatte.

Aber hatte er das wirklich? Anselm hatte schon erlebt, wie in Fällen, wo es ums eigene Leben ging, selbst kühlste Denker aus der Fassung gerieten. Irgendein Klicken, Lebensangst und schon setzte der Verstand aus.

Dann dachte Anselm plötzlich an Sibel. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, mit einer Frau zusammenzuarbeiten. Mit Schreiber, das war in Ordnung gewesen. Ein sachlich-kollegiales, am Ende fast freundschaftliches Verhältnis. Aber irgendwie ohne Reiz. Sein Arbeitsalltag war stressig, wenn es galt, brutale Verbrechen aufzuklären. Und immer dann, wenn Routine gefragt war, war er langweilig. Abwechslung tat also gut.

Aber musste es ausgerechnet eine Türkin sein? Türkinnen hatte er immer ausgelassen in früheren Beziehungen. Wer mit einer Türkin eine Beziehung hat, glaubte er, hatte zwangsläufig die ganze Sippe am Hals. Und davor hatte er immer einen Horror gehabt, bei all seinen Frauenbekannschaften. Aber beim Beruf dürfte das keine Rolle spielen, tröstete er sich.

Dafür vielleicht ihr Glaube. Er mochte keine Religion, schon gar keine fanatische. Als Schüler hatte er sich abgemeldet vom Religionsunterricht, wenn es zu frömmelnd wurde. Aber so beseelt vom eigenen Glauben wie manche Moslems, mit denen er es gelegentlich zu tun hatte, waren selbst seine frommsten Religionslehrer nicht gewesen.

Er überlegte, ob er nach Hause gehen sollte, hatte aber noch keine Lust auf seinen typischen Abend mit Pizza aus dem Backofen und einem Glas Rotwein vor dem Fernseher. Er bestellte ein drittes Bier. Als er den ersten Schluck trank, zuckten Blitze am Himmel und tauchten den Marktplatz für Sekundenbruchteile in grelles Licht. Im nächsten Moment schlug der Regen gegen das Fenster. Er war froh, jetzt nicht auf dem Weg nach Hause zu sein.

4

4.

Am anderen Tag war die Luft frisch und klar, die Temperatur gefallen. Anselm ärgerte sich beim Müsli-Frühstück, als er plötzlich an Sibel Dogan denken musste. Ihretwegen war er gezwungen, zum Präsidium nach Dortmund zu fahren. Wenn er allein ermitteln würde, könnte er sich gleich auf den Weg nach Kamen machen. Mit Schreiber wäre das anders gelaufen. Schreiber wäre entweder von sich aus gekommen oder er hätte an einem anderen Fall weitergearbeitet und Anselm dadurch entlastet.

Als er am Präsidium ankam, saß sie schon in Schreibers früherem Büro. Ein Anblick, der ihn für einen Moment traurig stimmte.

Erst vor ein paar Monaten war Schreiber mit wüster Sause und lautem Trara in die Pension verabschiedet worden. Ein paar Wochen später hatten sie erfahren, dass er an Krebs erkrankt war. Prostatakrebs. Niemand wusste, wie es ihm ging, niemand wagte, sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Die Pension zu erreichen und dann krank zu werden, war für alle das große Schreckgespenst. Besser, man dachte nicht darüber nach.

Manchmal, wenn Routinefälle anlagen, musste Anselm ganz unwillkürlich doch an Schreiber denken. Wie es ihm wohl ging? Ob die Krankheit inzwischen unter Kontrolle war? Oder hatte er von der Chemotherapie die letzten Haare verloren und lag abgemagert in einem Krankenhausbett? Einzig Rautert traute er zu, dass er bei Schreiber anrief. Aber Rautert erzählte nichts, entweder, weil er es doch nicht tat, oder weil er mit dem, was er erfahren hatte, niemanden belasten wollte.

Komisch, wie schnell man in so einem Betrieb vergessen ist, dachte Anselm.

Ihr Schreibtisch war absolut leer. Rautert hatte ihr noch keine Aktenvorgänge gegeben. Also wollte er sie langsam an die Arbeit heranführen. Besser gesagt sollte Anselm das tun.

Sie fuhren über die B1 nach Kamen. Natürlich gab es kurz vor der Ausfahrt aus Dortmund, in Höhe der Städtischen Kliniken, den üblichen Stau. Anselm trommelte nervös auf das Lenkrad, spähte nach einer Lücke auf der anderen Spur und schielte, als er keine entdeckte, auf Sibels schlanke Schenkel. Sie trug wieder die eng sitzende Jeans wie gestern. Wenn sie sich reckte, wurde ein Stück Haut zwischen Hose und Pulli sichtbar, und er bemerkte, wie schmal ihre Hüfte war. Es fiel ihm schwer, sich von dem Anblick zu lösen, gleichzeitig hoffte er, dass ihr sein indiskreter Blick nicht aufgefallen war.

Als sie aus Dortmund raus waren, ging es zügig voran, auch wie üblich. Die letzten Wolken verzogen sich, die sonnigen Abschnitte wurden länger. Es würde wieder ein schöner Tag werden.

„Was wollen Sie bei dem Doktor erreichen?“, fragte sie plötzlich.

„Ich will rauskriegen, wie er lebt. Ob es irgendetwas gibt, das mir den Mann näher erklären kann.“

„Glauben Sie, dass man es der Familie und dem Haus ansehen kann, ob einer spinnt oder nicht?“

„Nein, natürlich nicht.“ Anselm spürte selbst, wie genervt seine Stimme klang.

„So simpel habe ich das nicht gemeint. Aber irgendwo müssen wir ja anfangen. Und manchmal fallen einem an der Art, wie jemand lebt, Details auf, an die man vorher nicht gedacht hat.“

„Ich werde es noch lernen.“ Das sollte versöhnlich klingen, also hatte sie seine Gereiztheit bemerkt.

In Kamen mussten sie sich zum Haus von Schwientzik durchfragen. Die Carl-von-Ossietzki-Straße lag auf einer Anhöhe am Stadtrand Richtung Lünen. Anselm schaute sich um, als sie vor dem Haus hielten. In der Ferne, Richtung Stadtmitte, reckte sich ein rostbrauner Förderturm in die Höhe. Ein hässliches, längst überflüssiges Stahlskelett, denn es gab seit Jahren keinen Bergbau mehr in dieser Stadt. Was steckten dahinter für Sentimentalitäten, solch einen Rostturm in der Gegend rumstehen zu lassen? Denkmalswert hatte das Ding auf keinen Fall, Fördertürme dieser Art standen in jeder zweiten Stadt im Ruhrgebiet. Er schüttelte den Kopf. Industriekitsch war das, Sozialromantik.

Schwientziks Haus lag gegenüber einer Wiese. Torstangen standen darauf, auf dem Platz zwischen den Toren war das Gras kurz getrampelt. Unangenehm kühler Wind wehte zu ihnen herüber.

Schwientzik hatte sie schon bemerkt. Noch bevor sie klingeln konnten, öffnete er die Tür. Er war lässig mit Trainingshose und T-Shirt bekleidet und wirkte auf den ersten Blick ganz und gar nicht wie ein Akademiker. Mehr als gestern fiel Anselm auf, wie durchtrainiert der Mann war.

„Zu blöd, dass ich heute nicht arbeiten kann“, sagte er, nachdem er sie kurz begrüßt hatte. „Ich fühle mich wieder ganz wohl.“

„Körperlich oder psychisch?“, fragte Anselm und schaute auf Schwientziks Hände. Von einem Zittern keine Spur.

Schwientzik zögerte. „Naja, ich versuche, meine Sorgen zu verdrängen.“ Er bat sie ins Haus.

„Und, gelingt es Ihnen?“, fragte Anselm, als sie ihm durch den Flur ins Wohnzimmer folgten.

„Noch nicht so richtig. Aber körperlich bin ich auf jeden Fall fit. Da könnte ich sofort wieder loslegen.“

Anselm bemerkte, dass Schwientzik auch den Rest seines Verbandes beseitigt hatte. An seiner Stirn klebte nur noch ein breites Pflaster.

Auf dem Wohnzimmertisch standen schon zwei Kaffeetassen bereit. Eine etwa fünfunddreißigjährige, dunkelhaarige Frau kam aus der Küche. „Entschuldigen Sie“, sagte sie, „mein Mann und ich wussten nicht, dass Sie zu zweit kommen.“ Sie reichte Sibel und ihm die Hand.

„Warten Sie, ich stelle noch eine Tasse dazu.“ Sie sah ihren Mann an. „Den Kaffee gießt du dann ein, ich muss gehen.“

„Müssen Sie zur Arbeit?“, fragte Anselm.

Sie nickte. „Ich unterrichte ein paar Stunden an einer Grundschule. Ist es etwa nötig, dass ich bei dem Gespräch dabei bin?“

„Nein, nein, meine Frage war ohne Bedeutung.“

„Ja dann …“ Die Frau zögerte, Anselm spürte plötzlich Unruhe in ihren Augen. „Helfen Sie meinem Mann“, sagte sie dann. „Klären Sie möglichst schnell auf, was passiert ist.“

Bevor Anselm antworten konnte, war sie schon aus dem Zimmer. Wahrscheinlich war es ihr peinlich, weil ihr Mann nicht merken sollte, wieviel Sorgen sie sich um ihn machte.

Um es ihnen leichter zu machen, beschloss Anselm, die Sache zu überspielen. „Schön wohnen Sie hier“, sagte er, als er sich an Tisch setzte. „Und gegenüber auf der Wiese gibt es sogar Auslauf für Kinder.“

Die Frau kam noch mal ins Wohnzimmer zurück, sie hatte sich inzwischen eine Jacke übergezogen. „Für unsere beiden Mädchen ist der Platz da drüben nicht so wichtig. Die spielen nicht gerne Fußball.“

Auf Sibels Gesicht erschien ein leichtes Grinsen.