Passerelle - Paul Martin Kesselring - E-Book

Passerelle E-Book

Paul Martin Kesselring

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Beschreibung

Ein Wanderer macht einen speziellen Fund. Es handelt sich um die Geschichte einer Frau, die sich in der Lebensmitte zu finden glaubt und nicht nur Bilanz ziehen will, sondern die Suche neuer Wege erwägt. Wir folgen in dieser Geschichte den Spuren von Vera, die uns in aller Offenheit Teile ihres Lebens anvertraut. Suchend, vor allem durch spannende Begegnungen, lernt sie, sich dem Leben neu zu öffnen und ein Gefühl dafür zu entwickeln, was Leben im natürlichen Seins - Zustand bedeutet. Als Kind einer durchschnittlichen Familie lässt sie uns teilhaben an ihrer Gedankenwelt und ihrer Philosophie, an ihren Reisen in verschiedene Regionen und Kulturen und an Begegnungen mit Menschen aus verschiedenen Schichten, die manchmal - wie sie selbst - vor den komplexen Seiten des Lebens und des Verstehens zu kapitulieren drohen. Sie beschreibt Situationen, die sie an sich selber zweifeln lassen, aber bewahrt immer die Hoffnung, irgendwann einmal den ersehnten Schritt nach vorne zu machen. Sie stößt in ihrer Gedanken- und Erlebniswelt wiederholt an die Grenzen zwischen Realität und Fiktion und zwischen Wissenschaft und Intuition. Dabei wird sie gewahr, dass das Leben weit über rationales Denken und Handeln hinausgeht. Zum Schluss wird klar: Kommen wir zurück zu unserer Wesensnatur, offenbart sich die Multidimensionalität des Lebens wie von selbst. Es ist nicht ein Abheben, sondern im Gegenteil ein Zu-sich-selber-kommen, das die Tore öffnet.

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Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Dateien sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Impressum:

© Verlag Kern GmbH, Ilmenau

© Inhaltliche Rechte beim Autor

1. Auflage, Mai 2019

Autor: Paul Martin Kesselring

Titelmotiv: Adobe Stock | © Sondem

Umschlag/Layout/Satz: Brigitte Winkler, www.winkler-layout.de

Lektorat: Dorothea von der Höh, www.lektorat-vonderhoeh.de

Sprache: deutsch

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019

ISBN: 978-3-95716-271-7

ISBN E-Book: 978-3-95716-290-8

www.verlag-kern.de

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck, Übersetzung, Entnahme von Abbildungen, Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, Speicherung in DV-Systemen oder auf elektronischen Datenträgern sowie die Bereitstellung der Inhalte im Internet oder anderen Kommunikationsträgern ist ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlags auch bei nur auszugsweiser Verwendung strafbar.

Paul Martin Kesselring

Passerelle

Veras Aufbruch

Inhalt

Cover

Impressum

Titel

I

II

Die Aufzeichnungen der Veritas

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

Der Autor

I

26. Dezember 1999

Es stürmt in ganz Westeuropa. Ich liebe die Stürme, wenn uns die Natur ihre ganze Macht demonstriert. Sie offenbaren uns oft Unerwartetes, wecken Faszination und verdienen Respekt. Die Wolken am Himmel jagen einander, und zwischendurch senden einige Sonnenstrahlen für kurze Zeit funkelnde Lichter auf den Boden, ehe es wieder finster und verhangen wird. Schneeböen und Regenschauer spielen die zweite Stimme in dieser gigantischen Symphonie. Ich breche mit meinem Hund Brusco auf zu einer Wanderung.

Wir lassen das Dorf hinter uns auf einem schmalen Sträßchen, das zur Allmend hinaufführt, und treffen einige andere Unentwegte, die ihre Hunde auch spazieren führen.

Vorbei geht es an umgelegten und gebrochenen Bäumen zur Allmend hinauf zu den paar lauschigen Hüttchen, die im Frühling als Ställe fürs Vieh genutzt und sonst von Feriengästen aus der Stadt bewohnt werden. Es gießt mittlerweile wie aus Eimern und wir suchen Unterstand in einem der Hüttchen und warten eine Weile.

Sobald der Regen nachgelassen hat, brechen wir erneut auf und verfolgen das Sträßchen mit seinen Haarnadelkurven bergaufwärts, kürzen hier und dort ab und gelangen in einer weiteren Kurve zu einer Verzweigung, ab der wir nun einen Forstweg verfolgen. Er biegt in ein romantisches kleines Tal ab.

Im Bachbett neben uns, in dem normalerweise ein sanftes Rinnsal fröhlich talwärts gurgelt, tost ein Wildbach, dessen mitgeführte Steine zum Rauschen eine dumpfe Bassbegleitung beisteuern, die das Ganze als dramatische Symphonie in meinen Ohren ertönen lassen. Wir überqueren den Bach über eine Brücke, die behelfsmäßig aus unbearbeiteten Baumstämmen zusammengezimmert wurde. Vermutlich hat die alte Brücke einer anderen Naturmanifestation nicht mehr standgehalten.

Auf der anderen Seite führt nur noch eine schmale Wegspur aufwärts. Sie beginnt sich auch gleich zu verlaufen und die Spuren enden in weichem Moos mit Heidelbeerstauden. Weglos wandern wir weiter. Ein paar Sonnenstrahlen erleuchten den moosigen Boden und erblassen anschließend. Wenige Minuten später schneit es in großen Flocken. Der Sturm beruhigt sich, und es wird so still, dass das Aufkommen jeder einzelnen Schneeflocke auf dem Boden hörbar wird.

Wir wandern gemütlich und beschwingt aufwärts, weglos, aber ohne große Hindernisse. Die Intensität des fallenden Schnees legt in kurzer Zeit einen weißen Teppich über den Moosboden.

Wir haben bereits jene Höhe erreicht, wo der Schnee der vorigen Woche noch liegt. Der Wärmeeinbruch vermochte ihn nicht völlig abzuschmelzen. An einigen Stellen ist er sogar leicht gefroren, sodass jeder Auftritt einen Bruch der Oberfläche bewirkt. Brusco schnüffelt an allerhand Tannenästen und verfolgt hier und dort eine Tierfährte.

Die Zeit verrinnt, der Wald wird dichter, und man könnte sagen, er würde auch unheimlicher. Da und dort klettern wir über gebrochene oder entwurzelte Tannen und gelangen ganz nah an ein Dickicht. Ich habe einen Moment Brusco nicht beaufsichtigt, ich sehe ihn nicht mehr. Er muss in das Dickicht eingedrungen sein, eine Fährte verfolgend. Ich rufe, doch nichts regt sich. Das Bimmeln seiner zwei metallenen Hundemarken kann ich nirgends lokalisieren und die Schneeflocken machen immer noch den Grundrhythmus der akustischen Begleitung aus. Meine Rufe nach Brusco verhallen im Wald. Er regt sich nicht.

Und plötzlich: Was rieche ich da? Frischer Pfeifenrauch ist unverkennbar, es riecht wie jener Amsterdamer, den ich vor fünfundzwanzig Jahren selbst geraucht hatte. Der Duft weckt Erinnerungen. Er riecht immer besser für die anderen als für den Raucher selbst. Ich drehe mich um, nochmals nach Brusco Ausschau haltend, und sehe knapp zwei Meter neben mir einen Mann stehen, zwischen sechzig und siebzig Jahre, der mich in genau diesem Moment freundlich grüßt. Er muss festgestellt haben, dass ich erschrocken bin, als ich ihn bemerkte.

Verdutzt frage ich ihn: „Haben Sie meinen Hund gesehen? Ich suche ihn, er ist verschwunden, ich weiß aber nicht, in welche Richtung.“

„Tut mir leid.“

„Sagen Sie mir doch, woher sind Sie gekommen?“

Auf diese spontane Frage antwortet er verblüfft: „Ich stehe doch schon eine Weile hier und beobachte Sie. Ich bin von der Langegg herabgestiegen. Aber tragen Sie Sorge, falls Sie dorthin aufsteigen wollen, es gibt sehr viel Schnee. Und die Felswand hat ihre Tücken.“

„Tut mir leid, ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Ich weiß nicht genau, wo wir jetzt sind, aber von einer Langegg habe ich noch nie gehört und die Existenz von Felsen in diesem Wald ist mir unbekannt.“

Da antwortet er: „Sehen Sie, junger Mann, man hat nie ausgelernt. Da kennen Sie diese Gegend doch noch sehr schlecht. Lassen Sie mich erklären, wo die Langegg liegt: Wenn Sie den Weg hier weiter verfolgen bis zur Felswand, dann müssen Sie gut auf den Einstieg achten. Der Weg ist am Anfang schlecht erkennbar. Nach einigen Metern ist die Wegspur ohne Weiteres bis zum Einschlag erkennbar. Der Einschlag ist die kleine lauschige Wiese, die zwischen den zwei Felspartien liegt. In ihrer Mitte erkennen Sie noch die Steine einer Ruine. Es handelt sich um eine ehemalige Gebetskapelle aus dem 15. Jahrhundert. Kenner des Einschlags sprechen von einem Kraftort, wie zum Beispiel bei den romanischen Kirchen von Amsoldingen oder Einigen.

Wenn Sie den Weg weiter verfolgen wollen, halten Sie sich rechts. Sie erkennen die Wegspur. Verfolgen Sie diese dann weiter zur Wartegg. Dann steigen Sie kontinuierlich auf einem Forstweg über die Schwand und die Hasenegg zur Langegg. Meist stehen Sie dort oberhalb der Nebelgrenze. Dieser Weg wird nur noch sehr selten begangen, er ist steil und daher mühsam. Die meisten Leute meiden ihn. Sie suchen sich den Umweg über die Launalp, manche nehmen das Auto und fahren ohne Bewilligung den Forstweg hoch. Diesen Weg nenne ich den Weg der Erkenntnis. Und wissen Sie, warum?“

„Keine Ahnung.“

„Weil diesem Weg eine ganz besondere Kraft zugeschrieben wird. Wer ihn geht, erkennt neue Dimensionen, wenn Sie wissen, was ich meine. Aber der Weg ist nicht ungefährlich, man muss ihn mit Bedacht gehen und sich gewiss sein, dass man sich erhebliche Verantwortung auflädt. Darum geht ihn fast niemand. Das heißt, die Wildtiere, Rehe, Hasen und Gämsen kennen ihn. Sie sind es auch, die den Weg immer wieder so austreten, dass ich ihn wiederfinde.

Aber passen Sie mal auf, ich höre Ihren Hund.“

Und tatsächlich: Neben mir steht Brusco, als wenn nie etwas gewesen wäre und ich ihn nie gesucht hätte.

„Vielen Dank“, sage ich zu dem alten freundlichen Mann, „und ein gutes neues Jahr.“

Doch er ist verschwunden, wie er aufgetaucht war.

Brusco und ich stapfen eine Weile weiter, da zieht es ihn ins Dickicht.

„Warte, Brusco. Ich nehme dich an die Leine.“

Ich möchte nicht noch mal so lange auf ihn warten müssen. Er zieht mich ins Dickicht hinein und schnüffelt mal hier, mal dort, als ob er etwas ganz Bestimmtes suchte. Doch außer Hasen- und Fuchsspuren können wir nichts ausmachen. Das Dickicht lichtet sich ein wenig und plötzlich stehen wir vor einer Felswand. Die kalkigen, schroffen Felsen tauchen unmittelbar vor dem Dickicht in den Waldboden. Entlang der Wand zieht sich die Fährte einiger Wildtiere hin.

Brusco zieht mich, sanft steigend, an der Felswand entlang und schnüffelt schließlich an Fußabdrücken, die sich von hier wegverfolgen lassen. Es sind Abdrücke menschlicher Füße, jedoch ohne Schuhe, denn man erkennt die Zehen und die Ferse. Der linke und rechte Abdruck wechseln sich ab. Und jetzt verlieren sich die Spuren wieder, es sieht so aus, als ob der Mensch, der diese Spuren hinterlassen hatte, in die Felswand eingestiegen wäre.

Es scheint mir zu gefährlich, diesen Spuren zu folgen. Wir ziehen es vor, die Wildfährte am Fuß der Felswand weiter zu verfolgen. Sie steigt nun langsam in die Felswand empor. Ich halte mich mit beiden Händen an den vorstehenden Felszacken fest oder stütze mich auf die nicht ganz vertikal fallende Felswand ab. Um etwas bequemer vorrücken zu können, löse ich Brusco von der Leine.

Und plötzlich öffnet sich ein schmaler Spalt vor uns. Ein mittelstarker Wind weht uns daraus entgegen.

Höhlen haben etwas Magisches und Geheimnisvolles, und ich habe schon manche Publikumshöhle auf meinen Reisen besucht. Von den wenigen Expeditionen, an denen ich teilgenommen hatte, wusste ich, dass Kalkgebirgshöhlen, die Luftzug aufweisen, für Höhlenforscher interessant sind, da sie mit großer Wahrscheinlichkeit weiterführen.

Wie von einem saftigen Steak angezogen, verschwindet Brusco in dieser Felskluft. Er, der doch immer fürchterlichen Respekt vor allem Unbekannten hat, verschwindet in der finsteren Höhle! Mich ergreift die Faszination des Unbekannten, das auch die Höhlenforscher in ihren Bann zieht. Was verbirgt sich hinter dieser Öffnung?

Brusco scheint eine Weile in der Eingangsregion herumzuschnüffeln, während ich versuche, durch die schmale Öffnung wenigstens so weit einzudringen, dass ich mir ein Bild machen kann, wie es weitergehen könnte. Ich entledige mich meines Anoraks. Ich möchte ihn nicht zerreißen, schließlich werde ich ihn zur Heimkehr nötig haben. Meine Gedanken schweifen ins Innere, zu den blutroten Tropfsteinen, die sich in irgendeiner weit entfernten Halle vielleicht offenbaren würden. Oder jenen Höhlenseen, die derart klar und deren Oberflächen so vollkommen ruhig sind, dass sie wie ein geschliffener Spiegel vor uns liegen, und in denen herabhängende Stalaktiten sich so abbilden, als ob es sich um ihr emporsteigendes Ebenbild handle.

Genau diese Faszination ist es, die mich jetzt versuchen lässt, den Eintritt in diese Spalte zu erzwingen. Unter mir schnuppert Brusco an etwas, das ihn zu fesseln scheint. Ich klettere sachte zum Boden hinab, wo die Höhle auch wesentlich weiter wird und Brusco mir gegenübersteht. Er knurrt leise und scheint mir sagen zu wollen: Hier befindet sich etwas, das dich sicher interessiert.

Der fahle Lichteinfall vor uns und die gähnende Finsternis hinter uns verlangen eine kurze Pause. Unsere Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit. Langsam kann ich Felsbrocken am Boden erkennen, eine kleine Pfütze, in die von Zeit zu Zeit ein Tropfen fällt, dann ein etwa hüfthoher Gang, der steil abwärtsführt ins tiefe Schwarz. Es ist nicht die richtige Zeit, sich mit Höhlenforschung zu befassen, wir haben weder eine Laterne noch eine taugliche Ausrüstung bei uns.

Brusco scheint etwas ganz anderes zu interessieren, immer und immer wieder verschwindet er hinter einem Felsbrocken, um etwas zu beschnuppern. Und immer wieder kommt er zu mir, als wollte er mitteilen: Das wird auch dich interessieren.

Ich folge ihm und finde den Gegenstand, der Brusco so in seinen Bann zieht: eine runde, längliche Aluminiumdose, mit einem Schraubdeckel verschlossen, etwa fünfzehn Zentimeter im Durchmesser und fünfzig Zentimeter lang. Seit wann diese Büchse da liegen mochte, ist schwer zu schätzen. Etwas von der Faszination der unbekannten Höhle scheint sie mir aber zu stehlen: Da muss sich schon mal jemand aufgehalten haben.

Ich nehme die Büchse und begebe mich etwas mehr ans Licht, um sie zu öffnen. Es gelingt mir aber nicht mit bloßer Hand, das Gewinde muss stark oxidiert sein. Mir scheint die Büchse nicht sehr alt zu sein. Dem Gewicht nach zu schließen, wird sich etwas darin befinden. Es könnte Karbid sein, das Höhlenforscher hier liegen ließen. Doch dies wäre sicherlich am stechenden Geruch zu erkennen, denn eine solche Büchse kann ja unmöglich so weit feuchtigkeitsdicht sein, dass nicht etwas Wasser eindringen könnte und das Karbid zu Azetylen reagieren ließe. Ich beschließe, die Büchse mitzunehmen und den Heimweg anzutreten.

Der Ausstieg gestaltet sich schwieriger als vermutet, und ich bin mir plötzlich nicht mehr sicher, ob diese Höhle wirklich schon von Menschen betreten worden ist. Mit einem Meißel und einigen Hammerschlägen ließe sich nämlich der Spalt so weit öffnen, dass ein Einstieg problemlos auch mit dickerer Kleidung und Rucksack möglich wäre. Und gemeißelt hat hier anscheinend noch niemand. Ich stelle mir die Frage, wie diese Büchse in ihr Versteck gekommen sein könnte.

Der Einstieg war wesentlich einfacher, als sich der Ausstieg ankündigt.

Habe ich eine solche Situation nicht schon einmal erlebt? Es könnte in einem Traum gewesen sein: die letzten Meter vor dem erlösenden Austritt aus der unendlichen Tiefe eines Höhlensystems, das mich derart in seinen Bann gezogen hat, dass es mich nun kaum wieder freilässt. Da liege ich in einer Spalte, auf dem Bauch, die Arme weit vorgestreckt, die Beine hinten irgendwo Widerstand suchend, um mich wenigstens ein paar Zentimeter nach vorn zu schieben. Die Beine hängen in der Luft, verzweifelt nach Halt suchend, die Hände klammern sich irgendwo fest, die Angst, mich weder nach vornoch zurückbewegen zu können, sitzt tief.

Verzweifelt versuche ich mich zu erinnern, wie ich es wohl geschafft habe, in diese Höhle einzudringen. Ich betrachte mir die Einstiegsspalte genauer und bemerke, dass ich es von außen her leichter hatte, weil die Spalte sich leicht einwärtsneigend gegen unten öffnet und ich mich dann auf dem Hosenboden rutschend nach unten gleiten lassen konnte. Daran habe ich nicht gedacht, als ich einstieg. Brusco ist schon lange draußen und wartet ungeduldig, dass auch ich es endlich schaffe.

Um mich von der hinderlichen Büchse zu befreien, entschließe ich mich, sie aus dem Höhlenspalt zu werfen, mit dem Risiko, dass sie unwiederbringlich den Hang hinunterkullert,. Und ich habe Glück: Brusco verfolgt sie mit seinen aufmerksamen Augen und springt im rechten Moment auf, um sie mit seiner Schnauze vor einem Davonrollen zu bewahren.

Die Hundeleine dient mir als Seilersatz. Ich werfe sie um einen kleinen Felsvorsprung. Ein Ruck zeigt mir, ob die Nase hält, und ich versuche mich langsam an der Leine hochzuziehen, um den Felsen mit der linken Hand greifen zu können. Ich ziehe mich mit beiden Händen und aller Kraft hoch und erreiche schließlich jenen Punkt, auf den ich meinen rechten Fuß abstützen kann. Noch zwei, drei Schritte durch den sich nach außen öffnenden Spalt und ich habe wieder festen Boden unter meinen Füßen.

Draußen haben wieder neue Böen eingesetzt und es hat aufgehört zu schneien. Der Wind fegt kalt von den Felsen herunter, und ich ziehe meine Jacke über, packe die Dose ein und zusammen klettern Brusco und ich behutsam das Felsband zurück bis an dessen Basis, der wir nun weiter folgen, entlang dem engen Dickicht, wo wir herkamen. Ich ziehe es vor, nicht durchs Dickicht zurückzugehen, der Pfad vor uns scheint mir freundlicher und sicherer. Aber er zieht sich in die Länge. Ohne dass ich es zunächst wahrnehme, verlieren die Felsen an Höhe, je weiter wir wandern. Rings um uns herum tobt erneut der Sturm und ich konzentriere mich auf die Wegspur. Wir kommen ans Ende der Felswand. Hier geht sie in einen steilen Buchenwald über und der alte Schnee bildet wieder eine mehr oder weniger kompakte Decke.

Ich weiß tatsächlich nicht mehr, wo wir uns befinden. Der Wald scheint sich in die Unendlichkeit hinzuziehen, und ich versuche, mich talwärts zu orientieren, obschon die Hangneigung ein gefährliches Gefälle annimmt. Doch auch in steigender Richtung scheint es nicht besser zu sein und somit versuchen wir abzusteigen. Ziemlich genau in Fallrichtung erreichen wir nun eine langsam ins Horizontale auslaufende Mulde, in der ein Bächlein entspringt. Der Schnee ist gewichen, wir haben offensichtlich ordentlich an Höhe verloren und folgen nun weiter dem Bachlauf. Irgendwo muss der Bach ja münden, irgendwo werden wir den Wald verlassen, obschon ich weiß, dass er sich über dreißig Kilometer hinzieht. Wenn wir die falsche Richtung einschlagen, werden wir heute Abend nicht zu Hause sein.

Die Böen, die immer wieder aufkommen, sind jetzt so stark, dass in einigen Hundert Metern Entfernung mit großem Getöse eine ganze Anzahl Bäume fallen. Brusco erschrickt. Er rennt davon, in Richtung der stürzenden Bäume. Ich folge ihm, und wir erreichen die Stelle, wo es gekracht hat. Wir stehen in einer kreisrunden Schneise. Die Bäume liegen alle in mehr oder weniger tangentialer Richtung. Aus der Luft muss das sicher sonderlich aussehen. Wir treten wieder in den Wald ein, da und dort fallen Einzelbäume, und ich spüre jetzt, wo mir wohl ist, wo ich mich sicher fühle. Dort muss ich nichts befürchten. An anderen Stellen fühle ich mich bedroht, dort folgt mir Brusco auch nicht hin.

Etwas weiter kommen wir erneut zu einer Schneise. Diese verläuft aber in gerader Richtung durch das Waldstück. Die beiden Grenzlinien zum Wald verlaufen über einige Hundert Meter vollkommen parallel. Dann verläuft sich die Schneise wieder. Merkwürdig, diese strengen geometrischen Formen. Mir gehen Bilder von Kornkreisen durch den Kopf.

Da stehe ich nun fasziniert vor den gefallenen Bäumen, studiere die Richtung, in der sie gefallen sind, und frage mich nach den Informationen, die die Bäume haben mussten, dass sich solch perfekte Formen bilden können.

Gewaltig, wie dieser Wald mit mir kommuniziert. Unbeschreiblich!

Ich begegne den ganzen weiteren Tag keinem anderen Menschen. Die Stunden fließen dahin, der Sturm legt sich wieder, der Himmel lichtet sich und ständig wechseln die Witterungselemente von Sonne über Regen zu Schnee.

Der Abend naht, die Beine sind müde, auch Brusco trottet nur noch gleichgültig hinter mir her. Wir verfolgen schon seit längerer Zeit ein Forststräßchen in der Hoffnung, irgendwann auf einen Wegweiser zu treffen. Ein gewaltiges Erlebnis, der heutige Tag.

Der Wald lichtet sich, wir sehen in der Talsohle eine Weide und ein Naturweg zieht sich den Bach entlang. Hier erreichen wir den ersten Wegweiser seit Stunden, der in einer Richtung mit zweieinhalb Stunden nach unserem Dorf zeigt, in der anderen Richtung mit zwanzig Minuten zum Lochbad weist. Die Müdigkeit setzt jetzt erst richtig ein, wo ich weiß: noch zweieinhalb Stunden. Es bleibt uns nichts anderes übrig, ich beiße mich durch und auch Brusco macht mit.

Erst lange nach Einbruch der Dunkelheit kommen wir zu Hause an. Überall im Dorf ist es finster, dunkel wie in der Höhle. Im Haus brennen ein paar Kerzen. Wir werden mit einem duftenden Fondue empfangen. Der Strom fiel offenbar schon mittags aus. Es werde noch bis morgen dauern, umfallende Bäume hatten die Strommasten niedergerissen. An die Büchse denke ich nicht mehr.

II

Das Öffnen der Aluminiumdose gestaltet sich schwieriger als gedacht. In der Höhle hätte ich es nie geschafft. Zu Hause, mithilfe eines Schraubstocks und einer Klempnerzange, glückt es mir nach mehrmaligem Einspritzen von Kriechöl, den Deckel sorgfältig abzuschrauben. Doch nicht das erwartete Karbid kommt zum Vorschein, nicht der mögliche Goldschatz und auch nicht die funkelnden Edelsteine, die die mysteriöse Geschichte vom gestrigen Tag nun hätten abrunden können. Es handelt sich nicht um den großartigen Fund, den ich mir im Geheimen eben doch erhofft hatte, die Louisdors oder andere Schätze.

Eine Rolle, liebevoll in braunes Kraftpapier gepackt und mit Klebestreifen gesichert, liegt in der Büchse. Keine Spur von Feuchtigkeit; ein Dichtungsgummi im Deckel konnte den Eintritt von Wasser verhindern.

Ich schneide die Klebestreifen mit einer Rasierklinge auf und beginne die Rolle sorgfältig auszupacken. Es scheint sich um Schriftstücke zu handeln, die übereinanderliegend eingerollt und anschließend verpackt wurden. Ich schätze, gegen hundert DIN-A4-Bögen müssen es sein, die da in der Dose verstaut wurden.

Wer hatte was mit diesem Versteck bezweckt? Ich bin nicht sicher, ob diese Höhle schon jemals von einem Menschen betreten worden ist; ich hätte auf dem lehmigen Boden Fußspuren entdecken müssen. Zudem wäre der Einstieg ja wirklich für manche Person zu eng gewesen. Konnte ein Tier die Büchse dorthin verschleppt haben oder wurde sie aufs Geratewohl in die Höhlenöffnung geworfen?

Ich lege die Papierbögen auf den Tisch, doch sie rollen sich ständig wieder in die Form zurück, in der sie jahrelang gelegen hatten. Damit sich das Papier wieder an ein flaches Dasein gewöhnen kann, lege ich den ganzen Stapel über Nacht unter den Times Weltatlas.

Schriftstücke haben schon deshalb etwas Geheimnisvolles, weil man ihnen nicht gleich ansieht, welche Schätze oder welchen Makel sie in sich bergen; man sollte sie zuerst lesen. Bei der Fülle an Geschriebenem, mit der man sich auseinanderzusetzen hat, braucht es immerhin einen speziellen Riecher, sich etwas zuzuwenden, das einen tatsächlich in seinen Bann zieht.

Es hat vermutlich mit Intuition zu tun, wenn ich die Geschichte mit den Papieren weiterverfolge und nicht aufgebe, bevor ich sie gelesen habe. Die Geschichte, die hinter deren Fund steckt, hat mich ja bisher schon ganz schön in Atem gehalten, sodass ich nun nicht aufgeben will, bevor ich um den Inhalt der Schriftstücke weiß. Nun, wo sie glatt vor mir liegen, beginne ich, sie zu lesen.

Die Aufzeichnungen der Veritas

Diese spontanen Aufzeichnungen haben mir geholfen, mein Leben neu zu orientieren. Deshalb möchte ich sie nicht vernichten sondern überlasse sie dem Zufall …

1.

Mein Name ist Veritas Wicklar, dritte Tochter einer Pfarrfamilie. Ich habe gute und stabile Wurzeln. Ich hatte eine harmonische, geborgene Kindheit. In materieller Sicht reichte es nicht zu großen Sprüngen. Mein Vater stammte zwar aus einer fränkischen Ingenieursfamilie, meine Mutter aus einem Juristenhaus, doch meine Eltern erzählten uns immer, sie seien dennoch in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen. Ich hatte eine glückliche Zeit mit meinen beiden Schwestern wie auch mit meinen Eltern. Als kleines Mädchen genoss ich es, der Sonnenschein der Familie zu sein. Meine angepasste Art brachte mir viel früher als meinen Schwestern eine gewisse Freiheit und meine Eltern erachteten mich als glücklich. Es wäre doch schwer verständlich, wenn das jüngste Theologentöchterchen nicht das Abbild des Glücks gewesen wäre. Im Pfarrhaus war schließlich auch Gott zu Hause oder ging zumindest regelmäßig ein und aus.

Meine Eltern waren beide sehr religiös denkende Menschen, sie fühlten sich in ihre Mitmenschen ein und versuchten sie zu verstehen. Sie beteten täglich für uns, für die ganze Familie, für die ganze Kirchengemeinde und alle, die zu ihnen kamen und Hilfe erbaten, und man sah ihnen an, wie sie von ihrem Glauben erfüllt waren.

Mein Vater wurde gleich nach seiner Studienzeit in Tübingen als Pfarrer an die hiesige Kirche gewählt. Obschon er in ein fremdes Land und in eine andere Kultur zog, schien es ihm keine Schwierigkeiten zu bereiten, sich in der Berner Vorortsgemeinde zu akklimatisieren. Meine Mutter, aus Böhmen stammend, schien sich ebenfalls in der neuen Heimat wohlzufühlen.

Mein Vater war aus unserer Gemeinde nicht wegzudenken, und niemand hatte ihn als „Fremden“ bezeichnet, obschon er an seiner Sprache hätte erkannt werden können: Er hatte den Akzent eines Zugezogenen behalten. Ganz anders waren wir drei Schwestern. Als kleinere Kinder verständigten wir uns mit unseren Eltern noch in ihrer schriftdeutschen Sprache, spätestens aber mit dem Schuleintritt meiner ältesten und mit dem gleichzeitigen Kindergarteneintritt der mittleren Schwester übernahmen wir den Dialekt unserer Kameradinnen, die uns in Kindergarten und Schule begleiteten.

Die strenge Erziehung meiner Eltern empfand ich für die damalige Zeit korrekt, doch heute würden Pädagogen sicherlich Fragezeichen setzen. Ich weiß, dass meine Eltern es mit uns Mädchen nie schlecht meinten und dass sie wirklich ihr Bestes geben wollten. Nur waren die Sitten um einiges rauer, und man machte sich keinerlei Gedanken über die Verletzlichkeit der Kinderseele, denn wenn man es gut meinte, dann war es gut, ob nun das Kind dies ebenso empfand oder darunter litt.

Es war die Generation, die noch militärische Zucht kannte. Vor allem mein Vater, der seine Militärpflicht auch als Pfarrer absolvieren musste, war sichtlich beeindruckt von der Disziplinierung und von der Obrigkeitsgläubigkeit in dieser Institution. Er war bis ins hohe Alter der Meinung, Militärdienst und die dabei zu erfahrende Zucht schade niemandem.

Mit Militärdienst leistenden Geistlichen hatte ich immer Mühe. Das Militär ist und bleibt eine Krieg führende Organisation. Krieg aber hatte noch nie Lösungen von Konflikten gebracht; also verstand ich Vaters Bewunderung militärischer Disziplin nicht, denn seine Unfähigkeit, Konflikte zu meistern, und die Akzeptanz militärischer Gewalt schienen für mich unvereinbar. So hatten wir oft Diskussionen über die Ereignisse im Zweiten Weltkrieg, den wir Kinder zwar nicht mehr erlebt hatten, über den jedoch noch immer heftig gesprochen wurde. In der Schule lernten wir als wichtiges Element der zukünftigen Kriegsverhinderung die Gründung der UNO kennen, jener Weltorganisation, der fast alle Staaten angehören und in deren Charta steht: Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.

Glaubte Vater als Pfarrer etwa selbst nicht daran, dass dieser Artikel wirklich umsetzbar war? Es wurde zu Hause immer wieder von Kriegen gesprochen, die nach 1949 trotz dieser Charta stattfanden. Wie konnte mein Vater als Pfarrer denn militärische Disziplin gutheißen, wenn er selbst mit Konflikten Mühe bekundete?

In seiner Antwort auf meine Fragen zum Sinn des Krieges wich er jeweils auf „humanitäre Kriege“ aus. Diese sollten dazu dienen, barbarische Regierungen in die richtigen Bahnen zu leiten. Gab es denn jemals humanitäre Kriege?

Wir brachten unsere Meinungen nie auf einen gemeinsamen Nenner. Auf meine Argumentation, humanitäre Kriege wären somit „liebevolle Vergewaltigungen“, die in keinem Fall Konflikte lösen könnten, schwieg er oder wich auf ein anderes Thema aus.

Das Thema Gewalt war für Vater irgendwie tabu. Er musste Wehrdienst tun, er musste diesen mit seinem Gewissen in Einklang bringen, und trotzdem verstand er nicht, dass wir darüber anders dachten. Aber dennoch: Er selbst vermied jegliche Gewaltanwendung.

Es war die Mutter, die im Fall von Überforderung den Teppichklopfer zückte und uns dann und wann den Hintern verschmierte. Manchmal sperrte sie auch eine von uns in den dunklen Kohlenkeller und vergaß anschließend, dass da noch eines ihrer Kinder drin war.

So verbrachte ich einmal einen ganzen Nachmittag in dieser Finsternis, und zwar, bis Mama merkte, dass ich beim Abendbrot fehlte. Wo konnte Veritas nur stecken? Meine Schwestern wussten nichts von der nachmittäglichen Rüffelaktion meiner Mutter, der Vater hatte gerade eine Abdankung für den nächsten Tag vorzubereiten, und Mama hatte am Abend einfach vergessen, dass sie mich ja züchtigen wollte. Erst nachdem um neun Uhr die Polizei informiert wurde, dass die jüngste Tochter nicht nach Hause gekommen wäre, kam ihr wieder in den Sinn, was geschehen war. Sie holte mich aus dem Keller, musste bei der Polizei melden, ich wäre mittlerweile aufgekreuzt, und die Polizei fragte nicht weiter nach, sondern der diensttuende Beamte war sichtlich erleichtert, denn er befürchtete erneut eine Kindesentführung, wie sie erst drei Wochen zuvor im Nachbardorf geschehen war.

Im Wechselbad der kindlichen Erziehung zwischen uneingeschränkter Liebe und unvermeidbarer Züchtigung stellte ich mir schon früh Fragen zu Liebe, Respekt, Angst und Achtsamkeit. All diese Wörter waren für mich nicht greifbar, ich konnte daher nicht von Begriffen sprechen. Da gab es auf der einen Seite das Begreifbare wie Körperlichkeit, auf der anderen Seite all jenes, das nicht mess-, hör-, seh-, greif- und riechbar war. Was war das? Für Vater begann da der Glaube. Glaube war für ihn eine andere, eine höhere Dimension.

Aber genau da, wo mein Vater seine Antworten durch die Bibel fand, begannen für mich die Fragen.

2.

Meine Erinnerungen gehen zurück in die sechste oder siebte Klasse, als unsere Lehrerin das Aufsatzthema „Ich betrachte mich“ an die Tafel geschrieben hatte und von uns verlangte, wir mögen uns selbst doch möglichst genau beschreiben, und zwar nicht äußerlich, sondern innerlich, also unseren Charakter, unsere Neigungen, und gleich eine Selbsteinschätzung anfügen, die zeigen sollte, wie unserer Meinung nach andere uns sehen.

Die Schwierigkeit dieser Aufgabe war mir damals nicht bewusst und ich ging an einem freien Nachmittag in mein Zimmer und begann zu schreiben.

Ich habe mein altes Aufsatzheft ausgegraben und nachgelesen, wie ich mich damals sah. Ich brachte es tatsächlich fertig, diese Selbstbetrachtung auf drei Seiten unterzubringen, und musste bei der Durchsicht oft lachen, wie naiv und unkritisch ich mich damals sah. Nun sind bereits bald dreißig Jahre vergangen und ich versuche nochmals, eine Selbstbeurteilung abzugeben.

Mein Charakter besteht aus vielen einzelnen Komponenten, die ich verschiedenen Epochen meines bisherigen Lebens ganz klar zuordnen kann. Meine Prägung besteht erstens aus den ethischen Werten, die mir meine christliche Erziehung mitgegeben hat. Zweitens erhielt ich ganz außerordentliche Impulse durch meine Schule, die ich zwischen elf und sechzehn besucht hatte. Eine solche Schule dürfte heute gar nicht mehr existieren, und sie hätte eigentlich schon damals nicht so sein dürfen, aber sie gehörte eben in jene Zeit.

Viele der Schulerlebnisse waren für meine Prägung von größter Bedeutung; nicht etwa die unglaublich tönenden Episoden, sondern mein daraus resultierendes Handeln. Heute würde man an die Schulhaustür schreiben: „Nichts für sensible Seelen.“ Die pädagogischen Mittel, die zu meiner Schulzeit angewandt wurden, erhalten heute keinen Einlass mehr in die Schulen.

Es gab damals in den größeren Ortschaften, vor allem aber in den Städten, noch reine Mädchen- und Knabenschulen. Koedukation war weitgehend unbekannt. Die Pädagogen huldigten noch jenen alten Züchtigungsmaßnahmen, die die strenge Linie betonten und wahrscheinlich mit der soldatischen Ausbildung während der Kriegsjahre zu tun hatten. Maßnahmen mussten nicht begründet werden, sie brauchten auch keinen Kontext zu einem Vergehen oder einer vollbrachten Tat aufzuweisen. Maßnahmen, man sprach von Strafen, waren dazu bestimmt, Kinder von einer Tat abzuhalten oder sie für etwas, das nicht rechtens war, sühnen zu lassen. Ob eine Maßnahme pädagogisch sinnvoll war, wurde nicht überprüft.

An unserer Dorfschule, wo Knaben und Mädchen unterrichtet wurden, nahm man die Knaben deutlich kürzer an die Zügel als die Mädchen. Ähnlich geschah es auch in den Stadtschulen, die nach Geschlechtern getrennt waren. An den reinen Mädchen- wie Knabenschulen wurde oft mit eiserner Hand durchgegriffen.

Dies betraf nicht nur die unbändigen, widerspenstigen und stets ins Fettnäpfchen tretenden Kinder, es traf vor allem auch die initiativen, die selbstständig denkenden, den Stoff überprüfenden Schülerinnen und Schüler. Es war den Lehrern oft höchst peinlich, wenn ein Schulkind Lerninhalte, die durch die Lehrperson vermittelt wurden, kritisch betrachtete, womöglich Ungereimtheiten oder sogar Fehlaussagen entdeckte und dies der Lehrperson kundtat, in der Annahme, etwas Gutes zu tun. Dann musste es sich bei einem ansehnlichen Teil der Lehrer in Acht nehmen, denn die Strafen für solche Ungehörigkeiten waren, je nach Lehrperson, klar definiert.

Einer unserer Lehrer ließ die Kinder, die er züchtigen wollte, während einer Lektion sich den Daumen oder einen anderen Finger in den Sandsteinsims vor dem Fenster bohren. Dies geschah so, dass der Schüler die Fingerspitze auf den Sandstein setzen und nun immerfort den Finger abwechslungsweise gegen rechts, dann wieder gegen links reiben musste, bis die Fingerspitze sich allmählich in den Sandstein grub. Während einer ganzen Lektion kam es dann schon mal vor, dass dem einen oder anderen, der dies vorschriftsgemäß ausführte, die Haut so dünn wurde, dass das Blut zu fließen begann. Die Löcher jener Fenstersimse zeugten von einer aktiven Straftätigkeit. Wer bei einem anderen Lehrer sich in seinen Augen ungebührlich aufführte, dem wurde links und rechts bei den Schläfen an den Haaren gedreht und gezogen, bis ein Büschel davon in Lehrers Hand blieb. Dieses wurde dann mit Klebstreifen auf ein großes Packpapier geklebt, das rechts neben der Zimmertür hing. Zu jedem dieser Büschel wurde der Name des Übeltäters geschrieben, und damit waren die Kinder gebrandmarkt, bis sie die Schule verließen.

Mädchen gegenüber übten die Lehrer mehr Rücksicht; da wurde vor allem mit Worten gedemütigt. Wer etwas „verbrochen“ hatte, erhielt beispielsweise die Zukunftsoption, Putzfrau oder Kioskverkäuferin zu werden. Meine Erinnerungen an die Schulzeit würden eigentlich ein ganzes Buch füllen, es sind nicht etwa Ausnahmen, die ich hier schildere.

Dennoch machte mich diese Schule innerlich stärker. Ich erkannte, dass ich mich nur zu einer eigenständigen Person entwickeln konnte, wenn ich gerade in diesen Belangen unbequem blieb, wenn ich mich zu wehren begann gegen alles, was mir missfiel. Die Duckmäuser in meiner Klasse hatten es zwar angenehmer, denn sie wurden mehr und mehr zu den Lieblingen der Lehrer; Leute wie ich dagegen machten sich immer unbeliebter. Das schlug sich dann auch in den Noten nieder. Meine Aufsätze waren die schlechtesten. Ich konnte mich bemühen, wie ich wollte, ich versuchte, spannend und interessant zu schreiben, aber ich kam damit nie an. Die guten Aufsatzschreiber durften die vom Lehrer ausgewählten Stellen jeweils vorlesen. Meine schlechtesten Stellen hingegen las der Lehrer der Klasse genüsslich selbst vor.

Ich bin heute überzeugt, dass meine unverkrampfte, kritische Art, mit den Dingen der Zeit fertigzuwerden, sicher auch ein Resultat meiner Schulzeit ist. Ich bin mir aber auch bewusst, dass mich viele meiner Kameradinnen und Kameraden wegen meiner Art mieden. Ich hatte mir dadurch mehr Feinde als Freunde geschaffen und mich zunehmend isoliert. Ich nahm mir zwar vor, anpassungswillig zu werden, mich zu ducken, wie das die anderen auch taten, aber in meinem Innersten sagte stets etwas nein dazu.

Meine Erinnerungen an totale Hoffnungslosigkeit sind mir bis heute geblieben. Ich setzte mich manchmal oberhalb des Blutturms auf die steinerne Treppe, die zur Aare hinabführt, und überlegte, ob es nicht besser wäre, der Fluss übernähme mich und integrierte mich in seine Fluten. Einen Schlussstrich zu ziehen, getraute ich mich aber nie. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es für Jugendliche normal ist, sich mit suizidalen Gedanken auseinanderzusetzen. Schließlich lag der Sinn darin, sich zu orientieren und seinen Selbstwert zu definieren. Nicht alle schafften das, immer wieder blieben welche in dieser Situation liegen, gaben auf, machten Schluss.

Mein Leben, in der Retrospektive betrachtet, war bisher voll erdrückender Auftragserteilungen, bei denen ich immer wieder versucht war, sie zurückzuweisen. Es reichte nicht, nur nach dem Lustprinzip zu handeln. Dieses war in allen meinen Aufträgen, an die ich mich machte, allerdings sehr vielseitig und häufig vertreten. Aber eben auch jene Prüfsituationen, die mich auf Herz und Nieren testen sollten, waren darin enthalten, und ich sehe noch manche Situation, aus der ich flüchten wollte, weil ich mich allseits überfordert fühlte. Es hatte schon zu viele verschiedene Situationen gegeben, in denen ich klein beigegeben hatte in der Annahme, nur so noch überleben zu können. Und ich handelte falsch. Ich hätte es durchstehen müssen. Da ich es aber nicht tat, setzte ich mich selbst in eine andere Pflichtebene und erhielt noch schwerere Aufträge, die ich auszuführen hatte, immer wieder mit der Auflage von Prüfungen verbunden.

Äußerlich gesehen, betrachte ich mich als Naturmensch. Ich kann mich am besten naturbelassen akzeptieren. Ich habe keine schlechten Proportionen und mein Gesicht finde ich akzeptabel, und wenn ich an all meine Verehrer im Lauf der Zeit zurückdenke, höre ich die Komplimente, die sie meiner weiblichen Erscheinung machten: Sie fanden mich bezaubernd, schön, ausstrahlungskräftig, sympathisch und bezogen dies auf alles Sichtbare an mir. Doch mein Problem war meine seelische Unausgewogenheit. Ich stelle wahrscheinlich zu hohe Ansprüche an mich selbst. Ich weiß eigentlich gar nicht, wie ich sein möchte; ich weiß nur, dass ich mich in meiner Haut trotz allem oft nicht wohlfühle. Obschon ich mir immer wieder vor dem Spiegel eingestehen muss, dass ich mit meiner Hülle zufrieden sein könnte, kommt in mir ein leichtes Hassgefühl gegenüber der Person auf, die mir auf der anderen Spiegelseite begegnet.

Ich bin stolz auf meine Weiblichkeit. Mein Denken und Fühlen kann ich allerdings nicht in männlich oder weiblich einteilen, da ist viel an Sensorium drin, das eine Frau auszeichnet. Aber ich fühle sehr starke männliche Seiten, beispielsweise in Form der rationalen analytischen Denkweise, die ich nicht verbergen kann.

Mein bisheriges Leben wurde sehr oft von Melancholie begleitet. Es geht bei mir immer alles ein bis zwei Etagen tiefer als vielleicht bei anderen. Ich fühle mich immer wieder in tiefe Abgründe gezogen, in denen ich mir nach allen Richtungen wieder selbst begegne. Wenn ich vorwärtsblicke, sehe ich Veritas, wenn ich rückwärtsschaue, ist sie auch da, seitwärts, oben, unten, immer dieselbe Person. Ich stehe mir überall im Weg, versperre mir den Ausbruch, und meine Gedanken beginnen sich in solchen Momenten im Kreis zu drehen.

Diese Gemütszustände wechseln stark mit der Jahreszeit. Im Frühjahr und im Sommer geht es mir in der Regel besser, da scheint für mich die Welt in Ordnung zu sein, nur dann und wann, während einer Schlechtwetterperiode oder bei chronischer Übermüdung, schleichen sich die melancholischen Gefühle wieder ein und verweilen für einen kürzeren oder längeren Moment, ehe sie dann von einer Sekunde auf die andere wieder verschwinden, wie sie gekommen sind.

Herbst und Winter aber sind fast konstant von Gefühlsduschen geprägt. Da fühle ich mich manchmal über Wochen fahl und müde, möchte am liebsten den Tag im Bett verbringen. Meine Gedanken drehen sich im Kreis, Lappalien werden zur ernsthaften Bedrohung, der Wunsch nach Befreiung von solchen Gefühlen wird erdrückend und es kommt ein schleichendes Gefühl der Ohnmacht auf. Hilflosigkeit wird zur Hoffnungslosigkeit, jede Forderung zur Überforderung, die Lebensenergie scheint zur Neige zu gehen und die Zukunftsperspektiven sind düster bis schwarz. Todesängste, Todesahnungen, Todessehnsüchte wechseln sich ab, ich bin für mich allein, nehme die Umgebung nicht oder kaum mehr wahr, die anderen sind außerhalb und berühren mich nicht mehr. Ich kann auf sie verzichten; ich kann überhaupt auf alles verzichten. Alles dreht sich, hat dieselbe graue Farbe und die Energie wird laufend schwächer.

Am liebsten lege ich mich in solchen Momenten ins Bett und versuche zu schlafen. Schlaf ist erlösend, er befreit von den Wahnvorstellungen, von aller Befangenheit, von der Eintönigkeit, von der Sinnlosigkeit, und wenn ich schlafen und träumen kann, sehe ich mich wieder in einer ganz anderen Welt und fühle mich frei von den Qualen der Wachheit.

Erstaunlicherweise melden sich die Ängste nicht im Traum. Meine Traumwelt ist sauber, normal und ich habe sie gern. Ich liebe meine Träume und manchmal kann ich sie am Morgen noch erzählen. Meist verblassen sie aber bereits beim Aufwachen. Und dann schleichen sich langsam wieder die Ängste vom Vortag ein, sie nehmen erneut ihren alten Platz ein, bis sie mich wieder vollständig erobert und in Besitz genommen haben.

Am besten geht es mir, wenn ich abgelenkt bin. Es bleibt mir keine Zeit, den immerwährend sich drehenden Gedankenfetzen nachzuhängen, weshalb ich mich in die Arbeit flüchte, wo ich mich besser fühle.

Ich bin ein kreatives Wesen, absolut chaotisch und immer auf der Suche nach Neuem, nach Außer-Ordentlichem. Mein Wunsch ist es, Spuren zu hinterlassen, auch wenn diese später nicht mehr identifizierbar sind. Ich denke manchmal, ich hätte der Menschheit etwas zu sagen, weiß aber nicht, wie ich es anstellen müsste, damit das, was ich zu sagen habe, auch an die richtigen Ohren gelangt. Ich bin ein Narziss, und ich fühle in meinem Innersten, dass ich, um im Leben weiterzukommen, Einzelheiten über mich erzählen muss, die auch von anderen wahrgenommen werden können.

Eine Selbstbetrachtung kann aber unmöglich nur das Äußere oder nur das Innere beinhalten. Mein Äußeres an sich würde ja gar nicht so schlecht zu mir passen. Der Spiegel bestätigt mir dies. Doch das Äußere mit dem Inneren zu verweben, will mir nicht so recht gelingen. Es wäre aber die Voraussetzung für eine Selbstbetrachtung.

Eine Fähigkeit, die ich mir zugestehe, ist, dass ich Kritik jeglicher Art gut annehmen kann. Ich bin bestrebt, aus den gemachten Fehlern kleinere zu machen. Fehlerfreiheit liegt mir fern. Ich bin angewiesen auf die Äußerungen der anderen, wenn sie mein Handeln und Denken betrachten. Die Rückmeldungen sind mir so wichtig wie die tägliche Nahrung. Sie helfen mir, mich zu orientieren, und zeigen, welche Verknüpfungen mit welchen Elementen meines Handelns sinnvoll erscheinen.

Ich habe eine gewisse Gabe, Zusammenhänge zu erkennen, in denen sich zukünftige Tendenzen und Tatsachen erahnen lassen. Ich habe im Lauf der Zeit ein Sensorium entwickelt, das sich vermutlich aus unsichtbaren Vernetzungen einzelner Fakten in meinem Hirn aufbaut. Es ist mir schon oft passiert, dass ich eine Ahnung gegenüber meinen Freundinnen oder Freunden geäußert hatte, die diese nicht verstehen oder zuordnen konnten. Jahre später haben sie sich dann bewahrheitet.

Ein Beispiel ist ein Vortrag, den ich per Zufall besucht hatte, in dem es darum ging, dass die DDR-Politik dermaßen fein und differenziert die kommunistische Infiltration des Westens vorbereite, dass dieser keine Chance hätte, sich gegen die Ideologie zu schützen, wenn nicht sofort Gegenmaßnahmen getroffen würden, die sich mit jeder Eventualität auseinandersetzen. Dies war in der ersten Hälfte der Achtzigerjahre und ich war soeben von einem längeren Besuch in der DDR zurückgekehrt. Auf mich wirkte der Vortragende wie ein Romanschreiber, der sich zum Ziel gesetzt hatte, eine Science-Fiction-Geschichte vorzutragen. Es klang alles so unwirklich.

Nachdem ich mich eingehend mit den Strukturen der DDR befasst hatte, war mir bereits damals klar, dass das Ende dieses Staatssystems nicht mehr allzu fernliegen konnte. Das wahrgenommene Knistern im Volk schwang auch nach meiner Rückkehr noch nach. Umso verblüffter war ich, als ich gegen Ende des Vortrags konstatieren musste, dass der Redner all das, was er uns erzählt hatte, tatsächlich glaubte, ja dass er sogar überzeugt war, ein Prophet zu sein, der nun dem bedrohten Westen gerade noch rechtzeitig mitteilte, in welch schrecklicher Gefahr sich dieser befinde.

Nach dem Vortrag durften Fragen gestellt werden, und ich war erstaunt darüber, wie viele Zuhörerinnen und Zuhörer voll auf das Thema eingegangen waren und die Ängste, die der Redner verbreitete, regelrecht in sich aufgesogen hatten. Ich schien beinahe die Einzige zu sein, die alldem nichts abgewinnen konnte, und ich hob meine Hand und verkündete mit ebensolcher Überzeugung, dass die meisten hier im Saal den jähen Zusammenbruch des soeben als bedrohlich geschilderten Systems noch erleben würden. Ich war überzeugt davon, dass es keine zehn Jahre dauern würde, aber ich war vorsichtig. Der Redner versuchte anschließend, mich bloßzustellen, indem er mich mit Ausdrücken beschimpfte, die ich nicht wiedergeben will. Zudem warf er mir vor, ich hätte nicht zum Vortrag kommen dürfen, wenn ich eine solch miserable Einstellung zum Westen hätte. Damit hatte er eingestanden, dass er dem schon damals maroden System noch riesige Erfolge zubilligen würde und dass er somit von der effektiven DDR wohl keine Ahnung hatte.

Dieser Anlass war übrigens der einzige, wo ich mich zum nahenden Zusammenbruch der DDR öffentlich geäußert hatte. Auch im Freundes- und Verwandtenkreis wurde ich meist nicht ernst genommen, wenn ich dieses Thema ansprach. Mit der Bemerkung „alles nur Wunschdenken“ war das Thema erledigt.

Einige Jahre später, es waren keine zehn, war es aber so weit. Die Inhalte des Vortrags begegneten mir später in einem Roman, der sich mit dem Titel „Tatzeit heilige Nacht“ mit der Vision der Eroberung des Westens auseinandersetzte. Der Autor war ein Amerikaner.

Was mich bei Vorahnungen immer wieder bedrückt, ist, dass ich dazu beitragen könnte, Menschen auf kommende Veränderungen vorzubereiten, damit sie bei deren Eintreffen nicht überfordert werden.

Ich möchte meine weiteren Aufzeichnungen nun vor allem meinen Gedanken zu der Gesellschaft, in der ich lebe, und den verschiedenen spannenden Begegnungen mit Menschen widmen, die mich im Lauf meines Erwachsenenlebens und meiner beruflichen Tätigkeit ein kleines Stück weitergebracht haben, indem sie mir neue Horizonte öffneten.

3.

Anlässlich einer Hirnuntersuchung im Computertomografen wurde mir durch den Arzt mitgeteilt, dass gewisse Teile meines Hirns sonderbare Verdickungen aufwiesen, die nicht zur „Norm“ gehörten. Des Weiteren wurde eine überhöhte Anzahl Blutgefäße festgestellt, die ebenso wenig normal sei. Immerhin versicherte mir der Arzt, dass es keinerlei krankhafte Anzeichen gebe.

War es nun eine Schmeichelei, nicht „normal“ zu sein, oder sollte mich das nachdenklich stimmen? Ist der Begriff „nicht normal“ gleichzusetzen mit „besonders“, „besonders wertvoll“ oder vielleicht „minderwertig“ und „nicht alltäglich“, „nichts Besonderes“?

Die Begriffswelt rund um die Normalität gehört für mich zu den bedeutendsten Problemen, die wir Menschen uns selbst geschaffen haben. Die Natur kennt nur Ordnung, aber keine Normen. Dadurch, dass der Mensch diese geschaffen hat, ist es ihm gelungen, die ganze Welt zu komplizieren.

Ich bin zum einen Teil ein „Kopfmensch“, ein Mensch, der ein ordentliches Maß seiner Aktivitäten über das Hirn abwickelt. Ich versuche mir alle Abläufe vorzustellen, bevor ich sie ausführe. Ich bin aber auch ein Mensch der Taten, eine Werkerin, ein Handmensch. Ich versuche so viel wie möglich selbst zu machen, mein Leben und was dazugehört selbst anzupacken.

Ich empfinde mich aber nicht zu jener Norm gehörend, von der intensiver Konsum, Kritiklosigkeit und totale Anpassung erwartet wird. Ich bin kein Alltagsmensch.

Ein Alltagsmensch, anders genannt vielleicht ein Normmensch, denkt den Tag, den er in Angriff nimmt, nach einem bestimmten Schema voraus. Er legt sich sein Handeln zurecht, er schreibt seine fixen Termine und Handlungsabsichten in seine Agenda und konsultiert diese zu Tagesbeginn. Dann legt er sich seinen Tag so zurecht, dass alles, was er sich vorgenommen hat, darin Platz findet, und ist dabei froh, wenn der Tagesablauf nicht aus der üblichen „Normalität“ driftet. Er arbeitet also mit einem vorwiegend selektiven Bewusstsein, das sich weitgehend aus früheren Erfahrungen aufbaut und sich aus den gelernten Anforderungen an sein Hirn zusammensetzt. Ich nenne dieses Bewusstsein selektiv, weil es einerseits nur in einem bestimmten Teil des gesamten Hirns und andererseits in streng definierten Sparten angesiedelt ist. Ich gestatte mir, zur Erklärung meiner Gedankengänge Modelle aus anderen Gebieten beizuziehen.

Ich habe nach Überwindung anfänglicher Hemmungen begonnen, den Computer zu einem meiner Hauptwerkzeuge zu ernennen, was vielleicht auch – dessen bin ich mir heute bewusst – nicht unbedingt meiner Naturmenscheinstellung entspricht.

Der Computer hat eine Menge Programme, wäre also zu vielem mehr „fähig“, als wofür er gemeinhin von den meisten Nutzern eingesetzt wird. Der „Normalverbraucher“ nutzt die Programme, die ihm vertraut sind, vielleicht ein Schreibprogramm und eines zum Zeichnen. Und sollte er ein Organigramm machen, kombiniert er das Zeichenprogramm mit dem Textverarbeitungswerkzeug und setzt Texte dort ein, wo sie nötig sind. Er ahnt dabei möglicherweise nicht, dass er auf dem gleichen Rechner ein spezielles Programm hat, das dieses Organigramm in einem Bruchteil der Zeit noch perfekter zustande bringt. Der Nutzer kann somit die Ressourcen seines Computers nicht optimal ausschöpfen, weil ihm gewisse Elemente des Erkennens fehlen. Hierfür müsste er eine spezifische Ausbildung absolvieren, oder der Computer müsste in einem solchen Moment von selbst erkennen, dass sich in seinem Speicher noch ein praktischeres Programm nutzen ließe, und müsste dann mit einem Signal den Anwender darauf aufmerksam machen.

Ähnlich, aber wesentlich perfekter sehe ich die Abläufe in unserem Hirn. Anhand der Bilder einer Magnetresonanztomografie hatte ich die Möglichkeit, mein Hirn einmal von „außen“ zu betrachten, und ich bin wirklich fasziniert, was von diesem kleinen Volumen alles an Leistung hervorgebracht wird. Und wenn ich bedenke, dass wir während des ganzen Lebens nur einen minimalen Teil des ganzen Organs wirklich brauchen, dann steigt meine Bewunderung ins Unermessliche. Die Vielseitigkeit, wie wir unser Hirn brauchen können, ist wahrscheinlich vielen von uns gar nicht bewusst. Alle Menschen setzen ihr Hirn so optimal wie möglich ein, denn wir lernen dies in der Schule und im Alltagsleben. Wir versuchen, vernünftig damit umzugehen und dafür Sorge zu tragen. Über seine Funktion wissen wir jedoch kaum etwas. Wir können höchstens an den Handlungs- und Denkweisen erkennen, dass nicht alle Menschen gleich damit umgehen. Ich glaube, dass wir unser Hirn optimaler einsetzen und dass wir es zu unglaublich viel größeren Leistungen trainieren könnten, als wir dies in Schule und Gesellschaft lernen.

Ein Hirn im „Normalgebrauch“ hat seine aktiven Zellen, die sich mit dem gewohnten Gedankenspiel auskennen. Kommt eine neue Situation hinzu, die sich nicht sofort in bekannte Teilgedanken splitten lässt, meldet es sich mit Gefühlen der Überforderung.

Hier wird der Normdenker sich nicht auf die Äste hinauswagen und gibt sich zufrieden mit den Denkweisen, die ihm vertraut sind. Mit dem für ihn unlösbaren Problem geht er zu einem Spezialisten, der sich nur um Probleme dieser Art kümmert. Er setzt sein Know-how unbewusst selektiv ein, nutzt aber in seiner Sparte alle möglichen Ressourcen, um seinem Spezialistentum genügen zu können. Diese Tatsache ermöglicht einer modernen zukünftigen Dienstleistungsgesellschaft, ein Spezialistentum aufzubauen, in dem praktisch jede Nische durch eine Fachkraft abgedeckt ist. Das ermöglicht den selektiven Denkern mit profunder Tiefenkenntnis anfänglich ein gesichertes Überleben, da Spezialistenwissen in unserer Gesellschaft und in weiterer Zukunft enorm gefragt sein wird.

Wer ein Haus baut, braucht heute die verschiedensten Spezialisten, um seinen Wunsch in Erfüllung gehen zu lassen: Architekt, Bauingenieur, Maurer, Zimmermann, Klempner, Elektriker, Maler, Küchenbauer, Schreiner, Bodenleger und andere. Jeder dieser Spezialisten hat tief greifende Kenntnisse, was seine Sparte betrifft. Der Architekt weiß, wozu er wen engagieren muss.

Doch bei vielen Spezialisten hört die Kenntnis dort auf, wo das Tätigkeitsgebiet des anderen beginnt. Dieser Umstand bringt mit sich, dass es bei Hausbauten zu Koordinationsproblemen kommen kann, weil der eine nicht mit dem Fachwissen des anderen vertraut ist.

Es gibt auch Menschen, die bauen ihr Haus selbst. Sie planen es, führen alle Tätigkeiten selbst aus und ersparen sich damit alle Spezialisten. Ihr Haus wird sich von dem des Normalfalls unterscheiden: Es strahlt eine innere Vernetzung aus. Kann sein, dass einzelne Fliesen nicht so perfekt verlegt sind, wie es der Fachmann machen würde, oder dass der Putz etwas weniger gleichmäßig abgerieben wurde. Und genau das wirkt sich auf das Haus belebend aus. Die Ausstrahlung all der vielen Bauernhäuser, die noch durch deren Besitzer selbst erbaut wurden und oft sehr alt sind, beweist dies. Zwar benötigten auch diese Allrounder die eine oder andere Fachkraft, doch die Erbauer hatten den Überblick und die zugezogenen Fachkräfte kannten sich auch immer mindestens ein wenig in den Fachgebieten der anderen aus.

Selektiv denkende Menschen erreichen schnell jenen Spezialistengrad, der sie unentbehrlich macht. Generalisten, die unzählige andere Fachgebiete in ihr Denk- und Handlungsschema einbinden, brauchen mehr Zeit. Ihr Bewusstsein erweitert sich mit jeder Ebene, in die sie sich vortasten. Dadurch, dass sie die verschiedenen Handlungs- und Denkebenen miteinander verknüpfen, werden sie befähigt, Gedankengänge zu meistern, die einem Normaldenker nicht unbedingt zugemutet werden können.

Jeder Mensch ist von Natur aus auf jene Hirnfunktionen ausgelegt, die er benötigt, um sein Leben meistern zu können. Die Schule sollte ihn lehren, Vernetzungen zu ermöglichen, um seine Bewusstseinsebenen zu erweitern. Es scheint jedes Hirn dazu befähigt zu sein, sich in den verschiedensten Sparten auszukennen und Vernetzungen durchführen zu können, die dem Generalisten vorbehalten zu sein scheinen, denn Generalisten haben kein anderes Hirn als alle anderen, sie setzen es nur anders ein.