Paula oder Die sieben Farben der Einsamkeit - Stephan Abarbanell - E-Book

Paula oder Die sieben Farben der Einsamkeit E-Book

Stephan Abarbanell

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Beschreibung

Sie wollte einen Mann heiraten und bekam einen Staat. Paula Munweis wurde als junges Mädchen aus Minsk nach New York geschickt, träumte von einem Medizinstudium, war überzeugte Anarchistin. Doch dann traf sie ihren Ehemann, den Gründer des Staates Israel David Ben-Gurion. An ihrem Lebensabend zieht sie widerstrebend mit ihm in einen Kibbuz in der Wüste Negev. Mai 1966: Am kommenden Tag erwartet Ben-Gurion einen späten Freund, den vor Kurzem aus dem Amt geschiedenen Konrad Adenauer. Und wieder einmal ist es an Paula, diesen Besuch auszurichten und zu gestalten.

Armut, Kriege, Mutterschaft und immer wieder Einsamkeit: Dieser Roman erzählt die Geschichte einer starken, mutigen Frau, der das Leben viele Kompromisse abverlangt und sie zur Frau des Staatsgründers eines Landes gemacht hat, an das sie nicht glaubte. Am Ende ihres Lebens bricht sie noch einmal auf, um sich selbst zu finden.

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Seitenzahl: 280

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Zum Buch

Sie wollte einen Mann heiraten und bekam einen Staat. Paula Munweis wurde als junges Mädchen aus Minsk nach New York geschickt, träumte von einem Medizinstudium, war überzeugte Anarchistin. Doch dann traf sie ihren Ehemann, den Gründer des Staates Israel David Ben-Gurion. An ihrem Lebensabend zieht sie widerstrebend mit ihm in einen Kibbuz in der Wüste Negev.

Mai 1966: Am kommenden Tag erwartet Ben-Gurion einen späten Freund, den vor Kurzem aus dem Amt geschiedenen Konrad Adenauer. Und wieder einmal ist es an Paula, diesen Besuch auszurichten und zu gestalten.

Armut, Kriege, Mutterschaft und immer wieder Einsamkeit: Dieser Roman erzählt die Geschichte einer starken, mutigen Frau, der das Leben viele Kompromisse abverlangt und sie zur Frau des Staatsgründers eines Landes gemacht hat, an das sie nicht glaubte. Am Ende ihres Lebens bricht sie noch einmal auf, um sich selbst zu finden.

Zum Autor

Stephan Abarbanell, 1957 geboren, wuchs in Hamburg auf. Er studierte Evangelische Theologie sowie Allgemeine Rhetorik in Hamburg, Tübingen und Berkeley und war viele Jahre lang Kulturchef des rbb. Sein Romandebüt, Morgenland, erschien 2015 bei Blessing, 2019 folgte Das Licht jener Tage und 2022 ١٠ Uhr ٥٠, Grunewald. Stephan Abarbanell lebt mit seiner Frau, der Übersetzerin Bettina Abarbanell, in Potsdam-Babelsberg.

Stephan Abarbanell

Paula oder Die sieben Farben der Einsamkeit

Roman

Blessing

Dies ist ein Roman. Mit Ausnahme einiger historisch belegter Personen, die ihren wirklichen Namen tragen, sind die geschilderten Personen, Namen, Episoden und Ereignisse vom Autor erfunden.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2024 by Stephan Abarbanell

Copyright © 2024 by Karl Blessing Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Umschlagabbildung: © Hajna Nemeth/Arcangel;

© Finn Stock/Shutterstock.com

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-31547-4V001

www.blessing-verlag.de

Für Noa, Jonah und Jakob

1

In den Morgenstunden schlugen die Hunde an.

»Das war’s«, sagte sie.

Es müsste ein Wunder geschehen, damit sie noch einmal in den Schlaf finden würde.

Aber Wunder gab es nicht. Oder ihre Zeit war abgelaufen. Sie hatte es nur zu spät bemerkt.

Sie sank zurück auf die Kissen und lauschte. Mit einem Quietschen öffnete sich die Fliegentür, fiel, wumms, zurück ins Schloss. Auch ihn hatten die Hunde geweckt. Seit sie denken konnte, hatten sie und ihr Mann getrennte Schlafzimmer, ob in der Stadt oder hier am Ende der Welt.

Sie sah ihn vor sich, wie er vor dem Haus unter dem Wüstenhimmel stand, die schlackernden Gummistiefel an seinen nackten Füßen, das Hemd über der Hose, die Haare links und rechts am Kopf bettzauselig in die Höhe ragend, ein Wald voll weißer Antennen (wenn es denn so etwas gäbe). Das blauschwarze Firmament und der Schattenriss der fernen Berge machten ihn noch kleiner, als er ohnehin schon war.

Manchmal tat er ihr leid. Eine Empfindung, die er als unpolitische Gefühlsduselei abgetan hätte.

»Die Zeiten, in denen Juden auf das Mitleid anderer angewiesen waren, sind ein für alle Mal vorbei«, hätte er gesagt, für einen Moment wieder ganz der Staatsmann.

Noch war es dunkel. Unter der im Mondlicht schimmernden Glasplatte des Tisches hatte sie die Bilder ihrer Liebsten ausgelegt, ihre Tochter Geula, ihr Sohn Amos (einmal als Baby, einmal in Uniform) und die Jüngste, Renana, alle in Schwarz-Weiß. Dazu die Enkel.

Als würden die Lebenden eine Tote bewachen, hatte sie einmal zu Amos gesagt und sich über die Bitterkeit in ihrer Stimme gewundert. Oder als müsse sie sich beim Erwachen jeden Tag wieder vergewissern, dass es ein Leben mitten im Leben einmal gegeben hatte. Auch für sie.

Einen Schrank, einen Tisch, zwei kleine (eigentlich nie genutzte) Sessel und das Bett hatte sie in ihrem Zimmer zugelassen. Und einen alten, durch viele Leben mitgeschleppten halbseitig aufklappbaren Frisiertisch mit greisenhaft dünnen Beinen, der in dem kleinen Raum einen letzten Auftrag als Nachttisch übernommen hatte, Tag und Nacht in weltvergessener Untätigkeit neben ihrem Bett verharrend. Ein Privileg, das sie nur den Dingen zugestehen konnte, niemals sich selbst. So alt sie auch war.

Das Haus eine Hütte aus Holz, umgeben von der Wüste und dem weiten, schattenlosen Land. In den Nächten, wenn die Hunde am Rande des Kibbuz schliefen, spürte sie die Stille wie eine kalte Hand auf ihrer Haut.

Sie tastete durch das Dunkel nach der schweren schwarzen Brille, bekam sie zu fassen, schob sie sich auf die Nase.

»Sehen aus wie zwei beschwipste Quallen im Toten Meer«, hatte sie einmal zu Geula gesagt und vor dem Spiegel ihre Augen hinter den dicken Gläsern betrachtet. Wenige Wochen vor ihrem siebzigsten Geburtstag, als es ihr noch besser ging oder sie sich es zumindest noch einreden konnte.

»Ima, im Toten Meer gibt es keine Quallen«, hatte ihre Tochter geantwortet.

»Dann eben das Schwarze Meer, wenn dir das so wichtig ist.«

Die phosphorgrünen Finger über den matt leuchtenden Ziffern des Weckers salutierten, meldeten kurz nach vier. Es war Mai, und doch waren die Nächte kühl, ein Fuß lugte unter der Decke hervor, sie zog ihn zurück in die schützende Höhle.

Von den Hunden kam nur noch ein Jaulen. Meist waren es ohnehin nur sich der Siedlung nähernde, Nahrung witternde Schakale, die die Hunde anschlagen ließen.

Die jungen Leute würden weiterschlafen in ihrer aus dünnwandigen Hütten zusammengehämmerten Siedlung, von der aus sie die den Kibbuz umgebende Wüste in ein Eden verwandeln wollten. Neues, fruchtbares Land sollte unter ihren Händen entstehen, der Natur abgerungen. Und sie mitten unter ihnen.

Sie hatte mit dieser letzten Wendung ihres Lebens nicht gerechnet, war nach ihrem Umzug in die Wüste in das, was die Menschen Alter nennen, lautlos hineingeschlittert. Niemand hatte sie gewarnt. Auch nicht ihre innere Stimme, auf die bislang Verlass gewesen war.

Wie sollte man auch erkennen, was man nicht kennt?

Wenn sie die Hütte verließ, kam es ihr immer öfter so vor, als sei sie ein aus der Zeit gefallenes Faktotum, ein spuk unter all den biegsamen, sonnengebräunten, von der Arbeit und der Zukunft geformten Körpern. Ohne diesem neuen Seelenzustand schon einen medizinisch fasslichen, gar scharfkantigen Namen geben zu können, was sie manchmal ebenso bedrängte wie der noch namenlose Zustand selbst.

Bis auf die Zeiten mit Shoshana, mit ihr war es etwas anderes.

Jedes Mal, wenn sie an die Neue in Sde Boker denken musste oder hoffte, sie noch einmal wiederzusehen, spürte sie, wie ihr Herz höherschlug.

Aber auch dieses Wunder würde verblassen. Jeden Tag erwartete sie, dass die Hütte am Ende des Dorfes verlassen wäre, vielleicht von neuen Pionieren bewohnt, und Shoshana endgültig gegangen.

Es war nicht ihre Idee gewesen, in diesen menschenleeren Teil des Landes zu ziehen, der weit über die Hälfte des von löcherigen Grenzen umschlossenen Staatsgebietes ausmachte.

Sie wohnten in Tel Aviv, als sie ihren Mann in seinem Arbeitszimmer im ersten Stock ihres Hauses aufgesucht hatte, gelegen am von knorpeligen Bäumen gesäumten, aufs Meer zuführenden Keren-Kayemeth-Boulevard im Norden der Stadt. Nicht weit von der sich mit jedem Sommer mehr und mehr aufrüschenden Strandpromenade entfernt. In den Nächten lauschte sie hinter dem halb geöffneten Fenster ihres Zimmers dem leisen, einem geheimen Taktstock gehorchenden Kommen und Gehen der Wellen; es erfüllte sie mit einer ziellosen Sehnsucht, und sie sah sich mit Sonnenhut und wehendem Schal an der Reling eines Ozeandampfers stehen und in die verheißungsvolle Ferne blicken.

Er sah auf, als sie ihm eine Karaffe mit Wasser und ein Glas hinstellte. Sie konnte in seinen Augen lesen, dass er etwas auf dem Herzen hatte, oder besser: wieder einmal in ihm etwas gärte, was sie (oft mit dunklen Vorahnungen) seine Ideen nannte. Was würde es diesmal sein?

Noch war im Raum alles wie immer, und sie hätte diesen Moment der (ja, trügerischen) Stille gern festgehalten. Notizbücher, empfangene oder niemals abgeschickte Briefe bedeckten seinen Schreibtisch, dazu Bücher, Landkarten, Broschüren, Pamphlete, Kampfschriften, Akten, Fotobände und wie immer die neueste Ausgabe des Katalogs der Oxforder Buchhandlung Blackwell, bei der er oft und zu viele Bücher bestellte, meist hinter ihrem Rücken und mit Geld, von dem sie nicht wusste, wo es herkam. Kaum eine freie Fläche war zu erkennen, sie fragte sich wieder einmal, wo er eigentlich schrieb, wenn er schrieb.

Das ihm angetragene Projekt, eine Schreibmaschine zu bändigen und für den Zweck des Verfertigens von Sätzen zu nutzen (hatte sie ihm einst doch eine schwarze, eigentlich jeden Textbesessenen demütig werden lassende amerikanische Underwood-Maschine ins Haus geschleppt), war umgehend gescheitert. Nach wenigen Tagen entdeckte sie das Gerät, einem sterbenden Tier gleich, auf dem Boden unter einem großen Karton wieder. Sie hatte die Maschine daraufhin einer jungen Mitarbeiterin Ben-Gurions gegen Abtransport überlassen mit der Auflage, gelegentlich für sie Schreibarbeiten zu übernehmen. Gekommen war es dazu nie.

Nur ein menschliches Wesen hielt sich aufrecht und erhobenen Hauptes in den weißen Wogen aus Papier, der große (und von ihm fast kindlich verehrte) Albert Einstein, in einem hölzernen Bilderrahmen hinter Glas in Sicherheit gebracht, mit ergrauender Mähne die längst weiße Mähne Ben-Gurions betrachtend, wenn dieser sich an den Schreibtisch setzte. Und stets vor seinen wachen Augen das, was einem geordneten Geist wie dem seinen einem Verrat an der Schönheit des von ihm entschlüsselten Kosmos gleichkommen musste.

Dann kam, was kommen musste, wenngleich sie mit der Größe und Wucht dieser neuen Idee nicht gerechnet hatte.

»Das ist es«, sagte er und hielt eine von ihm mit dünnem Bleistift angefertigte Skizze über Einsteins Schopf hinweg in die Höhe.

»Was soll das sein?«

Sie trat näher. Auch wenn sie die Ahnung überkam, dies könne der Grundriss eines Hauses sein (und nicht, wie sie für einen Moment hoffte, der Schaltkreis einer neuartigen Waschmaschine oder der Konstruktionsplan für ein Gerät zur Herstellung von Kunstdünger), beschloss sie, sich für einen weiteren rettenden Moment unwissend zu stellen.

»Kann nichts erkennen, was der Rede wert wäre«, sagte sie.

»Das ist unser Haus.« Noch immer hielt er das Papier in die Höhe.

Sie schob die Brille hoch, beugte sich über den Zettel, den ihr Mann jetzt vor sich auf den Tisch legte und mit der flachen Hand glatt strich.

»Ich sehe kein Haus«, sagte sie (auch wenn es nicht stimmte). »Und wenn da eines sein soll, möchte ich darin nicht wohnen.«

»Es wird dir gefallen.«

»Es gefällt dir. Alles, was ich auf dem Zettel mit etwas Fantasie ausmachen kann, ist ein Arbeitszimmer und eine Bibliothek. Und ein paar Hühnerkäfige drum herum.«

Vielleicht sollte sie einfach wieder gehen, hielt aber noch einmal inne.

»Wo soll denn dieses Haus stehen?«

Er schien auf dieses Stichwort gewartet zu haben.

»Im Negev, unserer Wüste.«

»Nix da.«

Aber jetzt war er bei seiner Sache, und wie ein Flugzeug, das ab einem bestimmten Punkt den Start nicht mehr abbrechen kann, trug es auch ihn, wieder einmal den Auftrieb einer Idee unter den Flügeln seines Geistes (und seines unbändigen Willens), in die Höhe und von ihr davon.

»Die Zukunft des Landes liegt genau dort, in der Wüste. Wir werden einen Garten daraus machen. Der Kibbuz Sde Boker nimmt uns auf. Nur noch Paula und David werden wir dort sein, Gleiche unter Gleichen. Wir werden auf dem Land arbeiten und für alle jungen Leute ein Beispiel sein.«

»Ich will aber kein Beispiel sein«, sagte sie.

In nahezu jedes Land hätte man sie schicken können, solange es über fließend Wasser, Heizungen, Kühlschränke und eine vernunftgesteuerte Regierung verfügte (also eigentlich keines). Aber nicht in die Wüste. Und nicht in einen Kibbuz am Ende der Welt, wo es im Winter kühl und im Sommer zu heiß war, wo sich Schakal und Geier Gute Nacht sagten und ihre Kinder und Freunde fern waren.

»Noch bist du der erste Angestellte dieses Landes.«

Sie wusste, es war der Versuch eines letzten Ausfallschrittes.

»Mit dem Regieren bin ich durch. Ich will nicht mehr. Dort liegt mein Rücktrittsschreiben«, sagte er und wies mit dem Finger auf ein Papier, das er neben dem Schreibtisch auf einen Stuhl gelegt und mit drei wund gelesenen Bänden von Heinrich Graetz’ elfbändiger Geschichte der Juden beschwert hatte (von denen er immer einmal wieder Exemplare als Briefbeschwerer oder Türhalter durchs Haus schleppte, irgendwo deponierte und dann ihren Ort vergaß).

»Ohne mich«, sagte sie und machte auf dem Absatz kehrt.

Er seufzte, faltete das Papier wieder zusammen, und doch war ihr klar, für ihn war die Sache beschlossen.

In den vergangenen Wochen hatte sich in ihrem Inneren ein Wort eingeschlichen, das zu bannen ihr nicht mehr gelingen wollte: Verrat.

Verrat an sich selbst, an ihren Kindern, ja, an der Frau, die sie einmal gewesen war. Sie hatte am Ende (wieder einmal) Ja gesagt, wo sie hätte Nein sagen sollen.

Wann hatte all das begonnen? Und warum drang all das Gewesene, Vergangene, Nicht-mehr-Veränderbare gerade jetzt mit solcher Vehemenz auf sie ein, in dieser späten Etappe, dem Epilog ihres Lebens? Einer Phase, in der sie sich – ja, sie! – plötzlich wehrlos fühlte wie kaum zuvor. Oder war diese Empfindung nur als ein Warnzeichen zu lesen, gab es einen Weg hinaus, den zu finden es noch immer möglich war? Aber wohin würde er sie führen?

Sie hätte vielleicht die Zeichen früher lesen sollen.

Es war kaum eine Woche her, da war sie nach einer weiteren schlaflosen Nacht vor dem Telefon im Flur hin- und hergelaufen, hatte schließlich die Nummer gewählt, die ihr als erste einfiel. Sie hätte jedes ihrer drei Kinder anrufen können, auch Amos oder Renana. Aber es war Geulas Nummer, die sie wählte, und während sie darauf wartete, dass ihre Älteste abnahm, wurde ihr klar, dass es kein Zufall war. Bei jedem anderen hätte sie einen Grund nennen müssen, warum sie so mitten am Tag zum Hörer griff (wo sie doch das Telefon, von den Kibbuzniks hier draußen immer noch als Segen gefeiert, inzwischen als »eine Erfindung zu viel in meinem Leben« bezeichnete).

Sie hätte keinen nennen können. Oder wenn doch, hätte sie vielleicht nicht wieder aufhören können zu sprechen.

»Schalom«, hörte sie nach einem Knacken am anderen Ende der Leitung.

Sie spürte einen Kloß im Hals.

Als sie nicht sofort antwortete, sagte Geula:

»Ima? Bist du es?«

»Dich wollte ich eigentlich gar nicht anrufen«, sagte sie.

»Wen denn?« Wieder die vertraute Stimme, gefolgt von einem kurzen Lachen.

»Rahel, ich wollte sie nach einem Rezept fragen … aber jetzt, wo ich dich …«

Sie brach ab, hörte nur das dunkle Surren der Leitung.

»Ist alles in Ordnung, Ima?«

Dann hatte sie den Moment verpasst, für den sie doch zum Hörer gegriffen hatte.

»Ja, mein Kind. Alles ist in Ordnung«, hörte sie sich sagen.

Sie hob den Kopf, lauschte. Noch immer war ihr Mann nicht zurück. Sollte sie aufstehen und ihn wieder in sein Zimmer lotsen? Aber es war klüger, mit der ihr verbliebenen Kraft hauszuhalten. Der Tag würde noch lang werden.

Die Hunde hatten sich endlich beruhigt. Warum kam er nicht wieder ins Haus? Vielleicht würde sie dann doch noch einmal Schlaf finden.

Wumms. Die Tür. Er werde die Haustür ölen, hatte er immer wieder gesagt, die Feder nachjustieren, heute noch. Heute noch, nur nicht heute. Sie hätte die Sache selbst in die Hand nehmen sollen. Dann Schritte im Flur. Der Klodeckel ging hoch. Sie hörte die Spülung, den Wasserhahn. Den schlurfenden Schritt.

Sie drehte sich auf die Seite, jetzt zur Wand hin, eine Hand nach vorne gestreckt, als fände sie dort Halt.

»So ein Quatsch«, dachte sie noch. Dann war sie wieder eingeschlafen.

Gegen sechs wachte sie wieder auf. Zwei Traktoren verließen mit scheppernden Anhängern den Hof. Aus dem gemeinschaftlichen Speisesaal wehte der Geruch von schmalbrüstigem Kaffee und gebratenen Eiern herüber. Im Haus war es noch still und kühl. Die Sonne kletterte am Fenster hoch, zeigte sich hinter den Vorhängen, es war Anfang Mai, an sich die schönste Zeit des Jahres.

An sich.

Sie hätte sich auf die Zehenspitzen stellen müssen, um aus dem Fenster blicken zu können. Aber dazu hieß es: aufstehen. In ihrem Haus waren die Fenster höher angebracht als in all den anderen Häusern im Kibbuz. Jehoshua, Ben-Gurions Bewacher, und die Leute vom Ministerium und der Polizei hatten das festgelegt, niemand sollte hineinblicken können. Zu ihrem Schutz, hatten sie behauptet.

»Hätte man auch ein Gefängnis draus machen können«, hatte sie zu ihrem Mann gesagt, an jenem Tag vor vielen Jahren, als sie das erste Mal vor dem noch im Bau befindlichen Haus gestanden hatte, wenige Wochen vor dem ersten Umzug und den langen Monaten der Einsamkeit. Bis es Ben-Gurion doch wieder nach Tel Aviv zog, er erneut die Regierung übernahm.

Sie schlug die Decke zurück, mit etwas zu viel Schwung, aber mit weniger Effet wäre die Decke liegen geblieben, und sie auch.

Irgendwann hatte sie für sich die Regel aufgestellt, nicht nach Wecker und selbst gesetzten (und damit nach Willkür riechenden) Zeitvorgaben aufzustehen, sondern nur einer einzigen zu folgen, nämlich vor ihrem Mann in der Küche zu sein

»Mit mindestens einer sollte man den Tag beginnen, sonst wird er nichts«, hatte ihre Antwort gelautet, wenn jemand sich bei ihr (mitleidig oder bewundernd) nach dieser ersten Regel des Tages erkundigte. Wobei sie das Mitleid stets für schlecht getarnte Verachtung hielt, Bewunderung hingegen grundsätzlich für eine Lüge oder bestenfalls für Berechnung.

Niemand bewunderte sie, und sie bewunderte niemanden. Das war die Wahrheit.

Nur hatte diese Regel, die über so viele Jahre nichts von ihrer Macht eingebüßt hatte, so als hätte sie sich ein für alle Mal in Körper und Seele und diesem ganzen Kuddelmuddel dazwischen eingebrannt, in letzter Zeit zu schwächeln begonnen. Um es genauer zu sagen: Sie kam morgens nicht aus dem Bett. Oder nur mit einer Kraft, von der sie sich fragte, wo sie zukünftig noch herkommen sollte.

Sie stellte beide Füße parallel auf den Boden. Immerhin, sie saß. Im Zimmer nebenan war noch Stille. Jetzt vernahm sie das Klappern von Geschirr, hörte in der Ferne Stimmen, Lachen. Die Leute, die aufs Feld hinausgingen, hatten ihr Frühstück beendet und brachen auf.

Im Anschnitt entdeckte sie ihr Profil in dem aufgeklappten kleinen Spiegel des Frisiertisches. Er war ein Witz gegenüber dem großen Spiegel in ihrem Elternhaus, damals in Minsk.

»Bin ich schön?«, hatte sie eines Abends Raisa, ihre ältere Schwester, gefragt und sich mit klopfendem Herzen im Schlafzimmer ihrer Eltern in dem neuen Kleid vor dem großen Spiegel gedreht. (Für sie war es neu und aufregend gewesen. Für Raisa, die in den vergangenen Monaten unaufhaltsam gewachsen war, war es das alte; Mutter hatte Raisas Kleid an sie, die jüngere, brillenschlangige Penina, weitergereicht.)

Die Fahrt zum Fest im Haus von Onkel Mordechai war nicht weit. Die Juden in Minsk wohnten dicht beieinander. Es war vom Staat festgelegt, wo Juden sich niederlassen durften, vor allem in den Städten des Landes. Selbst bei größeren Festen trafen meist Juden nur auf Juden.

Onkel Mordechai war zu Geld gekommen und hatte ein großes Haus. Musiker würden auftreten, der Onkel würde eine seiner schwermütigen Reden über das Leben und die Zukunft der Juden in Weißrussland und seiner Hauptstadt Minsk halten, es würde trotz des Onkels düsteren Prophezeiungen viel gelacht werden und an einer langen Tafel Dinge zu essen geben, die sie noch nie gekostet hatte. So jedenfalls hatte Raisa sie auf das Ereignis eingestimmt und sich nach dem Ankleiden neben sie vor den Spiegel gestellt.

»Das Kleid steht dir besser als mir«, sagte sie und betrachtete ihre jüngere Schwester. »Dreh dich einmal.«

Sie tat es und machte am Ende einen Knicks oder was sie dafür hielt. Sie stemmte die Arme in die Taille. Ihre Wangen glühten.

»Vielleicht bekomme ich auch so schöne Brüste wie du. Wenn ich es nur häufig genug trage«, sagte sie.

»Ach, Peni, wünsch dir was Besseres.«

Sie ging näher an den Spiegel heran, schob die aus Draht gefertigte Brille zurecht.

»Wenn nur dieses Miststück nicht wäre. Ein Stacheldraht mitten in meinem Gesicht.«

Es war die Zeit vor dem Aufbruch, Dimitri würde bereits vor dem Haus angespannt haben. Aus dem Flur wehte das Eau de Toilette ihrer Mutter herein, sie hörte, wie sie der Kinderfrau für die kleinen Geschwister, die zu Hause bleiben würden, letzte Anweisungen gab. Vater war schon auf dem Weg nach unten.

Vor ein paar Tagen noch hatte er beim Onkel für die Familie Munweis, für sie, ihre Eltern und die beiden Töchter, absagen wollen. Es hatte wieder Pogrome gegeben, diesmal in Gomel, Retschyza, Orscha, Polozk und sogar in Minsk. Juden wurden geschlagen, aus ihren Häusern gezerrt, auf offener Straße ermordet. Er wollte die jüngeren Kinder nicht im Haus mit der Behüterin allein lassen, auch die Aussicht auf die nächtliche Heimfahrt hatte ihm nicht behagt.

»Immerhin haben sich die Juden gewehrt und selber Waffen in die Hand genommen. Sonst wäre es noch schlimmer gekommen«, hatte er beim Mittagessen gesagt, und mit diesem Satz war wieder Hoffnung aufgekommen, dass sie doch fahren würden. Am Ende hatte Onkel Mordechai auf dem Besuch bestanden, und so war dieser Abend für sie gerettet.

Raisa legte ihr die Hand auf die Schulter, in der anderen die Haarbürste.

»Wenn man so klug ist wie du, muss man eine Brille tragen«, sagte sie.

»Ich will aber nicht klug sein.«

»Das kann man sich nicht aussuchen, Peni. Wie die Brüste.«

Raisa legte die Haarbürste weg, hob das Kinn.

»Ich halte mich an das, was ich mir aussuchen, was ich selbst bestimmen kann. Das ist immer noch genug. Und wenn wir Frauen uns anstrengen, wird es immer mehr werden. Wenn ich mir das vorstelle, geht es mir gleich besser.«

»Meinst du das im Ernst?«

»Klar. Du siehst auch schon aus wie eine kleine Revolutionärin.«

»Eine was?«

»Erklär ich dir später. Jetzt gehen wir feiern. Komm, Peni, setz ein anderes Gesicht auf. Du bist hübsch und klug, und jeder wird es heute Abend sehen.«

Gleich würde Ben-Gurion auftauchen. Die erste Mahlzeit des Tages konnte nur sie richtig zubereiten, und dies zu Hause. Wie eigentlich und bei Licht besehen in Angelegenheiten des Essens nur sie wusste, was gut und vor allem gesund für ihn war. (Wie oft hatte sie bei Staatsbesuchen ihres Mannes im Ausland das von ihr zubereitete, stets schlichte wie kraftvolle Essen ins Flugzeug bringen lassen, damit er nicht mit der die Menschen krank und wirr machenden Bordküche in Berührung kam; einmal musste sie den Chefpiloten der ELAL wenige Stunden vor dem Abflug am Telefon bedrohen, damit er für Ben-Gurion noch frischen Salat an Bord bringen ließ, den sie vergessen hatte, ohne dass ihr Mann jemals ihre geheime und dennoch dem Staatswohl dienende Regie mitbekommen hätte. Aß dieser doch unbesehen, was auf den Tisch kam. Es war zum Verzweifeln.)

Gegessen wurde an dem kleinen Tisch in der Küche der Hütte, der gerade mal zwei Menschen Platz bot. Eigentlich saß da am Morgen nur einer, ihr Mann.

»Man kann nicht gleichzeitig dahocken und Verantwortung übernehmen«, hatte sie einmal zu ihm gesagt, aber er war auf diese Stichelei nicht eingegangen.

Manchmal jedoch ließ es sich nicht umgehen, dass sie für die Mahlzeit den Gemeinschaftssaal aufsuchten, vor allem wenn ihr Mann der Auffassung war, dass sie sich den Genossen und Genossinnen wieder einmal zeigen müssten.

Meist am Abend suchten sie den Weg zum Speisesaal, der ebenso Festsaal, Tanzsaal, Versammlungssaal und Kultursaal war. Oder auch Saal heftiger politischer Debatten über die Zukunft des Landes, seine unklaren Grenzen, seine nicht vorhandene Verfassung, seine Armee, das verpfuschte Wahlrecht, die Rolle der Minderheiten, der Einfluss der Ultrareligiösen und des allzu mächtigen Rabbinats, die Rechte der Araber und die Rolle des geteilten Jerusalem in diesem wackeligen, winddurchlässigen Konstrukt, das sich Israel nannte, auf die Kante genäht zwischen Europa und dem Orient.

Eigentlich war in diesem Land nichts wirklich geklärt, und oft beschlich sie der Verdacht, dass dies noch lange so bleiben würde.

Immerhin hatte man damit genug Themen, über die man sich die nächsten einhundert Jahre streiten konnte.

Es war erst wenige Tage her, da hatten sie am Abend in dem Saal gesessen, der nichts anderes war als ein langer, schlichter, von wenigen Fenstern durchbrochener, mit einfachen, weiß gescheuerten Holztischen ausgestatteter Raum. Sie waren die Letzten im Saal. Ben-Gurion stocherte in seinem Salat und einem mit der Gabel zerdrückten, hart gekochten, mit Tahini beträufelten Ei, dazu hielt er ein von ihr mit der Hand abgewogenes Stück Brot in der Hand. Sie selber wollte nichts essen.

Mürrisch hockte er vor seinem Teller, weil sie zu spät aufgebrochen waren, um sich und ihren Gemeinschaftssinn wirksam zu präsentieren. Und weil auch das Essen für ihn kaum mehr war als eine lästige Unterbrechung seiner nicht enden wollenden Lektüre und seines neuen Vorhabens, das ihn auszufüllen und zu besetzen schien wie schon so viele Vorhaben zuvor: sein Leben aufzuschreiben und dieses irgendwann zwischen zwei Buchseiten zu kleben. Nur sah sie ihn fast nie schreiben, immer nur Papiere sammeln, horten, stapeln, lesen, sie von einer Ecke in die andere tragen, Briefe, Protokolle, Zeitungsausschnitte, Tagebuchnotizen, Fotos, Statistiken zu Militär, Landwirtschaft und Ökonomie dieses kleinen Landes, das es ohne ihn nicht gäbe. (So nicht gäbe, hatte sie einmal zu ihm gesagt, auch ohne dich wäre dieser Staat nicht zu verhindern gewesen. Sie sah, wie sich seine Augenbrauen zusammenzogen, während er ihr mit der über die vielen Jahre erlernten Routine, auf bestimmte Äußerungen nicht zu antworten – nicht antwortete. Aber sie hatte es gesagt.)

Irgendwann auf halber Strecke legte er die Gabel auf den Tisch und blickte zur Tür.

»Mir reicht’s«, sagte er.

Er solle ruhig schon gehen, sagte sie. Sie würde sein Geschirr zum Becken für das schmutzige Geschirr tragen, das, wie immer nach dem Essen der Kibbuzniks bereits übervoll, kaum noch Platz bot. Also Direkttransport in die Küche.

Und danach, wenn er schon wieder in Richtung seines Refugiums unterwegs war, würde sie (fast kam es ihr vor, als hätte sie vor, fremdzugehen) einen Gang durch die Siedlung machen, die die Tageswärme noch in sich trug und über der sich ein rötlich schimmernder Abendhimmel spannte.

Sie wusste, wohin sie dieser Gang führen würde, ganz an den südlichen Rand dieses sozialistischen Dorfes. Zu der Hütte, in der die Neuen wohnten, die auf Probezeit hier waren, bevor sie wieder gingen oder – was ebenso oft vorkam – blieben und Mitglied der Gemeinschaft wurden.

»Alles gerammelt voll«, sagte sie zu Dov, der in dieser Woche Küchendienst hatte, stellte das Tablett mit Teller und Besteck ihres Mannes auf die freie Fläche neben dem Herd. Dov, der eigentlich ein Experte für Bewässerung war, dort draußen eine Art Chef, wenn es hier so etwas gäbe, blickte kurz und etwas sauertöpfisch auf. Auch wenn er so miesepetrig, brudik, guckte, sie mochte ihn. Vielleicht gerade deswegen. Vielleicht auch nur, weil dieser Grimm so gar nicht zu seinem Äußeren passen wollte. Er war klein wie sie, voller Muskeln, blies sich immer wieder den dunklen, dichten Haarschopf aus dem Gesicht und war so lachhaft jung, dass sie ihn fast gefragt hätte, ob seine Eltern von seinem Leben hier wüssten und dazu Ja gesagt hätten.

»Du hast nichts gegessen, Paula?«

»Da ist schon genug schmutziges Geschirr.«

»Auf eins mehr oder weniger kommt es auch nicht mehr an. Deines hätte ich gern genommen.«

Fast wäre sie errötet. Dov war einer der wenigen jungen Pioniere, die mit ihr sprachen wie mit einer nahezu Gleichaltrigen, nicht wie viele der anderen, die ihrem Mann und ihr mit einer fast komischen, in diesem rohen Land völlig unüblichen Distanz begegneten. So, als würden sie jeden Tag wieder mit der Tatsache aufwachen, dass der alte Staatsgründer und seine Frau sich in ihrer Mitte niedergelassen hatten, nun zwei von ihnen waren und sein wollten. Ob sie ihrerseits es wollten oder nicht.

»Hab keinen Appetit«, sagte sie. Ein Satz, den sie an vielen Abenden hätte sagen können.

»Oder ist es die Aufregung?«, sagte Dov und sah sie mit einem wissenden Lächeln an.

»Blödsinn, wieso das?«

Sie hatte schnell verstanden, worauf er anspielte, aber sie wollte nicht zu erkennen geben, dass er vielleicht recht hatte. Zudem wäre Aufregung auch dann das falsche Wort.

»Geht es dir nicht auf den Senkel, schon wieder dieses ganze Brimborium, die Polizisten, Assistenten, Journalisten, Fotografen, dieser ganze Tross, der da bald heranwalzt?«

Dov hatte nicht lockergelassen und tatsächlich den Nagel auf den Kopf getroffen, wenngleich sie sich nicht sicher war, was das mit ihren Senkeln zu tun hatte (die sie ohnehin kaum trug).

Sie seufzte.

»Nach dem letzten großen Besuch aus dem Ausland war alles hin. Habe die Blumen neu pflanzen, die Beete richten und den Rasen neu anlegen müssen. So ein Schlamassel. Als hätte man eine Herde Maultiere durch meinen Garten gescheucht, einmal hin und einmal zurück.«

»Verstehe«, sagte Dov und stieg in seinen Gummistiefeln in einen der großen Töpfe, um von innen einen der Griffe festzuschrauben, der sich gelöst hatte.

»Der nächste Gast ist natürlich wieder ein ganz besonderer«, sagte er.

»Das denken sie alle.«

Dov sah sie an, als erwartete er noch einen weiteren Satz von ihr. Sie wollte ihn nicht enttäuschen.

»Wieso soll der nun so besonders sein?«, sagte sie. Jetzt wollte sie doch wissen, was der junge Mann mitbekommen und was der ihre vielleicht erzählt hatte. Wo er doch eigentlich nie etwas erzählte.

»Deborah hat den Mund nicht halten können. Der War-mal-Kanzler aus Dunkel-Deutschland, der alte, lange. Kommt aber nur für einen Tag. Es ist der letzte auf seiner Reise«, sagte er.

Klar, Deborah war in diesem Jahr die Sekretärin des Kibbuz, zuständig für allen Schriftkram, die Buchhaltung, die Finanzen (stets dürr wie ein ausgetrockneter Wadi), Versammlungsprotokolle und die Wochenplanung, natürlich musste sie mitbekommen haben, was ins Haus stand. Nur, dass es vor allem ihr ins Haus stand.

Sie hatte es immer wieder wegschieben können, jetzt stellte der kleine Dov es ihr vor die Augen.

Es war Zeit, das Gespräch zu beenden und sich auf die Socken zu machen.

»Wer zu uns kommt, muss auch wieder gehen«, sagte sie und watschelte aus der Küche.

Warum hatte sie diesen Satz gesagt? Sie hätte wissen müssen, dass man, jedenfalls sie, ihn nicht ungestraft aussprechen konnte.

Sie beschleunigte den Schritt. Ihr Herz pochte.

Die Dunkelheit begann sich herabzusenken und tauchte die schroffen, wie aus Bernstein gegossenen Berge in ein sanftes, alle Konturen abschleifendes Licht. In der Ferne blökten die Schafe, aus den Häusern drangen Stimmen, Lachen, aus der offenen Tür kam der Geruch von Zigarettenqualm. TIME hieß die neue Marke, die zu ergattern noch immer etwas Besonderes war, hatte sie sich berichten lassen. Und einmal, bei einer größeren Versammlung, war sie fast versucht gewesen zu sagen, ich probier mal eine. Ebenso schnell war ihr klar geworden, dass zwischen Wunsch und Wunscherfüllung ein tiefer, breiter Graben lag, den zu überspringen nicht ungefährlich war. Vor allem dann, wenn der Wunsch ein lächerlicher, ohne große Anstrengung zu enttarnender war. Aber auf dem Weg durch den Kibbuz sog sie den neuen Duft ein, und ja, sie mochte ihn.

Unmittelbar vor dem um die Siedlung gezogenen Zaun, abseits von den anderen, stand die Hütte, die ihr Ziel war. Als eine der ersten vor vielen Jahren gebaut, wirkte sie inzwischen ein wenig ramponiert und schäbig. Die Farbe war abgeblättert, die Fensterrahmen abgestoßen, das vom Dach herunterführende Abflussrohr endete auf halber Strecke, um den kleinen Streifen Grün vor dem Haus schien sich keiner zu kümmern.

Nur eine von kundiger Hand angelegte Sonnenuhr vor dem Haus fiel aus dem Ensemble der Achtlosigkeit heraus und erweckte ihre Neugierde. Sie vermochte nicht zu ergründen, was es mit dieser Uhr im Sand auf sich hatte. Sie würde Shoshana bei nächster Gelegenheit darauf ansprechen.

In der Hütte am Rande des Kibbuz wohnten diejenigen jungen Männer und Frauen, bei denen noch offen war, welchen Status sie einst haben würden. Ob man sie in die Arme nehmen sollte (um sie dann in den Schafstall zu schicken) oder nie wiedersehen würde, weil sie die Gemeinschaft verließen. Ein Provisorium im Provisorium, hatte sie oft gedacht.

In den vergangenen Tagen, meist wie jetzt in den Abendstunden, war sie immer wieder hierhergelaufen. Unbeobachtet, hoffte sie, und jedes Mal überkam sie eine mit jedem Schritt wachsende Angst, die abstreifen zu können nahezu der einzige Grund war, warum sie sich in diesen letzten Winkel aufmachte.

Nun war sie auf Höhe des Hauses, es galt jetzt, es zu passieren, ohne stehen zu bleiben, um sich nicht der Frage auszusetzen, was die angejahrte, vom Atem der Geschichte umwehte Frau nur bei diesen ganz Jungen, Unausgegorenen und am Ende gar Unzuverlässigen suchte.

Auch ein Kibbuz, strich man all seine Ideale und laut vorgetragenen Selbstzuschreibungen einmal ab, war ein Dorf, lebte von Klatsch, Tratsch und Stille-Post-Nachrichten, die mit jeder Station weiterwuchsen, oft ins Unermessliche. So erzählte man sich die Geschichte, ein von vorbeiziehenden Beduinen an einem langen, bunt gewirkten Strick mitgeführtes, zweifellos männliches Dromedar habe an einer Wasserstelle vor den Augen einiger Schaulustiger einen Esel bestiegen, sich jedoch nach vollbrachter Tat nicht wieder aus dem Tier lösen können. Trotz aller Versuche, die zuerst zum Geschrei des Esels (Schmerz), dann des Dromedars (Verzweiflung), dann der Umstehenden geführt hätten, was schließlich in Ermunterungsrufe übergegangen sei. Und als auch diese nicht geholfen hätten, habe nur der beherzte Griff eines jungen Hirten die beiden Opfer der Lust voneinander trennen können.

Sie hatte die Geschichte nie geglaubt, und als beim Abendessen im Gemeinschaftssaal wieder mal einer diese einigermaßen unappetitliche Episode rausposaunen wollte (jetzt war es ein mitgeführter Elefant und ein Hund, was ihre Unglaubwürdigkeit endgültig dokumentierte), hatte sie geschnaubt und gesagt: »Ihr habt doch alle einen Vogel.«

Sie verlangsamte den Schritt und atmete mit einem Seufzer der Erleichterung aus. Das Fenster, dem ihre Blicke galten, war geöffnet, dahinter funzelte das Licht einer Petroleumlampe. Aus dem Zimmer wehte der Klang einer Gitarre heraus. Dann gesellte sich eine Stimme dazu, hell, warm und klar.

Sie wusste nicht, was sie da hörte, nur dass es Musik war, die ihr, warum auch immer, gefiel. Vielleicht nur deshalb, weil sie so sehr gehofft hatte, diese Stimme noch einmal zu hören. Fast wäre sie nun doch stehen geblieben und hätte auf das Fenster gestarrt und den Klängen gelauscht.