Pepe und der Oktopus auf der Flucht vor der Müllmafia - Stepha Quitterer - E-Book

Pepe und der Oktopus auf der Flucht vor der Müllmafia E-Book

Stepha Quitterer

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Beschreibung

Mitten in der Nacht passiert Unglaubliches: Ein zitternder, bibbernder Oktopus flüchtet sich zu Pepe ins Zimmer! Der Oktopus kann zwar nicht sprechen, aber über Farben und Formen kommunizieren. Und Pepe findet schnell heraus, dass es sich bei seinem neuen Freund um den ranghöchsten Diplomaten der Welt-meere handelt: Er soll in Europa ein generelles Plastikverbot bewirken. Doch die Müllmafia ist ihm dicht auf den Tentakeln und will genau das um jeden Preis verhindern. Der Oktopus braucht Hilfe – Pepes Hilfe! Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt. Dass ihre Flucht sie durch die halbe Welt bis ans Südchinesische Meer führen wird, kann Pepe noch nicht ahnen … Ein fast nicht erfundener Umweltkrimi, ein rasanter Roadtrip von hier bis China und die Geschichte einer außergewöhnlichen Freundschaft.

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Für alle, die die Meere schützen

Die Arbeit der Autorin am vorliegenden Buch wurde vom Deutschen Literaturfonds e.V. gefördert.

1

Eine Nacht in Hamburg

Es war das Quietschen bremsender Reifen, das Pepe aus dem Tiefschlaf riss. Mehrere Autos bremsten unten auf der Straße, direkt vor Pepes Haus. Die schwarzdunklen Mondschatten an seiner Zimmerdecke wurden vom hellen Auf- und Abblitzen eines Blaulichts erleuchtet. Polizei? Pepes Herz klopfte wie wild. Was war dort unten los? Er lag mit weit aufgerissenen Augen auf dem Rücken in seinem Bett, als könnte er mit aufgerissenen Augen besser hören, was unten vor sich ging. Autotüren wurden geöffnet. Schwere Stiefel trappelten über den Asphalt. Sie trappelten leise. Ganz so, als würden mehrere Gestiefelte möglichst lautlos in Verstecke verschwinden. Dann wurde es still.

Und in die Stille hinein, Pepe hörte es deutlich, gab es ein hartes Klacken. Ein Klacken, das Pepe aus Filmen kannte. Er hielt vor Angst den Atem an. Denn dort unten hatte man gerade schwere Pistolen entsichert.

»Wo ist er hin?«, rief jemand mit unterdrückter Stimme.

»Keine Ahnung«, rief jemand ebenso leise zurück.

»Er darf uns nicht entwischen, Männer!«, befahl eine dritte, eine schnarrige Stimme.

Wieder hörte Pepe Getrappel, als würden die Gestiefelten ihre Stellung ändern. Was war dort unten los? Wer durfte nicht entwischen? Pepe war neugierig, obwohl er magenbeißende Angst hatte. Sein Bett stand direkt unterm Fenster. Ob er es wagen und einen Blick nach unten werfen sollte? Vorsichtig kroch er ans offene Fenster und lugte hinunter. Die Sommernacht wischte ihm lau übers Gesicht. Unten standen sechs schwarze Limousinen. Ihre Schweinwerfer rissen glotzende Löcher in die Dunkelheit, auf den Autodächern kreisten stumm gespenstische Blaulichter. Die Autotüren standen offen wie gespreizte Drachenschuppen. Hinter jeder Schuppe hielt sich ein Gestiefelter in schwarzer Uniform in Deckung und zielte mit einer Maschinenpistole auf den Gulli inmitten der Straße.

Pepes Herz schlug jetzt so heftig, dass ihm der Hals wehtat. Uniformen! Pistolen! Und Blaulicht auf schwarzen Limousinen – das war das Sonderkommando. Und wenn es das Sonderkommando war … dann musste es sich um einen extrem gefährlichen Schwerverbrecher handeln, der da wohl jede Sekunde den Gullideckel heben und zum Vorschein kommen würde. Pepe hätte vor Anspannung schreien können, aber er biss sich auf die Lippen und kroch ein Stück weiter über sein Fensterbrett. Er hatte das Sonderkommando noch nie in Aktion gesehen.

Ein Gestiefelter zielte nicht auf den Gullideckel, sondern leuchtete mit einer sehr starken Taschenlampe hinter seiner Autotürdeckung hervor und suchte die Umgebung ab. Der helle Lichtkegel huschte über die Straße, in die Hecke der Nachbarn, zu den Mülltonnen gegenüber und zu Pepes Haus. Suchend kroch das Licht die Hauswand hinauf – und erfasste Pepe.

»Da! Da! Da!«, rief jemand. »An der Hauswand!«

Pepe duckte sich – keine Sekunde zu früh. Eine Kugel pfiff durch die Luft und schlug mit einem dumpfen Pflorz in die Hauswand ein, keine Handbreit neben der Stelle, an der gerade noch Pepes Kopf gewesen war.

Pepe presste sich beide Hände vor den Mund. Am liebsten hätte er losgeheult wie ein Baby. War das gerade eine echte Patrone gewesen? Eine, die ihn erwischt hätte, hätte er nicht seinen Kopf zurückgezogen?

»Idiot«, schimpfte unten die schnarrende Stimme, »hab ich gesagt, dass du schießen sollst?! Wir brauchen ihn lebend, schon vergessen?!«

»Bin auch nicht sicher, ob er das überhaupt war …«, stotterte eine andere Stimme, »es sah mehr aus wie ein …«

»Ruhe! Kein Gequatsche jetzt!«, fauchte die schnarrende Stimme und sofort war es still. Die schnarrende Stimme gehörte wohl dem Kommandanten.

Pepe atmete heftig. Vielleicht hörte er deshalb nichts mehr von unten? Stille? Was taten die Gestiefelten? Was passierte da?

Plötzlich wurde Pepe am Arm gepackt.

Er schrie auf – und sofort wurde ihm der Mund zugehalten. Sein Schrei erstickte in einem dumpfen »Hmpf!« Pepe griff nach der fremden Hand über seinem Mund. Aber es war keine Hand, die Pepe zu fassen bekam.

Es war etwas Glattes, Feuchtes. Etwas, das jetzt den Klammergriff löste und auf eine höchste merkwürdige Art über Pepe hinwegglitt, wie etwas Gewelltes, sich Schlängelndes. Quallig war es und leicht, gleichzeitig schwer und fest – und es flüchtete sich ans andere Ende der Matratze, als hätte es sich vor Pepe mehr erschreckt als Pepe sich vor ihm. Dieses Etwas hatte acht Arme – oder waren es Beine? –, an deren Unterseiten runde Saugknöpfe violett leuchteten. In der Mitte, wo alle Arme zusammenkamen, hockte so etwas wie ein kleiner, umgestülpter Sack. War das sein Körper? Nein, es musste der Kopf sein, denn am unteren Saum, dort, wo die Arme anfingen, saßen zwei panisch weit aufgerissene Augen. Dieses Lebewesen, das auf Pepes Bett hockte, zitterte und ihn ängstlich anstarrte, bestand nur aus Kopf, Augen und Armen. Es war ein Tintenfisch.

Aber gehörten Tintenfische nicht ins Wasser?

Der Tintenfisch drückte sich in die Zimmerecke. Er war fast durchsichtig, so angstbleich war er, und wie er zitterte!

»Habt ihr diesen Schrei gehört?«, rief unten jemand.

Sofort legte sich der Tintenfisch die dünne Spitze einer seiner langen Tentakel auf die Stelle, an der bei Menschen die Lippen wären: mittig unterhalb der Augen. Auch wenn der Tintenfisch gar keine Lippen hatte, war die Geste deutlich: »Sei still«, schien er zu bitten, »verrat mich nicht.«

Aber Pepe war ohnehin stumm vor Schreck. Selbst wenn er gewollt hätte, er hätte nicht einen Mucks von sich geben können.

»Dann war doch er es, der die Hauswand hochgeklettert ist!«, rief unten jemand. »Er muss irgendwo eingestiegen sein!«

»Dann sucht er sich eine Geisel!«

»Im obersten Stock steht ein Fenster offen!«

Ob … Pepe wagte diesen Gedanken gar nicht zu denken, weil er ihm so absurd erschien. Ob dieser Tintenfisch etwa der gesuchte … Nein. Das Sonderkommando konnte unmöglich einen Tintenfisch jagen. Oder?

»Das ist … zwo, vier, der sechste Stock.«

Pepe fühlte sich, als würde ihm jemand den Magen auswringen. Im sechsten Stock wohnte er.

»Wir durchsuchen das Haus«, befahl die schnarrige Stimme.

Sofort trappelten die Stiefel und keinen Augenblick später klingelte es bei Pepe in der Wohnung Sturm.

Pepe sackte das Herz in die Schlafanzughose. Jetzt musste auch seine Mutter wach sein. Würde sie dem Sonderkommando die Tür öffnen? Was, wenn das Sonderkommando ihn zusammen mit diesem gesuchten Tintenfisch entdecken würde! Würde man ihn festnehmen? Einsperren, ins Gefängnis? Oder gleich … erschießen?

Der Tintenfisch musste sofort wieder raus aus seinem Zimmer!

Und vor allen Dingen: runter von seiner Matratze.

Ob er ihn einfach aus dem Fenster schmeißen konnte?

Aber der Tintenfisch schien seine Gedanken zu erraten, denn er schüttelte angstvoll den Kopf. Mit einem Tentakel wackelte er vor seinem Gesicht, als würde er einen Zeigefinger für »Nein« schütteln. Zwei weitere Tentakel hatte er verknotet, als würde er die Hände ringen.

»Aufmachen! Warum dauert das so lang!«, bellte der Kommandant unten. »Schlafen die etwa? Jungs: Tür eintreten!«

Der Tintenfisch drückte sich so sehr in die Ecke, dass er fast selbst zur Wand wurde. Tapetenweiß war er. Sein Körper hob und senkte sich wie eine Lungenmaschine.

»Du hast Angst«, murmelte Pepe leise. »Genau wie ich.«

Der Tintenfisch riss die Augen auf und nickte.

Tatsächlich. Er nickte.

Konnte dieser Tintenfisch etwa verstehen, was Pepe sagte?

»Du willst nicht, dass sie dich kriegen«, flüsterte Pepe.

Der Tintenfisch schüttelte entschieden den Kopf.

Ganz offensichtlich verstand dieser Tintenfisch die Menschensprache. Dass Tintenfische die Menschensprache, und von allen Menschensprachen ausgerechnet die deutsche, verstehen konnten, war Pepe neu. Was war das nur für ein ungewöhnliches Tier, das da bei ihm auf der Matratze hockte und vom Sonderkommando gejagt wurde?

Ein Krachen ließ sie beide erstarren. Die Uniformierten hatten unten die Haustür eingetreten. Sie waren im Haus. Und sie kamen die Treppe heraufgetrampelt, so laut, dass die Wände wackelten. Noch sechs Stockwerke, dann würden sie vor Pepes Wohnungstür stehen. Und kurz darauf in Pepes Zimmer.

Pepe schnappte nach Luft. »Warum suchen sie dich?«, fragte er schnell.

Der Tintenfisch hob seine Arme an, als würde er achtfach mit den Achseln zucken. Im Mondlicht funkelten seine Augen wie durchsichtiger Bernstein.

»Du musst doch wissen, warum das Sonderkommando hinter dir her ist!«, flüsterte Pepe eindringlich.

Aber wieder hob der Tintenfisch nur achselzuckend seine Tentakel. Ob er es nicht wusste? Oder ob er es nicht sagen wollte? Vielleicht konnte er es nicht sagen … natürlich. Der Tintenfisch konnte ja nicht sprechen, wie auch! Er hatte ja keinen Mund. Das wäre auch zu viel des Guten gewesen, ein sprechender Tintenfisch! Dass er Pepe verstehen konnte, war schon blanker Irrsinn. Also musste Pepe seine Fragen so stellen, dass der Tintenfisch mit Ja oder Nein antworten konnte: »Hast du was verbrochen?«

Der Tintenfisch schüttelte so energisch den Kopf, dass er an der Stirn rot anlief, als hätte ihm jemand eine Schale Himbeermarmelade über die glattweiße Glibberglatze gekippt.

Da donnerte es an Pepes Wohnungstür: »Aufmachen!« Wieder klingelte man Sturm.

Pepe brach der kalte Schweiß aus. Er hörte seine Mutter fluchend aus ihrem Schlafzimmer und durch den Flur zur Wohnungstür stolpern. »Ja doch, Himmelnochmal, ich komm ja schon!«

Pepe musste handeln, und zwar schnell. Nein. Schneller als schnell.

Nur wie?

Am besten, er warf den Tintenfisch wirklich einfach aus dem Fenster. Dann hatte er mit der ganzen Sache nichts zu tun. Aber dieser Tintenfisch schaute Pepe so verzweifelt mit diesen hellen Bernsteinaugen an. Und er konnte verstehen, was Pepe sagte.

Stiefelgetrappel im Flur!

Ohne weiter nachzudenken, sprang Pepe vom Bett, packte den Tintenfisch – und stopfte ihn sich unter den Schlafanzug. Dann schnappte er sich seinen riesigen Kuscheltiger, den er vor ein paar Jahren mal auf dem Jahrmarkt bekommen hatte, und drückte ihn sich vor den Bauch, um zu verstecken, dass sein Schlafanzug eine verdächtige Beule hatte, eine Beule, so groß wie ein durchschnittlicher Tintenfischkopf. Er würde den verängstigten kleinen Jungen spielen, der sich vor Angst an seinen Kuscheltiger klammerte. Auch wenn er da nicht viel spielen musste. Er war zwar nicht mehr klein (letzten Monat war er elf geworden), aber verängstigt war er! Und froh, dass er einen Kuscheltiger hatte, an den er sich klammern konnte. Und der Tintenfisch wiederum klammerte sich mit allen acht Tentakeln an Pepes Bauch.

»Da können Sie nicht hinein!«, rief Pepes Mutter. »Das ist ein Kinderzimmer!«

»Aus dem Weg«, donnerte die schnarrige Stimme.

Und im selben Augenblick flog die Zimmertür auf. Da standen sie, breitbeinig und finster. Zwölf Uniformierte in voller Montur. Sie trugen kugelsichere Westen. Sturmhauben mit winzigen Sehschlitzen. Und ihre Maschinenpistolen im Anschlag.

Pepe hätte sich beinah in die Schlafanzughosen gepinkelt vor Angst. Wenn sich mitten in der Nacht zwölf riesige schwarze Uniformen samt Maschinenpistolen vor einem aufbauen, ist das auch nur zu verständlich. Aber der Tintenfisch presste sich so stark an ihn, dass Pepe nicht in die Schlafanzughose pinkelte. Da war schließlich einer, der noch mehr Angst hatte als er. Und den würde er beschützen.

Pepes Mutter versuchte, sich zwischen den schwarz gekleideten, bulligen Körpern hindurch und zu Pepe nach vorne zu kämpfen. »Was erlauben Sie sich!«, schimpfte sie. »Sie können nicht einfach in das Zimmer eines minderjährigen … Wo ist überhaupt ihre Durchsuchungserlaubnis?«

Aber die Uniformierten beachteten sie nicht.

Jetzt schob sich der größte Uniformierte nach vorne und baute sich vor Pepe auf wie eine Gewitterwolke. Sein Gesicht war unter der schwarzen Sturmhaube verborgen, nur zwei unangenehm stechende Augen blitzten aus dem Sehschlitz. Offenbar war diese Gewitterwolke der Kommandant.

Pepe sah zu ihm hoch und versuchte, keine weichen Knie zu haben. Was ihm nicht gelang.

»Wir haben den begründeten Verdacht, dass sich hier in deinem Zimmer ein international gesuchter Verbrecher aufhält«, grollte der Kommandant drohend und Pepe hörte an seiner Stimme, dass der Kerl ihn jetzt gern gepackt und geschüttelt hätte. »Antworte! Wo hat er sich versteckt?«

Pepe setzte seine ahnungslose Miene auf. Er war gut in ahnungslosen Mienen. Selbst wenn er weiche Knie hatte.

Aber auch der Kommandant verstand sich auf ahnungslose Mienen. »Na gut«, knurrte er, »wie du willst.« Und ohne auf eine weitere Antwort von Pepe zu warten, zeigte er auf Pepes Schrank, auf den Schreibtisch, das Bett, die Kommode, drehte den Zeigefinger einmal in der Luft und schnippte.

Sofort warfen sich die Uniformierten auf die Möbel. Sie rissen alle Türen auf, warfen Pepes Klamotten in hohem Bogen auf den Boden, wühlten in seinen Schaubladen, entleerten deren Inhalt auf den Teppich, kippten die Matratze, kippten das Bett, stülpten den Papierkorb, krochen unter den Teppich, halbierten den Globus, rissen sogar den kleinen Gummibaum aus seiner Erde, nur um auch den Blumentopf zu kontrollieren. Pepes Mutter schrie und schimpfte, aber keiner der pflügenden Uniformierten nahm von ihr auch nur Notiz. Wie ein Termitentrupp malmten sie sich splitternd, krachend und schnaufend durchs Zimmer.

Unterm Schlafanzug bebte der Tintenfisch vor Angst und presste sich mit jedem einzelnen Saugnapf noch fester an Pepe. Es fühlte sich an, als würde Pepe von strammen Schiffstauen gefesselt und festgezurrt. Aber er durfte sich nichts, gar nichts anmerken lassen. Denn der Kommandant stöberte und wühlte und zerlegte nicht. Der stand nur mit grimmig verschränkten Armen und beobachtete Pepe durch seine Sehschlitze hindurch. Natürlich wartete er nur darauf, dass Pepe mit einer noch so kleinen Regung das Versteck des Tintenfisches verraten würde.

Aber das würde nicht passieren. Pepe atmete so ruhig weiter, wie er nur konnte. Er würde diesem großen, maskierten Kerl nichts über einen gewissen Tintenfisch unter einem gewissen Schlafanzug hinter einem gewissen Kuscheltiger verraten. Gar nichts. Und wenn er in der Tintenfischquetschumarmung ersticken müsste.

»Na Kleiner, hast du Angst?«, der Kommandant kam Pepe mit seinem schwarz vermummten Gesicht ganz nah. »Du zitterst ja.«

Pepe zitterte tatsächlich so stark, dass er wackelte.

Aber nicht vor Angst.

Sondern weil der Tintenfisch eiskalt geworden war. Und lass dich mal von einem Eisblock umarmen, ohne irgendwann zu zittern vor Kälte! Pepe drückte seinen Kuscheltiger fester an sich.

»Du sagst uns jetzt besser, wo er sich versteckt«, knurrte der Kommandant wölfisch, »oder wir nehmen das ganze Haus auseinander.«

In diesem Augenblick krachte der Schrank auseinander. Die Uniformierten hatten ihn bis ihn alle Einzelteile zerlegt.

»Kommandant«, rief einer, »melden gehorsamst!« Die anderen nahmen Haltung an. »Das Zimmer ist durchsucht bis auf den letzten Quadratzentimeter! Der Oktopus ist hier nicht.«

»Etwas haben wir noch nicht durchsucht«, fauchte der Kommandant, »oder besser: jemanden. Komm mal her, Kleiner!«

»Halt«, rief da Pepes Mutter und ihre Stimme klang schrill wie ein Feueralarm. »Pepe, du rührst dich nicht vom Fleck!« Sie schob sich wie eine Nähnadel durch die schwarzen Uniformen und baute sich vorm Kommandanten auf. Sie war mindestens zwei Köpfe kleiner als er, aber das schien ihr nichts auszumachen. Sie kochte vor Wut, das sah Pepe sofort, auch wenn sie jetzt ganz leise sprach. »Hab ich Sie gerade richtig verstanden? Sagten Sie ›Oktopus‹?«

»Ja, Madame«, sagte der Kommandant gespielt höflich und verdrehte dabei genervt die Augen, »Sie haben richtig verstanden: Oktopus. Aber das Eigentliche können Sie nicht verstehen. Wie auch. Sie sind ja Zivilistin. Dieser Oktopus ist kein gewöhnlicher Oktopus, wie Sie jetzt vermuten. Bei diesem Exemplar handelt es sich um einen äußerst kriminellen Oktopoden. Um einen international gesuchten Verbrecher! Und er …«

Weiter kam der Kommandant nicht. Denn Pepes Mama schrie so laut, dass alle Kommandokerle nur so zusammenfuhren vor Schreck: »Sie stürmen MITTEN IN DER NACHT unsere WOHNUNG, belästigen MEIN KIND und VERWÜSTEN dieses ZIMMER, weil SIE einen OKTOPUS suchen?? Sind Sie noch ganz bei TROST? Sie verschwinden SOFORT! Sonst hetze ich Ihnen alle Journalisten dieser Stadt auf den Hals und sorge dafür, dass Sie schneller hinter Schloss und Riegel einer psychiatrischen Anstalt kommen, als Sie ›OKTOPUS‹ überhaupt buchstabieren können!«

Die Uniformierten waren beim Wort »Journalisten« erschrocken zurückgewichen. Nur der Kommandant nicht. Er schien abzuwägen, wie viel Angst er vor Pepes Mutter wirklich haben musste. Die stierte ihn mit erhobenem Kinn kampfeslustig an. Ganz still war es. So still, dass man die Küchenuhr ticken hören konnte.

»Chef«, flüsterte zaghaft ein Uniformierter, »Lehrbuch, Seite 4! Keine Öffentlichkeit!«

»Ich kenne Lehrbuch, Seite 4!«, fauchte der Kommandant.

»Verzeihung«, flüsterte der Uniformierte und schlug die Hacken zusammen.

»Wir gehen«, knurrte der Kommandant. Und er drehte sich tatsächlich zum Gehen. Aber irgendetwas war seltsam in dieser Drehung. War es, weil vor der Drehung seine Augen so merkwürdig blitzten? Oder weil er nur den Oberkörper drehte und nicht die Beine? Jedenfalls sah Pepe kommen, was passieren würde. Er sah es kommen, so sekundenschnell und trotzdem in Zeitlupe, dass gar nicht er selbst es war, der reagierte, sondern sein Körper. Und so drehte sich sein Körper blitzschnell zur Seite, als der Kommandant einen Sprung machte und nach dem Kuscheltiger grabschte. Um ein Haar hätte er den Kuscheltiger auch erwischt – hätte nicht noch jemand das verräterische Blitzen in den Kommandantenaugen gesehen. Pepes Mutter. Und die warf sich wie ein Rugbyspieler vor Pepe und knallte dabei dem Kommandanten mit der Faust einen dermaßen gewaltigen rechten Haken unters Kinn, dass der zurücktaumelte und ihm der Kuscheltiger, den er schon so gut wie in den Fingerspitzen hatte, wieder aus den Fingern flutschte.

»Fassen Sie mein Kind an und ich zerlege Sie eigenhändig!«, Pepes Mutter drohte dem Kommandanten noch mal mit der Faust. »Und danach und obendrauf verklage ich Sie KURZ UND KLEIN!«

»Sie machen einen Fehler«, ächzte der Kommandant und hielt sich den Kiefer, »dieser Oktopus ist eine Gefahr für unsere Gesellschaft. Und für die gesamte Innere Sicherheit!«

»Sie können mich mit Ihrer Inneren Sicherheit!«, rief Pepes Mutter. »Zeigen SIE mir zur Sicherheit IHREN AUSWEIS, damit ich IHREN NAMEN an die STAATSANWALTSCHAFT weitergeben kann!«

Da blickte der Kommandant betreten auf seine Stiefelspitzen.

»Wie! Was?«, stotterte Pepes Mutter fassungslos. Sie wusste nur zu gut, was es hieß, wenn jemand betreten auf seine Stiefelspitzen starrte. »Sie haben keinen Ausweis!?« Und sie kombinierte weiter. »Dann … dann sind Sie gar nicht vom Sonderkommando?«

»Doch, schon«, druckste verlegen der Kommandant, »aber von einem ganz besonderen Sonderkommando, sozusagen einem Sondersonderkommando, einem sehr geheimen, topsecret …«

»Raus hier!«, flüsterte Pepes Mutter und klang gefährlicher als zwölf Kalaschnikows zusammen.

Der Sondersonderkommandant starrte Pepes Mutter einen Moment lang an, als hätte er sie am liebsten zerquetscht. Dann drehte er sich um und verließ schnaubend das Zimmer. Die übrigen Männer trappelten ihm wie begossen hinterher. Durch den Flur. Raus aus der Wohnung. Die Treppe hinunter. Pepe hörte die Autotüren knallen. Motoren heulten beleidigt auf. Und schon waren sie in der Nacht verschwunden.

»Boah, was für ein Albtraum«, stieß Pepes Mutter hervor. »Ist mit dir alles in Ordnung?«

Pepe nickte nur. Er musste seine Mutter dazu bringen, möglichst schnell aus dem Zimmer und zurück in ihr Bett zu gehen, damit er endlich den Tintenfisch, von dem er jetzt wusste, dass es ein Oktopus war, unter seinem Schlafanzug freilassen konnte. Denn bald bekam er keine Luft mehr!

»Jetzt sieh dir dieses Chaos an!« Pepes Mutter stemmte die Hände in die Hüften. »Und ausgerechnet heute! In vier Stunden hab ich meine Präsentation vorm Vorstand! Wenn ich jetzt die Polizei rufe, dauert das ganze Desaster noch ewig!«

»Können wir nicht erst schlafen«, murmelte Pepe und bemühte sich, möglichst müde zu klingen, »und morgen die Polizei rufen?«

»Ja. So machen wir’s.« Sie hob die Matratze vom Boden und legte sie zurück aufs Bett. »Den Rest nicht anfassen, okay? Wir brauchen Beweise. Wirst du überhaupt schlafen können nach alldem? Oder willst du zu mir ins Bett?«

»Mama«, sagte Pepe vorwurfsvoll, »ich bin elf.«

»Ach so, ja, stimmt«, sie schaute ihn prüfend an. »Wirklich alles in Ordnung mit dir?«

»Bin nur müde.« Er kroch samt Kuscheltiger ins Bett und zog sich die Decke bis unters Kinn.

»Natürlich.« Seine Mutter gab ihm einen Kuss auf die Stirn. »Schlaf gut.« An der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Ich weiß nicht, ob ich das jetzt wirklich fragen soll … Aber kriminelle, psychopathische Oktopusse sind dir zufällig keine über den Weg gelaufen, oder?«

Pepe schüttelte entrüstet den Kopf.

»Stimmt«, sie lachte nervös. »Ein krimineller Oktopus. Zu Fuß. An Land. Entschuldige, dass ich das tatsächlich gefragt hab. Diese Typen hatten so Unterdruck in ihrem Hirn, dass von meinem offenbar ein bisschen was abgesaugt wurde.« Sie lächelte. »Gute Nacht.«

Und sie machte das Licht aus und die Tür zu.

Weder Pepe noch seine Mutter hatten die schwarze Limousine bemerkt, die lautlos und ohne Scheinwerferlicht in den nächtlichen Schatten der gegenüberliegenden Einfahrt gerollt war. Zwei Männer in elsterblauen Anzügen saßen darin. Beide starrten auf ein bestimmtes Fenster im sechsten Stock des Hauses gegenüber. Als das Licht in diesem Fenster ausging, zückte einer der beiden Männer ein winziges Notizbuch und einen kleinen Bleistift. »Wie spät?«, fragte er leise. Er trug lederne Handschuhe, obwohl es nicht kalt war.

Der andere warf einen Blick auf die Leuchtzeiger seiner Armbanduhr. »Drei Uhr sieben«, antwortete er ebenso leise.

3:07. Das Licht geht aus, kritzelte der erste Mann im fahlen Schein des Mondes in sein Notizbuch. Seine Handschuhe schabten beim Kritzeln über das linierte Papier.

Die beiden Männer in der schwarzen Limousine nickten einander zu, als wüssten sie mehr, als man sah. Dann starrten sie wieder nach oben auf das Fenster im Haus gegenüber.

2

Das Versprechen

Kaum hatte seine Mutter ihre Schlafzimmertür geschlossen, warf Pepe den Kuscheltiger von sich und lüpfte den Schlafanzug. Augenblicklich löste sich der Oktopus von ihm, rollte sich auf die Seite und streckte alle Arme von sich, als würde er erleichtert ausatmen. In ungekringeltem Zustand waren seine Arme genauso lang wie Pepe selbst. Auch Pepe atmete erleichtert aus. »Das war knapp«, stöhnte er leise und besah sich im Mondschein seinen Bauch. Er war übersät mit Saugnapfabdruckringen, die in acht Streifenspuren bis hinter seinen Rücken wanderten. »Noch eine Minute länger und du hättest mich zerquetscht!«

Der Oktopus richtete sich neugierig auf und tastete mit einer Tentakelspitze behutsam die rot geränderten Druckspuren nach. Dann durchfuhr ihn ein Zittern. Nein, es war mehr, als würde es ihn schütteln. Von den Spitzen seiner Tentakel liefen sonnenaufgangsfarbene Schauer über seinen Körper, und Pepe meinte, ein Geräusch zu hören, das beinahe klang wie ein … wie ein … Nein, das konnte nicht sein. Oder doch? Es war ganz, als ob … Kein Zweifel!

Der Oktopus kicherte.

»Was ist denn da so lustig, he!«, flüsterte Pepe. Es war nämlich nicht unbedingt so, dass er nächtliche Besuche von falschen Sonderkommandos und Quetschumarmungen von international gesuchten Tintenfischen wahnsinnig witzig fand.

Aber der Oktopus kicherte noch mehr und deutete stolz zwischen sich und Pepes Rotpunktebauch hin und her.

»Du meinst, ich seh schon aus wie ein Oktopus?«

Der Oktopus kringelte seine Arme vor Vergnügen und nickte und schimmerte dabei wie ein Regenbogen.

Pepe stöhnte gespielt. »Ich fühl mich auch wie ein Weichtier. Du hast keinen Knochen in mir ganz gelassen!«

Da warf sich der Oktopus auf Pepe und umschlang ihn schon wieder. Aber diesmal schlang er anders, sanft, weich, er spannte die Haut zwischen seinen Tentakeln auf wie einen kaschmirweichen Mantel und schmiegte seinen Kopf an Pepes Brust. Es war ein Drücker, eine Umarmung, eine Erleichterung und ein tiefes Danke in einem.

»Schon gut«, flüsterte Pepe verlegen und zögerte kurz, bevor er dem seltsamen Tier den feuchtweichen Rücken tätschelte. Aber so feucht fühlte sich dieser Rücken gar nicht mehr an. Eher trocken. Fast schon fensterledrig. »Sag mal, brauchst du nicht eigentlich Wasser?«

Der Oktopus nickte, fasste sich dramatisch an die Stirn, kippte auf den Rücken und zappelte wie ein hilfloser Käfer mit den Tentakeln. Für einen Moment erhaschte Pepe einen Blick auf die Unterseite des Oktopus. Dort, wo seine Tentakel zusammenliefen, in der Mitte des Körpers, war ein kleiner, gefurchter Schlund. In diesem Schlund saß ein Schnabel, ja, es sah aus wie der kräftige Schnabel eines Papageis, der gierig nach Luft schnappte. War das der Mund des Oktopus? Oder sein Po? Oder beides?

Aber schon war der Oktopus wieder aufgesprungen und sah Pepe erwartungsvoll an.

»Ich verstehe. Du brauchst sogar ganz dringend Wasser.«

Der Oktopus nickte wild.

Aber Pepe konnte ihm ja schlecht mitten in der Nacht ein Vollbad einlassen. Wenn er jetzt auch nur einen Eimer mit Wasser füllen würde, würde seine Mutter Verdacht schöpfen. Selbst ein Glas Wasser aus der Küche war schon riskant. Hatte er nicht irgendetwas Wässriges bei sich im Zimmer? Ja, er hatte den Rest Apfelschorle in seiner Schultrinkflasche. Aber Apfelschorlen waren zur Bewässerung von Oktopussen wohl nicht sonderlich geeignet. Auch wenn das hier definitiv kein gewöhnlicher Oktopus war.

Da fiel sein Blick auf die Sprühflasche, mit der er üblicherweise die Blätter seines jetzt entwurzelten Gummibaums besprühte. Der Oktopus war Pepes Blick gefolgt, und als Pepe ihn fragend ansah, nickte er und hob die Tentakelinnenseiten wie für ein »Wir können’s ja mal versuchen!«

Aber bevor Pepe auch nur einen Fuß aus dem Bett bringen konnte, war der Oktopus schon geschmeidig wie eine kleine, rollende, lilafarbene Welle über all das Chaos hinweggeglitten, hatte sich mit einem langen Tentakel wie mit einer klebrigen Froschzunge die Sprühflasche geschnappt und war bereits zurück auf dem Bett, wo er seine Beute neugierig untersuchte. Er war vollkommen lautlos gewesen und hatte weniger als einen Wimpernschlag für die Beschaffungsaktion gebraucht.

»Bist du so etwas wie ein Einbrecher?«, fragte Pepe bewundernd. »Ein Diamantendieb vielleicht? Sind sie deshalb hinter dir her?«

Der Oktopus legte nur den Kopf schief. Wenn er Augenbrauen gehabt hätte, hätte er sicher eine gehoben, wie man es macht, wenn man ganz ohne Worte »Ist nicht dein Ernst, oder?!« sagen will.

»Verstehe, kein Diamantendieb«, flüsterte Pepe. »Aber warum jagt dich ein falsches Sonderkommando?«

Gerade da drückte der Oktopus den Hebel der Sprühflasche, und weil die Düse zufällig auf Pepe gerichtet war, bekam Pepe einen saftigen Wasserstoß direkt ins Gesicht. Pepe schaute wohl ziemlich verdutzt aus der Wäsche, denn der Oktopus musste schon wieder kichern. Pepe wischte sich das Wasser aus dem Gesicht. »Also kriminelle Energie hast du jedenfalls. Warte, ich mach das.« Er nahm dem Oktopus behutsam die Flasche aus dem Tentakel und besprühte ihn von allen Seiten. Der Oktopus drehte und rollte sich und hob die Tentakel, damit Pepe ihm auch wirklich jede Körperstelle einnebeln konnte. Er schien es zu genießen, als würde er gekrault, denn er färbte sich sommerhimmelblau.

»Sollte das nicht eigentlich Salzwasser sein? Du lebst doch im Meer!«

Die Antwort kam mit allen Tentakeln gleichzeitig: Ein Tentakel zuckte die Achseln, einer kratzte sich am Kopf, einer winkte ab, ein vierter streichelte Pepe die Wange, der fünfte wellte sich, ein sechster tippte an die Sprühflasche und zwei rangen die Hände, äh, ihre Tentakelspitzen.

»Verstehe«, fasste Pepe zusammen, »ich übersetze: Was will man machen, wenn man nur das hier hat, es ist besser als nix, danke übrigens, aber du hast Recht, irgendwann brauch ich Salzwasser, ich muss zurück ins Meer, wie stell ich das nur an, Himmel, Pepe, ich brauch deine Hilfe.«

Pepe schlug sich die Hand vor den Mund, als könnte er unausgesprochen machen, was er soeben ausgesprochen hatte.

Der Oktopus brauchte Hilfe.

Pepe hatte es ja gewusst! Er hatte gewusst, dass er nicht bis in alle Ewigkeit hier auf dem Bett sitzen und einen Oktopus dabei beobachten konnte, wie er schillernd die Farben änderte und mit allen Tentakeln gleichzeitig redete. Auch wenn Pepe für einen Moment das zwielichtige Sonderkommando vergessen hatte: Die ganze Oktopusjagd war wohl kaum abgeblasen, nur weil Pepes Mutter einen ihrer Schreianfälle bekommen hatte. Nein. Der Oktopus war in Gefahr. Nach wie vor. Und er musste weg von hier. Möglichst schnell.

Der Oktopus hatte schüchtern seine Tentakel sinken lassen und schaute Pepe mit seinen riesigen Augen fragend an. Es waren merkwürdig fremde und schöne Augen, honigfarben glänzend, gütig und gleichzeitig neugierig. Pepe kannte bisher nur runde Pupillen und schlitzförmige, wie Raubkatzen und Reptilien sie hatten. Dieser Oktopus hatte breite, schwarze Balken als Pupillen. Und seitlich unten an seinem Kopf saß etwas, das aussah wie eine stummlige Röhre. Dieses Ding, von dem Pepe natürlich nicht wusste, dass man es »Sipho« nannte – war das zum Luftholen? Oder zum Essen, wie mit einem sehr dicken Strohhalm?

Was für ein faszinierendes Wesen. Und in wie vielen Farben er schillerte! Aber wie sollte Pepe ihm helfen, zurück ins Meer zu kommen? Er war gerade mal elf geworden! Hatte kein Auto. Höchstens ein Fahrrad. Außerdem war es gefährlich, ihm zu helfen. Da draußen lauerte ein falsches Sonderkommando! Pepe würde es nicht einmal wagen, sich mit der normalen Polizei anzulegen … Und die Maschinenpistolen hatten ihm einen gehörigen Schreck eingejagt. Ganz zu schweigen von der Pistolenkugel, die ihn um ein Haar erwischt hätte! Und was, wenn etwas dran war an dem, was der Kommandant gesagt hatte? Wenn der Oktopus wirklich ein kriminelles Tier war, gefährlich für die ganze Gesellschaft? Und wenn man Pepe dabei erwischte, wie er einem international gesuchten Verbrecher half, war dann nicht er, Pepe, auch ein Verbrecher?

Während Pepe nachdachte, veränderte der Oktopus seine Form. Er machte sich ganz schlank, richtete sich auf und krümmte sich oben herum. Er war ein lebendiges, leuchtend korallenrotes Fragezeichen geworden. »Wirst du mir helfen?«, fragte dieses Fragezeichen.

Pepes Kopf konnte denken, was er wollte. Sein Bauch hatte bereits entschieden. Und sein Bauch hatte entschieden, dass dieser Oktopus weder kriminell noch psychopathisch war. Er ließ seine Hand vom Mund sinken und flüsterte: »Ich helfe dir. Ich weiß zwar noch nicht, wie. Aber ich helfe dir.«

Da fiel ihm der Oktopus schon wieder um den Hals und drückte sich mit all seinen Tentakeln an Pepe, dass die Saugnäpfe nur so schmatzten.

»Ah, nicht so fest«, flüsterte Pepe, »du erwürgst mich noch!«

Der Oktopus ließ von ihm ab und antwortete wieder mit allen Tentakeln gleichzeitig: Einer kratzte sich verlegen hinterm nicht vorhandenen Ohr, ein anderer klopfte Pepe zärtlich, ein weiterer stolz die Schulter, ein vierter kniff ihm scherzhaft die Wange, als wollte er sagen: »Na, nun stell dich mal nicht so an, Junge, eine herzhafte Umarmung hat noch niemandem geschadet!«, und ein fünfter schüttelte ihm überschwänglich die Hand, als wollte er die Abmachung besiegeln – oder Pepe zu diesem großartigen Entschluss gratulieren.

Und ein bisschen großartig war dieser Entschluss ja auch.

Zumindest hatte Pepe dieses Flattergefühl im Bauch, das man nur dann hat, wenn man in ein großartiges Abenteuer verwickelt wird. Doch wie großartig dieses Abenteuer werden sollte, davon hatte Pepe nicht die leiseste Ahnung als er sagte: »Dann lass uns jetzt einen Plan schmieden.«

Der Oktopus sprang auf, als hätte er nur auf dieses Stichwort gewartet, stellte ganz leise den Schreibtisch, den das Sonderkommando umgeschmissen hatte, zurück auf seine vier Beine, suchte und fand Stifte und Papier, schlüpfte geschmeidig auf den Stuhl und legte los. Pepe kletterte neugierig aus dem Bett, hob die Schreibtischlampe vom Boden auf und knipste sie an, damit er besser sehen konnte, was dieser wunderliche Oktopus malte.

3

Die schwarze Limousine

Als das Licht im Fenster des obersten Stocks im Haus gegenüber wieder anging, sahen sich die beiden Männer in der schwarzen Limousine an und nickten.

Der Mann mit den Lederhandschuhen kritzelte in sein Notizbuch: 03:27. Verdacht erhärtet sich. Seine Überwachungsnotizen würden vermutlich nie von irgendwem anderem als ihm selbst gelesen werden. Aber man konnte nie wissen. Vielleicht landete genau dieses Notizbuch einmal unter einem Glaskasten in einem Museum. Einem alarmgesicherten Glaskasten. In einem Museum für nationale Helden. Und vor diesem Glaskasten würden sich Schulklassen drängen und voller Bewunderung seinen Namen les…

»Zentrale, bitte kommen!«

Der mit den Handschuhen zuckte zusammen. Sein Kollege hatte sich wieder mal das Funkgerät geschnappt: »Hier Überwachung. Zentrale, bitte kommen. Zentrale, bitte.«

Der mit den Handschuhen spürte, wie er sich zu ärgern begann. Eigentlich war das Funken nämlich seine Aufgabe. Der Kollege wollte sich nur wieder vordrängeln. Jedes Mal, wenn es darum ging, Lorbeeren zu ernten, drängelte sich der Kollege vor. Weil er ein Aufsteiger war. Aufsteiger wollten auf der Karriereleiter nach oben steigen, so schnell wie möglich. Wofür sie gern auch die Rücken ihrer Teamkollegen nutzten. Da kannten Aufsteiger nichts.

»Zentrale, bitte kommen.«

Der Kollege sollte besser nicht so oft »Zentrale« sagen, dachte der mit den Handschuhen. Weil er so nur den Funkkanal belegte und die Zentrale gar nicht antworten konnte. Aber das sagte er seinem Kollegen nicht. Es war ihm lieber, wenn sich der Kollege lächerlich machte.

»Hier Zentrale«, rauschte endlich das Funkgerät in eine Atempause hinein, »was gibt’s?«

»Das Licht ist wieder angegangen. Wir gehen davon aus, dass sich der Oktopus tatsächlich bei dem Jungen aufhält.«

Das Funkgerät schwieg. Dann rauschte es genervt: »Was soll das heißen? Ist das ein Ergebnis? Oder nur ein Zwischenergebnis?«

Der Mann hinterm Lenkrad biss sich auf die Lippen. »Nur ein Zwischenergebnis«, funkte er kleinlaut zurück.

Der Mann mit den Handschuhen grinste hämisch. Hätte ihn der Kollege mal besser vorher gefragt, ob »Licht geht an« wirklich einen Funkspruch wert war.

»Bleiben Sie dran«, rauschte das Funkgerät gelangweilt, »und verwenden Sie nur noch Codenamen. Falls die Gegenseite unseren Kanal abhört.«

»Verstanden«, sagte der Kollege knapp, legte das Funkgerät weg und griff umso eifriger zum Fernglas.

Der mit den Handschuhen verdrehte die Augen. Von hier unten konnte man im Fenster da oben nämlich gar nichts sehen. Die Sichtlinie war viel zu steil. Der Kollege hätte mindestens aufs Autodach klettern müssen mitsamt seinem wichtigtuerischen Fernglas, um etwas erkennen zu können.

»Ich kriege diesen Mistkerl«, murmelte der Kollege hinter seinem Fernglas. »Warum tut sich denn da nichts?«

Der Mann mit den Handschuhen schwieg und starrte aus dem Fenster. Der Kollege hatte »ich« gesagt. Ich kriege diesen Mistkerl. Nicht wir. Wenn der Kollege in diesem Team die Solorolle spielen wollte, bitte, dann sollte er auch die Soloarbeit machen. Dann konnte er jetzt ein Nickerchen einlegen. Diese langen Nachtschichten mochte er ohnehin nicht besonders. Er bekam Augenringe davon. Sollte sich oktopologisch irgendetwas tun in diesem Fenster, würde er das schon rechtzeitig mitbekommen. Schließlich war er nicht auf den Kopf gefallen. Für eine gesunde Überwachung brauchte es da weniger Ferngläser als einfach nur ein bisschen Grips. Und zwar zur richtigen Zeit. Er lehnte den Kopf an die Fensterscheibe und machte die Augen zu.

4

Ein Plan wird geschmiedet

Im Schein der Schreibtischlampe saß der Oktopus vor Pepes Zeichenblock, hielt in jedem Tentakel einen andersfarbigen Stift und malte mit allen Tentakeln gleichzeitig. Erst hatte Pepe gedacht, der Oktopus könnte schreiben und würde einfach aufschreiben, was sein Plan war. Es waren aber keine Buchstaben, die der Oktopus da in fliegender Eile aufs Papier brachte, nur ein Gewirr aus bunten Linien, Punkten, Kringeln, Balken. Auch wenn es faszinierend war, dem Oktopus beim Gleichzeitig-Malen zuzusehen: Pepe war enttäuscht. Er konnte in diesem »Plan« keinen Sinn erkennen.

Als schließlich das ganze Papier mit buntem Gewirr bedeckt war, malte der Oktopus an eine ganz bestimmte Stelle ein rotes Kreuzchen. Er deutete erst auf das Kreuzchen, dann auf Pepe und auf sich.

»Das sind wir, meinst du?«, Pepe beugte sich über die Zeichnung. Tatsächlich. Es war kein Gewirr. Es war ein vollständiger Stadtplan von Hamburgs Innenstadt! Mit allen Straßen, Plätzen, Kanälen, Parks … Selbst die U-Bahn- und auch die Bus-Linien waren eingezeichnet. »Das alles hast du aus dem Kopf gemalt?!«

Der Oktopus schaute ihn an, als hätte er die Frage nicht verstanden. »Warum denn nicht?«, schien er zu denken, als läge vor ihnen gerade einmal Punkt, Punkt, Komma, Strich, fertig ist das Mondgesicht – und nicht ein kompliziertes Geflecht aus Tausenden von Linien, die alle zusammen einen Sinn ergaben.

»Nur die braunen Linien mit den vielen Punkten kapier ich nicht«, murmelte Pepe. »Was ist das?«

Da färbte sich der Oktopus wasserblau und änderte seine Form – aber so sehr, dass seine Tentakel komplett verschwanden und er zu einer blauen Pfütze wurde, die sich über den Schreibtisch wellte, wie ein Miniwasserfall von der Tischkante floss und auf den Boden zu tropfen schien.

»Du bist Wasser!«, rief Pepe. »Wie machst du das nur?«

Pepes bisheriges Oktopuswissen hielt sich ja eher in Grenzen. Sonst hätte er vielleicht gewusst, dass Oktopusse wirklich über Farben kommunizieren. Und dass sie ihre Körperformen beliebig verändern können. Weil sie außer ihrem Schnabel, der ihr Mund ist, keine Knochen im Leibe haben, sind sie eher wie Knetmasse. Sie können sich so klein machen, dass sie in eine Kokosnussschale passen. Sie können ein Fußball werden – ein schwarz-weißer Fußball, so wie jedes Kind ihn kennt. Oder sie können eine flache, rostfarbene Scheibe werden, die an ihrem Rand rundherum gleich große Löcher hat.

»Du bist ein Kanaldeckel?«, flüsterte Pepe ungläubig. »Verstehe! Die braunen Linien sind die Kanalisation!«

Da sprang der Oktopus auf, nahm wieder seine zartlila Färbung und seine tentaklische Normalform an, klatschte Pepe zufrieden einen Tentakel auf die Schulter und deutete auf Pepes Arme und Beine, als wollte er sagen: »Du hast immerhin vier Tentakel, du bist schon fast ein halber Oktopus, so schlau bist du.«

Pepe grinste verlegen. Dann überlegte er. »Warte mal … Als dieses Sondersonderkommando hinter dir her war, haben alle auf diesen Gulli gezielt … Bist du durch die Kanalisation gekommen?«

Der Oktopus tockte sich mit einem Tentakel an die Stirn und formte zwei Tentakel zu Brillengläsern, die er sich auf die Augen setzte.

»Die Kanalisation wird überwacht?«

Der Oktopus nickte, verknotete seine Tentakel zu Pistolen und tat, als würde er sie in alle Richtungen abfeuern.

Pepe schnappte nach Luft. »Sie haben … automatische Schussanlagen in der Kanalisation? Bist du sicher?«

Der Oktopus nickte ernst – und hielt Pepe einen Tentakel hin. Da war eine aufgeplatzte Stelle im weißen Fleisch.

»Da hat dich eine Schussanlage erwischt?«

Der Oktopus nickte.

Pepe streichelte sanft über die blutlose Wunde – und seine Hand zitterte. Beinah hatte er vergessen, dass das hier gar kein spaßiges Abenteuer war. Sondern wohl eher ein lebensgefährliches. Er zögerte. »Was hast du nur angestellt, dass sie deinetwegen Schussanlagen in der Kanalisation installieren? Mal im Ernst: Hast du jemanden umgebracht oder so?«

Der Oktopus wich zurück, legte sich einen Tentakel auf die Brust, als würde er entrüstet fragen: »Ich??«, und deutete nach draußen, als würde er sagen: »Die anderen!« Er glitt auf den Boden, wühlte in der verstreuten Unordnung, grapschte sich eine leere Packung Schokokekse und hielt sie triumphierend hoch.

»Hm«, rätselte Pepe, »du hast Schokokekse geklaut? Ach nein, du bist ja kein Dieb. Du wolltest das Rezept für Schoki klauen, ach so, nein, schon wieder Klauen. Du hast, du hast … jedenfalls niemanden umgebracht …«

Der Oktopus schüttelte den Kopf und knisterte ungeduldig mit dem Zellophanpapier.

Pepe verstand rein gar nichts. »Schokokekse, Schokokekse … Tut mir leid, ich steh auf dem Schlauch. Du hast geknistert? Du hast mit Müll geknistert … Du hast Mülleimer ausgeleert! Die Müllabfuhr überfallen? Aber warum sollte man die Müllabfuhr überfallen …«

Der Oktopus schlug sich einen Tentakel vor die Augen, weil Pepe so begriffsstutzig war. Er griff noch einen Filzstift, Legosteine, stemmte die Soundbox hoch (offenbar hatte der Oktopus selbst in nur einem Tentakel ganz schön Kraft) und starrte Pepe erwartungsvoll an.

»Ähm«, sagte Pepe ratlos. »Du wolltest Sachen haben?«

Der Oktopus gab auf, ließ seine Beutestücke sinken, winkte ab und machte ein Zeichen für »Später«. (Natürlich alles gleichzeitig.)

»Okay«, flüsterte Pepe, »später.« Auch wenn er sich fragte, wann dieses »Später« sein sollte. Sie beugten sich wieder über den Stadtplan. »Wohin soll ich dich schmuggeln? Das nächste Wasser von hier aus wäre der Isebekkanal. Von dem kommst du über die Alster in die Binnenalster, dann über die Kleine Alster …«

Aber der Oktopus schüttelte entsetzt den Kopf und würgte sich selbst an der Kehle.

»Oh. Ist die Alster zu verschmutzt?«

Wieder schüttelte der Oktopus den Kopf und kippte wie tot auf die Seite.

»Du stirbst, wenn du in die Alster hüpfst? Warum?«

Der Oktopus sprang auf und tippte Pepe an die Lippen. Es war wie beim Pantomimeraten. Am besten ließ Pepe jeden Gedanken rausblubbern, der ihm in den Sinn kam. »Lippen. Reden. Verschlossen. Still sein.«

Der Oktopus schüttelte den Kopf und tippte noch einmal auf Pepes Lippen, dann, ungeduldiger, auf die blauen Linien.

»Ähm. Lippen. Linien. Äh. Flüsse. Wasser. Trinken.« Der Oktopus piekste ihm wie bei einem »Ja, ja, genau« die Tentakelspitze in die Brust und nickte auffordernd nach mehr Hirnkombination.

»Wasser trinken. Trinkwasser? Trinkwasser. Sterben. Lippen. Schmecken. Ah! Flüsse sind Süßwasser. Du verträgst kein Süßwasser!«

Der Oktopus applaudierte. Er schwoll an wie ein Luftballon – und sackte plötzlich in sich zusammen, als wäre er geplatzt. Eine Sekunde später war er wieder auf seinen acht Beinen und strahlte Pepe an.

»Du explodierst, wenn du in Süßwasser kommst? Wirklich?«

Der Oktopus nickte verzückt – wobei er sicher weniger verzückt darüber war, dass er explodieren konnte, sondern wohl eher darüber, dass Pepe es erraten hatte. Pepe war allerdings nicht verzückt. Ganz und gar nicht: »Aber in Hamburg gibt’s kein Salzwasser! Wir sind viel zu weit vom Meer weg. Wie soll ich dich denn bis ans Meer bringen??«

Aber der Oktopus tippte fröhlich auf eine ganz bestimmte blaue Linie.

»Du willst in die Elbe? Die ist doch auch Süßwasser!«

Der Oktopus kritzelte als Antwort in Nullkommanichts eine detailgetreue Fähre an den Rand des Stadtplans.

»Du willst auf eine Fähre … eine Fähre, die möglichst weit nach Norden fährt – und sobald das Wasser salzig genug wird, springst du ab und schwimmst?«

Wieder bekam er einen zufriedenen Tentakelklatscher auf die Schulter. »Krass. Du bist ja richtig krass«, murmelte Pepe und der Oktopus kicherte verlegen. »Dann bring ich dich zu den Landungsbrücken – da legen die Fähren ab.« So weit schien alles machbar. Nur … »Wie kriegen wir dich dorthin geschmuggelt? Oder gehen wir davon aus, dass dich das Sonderkommando aufgegeben hat?«

Pepe musste das Kopfschütteln des Oktopus gar nicht abwarten. Er wusste die Antwort. Und die Tentakelspitze, die zum Fenster deutete, meinte es ernst. »Die warten also da draußen. Dann ist es etwas auffällig, jetzt durch die Tür zu spazieren, oder? Oh, hi, falsches Sonderkommando, ich mach nur mal eben ’nen kleinen Verdauungsspaziergang ans Wasser, so wie jeden Morgen um …« – Pepe unterbrach sich. »Mach ich jeden Morgen, mach-ich-jeden-Morgen …« Suchend ließ er seinen Blick durchs Zimmer schweifen. Dann hatte er im Chaos seinen alten Schulranzen gefunden. Den, den er in der Grundschule getragen hatte, bevor er auf einen Rucksack umgestiegen war. Wie gut, dass Pepes Cousin, der den Schulranzen erben würde, erst nächstes Jahr in die Schule kam! »Ich weiß, wie wir’s machen.«

Der Oktopus trippelte auf Tentakelspitzen an Pepe heran und hielt ihm eine Kopfseite hin, als wollte er den geheimen Plan ins nicht vorhandene Ohr geflüstert bekommen. Er schimmerte türkis und Pepe fühlte plötzlich eine tiefe Wärme im Bauch. »Wie heißt du eigentlich?«

Der Oktopus schaute verdutzt auf und deutete fragend auf sich.

»Ja, du. Mal mir deinen Namen! Du hast doch einen Namen, oder?«

Der Oktopus kritzelte sofort etwas auf einen kleinen Zettel.

»Aber … das sind ja chinesische Schriftzeichen!«

Der Oktopus hob die achtfachen Achseln: »Ja und?«

»Äh … Ich kann kein Chinesisch!«

Der Oktopus schaute ihn entsetzt an und schüttelte den Kopf, wie man es macht, wenn man sagen will: »Ich hab mich wohl grad verhört!«

»Na ja, das ist bei uns nicht so üblich. In der Schule lernen wir Englisch und Französisch. Spanisch. Russisch. Warum kannst du Chinesisch?«

Der Oktopus winkte Pepe zu den beiden auseinandergebrochenen, eingedellten Schüsseln, die ein Globus gewesen waren, bevor das falsche Sonderkommando sie für ein Oktopusversteck gehalten hatte, und zeigte auf eine Stelle der Nordhalbkugel. Sie lag fast am Äquator.

»Südchinesisches Meer«, las Pepe. »Du bist aus dem Südchinesischen Meer?«

Der Oktopus nickte begeistert.

»Und wie bist du hierhergekommen?«

Der Oktopus legte seinen Kopf schief, als wollte er sagen: »Jetzt denk mal scharf nach.«

»Du bist vom Südchinesischen Meer bis hierher geschwommen?! Und schwimmst da auch gleich wieder hin zurück?«

Der Oktopus spannte stolz wie ein geölter Bodybuilder die Bizepse seiner Tentakel an.

»Aber warum warst du hier? Ja wohl kaum, um hier Urlaub zu machen … Hast du dich verirrt? Die falsche Strömung erwischt?«

Der Oktopus raschelte wieder mit seiner Schokokeksverpackung.

»Schon klar. Du hast es irgendwie mit Plastik«, murmelte Pepe und kassierte unverhofft einen zufriedenen Tentakelklatscher auf die Schulter. »Plastik? Das alles hat was mit Plastik zu tun?«

Aber da klingelte schon Pepes Wecker. »Beeilung!« Er steckte den Zettel mit den chinesischen Schriftzeichen in die Hosentasche. Er würde später Han aus seiner Klasse fragen, was die Schriftzeichen bedeuteten. Auch wenn der Oktopus da schon längst auf seinem Weg zurück ins Südchinesische Meer sein würde.

5

Rebo

Pepes Mutter wunderte sich nicht wenig, als Pepe fröhlich ins Bad gehüpft kam, »Guten Morgen!« rief und sofort in die Dusche verschwand. »Seit wann gehst du freiwillig duschen?«

»Immer schon«, behauptete Pepe und drehte das Wasser auf.

Pepes Mutter schaute verdutzt auf den zugezogenen Duschvorhang und entschied dann, dass die neueren Entwicklungen im Hygieneverhalten ihres Sohnes ein gutes Zeichen waren. Sie föhnte sich eine letzte, wohlgeratene Welle und rief über Föhn und Dusche hinweg: »Wir lassen das ganze Chaos in deinem Zimmer so, wie es ist, bis ich meine Präsentation hatte, und ich ruf die Polizei erst danach. Ich lass mir doch von diesen Kommandokerlis nicht die Karriere ruinieren. Willst du Müsli oder Toast?«

»Grießbrei!«, rief Pepe zurück, weil er wusste, dass seine Mutter für Grießbrei fünf Minuten lang am Herd stehen und aufpassen musste, dass die Milch nicht überkochte. Und er brauchte fünf unbeaufsichtigte Minuten.

»Du machst einem nichts als Arbeit, du verwöhnter Bengel«, seufzte seine Mutter und zupfte sich ein paar Strähnchen in die Stirn. »Du, und ich hab mir überlegt, dass du heute zu Hause bleiben darfst. Du musst wahnsinnig müde sein. Ich schreib dir eine Entschuldigung. Wegen nächtlichen Besuchs von Vollidioten. Okay?«

Pepe streckte erschrocken den Kopf aus der Dusche: »Ich will aber in die Schule!«

Seine Mutter stutzte im Lippenstiftauftragen. »Was ist denn mit dir los? Ein Vormittag geschenkt und du sagst Nein danke?«

Pepe zuckte die Achseln. Allzu dringend durfte er auch wieder nicht in die Schule wollen, sonst machte er sich verdächtig. »Es ist nur … weil … weil wir heute Englisch schreiben … und ich hab extra gelernt … Wenn ich nachschreiben muss, muss ich mehr Stoff lernen.«

»Nicht für die Schule, fürs Leben lernen wir«, dozierte seine Mutter und warf einen letzten zufriedenen Blick in den Spiegel. »Gut. Gehst du halt in die Schule. Aber klapp mir nicht zusammen! Und was war noch? Ah, ja. Toast. Mit Honig oder Marmelade?« Sie war schon halb aus der Tür.

»Grießbrei!«, rief Pepe durch das prasselnde Duschwasser.

»Stimmt«, murmelte seine Mutter, »Grießbrei. Wo hab ich meinen Kopf.« Und sie verschwand in die Küche.

Pepe lauschte tropfend, bis er in der Küche das Geklapper von Töpfen hörte. Dann fing er lauthals an zu singen: »I’d like to be … Under the sea … In an octopus’s garden in the shade …« Denn das war das verabredete Zeichen. Keine zehn Sekunden später kam der Oktopus mit Pepes leerem Schulranzen ins Bad geschlichen.

»Alles nach Plan«, flüsterte Pepe und stellte den Ranzen so unter die Dusche, dass er voll Wasser laufen konnte. »Das Salz muss in einer der Schubladen sein.«

Der Oktopus trippelte an das Schränkchen, in dem Pepes Mutter ihre kosmetischen Schätze hortete, und stöberte wie ein sehr geübter Dieb durch Tüten, Tuben, Cremes und Tiegel, bis er die Tüte mit dem Badesalz gefunden hatte. Er warf sie Pepe in hohem Bogen zu und Pepe fing sie auf. »Hundert Prozent Meersalz aus dem Toten Meer«, las Pepe zufrieden vor, »ist das nach Ihrem Geschmack, mein Herr?«

Der Oktopus nickte nachdrücklich.

»Oder vielleicht bist du ja gar kein Herr. Vielleicht bist du ein Fräulein?«

Der Oktopus zuckte die Achseln.

»Hast Recht«, murmelte Pepe und kippte die ganze Packung Meersalz in den Ranzen, »ist ja auch ziemlich egal.«

Der Oktopus tastete kritisch die Nähte des Ranzens ab, ob nicht irgendwo Wasser heraussickerte.

»Keine Sorge«, beruhigte ihn Pepe, »der ist absolut wasserdicht. Da drin ist mir mal O-Saft ausgelaufen. Das Ding war ein ganzes Wochenende lang ein perfektes O-Saft-Becken, bis ich’s gemerkt hab. Hat ganz schön gestunken, sag ich dir … So. Das Wasser dürfte reichen, oder? Steig ein!«

Der Oktopus rührte mit einem Tentakel das Salz um, schlüpfte geschmeidig in den Ranzen und sank sofort wohlig auf den Grund.

»Ist Ihnen die Wassertemperatur angenehm?«, fragte Pepe.

Der Oktopus färbte sich rosa, ließ silberne Schauer über seine Tentakel rieseln und bauschte seinen Mantel, also seine Haut zwischen den Tentakeln, als hätte er rosa Rüschen. Er sah so wunder- und geheimnisvoll aus, dass Pepe ihn stundenlang hätte anstarren können.

Aber da rief seine Mutter: »Komm frühstücken! Und beeil dich, du bist spät dran!«

»Weißt du was«, flüsterte Pepe, »ich werde dich Rebo nennen. Wie REgenBOgen. Du bist nämlich so schön wie ein Regenbogen.«

Da flimmerte der Oktopus vor Freude in allen Regenbogenfarben.

»Aber jetzt wird’s erst mal dunkel. Achtung.« Und Pepe klappte den Schulranzendeckel zu. Er atmete tief durch. Es war ein gewagter Plan, den sie da hatten.

Aber er konnte funktionieren.

6

Die Origamifalle

»He, Schlafmütze!« Der Mann hinterm Lenkrad puffte seinen Kollegen in die Seite. »Aufwachen!«

Der Kollege mit den Handschuhen schreckte auf. Er hatte Wirres geträumt, von Oktopussen, die alle gleichzeitig von ihm huckepack getragen werden wollten und dabei kicherten, weil sie von seinen Bartstoppeln gekitzelt wurden. »Was, wie, wo bin ich – warum?«

Der Mann hinterm Lenkrad schenkte ihm nur einen Verachtungsblick. Er hielt seinen Kollegen für eine faule Trantüte. »Zentrale, bitte kommen«, funkte er selbstgefällig, »der Drache verlässt das Haus.«

»Was für ein Drache?«, fragte der Kollege irritiert.

Der Lenkradmann verdrehte die Augen. Mit so jemandem im Team würde er nie befördert werden. »Die da.« Er deutete mit dem Kinn auf eine elegant gekleidete Frau, die soeben aus dem überwachten Haus und auf den Gehweg trat.

»Das ist doch kein Drache«, belehrte ihn sein Kollege gönnerhaft. »Das ist die Mutter des Jungen.«

»Das weiß ich selbst«, gab der Lenkradmann entnervt zurück. »Aber wir sollen nur noch Codenamen verwenden, schon vergessen?«

Da brizzelte das Funkgerät. »Hat der Drache, äh … Nachwuchs bei sich?«

»Keinen Nachwuchs«, funkte der Lenkradmann eifrig zurück.

Wieder brizzelte das Funkgerät. »Aber vielleicht einen, öhm, einen …«

»Wischmopp?«, bot der Lenkradmann an und ignorierte das höhnische Grinsen seines Kollegen.

»Perfekt!«, freute sich das Funkgerät. »Trägt der Drache einen Wischmopp?«

Der Lenkradmann runzelte die Brauen. Das Kleid des Drachen war hauteng, da passte kein Wischmopp mehr hinein. Und der dünne Mantel, den sie offen trug, wippte und flatterte im Gehen. Er hätte niemals so wippen und flattern können, wenn sich da drin irgendwo ein Wischmopp festgesaugt und den Stoff beschwert hätte. Aber der Drache trug auch eine Handtasche. Und Handtaschen waren … Gerade da blieb der Drache stehen und wühlte in seiner Handtasche. Dass man unmöglich so in Handtaschen wühlen konnte, wenn sich Oktopusse darin versteckt hielten, war selbst dem Lenkradmann sofort klar. Auch wenn er lieber einen Erfolg vermeldet hätte. »Zentrale? Kein Wischmopp am Drachenweibchen. Der Wischmopp muss noch im Haus sein!«

Da lachte der Handschuhkollege hämisch auf.

»Was gibt’s da zu lachen?«, fauchte der Lenkradmann beleidigt und beobachtete, wie der Drache einen Autoschlüssel aus der Handtasche zog, ein Auto damit aufblinkte und davonfuhr.

»Das Ganze hier ist völlig unpsychologisch«, behauptete sein Kollege und fummelte sich mit nervenzerreibender Langsamkeit einen Kaugummi aus Knisterpapier. »Wenn der Oktopus jemals in diesem Haus war, wäre er schon längst geflohen. Das ist logisch. Warum sollte er warten? Warten wäre unlogisch. Also entweder war er nie in diesem Haus, oder aber er ist längst geflohen.« Er schob sich den Kaugummi in den Mund und schmatzte.

Der Lenkradmann krallte die Hände ums Lenkrad, um ihn nicht zu würgen. »Wenn du andeuten willst, ich hätte dieses Haus nicht ordentlich überwacht, während du nur vor dich hin geschnarcht hast, werde ich …«

Aber er kam nicht dazu, zu sagen, was er dann würde. Denn wieder ging die Haustür auf und ein Junge trat heraus, Schulranzen auf dem Rücken, Turnbeutel in der Hand. Sie hatten zwar kein Foto von dem gesuchten Jungen, aber sie wussten, dass in diesem Haus nur ein Junge lebte. Aufgeregt schnappte der Lenkradmann seinem verlangsamten Kollegen das Funkgerät vor der Nase weg. »Achtung, Zentrale! Der, äh … das Känguru verlässt den Bau!«

»Känguru?« Der Kollege grunzte natürlich wieder spöttisch.

»Turnbeutel … Beuteltier … Känguru. Ist doch logisch!« Der Lenkradmann kniff fachmännisch die Augen zusammen und beobachtete den Jungen, der zufrieden in die Sonne blinzelte und dann gemächlich zu den Fahrradständern schlenderte. »Und dieses Känguru schmuggelt gerade den Wischmopp ins Freie. In seinem Schulranzen.«

Der Kollege schnaubte überheblich. »So ein Blödsinn. Dein Känguru ist rein gar nicht verängstigt. Das pfeift sogar! Falsch zwar, aber es pfeift, und das widerspricht jeder Psychologie. Würde es den Wischmopp an uns vorbeischmuggeln, wäre es verängstigt. Und wäre es verängstigt, hätte es einen trockenen Mund. Und mit trockenem Mund kann man nicht pfeifen.«

»Wieso sollte es verängstigt sein?«, gab der Lenkradmann zurück. »Es weiß ja gar nicht, dass wir hier sind!«

»Das kann es sich doch denken.«

Da schaute der Lenkradmann seinen Kollegen nur kalt an. »Lehrbuch, Seite 3.«

Der Kollege zuckte zusammen. Lehrbuch, Seite 3 hatte er völlig vergessen: Kinder denken nicht. Sie sind dumm und wollen es bleiben. Man kann ihnen also alles erzählen.

Der Lenkradmann nickte zufrieden. Man konnte gefeuert werden, wenn man die Grundregeln des Lehrbuchs nicht parat hatte. Ha. Jetzt würde der tolle Schnarchkollege mit seinem Psychologiegequatsche eine angenehme Weile lang einfach mal die Klappe halten. Der Junge schloss ein Fahrrad auf und schnallte seinen Turnbeutel auf den Gepäckträger. Der Lenkradmann startete den Motor. »Zentrale! Nehme Verfolgung auf!«

Aber genau da drehte sich der Junge zum Haus und winkte.

Wem winkt der denn?, dachte der Lenkradmann misstrauisch. Der Drache war doch schon aus dem Haus? Sein Blick glitt nach oben, dorthin, wo das Zimmer des Jungen lag. Und im Fenster sah er …

Doch diesmal war sein Kollege schneller am Funkgerät. »Zentrale«, rief der Kollege mit sich überschlagender Stimme, »haben Sichtkontakt mit … äh, dem Wischmopp. Er ist im Haus. Ich wiederhole. Der Wischmopp ist im Haus!«

»Sie haben jede Befugnis!«, rief das Funkgerät, nicht weniger aufgeregt. »Schnappen Sie den Wischmopp. Die Verstärkung ist in zwei Minuten da.«

Die beiden Männer in ihrer Limousine bemerkten nicht, dass Pepe davonradelte. Und selbst wenn sie es bemerkt hätten – im Fenster winkte ein Oktopus! Und wo ein Oktopus winkte, winkte auch eine Beförderung. Sie sprangen aus dem Auto, hechteten zum Haus. Öffneten mit ihrem Allesschlüssel die Haustür. Liefen die Treppen hinauf zur obersten Wohnung. Knackten die Wohnungstür, stürmten in Pepes Zimmer.

Und da, auf dem Fenstersims, da hockte der Oktopus!

Aber es war nicht der Oktopus, den sie suchten.

Es war ein Oktopus aus Papier, gefaltet in einer höchst komplizierten Origamitechnik. Jemand hatte ihm mit Wachsmalkreide schwarze Saugnäpfe aufgemalt. Und ein freches Grinsen ins Gesicht. Auch die Tentakel winkten nicht. Sie flatterten nur im heißen Luftstrom. Jemand hatte einen laufenden Föhn mit Paketband an die Schreibtischlampe gebunden.

»Das darf nicht wahr sein«, flüsterte der Lenkradmann tonlos.

»Er hat uns reingelegt«, knurrte der Handschuhmann. »Dieses kriminelle Stück Weichtier! Kängurus tragen ihre Babys in Beuteltaschen. Der Schulranzen! Er schmuggelt ihn im Schulranzen! Ich hab’s gewusst! Ich hab’s gesagt!« Auch wenn das gar nicht stimmte. Das genaue Gegenteil hatte er gesagt. Aber bevor der Lenkradmann das richtigstellen konnte, trappelte schon die Verstärkung die Treppe herauf und wenige ungute Sekunden später stürmte der Kommandant samt seiner schwarzen Gorillas ins Zimmer. »Wo ist er?«

Den beiden Anzugmännern blitzten offene Gewehrmündungen entgegen. Sie bekamen augenblicklich kalte Füße. »Wir … Also. Wir glauben, dass der Wischmopp mit dem Känguru das Haus verlassen hat. In seiner Beuteltasche«, erklärte der Lenkradmann und verwendete zum ersten Mal die Wir-Form. Wenn man verkackt hatte, tat man sich in der Wir-Form leichter als in der Ich-Form. Hatte man Erfolge zu vermelden, war es ja meistens genau andersrum.

»Welcher Wischmopp«, bellte der Kommandant, »reden Sie normal, Sie sind hier nicht auf Funkkanal.« Dass er Zivilisten verachtete, wusste jeder in der Firma. Auch die beiden Anzugherren. Das machte das Erklären dieses höchst komplizierten Sachverhalts nicht unbedingt leichter: »Ähm, der Oktopus ist ein Wischmopp und der Junge ein Känguru, weil er den Wischmopp vermutlich in seinem Schulranzen …«

Der Kommandant verdrehte die Augen. »Wo ist der Junge jetzt?«, unterbrach er barsch das Rumgestottere.

»Ähm, das Känguru, also der Junge, also, ähm. Das wissen wir nicht.«

»Sie haben ihn laufen lassen?« Der Kommandant starrte die beiden fassungslos an. »Wie konnte das passieren?«

Die beiden Anzugherren wanden sich wie Schleimaale unter seinem Blick. »Das. Also. Wir wurden abgelenkt.«

Sie zeigten auf den Origamioktopus.

Der Kommandant öffnete ungläubig den Mund und schloss ihn wieder. Wie ein Fisch. Das sah nicht sehr geistreich aus, dachte der Lenkradmann. Aber da wurde er vom Kommandanten angeschrien, dass er sich vor Schreck einen Nerv einklemmte: »Beschreibung des Jungen! Jetzt! Kleidung, Ausstattung, zack, zack, zack!«

»Äh … rote, äh, Jacke«, stotterte der Lenkradmann. »Fahrrad, zwei Reifen. Schulranzen. Neongelber Helm. Allein. Schmächtig. Helle Haare.«

»An alle Anzugeinheiten!«, rief der Kommandant in ein unsichtbares Headset in seinem Ohr. »Fahndung! Suchen ein schmächtiges Känguru mit hellen Haaren in einer roten Jacke. Neongelber Helm! Schulranzen. Auf einem Fahrrad. Allein. Schwarze Limousinen auf die Straße! – Jungs! Abmarsch!« Er tupfte sich Schweiß von der Stirn. »Und Sie beide« – die Anzugherren zuckten zusammen – »Sie melden sich bei Ihrem Teamleiter zum Feedback.«

Den Anzugherren schauderte es. Feedback war eine schreckliche Prozedur. Aber sie sagten beide: »Jawohl.«

Obwohl sie üblicherweise keine Befehle von Sonderkommandotypis entgegennahmen.

7

Der Maulwurf tarnt sich

Pepe trat in die Pedale. Wer auch immer die beiden Männer in ihren edlen Anzügen gewesen waren, die in der schwarzen Limousine hinter der Heckeneinfahrt auf sie gelauert hatten – sie würden sich nicht ewig von einem Papieroktopus aufhalten lassen. Außerdem konnte er, wenn er sich beeilte, zur zweiten Stunde schon in der Schule sein, zurück in seinem normalen Leben. Er würde in Mathe Wahrscheinlichkeiten berechnen, während Rebo einmal um die halbe Welt schwamm. Pepe war sich nicht sicher, was er verrückter fand: dass er gerade einen gejagten Tintenfisch in einem Schulranzenaquarium durch Hamburgs Innenstadt kutschierte – oder dass er es in einer halben Stunde schon nicht mehr tun würde.

An einer roten Ampel hielt er in einer Traube anderer morgendlicher Radfahrer, Menschen auf dem Weg zur Arbeit oder in die Schule. Pepes Blick fiel auf einen Jungen, der ungefähr dieselbe Statur hatte wie er – und ebenfalls blonde Haare. Dieser andere Junge trug eine quietschgrüne Trainingsjacke und einen roten Helm.

Pepe kamen die Worte schneller über die Lippen, als er denken konnte: »Hey, du! Fünfzig Euro, wenn du mit mir Helm und Jacke tauschst.«

Der Junge auf dem Fahrrad starrte Pepe an wie ein Alien. Ja, es war eine sehr teure Jacke, die Pepe da anhatte, ein Geschenk seiner Oma.

»Du willst ’nen Fuffi dafür?« Der fremde Junge schien abzuwägen.

»Nein, du kriegst den Fuffi«, Pepe zog einen Fünfzigeuroschein hervor. Wie gut, dass er ihn sich vorhin noch sicherheitshalber aus der Geldbörse seiner Mutter »geliehen« hatte. Auch wenn er noch nicht wusste, wie er ihn zurückzahlen würde, wenn der fremde Junge das Angebot annahm.

»Fünfzig Euro obendrauf?« Die Augen des fremden Jungen glitten ungläubig über Pepes Jacke. »Das ist eine Jammsona-Jacke.«

»Ja, das ist eine Jammsona-Jacke«, wiederholte Pepe grimmig. »Und du kriegst ’nen Fuffi obendrauf!« Wie konnte man nur so entscheidungsträge sein, wenn jeden Augenblick eine schwarze Limousine auftauchen konnte! »Mein Angebot gilt noch genau zehn Sekunden! Zehn. Neun …«

»Okay, ich mach’s«, der Junge stieg von seinem Fahrrad. »Aber deinen Helm kannst du behalten, der passt mir sowieso nicht.«

»Entweder du tauschst auch den Helm oder der Deal ist geplatzt«, fauchte Pepe. Er wusste nicht, woher er plötzlich seine Bestimmtheit nahm. Aber sie wirkte.

»Okay, okay, Helme auch, kein Problem«.

Pepe unterdrückte den Impuls, sich umzusehen, als sie Jacken und Helme tauschten. Der begriffsstutzige Junge sollte auch weiterhin begriffsstutzig bleiben. Er durfte auch nicht merken, wie verdächtig vorsichtig sich Pepe seinen Schulranzen wieder aufsetzte. Aber er merkte nichts. Er setzte sich nur seinen Rucksack wieder auf und schaute Pepe erwartungsvoll an. Pepe drückte ihm die fünfzig Euro in die Hand.

Die Ampel sprang auf Grün.

Ohne sich zu bedanken oder auch nur zu verabschieden, schwang sich der Junge aufs Fahrrad und radelte geradeaus und wie auf der Tour de France davon, als hätte er Angst, Pepe könnte es sich noch mal anders überlegen. Von hinten konnte man ihn jetzt wirklich für Pepe halten. Aber war das den Fuffi wert gewesen? Doch gerade als Pepe wieder auf sein Rad steigen wollte, fuhr eine schwarze Limousine an ihm vorüber und setzte geduckt wie ein schwarzer Panther dem fremden Jungen nach.

Pepe hielt den Atem an.

Es konnte auch Zufall sein. Oder? Ja, ganz sicher war es Zufall, es gab viele schwarze Limousinen auf der Welt!