Weltverbessern für Anfänger - Stepha Quitterer - E-Book

Weltverbessern für Anfänger E-Book

Stepha Quitterer

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Beschreibung

An Minnas Schule wird ein Wettbewerb ausgeschrieben: Weltverbessern für Anfänger. Echt jetzt?! Immerhin, der Klasse, in der man sich am meisten engagiert, winkt eine Fahrt nach Tallinn. Minna lässt das erst mal kalt. Bis ihre Oma ins Pflegeheim kommt und glasklar wird, welchem Bereich des täglichen Lebens man eine deutliche Verbesserung verpassen könnte. Also organisiert Minna kurzerhand einen Pflegeheimbesuchsdienst. Keine leichte Aufgabe in einer Klasse, die selbst der Schulpsychologe meidet. Rumgezicke, Liebeskummer, Lehrergenerve und getrennte Eltern tun ihr Übriges. Was nach einigen Anlaufschwierigkeiten dann passiert, übersteigt allerdings nicht nur Minnas Vorstellungsvermögen ...

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Für meine Schwester

Und für Marie

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

1

Dass die Grinsinger und wir nicht unbedingt die beste Kombi sind, haben wir schon geahnt, als die Grinsinger noch eine Abkürzung zwischen zwei Klammern war. (Gries) hatte auf dem Stundenplan gestanden, der uns zu Schuljahresbeginn ausgeteilt worden war. Latein und gleich dahinter: (Gries). Die Grinsinger heißt nämlich eigentlich Griesinger. Aber weil die Griesinger gerne breit und falsch über ihr strenges Gesicht hinweg grinst, wenn sie einen Schüler blank- und bloßzustellen beabsichtigt, heißt sie bei allen Schülern eben nur Grinsinger. Es gibt sogar ein Sprichwort bei uns am Martin-August-Gymnasium: »Wenn Grinsinger noch fröhlich grinst, Gefahr schon um die Ecke linst.«

Leider grinst die Grinsinger ziemlich oft.

Als sie heute zur Tür hereingestampft kam, ihren üblichen Automatenkaffee in der einen Hand und einen Packen Blätter in der anderen, wurde es schlagartig nadelfallstill in der Klasse. Wir werden immer nadelfallstill, wenn die Grinsinger in Sichtung kommt, weil sie sofort »hart durchgreift«, sobald sie auch nur das geringste Anzeichen eines schülerschen Respektmangels wittert. Aber heute wurden wir anders still. Wir wurden still wie Vögel, kurz bevor ein Gewitter losbricht. Und wie die Grinsinger den Blätterpacken aufs Lehrerpult knallte, einen übertrieben langen Schlürfer von ihrem Automatenkaffee nahm und sich dann erst zu uns drehte mit diesem seltsamen Grinsen im Gesicht, war klar: Das Gewitter stand direkt über uns. Sogar dem Ferdi war das klar. (Der Ferdi ist Klassenschlechtester, steht in so ziemlich jedem Fach auf der Kippe, sogar in Sport, weil er ständig schwänzt, und er ist etwas schwer von Kapee. Was nicht so schlimm wäre, wenn er wenigstens Wert auf Körperhygiene legen würde. Was er aber nicht tut. Ihn umweht ständig der köstliche Geruch von ausgelatschtem Turnschuh in Dönerfritteuse.)

Die Grinsinger legte qualvoll sachte einen schweinchenrosa lackierten Zeigefinger auf den Blätterpacken und fragte leise: »Wissen Sie, was das ist?« (Die Grinsinger siezt uns, obwohl wir erst in der achten Klasse sind. Kein vernünftiger Lehrer siezt seine Schüler schon in der achten Klasse.)

»Wissen Sie, was das ist?«, fragte sie noch einmal, noch leiser.

Wir ahnten es. Es konnte nur die Katastrophenex der letzten Stunde sein. Die korrigierte Katastrophenex* der letzten Stunde.

»Das hier«, sagte die Grinsinger und pikste schweinchenrosa in den Blätterstapel, »das hier hat mir sehr große Freude bereitet.« Sie funkelte uns über die Ränder ihrer Brille hinweg an. »Und nicht nur mir.«

Aber bevor uns die Grinsinger eröffnen konnte, wem das Lateindesaster der letzten Stunde denn noch so eine schier unbändige Freude bereitet hatte, klopfte es an der Tür und die Muhbalk streckte ihren Kopf herein.

Die Muhbalk mag jeder. Was nicht automatisch bedeutet, dass jeder auch Englisch fantastisch findet. Aber über die Muhbalk ist man sich einig: Sie ist der gutmütigste Lehrermensch dieser Welt. Wenn sie uns ausfragen muss, beispielsweise, ist es ihr so unangenehm, dass sie sich erst mal minutenlang dafür entschuldigt. Und vor lauter Angst, dass wir eine Antwort nicht wissen könnten, zippelt sie dann nervös an ihrem goldenen Halskettchen. Wenn sie ausfragerisch an den Ferdi gerät, ist es besonders schlimm, dann zieht und zerrt sie an dem Kettchen, dass es fast abreißt und der Muhbalkhals hinterher dünne rote Striemchen aufweist. (Vor lauter Mitgefühl flüstert sie dem Ferdi sogar noch vor und denkt tatsächlich, dass wir es nicht mitbekommen. Was natürlich völlig absurd ist, weil wir sie erstens flüstern hören, zweitens der Ferdi sich zur Muhbalk vorbeugt, damit das Vorgesagte besser an seine zugeschmalzte Ohrmuschel dringen kann, und er drittens dann auch noch die Muhbalk ungeduldig auffordert, doch bitte etwas deutlicher zu sprechen. Dass die Muhbalk trotzdem so ein Mitgefühl für ihn aufbringt, zeigt, wie unerschütterlich ihr Lehrerwille ist.) Nur wenn die Muhbalk ausfragerisch an den Timo gerät, hat das Kettchen Ruhe. Dann schließt die Muhbalk ihre Augen, lehnt sich im Stuhl zurück und formt mit frommen Lippen stumm die Vokabeln mit, die ihr der Timo laut und deutlich in friedlicher Konjugation runterbetet. Zum Glück gibt es den Timo. Oder vielmehr die Timomama, die aus Australien kommt und den Timo und seine Schwestern zweisprachig erzieht. Aber wir anderen hängen uns natürlich auch rein und lernen Englischvokabeln, was das Zeug hält, damit die Muhbalk unseretwegen keinen Herzinfarkt kriegt. Ja, wir fressen der Muhbalk aus der Hand. Weil sie uns mag. Von der Grinsinger kann man weder das eine noch das andere behaupten. Weder fressen wir ihr aus der Hand, noch würde irgendjemand klaren Verstandes behaupten, die Grinsinger würde auch nur einen ihrer Schüler mögen. Ich bin nicht sicher, ob es überhaupt jemanden gibt, den die Grinsinger mag. Die Muhbalk mag sie jedenfalls auch nicht.

Als die Muhbalk den Kopf in unser Klassenzimmer gestreckt hat, hat das Grinsingergesicht wie wild zu zucken angefangen. Wie ein Saturday Night Fever hat es vor sich hin gezuckt. »Ja bitte«, hat die Grinsinger gedehnt gefragt und es war mehr als deutlich, dass sie die Muhbalk am liebsten in ihren Automatenkaffee gestippt hätte. Die Muhbalk hat natürlich sofort angefangen, an ihrem Kettchen zu fingern, und hat gesagt, sie würde nur ganz kurz stören wollen, wegen des Wettbewerbs.

Da hat das Grinsingergesicht noch mehr gezuckt. Und die Grinsinger hat wieder einen sehr langen Schluck von ihrem Kaffee genommen. Was äußerst unangenehm für die Muhbalk war, weil sie wie ein dämlicher Fünftklässler in der Tür stehen und warten musste. Aber dann hat die Grinsinger mit ihrer Schweinchenhand eine gnädige Bewegung gemacht, die der Muhbalk gestattete, ein paar Schritte ins Klassenzimmer hineinzutrippeln. (Die Muhbalk ist Konrektorin, die Grinsinger hätte gar nichts anderes machen können, als sie reinzulassen.)

Die Muhbalk hat kurz die Augen geschlossen, als könnte sie sich die Grinsinger einfach wegdenken, dann hat sie Luft geholt und freudig gerufen: »Meine lieben Kinder!« (Aus irgendeinem Grund nennt sie uns ständig »meine lieben Kinder!«, auch wenn wir streng genommen natürlich keine Kinder mehr sind, ihre schon gleich gar nicht.)

»Meine lieben Kinder! Ich freue mich sehr, dass unsere Schule wieder an einem der großartigen Wettbewerbe teilnehmen darf, die die ortsansässige Hubert-Kanauer-AG regelmäßig auslobt.«

Die halbe Klasse hat den Basti angestarrt (die andere Hälfte hat die Unterbrechung genutzt, um schnell noch einen Blick ins Lateinbuch zu werfen). Der Basti ist der Sohn des Herrn Hubert Kanauer – und außerdem mein bester Freund und Sitznachbar. Der Basti ist rot angelaufen und hat konzentriert die Muhbalk angestarrt. Er kann es nämlich überhaupt nicht leiden, im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses zu stehen. Was aber nicht selten vorkommt, da sein Papa ein anerkannter und leidenschaftlicher Freund und Förderer unseres Gymnasiums ist und ungefähr so ziemlich alle Projekte und Wettbewerbe an unserer Schule überhaupt nur durch die großzügige Zuwendung des Herrn Hubert Kanauer zustande kommen.

»Der diesjährige Wettbewerb heißt ›Weltverbessern für Anfänger‹«, hat die Muhbalk weiter erzählt, »jeder, der mitmachen will, engagiert sich in einem kleinen Bereich seines alltäglichen Lebens, den er für verbesserungswürdig hält – und verbessert ihn.«

»Was ist denn so ein kleiner Bereich?«, hat die Vanessa eifrig gefragt, ohne den Blick von ihrem Collegeblock zu heben. Die Vanessa schreibt immer alles mit, was die Lehrer sagen.

»Das könnt ihr frei aussuchen. Jede Verbesserung, die nicht nur euch, sondern auch einem möglichst großen Kreis anderer hilft, gilt. Wenn ihr also der Meinung seid, die Fahrradständer unten vor dem Fahrradkeller sollten besser auf der linken Seite aufgestellt werden, damit es zukünftig keine Kollisionen mehr mit den Autofahrern gibt, dann begründet schriftlich, warum das passieren muss, kümmert euch darum, dass es passiert, dokumentiert die Umsetzung, am besten mit Fotos, und reicht alles bis zum ersten Juni im Sekretariat ein.«

»Dann weiß ich schon, was ich mach«, hat der Stiebereder gerufen, der den Basti schon seit der Fünften nicht verknusen kann und jedes Mal die Krise kriegt, wenn Hubert-Kanauer-Rampenlicht auf den Basti fällt. »Ich bau den Klopapierhalter bei mir zu Hause von links nach rechts. Dann komm ich da besser ran!«

Wahnsinnig witzig.

Aber die Muhbalk ist ruhig geblieben: »Ich bin zum Glück nicht darüber informiert, wie groß der Kreis derer ist, die von einer solchen Maßnahme profitieren würden, lieber Egon, aber um zu gewinnen, solltest du dich vielleicht einem etwas relevanteren Bereich deines alltäglichen Lebens zuwenden.«

»Was gibt es denn zu gewinnen?«, haben ein paar durcheinandergerufen, was die Grinsinger zum Anlass genommen hat, sich missbilligend zu räuspern. Die Muhbalk hat sofort wieder an ihrem Kettchen gezippelt und schnell gesagt, dass der Herr Kanauer wirklich sehr großzügig sei und es jede Menge Preise gebe, die sie aber jetzt nicht alle aufzählen könne, nur so viel: Die Klasse, in der man sich am herausragendsten engagiere, bekomme eine Klassenreise nach Tallinn spendiert. Und dann hat sich die Muhbalk noch mal bei der Grinsinger für die Störung entschuldigt und ist rückwärts aus dem Klassenzimmer hinausgetrippelt, auf Zehenspitzen, damit ihre Absätze nicht zu laut klackern.

* Für alle, die das Schreiben von Exen nicht im Instrumentarium ihrer schulalltäglichen Folterkammer haben: Eine Ex ist ein nicht angesagter, aus dem Hinterhalt kommender Spontantest, der den Stoff der letzten Stunde abfragt und je nach Lehrercharakter beliebig häufig vorkommen kann. Der Vollständigkeit halber und im Grinsingersinne sei noch darauf hingewiesen, dass sich »Ex« nicht auf einen abgelegten Lebensabschnittspartner bezieht, sondern auf das Wort »Extemporale«, welches, oh Überraschung, aus dem Lateinischen kommt und so viel wie »aus dem Stegreif« bedeutet.

2

»Ha!«, hat die Grinsinger hämisch aufgelacht, kaum dass die Muhbalk die Tür hinter sich geschlossen hatte, »Weltverbessern für Anfänger«. Sie schnaubte verächtlich. »Das müsste doch eher ›Weltverbessern für Amateure‹ heißen, bei dem ganzen Dilettantismus, den Sie und Ihre Generation da so aufgeblasen veranstalten. Schule schwänzen, das ist alles, was Sie zuwege bringen, und was kommt dabei raus außer schlechten Noten? Bildung ist der einzige …« Sie unterbrach sich in ihrer Tirade, als würde ihr gerade eine weitere, eine viel bessere Gemeinheit einfallen. »Wer von Ihnen weiß denn überhaupt, was ein Amateur ist?«

Keiner von uns hat den Arm gehoben. Obwohl wir natürlich wissen, dass ein Amateur irgendwas mit amare, dem lateinischen Wort für »lieben« zu tun haben muss. Wenn die Grinsinger schon so fragt.

»Ich sage Ihnen, was ein Amateur ist«, säuselte die Grinsinger, kippte den letzten Schluck Kaffee hinunter und zerquetschte den leeren Becher in der Faust, dass das braune Plastik splitterte, »nämlich Sie. Sie allesamt!« Sie schleuderte das Becherskelett in den Mülleimer. »Sie nehme ich davon aus, Herr Ischgl, Sie haben natürlich wieder volle Punktzahl.«

Der Javi verkroch sich halb unter seiner Bank, so unangenehm war ihm sein Lateingeniedasein, wenn es von der Grinsinger gelobt wurde.

Die Grinsinger zog einen ihrer geliebten Zeigestäbe aus ihrer imitierten Krokoledertasche. (Der Zeigestab ist die abgebrochene Antenne eines Uraltradios. So ein Metallsteckding, das man wie ein Teleskop ausziehen kann. Aus der Zeit, als Radios noch Antennen wie Langusten hatten. Die Grinsinger rennt wahrscheinlich jeden Sonntag auf alle umliegenden Flohmärkte und kauft sämtliche Bestände an Uraltradios mit Antenne auf, denen sie dann zu Hause mit ihren spitzen Fingern den Garaus macht. Damit sie immer einen Zeigestabvorrat hat. Hin und wieder bricht ihr nämlich so ein Zeigestäblein ab. Wenn sie sich mal wieder fürchterlich über eine falsche Deklination aufregen muss.)

»Das Wort ›Amateur‹«, hob die Grinsinger mit ihrer selbstzufriedenen Vortragsstimme an und dirigierte sich mit der abgebrochenen Antenne selbst den Takt dazu, »kommt, wie die meisten von Ihnen sich nicht denken können, von amator, amatoris: der Liebhaber, Verehrer. Ein Amateur ist also jemand, der eine Sache aus Liebe und Leidenschaft ausübt. Im Gegensatz zu einem Profi – professio, professionis: der Beruf, die Neigung –, der eine Sache zum Zwecke der Erwerbstätigkeit ausübt, beziehungsweise ausüben kann aufgrund seiner qualificatio, qualificationis: die Eignung, Qualifikation.«

»Ich hör nur »Qual – quälen«, flüsterte der Basti mit geschlossenen Lippen. Ich grunzte zustimmend.

Die Grinsinger riss ihren Kopf herum und blitzte in unsere Richtung. Ich hustete schnell ein bisschen. (Weil ich als Kind sehr oft Lungenentzündung hatte und mir davon »etwas geblieben ist«, wie die Suse sagt, kann ich glücklicherweise jederzeit husten, als wären meine Lungenflügel die reinste Abrissbaustelle.)

Die Grinsinger schaute missbilligend, ließ aber wieder von uns ab und setzte ihre Ansprache fort: »Ein Amateur also ist, wir halten fest, ein Liebhaber. In erster Definition. In zweiter Definition kann »Amateur« auch abfällig gebraucht werden. Dann ist ein Amateur nichts anderes als ein Nichtskönner und Versager.« Sie machte eine kurze Pause, in der sie unser Schweigen genoss. Dann folgerte sie zufrieden: »Da Sie der lateinischen Sprache kaum in Liebe und Leidenschaft zugewandt sind, wie sich wieder einmal bestätigt hat«, sie deutete mit ihrer Radiogliedmaße angewidert auf den Blätterstapel, »kommt für Sie wohl oder übel nur Definition zwei zur Anwendung.«

Die Äuglein der Grinsinger zuckten boshaft, während wir zunehmend unwohl auf unseren Stühlen hin und her rutschten. Wir hätten, so die Grinsinger weiter, aus purer Unlust und ihr zum Trotz einfach kein Gespür, wie das Lateinische im Allgemeinen und der Ablativ im Besonderen zu handhaben wäre. Und weil sie wegen des miserablen Notendurchschnitts der Stegreifaufgabe von letzter Stunde zum Direktor zitiert worden sei, um für das Zustandekommen der schülerschen Nichtleistung eine Erklärung abzuliefern, welche aber wiederum vonseiten des Direktors entschieden angezweifelt worden sei, werde sie hier und jetzt und auf der Stelle dem Direktor den Beweis erbringen und die Stegreifaufgabe, wie sie letzte Stunde geschrieben wurde, einfach wiederholen. Punkt. Stift raus, Unterlagen weg, Sichtsperre auf den Tisch, Tasche oder Ordner, das sei ihr egal, nur, das verstehe sich, nicht das Lateinbuch. »Und Sie, Herr Ischgl, Sie kommen zu mir nach vorne und setzen sich ans Lehrerpult, nicht, dass Sie mir die anderen mit Ihrer Liebe und Leidenschaft in Versuchung führen.«

Wir waren baff.

»Aber sie können doch nicht dieselbe Ex noch mal!«, rief der Falk.

Das Grinsen wurde Zuckerguss: »Es ist die gleiche Ex, Herr von Beumerin, nicht dieselbe. Und ich kann sehr wohl. Denn einer Stegreifaufgabe liegt, wie Ihnen sehr wohl bekannt sein dürfte, der Stoff der jeweils letzten Stunde zugrunde.«

»Aber wir haben doch auf heute gar nichts gelernt!«, rief die Mia.

»Eben!«, gluckste die Grinsinger fröhlich und teilte emsig die Aufgabenblätter aus. »In dieser Klasse herrschen schließlich Faulheit und Desinteresse! Und das werde ich jetzt dem Herrn Kopetzki beweisen, wenn er es nicht glauben will.«

Der Herr Kopetzki ist unser Direktor.

»Übrigens«, die Grinsinger warf einen rhetorischen Blick auf ihre Armbanduhr, »Ihre Zeit läuft bereits. Sie können sich aussuchen, ob Sie noch länger mit mir diskutieren wollen oder die verbleibenden Minuten doch lieber Ihrer Übersetzung widmen.«.

»Aber das ist ein stilles Gesetz!«, rief der Basti und sprang von seinem Platz auf. »In der Stunde nach ’ner Ex werden keine Noten gemacht!«

»Ach, ist das so?«, fragte die Grinsinger gespielt überrascht. »Dann ist es aber wirklich an der Zeit, dieses stille Gesetz abzuschaffen. Oder glauben Sie, dass Sie sich da draußen«, sie deutete aus dem Fenster, hinaus in die freie Welt, »auch hinter ›stillen‹ Gesetzen und Ihrem Papi verstecken können?«

Das war eine bodenlose Gemeinheit. Der Basti ist wirklich der Allerletzte, der sich hinter seinem Papa verstecken würde. Im Gegenteil, der Basti wünscht sich manchmal sogar etwas weniger Papaschatten. Er wurde vor Wut ganz weiß im Gesicht und sein Mund klappte auf und zu, wie bei einem Fisch, der auf dem Anglersteg in der Sonne liegt und sich wundert, dass er die Luft nicht trinken kann. Die Grinsinger war sehr zufrieden über seine jämmerlichen Trinkversuche. »Also setzen Sie sich«, sagte sie leise drohend, »am besten still.«

Der Stiebereder gluckste vor Vergnügen und Genugtuung. So etwas konnte ich nicht unkommentiert hinnehmen.

»Nein, wir setzen uns nicht!«, rief ich und sprang auch auf. »Wir lassen uns nicht in die Pfanne hauen, nur weil Sie schlechten Unterricht machen! Wir verweigern!«

»Jawoll!«, rief jetzt der Christoph und sprang auch auf, was sehr verwunderlich war, denn der Christoph ist eigentlich ein wohlerzogener, gefönter und gebügelter Schülerling voll der Strebsamkeit. Noch dazu hat der Christoph praktisch gar nichts mit uns zu tun, da war keine Freundschaft seit der ersten Klasse, die ihn zu einem derartigen Musketierverhalten verpflichtet hätte. Keine Ahnung, was ihn geritten hat. Er klatschte sogar über dem Kopf in die Hände und schwang seine Hüften dazu. Sehr seltsam. Auch die Grinsinger hob erstaunt ihre nachgezogenen Augenbrauen. Aber sie hatte gar keine Zeit, sich richtig zu wundern, denn jetzt sprang auch der Pawel auf und mein Magen fühlte sich plötzlich an, als würde er sackhüpfen.

»Wir verweigern geschlossen!«, rief der Pawel und sah dabei unheimlich gut aus mit seinen braunen Locken und den großen Augen in ihren tiefen Höhlen. »Wenn wir alle nichts auf die Ex schreiben, dann können Sie auch nichts korrigieren!«

»Jawoll!«, der Basti hatte endlich seine Sprache wiedergefunden. »Und da werden Sie dem Kopetzki erst recht was erklären müssen!«

Herausfordernd stierten wir auf die Grinsinger. Wenn wir ein Jagdhorn gehabt hätten, hätten wir ihr einen Marsch geblasen, dass ihr das dämliche Grinsen vergangen wäre!

Das Grinsen ist ihr auch tatsächlich einen Moment lang runtergerutscht. Man konnte deutlich die Risse und Furchen sehen, die das Gesichtsverzerren in der rosa Make-up-Schicht hinterlassen hatte. Aber die Gesichtsentgleisung dauerte nur wenige Sekunden, dann hatte sich die Grinsinger wieder unter Kontrolle, und was sie dann mit süßlicher Flötenstimme von sich gab, war der Gipfel aller grinsingerschen Schandtaten. »Kanauer, Plimczak, Koetherott und Fellner: Verweis wegen frechen Aufmüpfens. Nach der Stunde mitkommen und Verweise im Lehrerzimmer abholen. Falls sich noch jemand anschließen möchte: nur zu. Den Übrigen empfehle ich, sich schleunigst um ein besseres Ergebnis als das der letzten Stunde zu bemühen. Sonst kann ich leider für einige von Ihnen für eine Versetzungsempfehlung nicht garantieren.«

Ganz still war es plötzlich in der Klasse. Keiner hat ein Wort gesagt. Nur geschluckt haben ein paar. Und der Stiebereder, der hat natürlich lautlos gefeixt und an den angespannten Rücken von Finja und Co habe ich auch ablesen können, dass man dort eine kleine innere Vorbeifahrt feierte. Dann haben die Kugelschreiber geklickt und alle um uns herum haben zu schreiben angefangen.

Wir vier sind erst blöd in der Gegend rumgestanden, wie diese bescheuerten Riesennussknacker auf dem Weihnachtsmarkt, denen die Kinnlade runterhängt und von denen keiner weiß, wozu sie eigentlich gut sein sollen. Dann haben wir uns hingesetzt und auch zu schreiben angefangen. Uns jetzt noch einen Sechser einhandeln wollten wir schließlich auch nicht.

Der Basti hat mir einen heimlichen Komplizenblick zugeworfen. Ihm war der Verweis herzlich egal. Grundsätzlich hat er ja recht, aber ein bisschen mulmig war mir schon. Schließlich war es mein erster, seiner nicht. Außerdem weiß ich, dass der Bastipapa in seiner Schulzeit selbst fünf Verweise an zwei verschiedenen Schulen kassiert hat, und jetzt ist er Chef von drei Firmen. Deswegen ist der Herr Kanauer auch stolz, wenn sein Sohnemann einen Verweis anschleppt. »Kleiner Racker«, sagt er dann und fährt mit ihm zum Gokart. Ich hab zwar keinen Schimmer, wie die Suse reagiert, wenn ich ihr meinen blauen Wisch unter die Nase halte, aber zum Gokart fährt sie wahrscheinlich nicht mit mir. Andererseits wird es mir auch nicht so schlimm ergehen wie dem Pawel. Sein Verweis wird Wasser auf die Mühlen des Pawelpapas sein. Der Pawelpapa ist nämlich der Ansicht, dass sich die jungen Leute auf einem Gymnasium nur Flausen und Fliegeneier in den Kopf setzen lassen und der Pawel kein Abitur braucht, um die Fleischerei zu übernehmen. Wäre die Pawelmama nicht absolut standhaft, was den Pawel betrifft, der Pawel hätte sich seinen Traum vom Auslandsjournalismus schon längst an den Nagel hängen können. Dann wär er jetzt Lehrling in der Fleischerei und müsste Kacheln schrubben, die weichen Pawellocken hygienisch unter einem hellgrünen Haarnetz versteckt.

Aber am allerschlimmsten wird es den Christoph treffen. Der Christophpapa ist Rechtsanwalt bei Google, wo er andere fürs Musikrunterladen verklagt und fettes Geld verdient, und der Lebensinhalt der Christophmama besteht aus nichts anderem als dem ergebenen Waschen und Föhnen und Bügeln der drei Rechtsanwaltkinder. Der Christoph darf gar nichts, außer Tennis und Golf spielen mit seinem Trainer. Noch nicht mal im Verein trainieren darf er, immer nur mit seinem Einzeltrainer, weil er andernfalls schlechten Umgang hätte pflegen können, vielleicht sogar mit Vertretern des weiblichen Geschlechts. Ich kann mir schon vorstellen, was bei denen zu Hause abgeht heute, wenn der Christoph mit dem Verweis ankommt, noch dazu, wo der Verweis von der Grinsinger unterschrieben sein wird. Bei der Grinsinger war der Fellner senior seinerzeit nämlich auch in Latein und angeblich war er der Beste und hat sogar irgendwelche Landespreise für seine einfühlsamen Lateinübersetzungen gewonnen. Ich sag ja, ich weiß nicht, was den Christoph geritten hat.

Jedenfalls ist die Grinsinger sehr zufrieden durch die schweigsamen Reihen gestakst und hat sich hin und wieder über einen von uns gebeugt, um unser Gestopsel zu lesen. Woraufhin sie jedes Mal übertrieben bekümmert den Kopf geschüttelt und geseufzt hat: »Weltverbessern für Anfänger! Wie wäre es mit Lateinverbessern für Anfänger? So als Anfang.«

3

Nach der Stunde sind der Basti, der Pawel, der Christoph und ich gesenkten Hauptes und im Schlepptau der grinsingerschen Parfümwolke zum Lehrerzimmer marschiert und haben uns brav unsere Verweise aushändigen lassen.

»Bei der Frau fehlt’s doch«, hat der Basti geschimpft, als wir anschließend durch die Aula und nach draußen gegangen sind, »die kann mich mal in der goldenen Mitte meiner Sitzfleischgegend!« (Der Basti darf zu Hause keine Kraftausdrücke verwenden, weil die Frau Kanauer sehr empfindlich auf die Verwendung von Ordinärsprache reagiert. Das vertragen ihre zerrütteten Nerven nicht. Sagt sie. Deswegen muss jeder, der sich bei den Kanauers einen derben Kraftausdruck zuschulden kommen lässt, fünf Euro in ein hässliches, pinkes Sparschwein aus Pappmaschee stecken, das der Basti mal in der Grundschule gebastelt hat. Mit dem gesammelten Geld will sich die Frau Kanauer im Spa ins Heubad legen, damit sich ihre zerrütteten Nerven wiederherstellen können. Sagt sie. Aber weil sich der Herr Kanauer und seine vier Söhne auf die blumige Umschreibung von Kraftausdrücken verlegt haben, als Sport und Hobby sozusagen, muss sich die Frau Kanauer mit ihren zerrütteten Nerven immer ohne Sparschweininhalt ins Heubad legen.)

»Hoffentlich erstickt die bald an ihrem Grinsen«, hat der Basti weiter gepulvert, »am besten noch, bevor sie die Ex korrigiert.«

»Es hätten nur alle mitmachen müssen«, hab ich gesagt, »dann hätt’s funktioniert. Wenn wirklich keiner was auf die Ex geschrieben hätte.«

»Träum weiter«, hat der Pawel gesagt und ich hatte sofort wieder so einen kleinen Magenhüpfer, »du kannst doch nicht verlangen, dass der Zitzi seine Versetzung riskiert für ein Heldentum. Oder der Matze, der steht doch auch auf der Kippe. Und die paar Damen, die sich morgens noch die Zöpfe von der Mama flechten lassen, werden auch nicht gleich die Rebellion proben, nur weil den Miniköter Rotz mal wieder der Hafer sticht.«

Ich schnaubte leise. Seit mir der hinterhältige Hinterhuber mal in der Fünften eine Ladung Haselnussjoghurt über die Haare geschüttet hat und ich daraufhin natürlich wie ein mondsüchtiger Wolfshund zu heulen angefangen habe, heiße ich bei einigen Subjekten nicht mehr Minna Koetherott, sondern Miniköter Rotz. Bei den Subjekten handelt es sich namentlich um die Finja und ihre dämlichen Freundinnen. Normalerweise mag ich es nicht, wenn man mich bei meinem Spitznamen nennt. Aber so, wie ihn der Pawel gerade intoniert hatte, hätte mir der hinterhältige Hinterhuber noch zwanzig Haselnussjoghurts übers Haupthaar schütten können.

»Warum will dein Pa denn, dass wir die Welt verbessern?«, hat der Pawel noch den Basti gefragt.

Der Basti hat den Kopf gesenkt und genuschelt: »Ihn nervt’s, dass alle immer nur vor ihren Handys hängen und das Drumherum nicht wahrnehmen.« Der Basti hat echt ein Problem, er denkt immer, dass er sich dafür schämen muss, dass sein Papa sich Wettbewerbe ausdenkt und die ganze Schule ihn kennt. Er denkt, alle denken, dass der Basti wahnsinnig eingebildet ist wegen seinem Papa oder weil die Kanauers so viel Geld haben. Und deswegen wird ihm alles peinlich und er kann nur noch nuscheln, wenn man ihn was zu seinem Papa fragt.

Da hat der Christoph aber – mit dem ihm auch sonst so eigenen Horizont einer Espressountertasse, den er von all der heilen Welt hat, in der er abgeschirmt von Erfahrung und von Bösem vor sich hin babypuderzuckert, ohne je raus zu dürfen – gesagt: »Aber es machen doch schon ganz viele was. Demonstrieren und so.«

Der Basti hat den Kopf noch ein Stückchen weiter sacken lassen und hat genuschelt: »Mein Papa findet, dass man die Ärmel hinterkrempeln und mit seinen Ressourcen was anfangen soll. In seinem Umfeld. Weil es nämlich immer was zu tun gibt. Er sagt, man soll immer bei sich selbst anfangen. Aber eben was tun und nicht nur reden.«

»Versteh ich jetzt den Bedarf nicht«, hat der Christoph gesagt.

Aber der Pawel hat nachdenklich genickt. Und dann hat er »Find ich echt super« gesagt und dass er schon gespannt ist, was sich alle ausdenken, und da hatte der Basti seinen Kopf schon fast wieder ein bisschen gehoben, hätte nicht der Christoph gefragt: »Ja, aber wieso denn Tallinn?« In einem Ton, als hätte der Basti fahrlässigerweise vergessen, bei seinem Papa ein paar Schrauben nachzuziehen. »Ich meine, wer will denn schon nach Lettland?!«

»Tallinn liegt in Estland, du Pfosten«, hat da der Pawel nur trocken gesagt, »und ich will da auf jeden Fall hin.« Dann hat er dem Basti und mir zugenickt und ist Richtung Busparkplatz geschlendert. Und da hat auf einmal auch der Basti so ausgesehen, als hätte man ihm Haselnussjoghurt literweise drüberschütten dürfen.

4

Es ist an diesem Tag etwas später geworden, bis ich nach Hause gekommen bin. Weil der Basti noch eine rauchen wollte, heimlich, unten am Sportplatz. Aber deswegen ist es nicht später geworden, der Basti raucht oft noch eine, bevor wir gemeinsam den Nachhauseweg antreten. Später geworden ist es, weil der Christoph gemeint hat, jetzt, wo er einen Verweis bekommen hat, wär eh schon alles egal, und er hat auch eine rauchen wollen. Wir haben ihm gesagt, dass er noch einen Verweis riskiert, wenn er mit zum Sportplatz kommt. Aber er hat nur mit den Achseln gezuckt. Da haben wir auch mit den Achseln gezuckt und er ist mitmarschiert.

Unten beim Sportplatz, an der Rennbahn, gibt es eine Tribüne, die aus unerfindlichen Gründen absolutes Schülersperrgebiet ist. Der Aufenthalt am Sportplatz ist zu sportunterrichtsfremder Zeit nicht gestattet. Während der Pausen gibt es sogar extra eine lehrkörperliche Pausenaufsicht, die den Grenzübergang zum Sportplatz überwacht. Aber auch während des Sportunterrichts hält sich nie jemand auf der Tribüne auf. Weil wir praktisch nie auf den Sportplatz gehen, sondern immer nur in der Halle bleiben. So richtig gebraucht im Sinne von Zuschauer-sitzen-in-den-Rängen wird die Tribüne auch nie. Bei uns gibt es keine Sportfeste oder Wettkämpfe oder Fußballspiele oder Baseballspiele oder was die Amerikaner unserer Partnerschule alles Schickes haben, mit Cheerleader und Barbecue, zweimal die Woche. Unsere Sportlehrer sind schließlich nicht Sportlehrer geworden, weil sie mit uns richtig tollen Sport machen wollen. Sondern weil sie mit Sport keine Klausuren korrigieren müssen und trotzdem vierzehn Wochen Ferien im Jahr haben.

Mitten in den tristen Tribünenreihen steht ein kleines Betonhäuschen, das wohl mal für all die Sportmoderatoren gebaut wurde, die wir nicht haben, und das schulweit nur Führerhäuschen heißt. Nicht nur, weil es die Form und Größe eines Lkw-Führerhauses hat. Sondern auch und hauptsächlich, weil die ganze Betontribünenarchitektur rundherum ziemlich Albert-Speer-mäßig anmutet. Und Albert Speer war der Lieblingsarchitekt von Hitler. Aus der albertspeerigen Betonreihensauberkeit ragt das Führerhäuschen wie eine Insel heraus. Eine Drecksinsel. Denn von außen ist das Führerhäuschen tadellos sauber. Aber innen ist alles mit Graffiti und Tags vollgeschmiert und am Boden liegt eine knöchelhohe Dreckschicht aus Kippen, leeren Bierdosen, alten Kondomen und vollgewichsten Taschentüchern. Seit der Hausmeister in den Führerhausecken benutzte Spritzen gefunden hat, weigert er sich nämlich, das Führerhäuschen vom Unrat zu befreien, und jetzt sammelt sich da alles nach Herzenslust.

Wir saßen auf dem fensterlosen Fenstersims. Der Basti hat eine für sich gedreht und eine für den Christoph. Aber als der Christoph an seiner Zigarette gezogen hat, hat er erst fürchterlich husten müssen, dass er fast erstickt wäre, dann ist er bleich geworden im Gesicht, dann hellgrün und dann hat er sich wortlos zur Seite gebeugt und auf die Tribüne gekotzt. Der Basti und ich, wir haben uns angesehen. Dann haben wir warten müssen, bis es dem Christoph wieder einigermaßen besser gegangen ist und er sich wieder hat aufsetzen können. Was ein bisschen gedauert hat, weil sich der Christoph in einen schrecklichen Selbstmitleidsanfall reingesteigert hat. Richtig geschüttelt hat es ihn vor lauter Heulerei. Dass er von zu Hause rausfliegt, hat er geheult, jetzt, wo er einen Verweis hat, und dass es ein schlimmes Ende mit ihm nehmen wird, jetzt, wo er praktisch schon enterbt ist. Er hat so geflennt, dass ihm der Nasenschleim in den Mund gelaufen ist, was wirklich eklig ausgesehen hat, aber wir hatten kein Taschentuch. Wir hätten ihm höchstens eins von den vollgewichsten Dingern vom Boden geben können.

Jedenfalls hat es ewig gedauert, bis wir den Christoph wieder auf die Beine bekommen haben. Und als es ihm wieder halbwegs besser gegangen ist, hat er partout weiterrauchen wollen. Zur Beruhigung, hat er gesagt, und weil die Kotzerei nur von der Aufregung und nicht vom Rauchen gekommen sei. Hat er gesagt. Der Basti hat wieder mit den Achseln gezuckt, und weil er selber noch eine rauchen wollte, hat er ihm halt auch noch eine gedreht. Aber genau in dem Moment, in dem der Christoph an seiner Kippe gelutscht hat, stand plötzlich der Böhnisch vor uns. Der Böhnisch ist Mathelehrer. Keine Ahnung, was der um die Zeit am Sportplatz zu suchen hat, wahrscheinlich wollte er auch eine rauchen. Jedenfalls ist er schnurstracks auf uns zu und hat dem Christoph und dem Basti einen Verweis angekündigt. Wegen Rauchen auf dem Schulgelände. Der Christoph hat sofort wieder angefangen zu heulen, ich glaube, der war richtig durch. Der Böhnisch ist aber zum Glück ein Lehrer, der gern mal ein Auge zudrückt, und er hat den Christoph und den Basti nur aufgefordert, umgehend ihre Kippen auszumachen. Aber weil der Christoph seine Kippe gleich panisch von sich geworfen hat, dem Böhnisch praktisch direkt vor die Latschen, hat der Böhnisch ihm dann doch zwei Sozialstunden aufgebrummt, in denen er das Führerhäuschen säubern soll. Echt kein guter Tag für den Christoph. Dem Christoph hat der Unterkiefer gezittert und er hat fast schon wieder zu flennen angefangen.

»Und warum kriegt der keine Sozialstunden?«, hat er gefragt und auf den Basti gezeigt.

»Weil ich meine Kippen nicht einfach auf dem Boden rumliegen lass«, hat der Basti lässig geantwortet und doch tatsächlich einen Taschenaschenbecher aus der Hosentasche gezogen, einen silbernen, mit eingraviertem Geschnörkel auf dem Deckel. Er hat in aller Ruhe den Deckel aufgeklappt, seine Kippe ausgedrückt, den Deckel wieder zugeklappt und den Taschenascher wieder in seiner Hosentasche verschwinden lassen. »Wie sieht denn das sonst aus überall, schau doch mal«, hat der Basti gesagt und betrübt auf die lümmelnden Kippen im Eichenlaub gezeigt, »in Singapur kostet dich so was zweihundertfünfzig Euro Strafe.« Und dann hat er mich untergehakt und wir sind am Christoph und am Böhnisch vorbei und auf und davon spaziert.

»Seit wann benutzt du denn bitte schön einen Taschenascher?«, hab ich gefragt, als wir außer Hörweite waren.

»Tu ich gar nicht«, hat der Basti gesagt und breit gegrinst, »der ist für meinen Papa zum Geburtstag. Hat mir der Pepper mitgebracht, weil die Gravur fertig ist.« Er hat das Silberding aus der Tasche gezogen und zärtlich betrachtet. »Aber vielleicht leg ich mir auch so einen zu. Ist ja wirklich nicht gut, die ganzen Kippen am Boden, fürs Grundwasser und so. Aber jetzt bitte schleunigst zur Frau Gerstenberger, ich muss den Christophschnösel mit einer Leberkässemmel runterspülen. Erst dreht man ihm zwei und dann will er auch noch petzen, das Kameradenferkel.«

5

Bei der Frau Gerstenberger und ihrem Glaspalast kommen wir auf dem Nachhauseweg vorbei. Der Glaspalast ist eine kleine Imbissbude am Busparkplatz, und weil die Bude einen winzigen Glasvorbau wie ein kleines Minigewächshaus hat, in dem zwei Stehtische stehen, heißt der Glaspalast eben Glaspalast. Und die Frau Gerstenberger darin ist die Inhaberin und verkauft seit 1972, wie es auf einem Schild heißt, die besten Leberkässemmeln der Stadt und ein bisschen sieht sie auch aus wie eine ihrer Leberkässemmeln. Entweder ist sie in der langen Zeit des Leberkässemmelverkaufens den Leberkässemmeln immer ähnlicher geworden oder sie hat schon von vornherein wie eine Leberkässemmel ausgeschaut und ist deswegen überhaupt erst auf die Idee mit dem Glaspalast und dem Leberkässemmelverkauf gekommen, eines Morgens, beim Blick in den Spiegel. Jedenfalls besteht der Basti jeden Tag beim Nachhauseweg auf ein vorgezogenes Mittagessen bei der Frau Gerstenberger. Eigentlich ist dem Basti von Haus aus der Aufenthalt am Busparkplatz untersagt, weil sich da nur zwielichtige Gestalten herumtreiben, wie die Mama vom Basti sagt, und sie nicht will, dass der Basti Umgang mit derartigen Gestalten hat, und noch viel weniger will sie, dass er dort womöglich »in was hineingezogen« wird. Deswegen verlangt sie vom Basti den unverzüglichen Nachhausemarsch von der Schule direkt an den zum Mittagessen gedeckten heimischen Tisch, aber weil der Basti ein eher unbekümmerter Typ ist (»wie sein Vater«, sagt die Bastimama oft und ringt dabei die Hände), bekümmert ihn dieses Verlangen seiner Mama recht wenig. Außerdem liebt er die Leberkässemmeln der Frau Gerstenberger, und wenn so eine Liebe erst mal zugeschlagen hat, ist man machtlos. Sagt der Basti.

Im Gegensatz zur Bastimama wäre es der Suse sogar sehr recht, wenn ich bei der Frau Gerstenberger ein vorgezogenes Mittagessen einnehmen würde. Die Suse ist meine Mama, in erster Linie aber eine begnadete Theaterschauspielerin. Deswegen kommt sie auch immer erst um drei oder vier von der Probe nach Hause und freut sich, wenn sie sich dann nicht auch noch um meine Essensversorgung kümmern muss. Meistens bringt sie ohnehin einfach was aus der Theaterkantine oder vom Thailänder oder vom Perser oder vom Inder mit, da gibt es Mittagstisch, denn die Suse hat erstens zu viel Hunger und zweitens keine Lust, sich nach der Probe noch in die Küche zu stellen und etwas Essbares zuzubereiten. Oft bringt sie auch gar nichts mit nach Hause, sondern schickt eine Nachricht, dass wir uns beim Thailänder oder Perser oder Inder oder in der Theaterkantine treffen, weil man da in der Sonne sitzen und den vorbeispazierenden Leuten ein bisschen beim Leben zusehen kann. Mir ist freigestellt, ob ich mich bis zum Mittagstischtreffen mit der Suse schon anderweitig verköstige oder lieber auf Safranreis mit Berberitzen warte.

Ja, das Leben, das ich mit der Suse führe, ist ein recht behagliches, weil die Suse eine ziemlich entspannte Person ist. Es gibt insgesamt nur drei Regeln, an die ich mich halten muss, um die Suse bei guter Laune zu halten:

Erstens: Das Wecken der Suse vor neun Uhr morgens ist möglichst zu vermeiden. Abends hat die Suse nämlich entweder Vorstellung oder Probe und geht nie vor Mitternacht ins Bett – und am Morgen muss sie erst um zehn Uhr wieder auf der Probe sein. So ist das am Theater. (Aber zum Aufstehen und Michfertigmachen brauch ich die Suse sowieso nicht und im Bad bin ich ohnehin am liebsten allein.)

Zweitens: Die Zeitung darf, sofern ich sie zeitlich vor der Suse zu lesen begehre, in der Reihenfolge ihrer Blätter nicht durcheinandergebracht, das Kreuzworträtsel nicht ausgefüllt und der Feuilletonteil keinesfalls entwendet werden. Im Feuilleton stehen nämlich immer die Theaterkritiken der neuesten Premieren drin und die begehrt die Suse zu lesen. Damit sie weiß, was so los ist in der Theaterwelt.

Und drittens: Jede namentliche Erwähnung meines Herrn Papa ist zu unterlassen. Denn die Suse befindet sich noch sehr frischlich in der Trennung von meinem Papa, welcher ein gefeierter Theaterregisseur ist.

Lange Jahre hat die Suse unter der Regie des gefeierten Regisseurpapas ihre schönsten Rollen gespielt. Aber vor nicht allzu langer Zeit hat der Papa das Ende einer Premierenfeier mit einem, wie die Suse es ausdrückt, Miezchen der jüngeren Generation auf der Hinterbühne zugebracht. Wobei ihn die Suse ertappt hat. Was für den Papa wie auch für das Miezchen höchst ungemütlich wurde.