Perfection - Katharina Groth - E-Book
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Katharina Groth

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Beschreibung

Was geschieht, wenn der Wert deines Lebens von Schönheit, Sympathie und Fitnesslevel abhängig ist? Das Ranking entscheidet. Crystals Leben ist perfekt. Trotz der zerstörten Außenwelt lebt sie in einem Apartment der Hochrangigen und fügt sich in das System, das ein weltweites Videovoting vorgibt. Die optimale Dosis Sport, Pflege, Gesundheit, Schlaf – all das entscheidet der Computer für sie. Bis zu dem Zeitpunkt, als sie im Ranking aufsteigen und in die Zentralstadt ziehen soll. Ks Leben ist ein tägliches Ringen mit dem Tod. Er und sein Bruder B gehören zu den Namenlosen und bewohnen die niedrigsten Etagen von Neutropolis. Sein einziges Ziel ist es, seinen schwer kranken Bruder mit ausreichend Medikamenten zu versorgen. Er hat es bereits vor langer Zeit aufgegeben, im Ranking aufzusteigen und kämpft nur noch um ihr Überleben. Doch all das wird unwichtig, als Crystal in sein Leben tritt. Eine schicksalhafte Begegnung, eine Liebe, die nicht sein darf und eine Rebellion, die das System stürzen will. Wie weit kann man von Perfektion entfernt sein, wenn sie doch so nah ist? . Eine Dystopie, die sich unsere Jagd nach Followern zur Brust nimmt.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Danksagung

Über die Autorin

PERFECTION:

Das Ranking

Band 1

Katharina Groth

GedankenReich VerlagDenise ReichowHeitlinger Hof 7b30419 Hannoverwww.gedankenreich-verlag.dePerfection

Das Ranking

Text © Katharina Groth, 2017Cover & Umschlaggestaltung: Rica Aitzetmüller, www.coverandbooks.comLektorat & Korrektorat: Laura EversSatz: Grittany Design, www.grittany-design.de

Innengrafiken: depositphotos

© GedankenReich Verlag, 2018Alle Rechte vorbehalten.

Katharina Groth

Perfection

Das Ranking

Für all die Normalen, die Unscheinbaren,

die Besonderen und Einzigartigen da draußen ...

Crystal wurde vom sanften Rauschen der Wellen geweckt. Mit geschlossenen Augen sah sie vor ihrem Inneren das gemächliche Ausrollen des Wassers, wie es sich aufbäumte, in Gischt zerbrach und mit feuchten Fingern über den weißen Sandstrand fuhr. Das Kreischen von Möwen erklang leise über ihr und sie stellte sich vor, wie sie die Hand schützend über die Augen legen musste, um die Vögel am Himmel erkennen zu können. Als sie tief einatmete, stieg ihr der Geruch des Meerwassers in die Nase, und hinterließ einen salzigen Geschmack auf ihrer Zunge. Sie spürte die Wärme der Sonne auf ihrer Haut, die sie mit ihren Strahlen kitzelte und durch ihre noch geschlossenen Lider ein orangerotes Lichtspiel zauberte. Doch sie wollte noch nicht aufwachen. Nur noch zwei tiefe salzhaltige Atemzüge, ein wenig den Wellen lauschen und sich den Gedanken an Palmen hingeben, die sich im Wind bewegten.

Doch schließlich schlug Crystal die Augen auf und der Zauber, den ihre Steuereinheit jeden Morgen erschuf, verschwand. Vor zwei Tagen erst hatte sie mit ihren B-Coints diese neue Getting-up-Shade erstanden. Ein entspanntes Aufwachen, das war jeden einzelnen der sechshundertachtzig Coints wert.

Als die künstliche Sonne am oberen Teil ihres Bettgestells erlosch und auch der Meergeruch langsam dem normalen Duft ihrer Wohnung wich, öffneten sich die elektrischen Jalousien ihres Schlafzimmers. Sie streckte sich ausgiebig und ließ die angenehmen Träume von Strand und Meer nachwirken.

Guten Morgen, Crystal. Wir haben Tag 7 des Monats 16, die Sonne scheint über Neutropolis und es herrschen angenehme 27 Grad. Die Zentralstadt wünscht dir einen schönen Tag.

»Danke, Sixx«, entgegnete sie der körperlosen Computerstimme, stand auf und machte einige Dehnübungen. Ihr Blick fiel durch das Fenster hinaus auf die Stadt. Die Häuser waren so hoch, dass sie bis in die Wolken ragten und stets von einem weißen Dunst umgeben waren. Zumindest in der Höhe, in der ihr Apartment lag. Und das war gut, denn unterhalb dieser weißen Wolkenschicht lag der gelbe Nebel, der die Bewohner mit niedrigerem Rang zu erdrücken drohte.

Du hast in dieser Nacht dein Schlafprotokoll voll erfüllt, soll ich es auf dein Watchboard legen und dir die zwei verdienten B-Coints gutschreiben?

»Bitte schreib mir nur die Coints gut, auf das Protokoll will ich später zugreifen.«

Sehr wohl. Dein aktueller B-Coints-Kontostand beträgt dreißigtausendsechshundertachtundsiebzig.

»Danke, Sixx«, sagte sie schmunzelnd und betrat ihr Bad, dessen Tür sich von allein öffnete. Der Raum war ebenso schlicht weiß wie der Rest der Wohnung. Je nachdem, wie ihre Stimmung war, wechselte Farbe und Helligkeit.

Crystal legte ihre Hand auf die Sensorschale neben der Tür, die an eine handtellergroße Muschel erinnerte, verspürte einen leichten Pikser am Finger und wartete bis die Sensoren ihr Blut zu analysieren begannen. Dann erleichterte sie sich und gab dem Computer somit die übrigen Daten für die Ermittlung ihres Gesundheitszustandes. Als sie an den Spiegel trat, erschien auf der gläsernen Fläche das Auswahlmenü. Sie tippte auf Makeup und scrollte sich zum Good-Morning-Make-up.

Herzlichen Glückwunsch, Crystal. Deine Werte sind hervorragend. Du erhältst 3 B-Coints.

Crystal strahlte sich an und bestätigte das Makeup-Profil.

Deinem Account werden 0,5 B-Coints abgezogen, teilte Sixx ihr mit und keinen Moment später sprang eine kleine Klappe unter dem Spiegel auf. Crystal entnahm die Tube, schraubte sie auf und verteilte den Inhalt auf ihrem Gesicht. Erst wirkte die Creme weiß und undurchsichtig, doch dann offenbarte die Pigmentsalbe nach und nach ihr Wunder. Leichtes hellrosa Rouge auf ihren Wangen und die passende Farbe auf den Lippen. Die Wimpern wirkten voller und schwärzer, die Augen strahlten förmlich. »Perfekt«, murmelte sie leise. Crystal konnte sich schon kaum noch daran erinnern, wie es gewesen war, sich das Makeup selbst auftragen zu müssen. Seitdem sie in die Rangliste der Top einhundert eingestiegen war, war das Leben wesentlich annehmlicher geworden.

Crystal wuschelte sich die Haare leicht durcheinander, gerade so sehr, dass es den Good-Morning-Look perfekt unterstrich. Das Goldblond ihrer Naturlocken war ebenfalls ein neu erstandener Luxus. Wenn Licht darauf fiel, glänzte es gesund und seidig. Außerdem hatte die mobile Friseureinheit einige echte Goldsträhnen eingeflochten. Das zwar zu einem horrenden Preis, aber einem ebenso beeindruckenden Ergebnis.

Crystal richtete ihr Nachtzeug, dessen Oberteil knapp über dem Bauchnabel endete und entschied sich dazu, den Träger des dünnen Spagettiträger-Tops über ihre rechte Schulter rutschen zu lassen. Dann lockerte sie ihre Arme und räusperte sich. »Sixx, bitte öffne mein Neutropolis-Profil.«

Sehr gern, Crystal. Möchtest du eine Live-Aufzeichnung starten oder einen Beitrag planen?«

»Live bitte«, trällerte sie, um ihre Stimme vorzubereiten. Der Bildschirm auf dem Spiegel weitete sich aus und öffnete ihr Profil im Neutropolis-Netzwerk. Es zeigte siebzehntausendzweiundzwanzig Follower, seit gestern waren es fünfzehn mehr geworden. Neben den Zahlen stand ihr aktueller Coints-Kontostand und ihr Rangplatz innerhalb des Stadtnetzwerks. Sie war auf Platz 11 und es fehlten nur noch wenige Follower, bis man sie zusätzlich in das weltweite Netzwerk aufnahm. Das bedeutete die fünffache Menge an Coints und so viele neue Follower, dass Crystals gesamter Körper zu kribbeln begann, wenn sie nur daran dachte. Zusätzlich dazu bestand ab Platz zehn die Möglichkeit, Neutropolis zu verlassen und in die Zentralstadt zu ziehen. Es stand ihr frei, ob sie Teil der Elite sein wollte. Im Falle eines Umzuges musste sie das alles hier hinter sich lassen und ein neues Leben beginnen. Sie würde ganz hinten im Weltranking starten, sämtliche Follower verlieren und sich komplett neu erschaffen. Das bedeutete härtere Arbeit, Durchsetzungsvermögen und ein Alleinstellungsmerkmal besitzen zu müssen. Natürlich gab es einige, die sich davor scheuten und lieber in ihrem Apartment in Neutropolis blieben. Diejenigen, die fürchteten, im Weltranking keine Chance zu haben und ihre beeindruckende Followerzahl nicht gegen ein leeres Konto eintauschen wollten. Doch Crystal träumte schon so lange von diesem Ziel, dass die Entscheidung ihr nicht schwerfallen würde. Genau genommen war es längst entschieden.

Das große Foto von ihr, das beinahe die Hälfte des Bildschirms einnahm, war gestern nach ihrem kleinen Umstyling entstanden und zeigte die strahlend weißen Zähne, die ihre lächelnden Lippen offenbarten; blaue Augen, die an das Türkis eines Meeres erinnerten und hohe Wangenknochen.

Ein Computerfenster öffnete sich und ein Countdown zählte von zehn langsam rückwärts. In einem kleineren Feld daneben sah Crystal sich selbst. Sie nutzte die Zeit, legte den Kopf nach links und anschließend leicht nach rechts, spitzte die Lippen und wickelte sich spaßeshalber eine goldene Strähne um den Zeigefinger. Als die letzten Zahlen herunterliefen entschied sie sich jedoch eilig gegen diese Attitüde und setzte stattdessen ein breites Lächeln auf.

»Hallo, meine Lieben«, trällerte sie und strahlte in Richtung Spiegel. Die Sensoren waren so eingestellt, dass sie ihr Gesicht im perfekten Winkel einfingen. Crystal gähnte demonstrativ und wuschelte sich noch einmal leicht durch das Haar. »Ich bin gerade aufgestanden und immer noch so müde. Aber ich dachte mir, ich mache noch schnell ein Video, bevor ich mich auf den Heimtrainer schwinge. Ihr wisst, täglich Sport zu treiben ist unheimlich wichtig und eine kleine Einheit von nur zehn Minuten bringt einem bei niedrigem Puls schon einen halben Coint.« Zeitgleich mit diesen Worten wurden unter ihrem Gesicht eine kleine Werbung für Heimtrainer und die Werte der Sporteinheiten gezeigt. Eine kleine Anzeige darunter wies sie darauf hin, dass ihr bereits über siebenhundert Follower zusahen. Sechs davon hatten ihr eine virtuelle Blume geschickt, die nun in der Ecke des Spiegels aufploppte, dreihundertsechzig hatten ihr ein zustimmendes Häkchen zukommen lassen.

»Ich wollte euch noch mal danke sagen und alle neuen Follower begrüßen. Jetzt ist es nicht mehr weit bis ins internationale Ranking und das wäre so … Oh. Mein. Gott.« Sie strahlte in die Kamera. Ihre Live-Zuschauer hatten die Tausend inzwischen geknackt und bisher war kein schwarzes X als Rückmeldung erschienen. Ein gutes Zeichen. Dies würde ein guter Tag werden.

»Ihr wisst, dass das bedeutet, dass ich Neutropolis verlassen und in die Zentralstadt ziehen würde. Das wäre … unglaublich.« Sie versuchte so viel Begeisterung wie möglich in ihren Ausdruck zu legen. Weitere Blümchen ploppten auf und beschleunigten Crystals Herzschlag.

»Jetzt werde ich mich an meine Sporteinheiten machen. Ihr wisst, die Coints kommen nicht von allein.« Sie griff nach der weißen Trinkflasche, die neben ihr auf dem Waschtisch stand. Auf ihr war ein kleiner Bildschirm, über den das Logo der Energy-sports-drink-company flackerte. Sie hielt das Logo in Richtung Kameras. »Und vergesst nicht euren Jump’n’Run-Drink von unserer Company aus der Zentralstadt. Dadurch schaffe ich bis zu drei Einheiten mehr.« Sie zwinkerte den Zuschauern zu. »Ich melde mich später noch mal bei euch, ihr Süßen. Startet gut in den Tag!«

K drückte sich den Mundschutz fest auf seinen Mund. Obwohl der elektrische Biometer, der in den Stoff eingearbeitet war, die Luft weitestgehend filterte, vernahm er den beißenden Gestank von Krankheit, verpesteter Luft und Müll. Das war einer der Gründe, warum die Straßen hier unten – am Fuß der Hochhäuser von Neutropolis – so leer waren. Niemand wagte es, seine Gesundheit und zeitgleich seinen Coints-Kontostand zu riskieren für einen kurzen Weg nach draußen. Und auch K würde das nicht tun, doch heute hatte er einmal mehr keine Wahl.

Die Stadt hier unten war tot. Nein, genau genommen war sie das überall. Kaum jemand verließ sein sicheres luftgefiltertes Apartment, wenn ihn hier draußen doch nur die verseuchte Luft erwartete, die die Menschheit in den großen Kriegen erfolgreich geschaffen hatte. Seit dem Einsetzen der gelben Nebelbomben war die Welt hier draußen nicht mehr dieselbe. Für Pflanzen und die meisten Tiere ungefährlich, brachte sie den Menschen nur Tod und Leid.

So waren die schmalen Gassen zwischen den Hochhäusern lediglich von Müll, allerlei Ungeziefer und diesem gelblichen Nebel belagert, der zwischen den Gebäuden dicht über den Boden kroch. Nur selten begegnete man jemandem und wenn doch, dann war er sicherlich in einer genauso dringenden Mission unterwegs wie K.

K-7658, deinem Konto werden 2 B-Coints abgezogen, weil du dich einer hohen Konzentration Schadstoffen aussetzt. Bitte suche schnellstmöglich einen geschlossenen Raum mit Luftfiltereinheit auf, teilte ihm seine Überwachungseinheit mit, die ihren Ursprung in dem kleinen Implantat hinter seinem linken Ohr hatte.

»Ja, danke, Miststück«, knurrte er. Das war sein Name für das Ding: Miststück. Es war ein Basismodell, mit einer staccatoartig sprechenden Stimme, dessen Geschlecht sich eigentlich nicht genau ausmachen ließ. Doch in seinen Augen war es eindeutig weiblich, denn es hatte den gleichen verurteilenden Klang in der Stimme wie seine Mutter einst. Abgesehen davon beinhaltete ‚das Miststück‘ nur die gängigen Basisprogramme, für eine derart veraltete Hardware gab es keine Updates.

K bog in die nächste Gasse nach rechts ab. Die Fenster der Hochhäuser begannen erst ab dem vierten Stockwerk, vorher blickte man nur auf graue Betonwände, sowohl von innen als auch von außen. Das war nicht schlimm, da man ansonsten ohnehin nur auf von gelbem Nebel verschleierte Müllberge starren konnte. K war der Meinung, dass man den Leuten einen Gefallen tat, wenn man ihnen die Sicht auf diesen Teil der Welt ersparte. Ihn selbst zumindest störte es nicht. Und er hatte immerhin einige Jahre im zweiten Stockwerk gemeinsam mit seiner Mutter und seinem Bruder B gewohnt. Das war besser gewesen als seine jetzige Unterkunft. In Minus 3 hatte man nicht nur keine Aussicht, sondern zudem auch etwas, das sich mehr als ein rohrdurchsetzter Verschlag bezeichnen lassen konnte und nicht als eine Wohnung. Aber immerhin funktionierten bei K die Luftfilter. Dieses Glück hatte Ernie aus der Sechzehn nicht gehabt. Erst gestern hatten sie ihn in einem schwarzen Leichensack aus dem Gebäude geschafft. Über Nacht selig eingeschlummert. Es gab schlimmere Arten hier unten zu sterben.

Hustend stützte K sich an einer Hausecke ab, nur noch wenige Schritte und dann hatte er es geschafft. Seine Lunge brannte bereits, als würde er blanke Säure atmen. Vielleicht tat er das ja auch. Bei dem Luftgemisch hier unten ließ sich das nicht genau sagen. Doch immerhin hatte die Luft ihn bei keinem seiner kurzen Ausflüge nach draußen krank gemacht. Ihm blieb das Schicksal seines Bruders und auch das seiner Mutter erspart.

Als wüsste die Stadt, was er gerade dachte, kam er an einem verwitterten Plakat vorbei. Es war grellgelb und in großen Buchstaben stand darauf: Gebt Strippophelie keine Chance! Verbessere jetzt deinen Rang und ziehe in Apartments mit optimalem Lüftungssystem!

Daneben ein Bild von einer der hoch gelegenen Wohneinheiten. Es war nicht so, dass es einige von ihnen nicht versucht hätten. Probiert hätten, sich mit Videos einen Platz im Netzwerk zu sichern und aufzusteigen. Doch, wenn man unter die Top 50.000 im Stadtranking fiel, waren Videos ein teures Gut. Fünfhundert B-Coints kostete ein Upload auf die Plattform. Und das bei einer Zuschauerzahl, die so gering war, dass man zumeist keine neuen Coints erhielt. Niemand interessierte sich für das, was hier unten geschah, es war viel leichter sich an denen zu orientieren, die es nach oben geschafft hatten. Außerdem gehörten ein gewisser Charme, Selbstbewusstsein, gutes Aussehen, sowie eine ordentliche Portion Glück dazu. Und es gab bei Weitem genug Menschen, die mit diesen Attributen nicht gesegnet waren. Sie fielen durch das Raster, blieben am Boden und konnten nur zu denen aufschauen, die die verlangten Eigenschaften in die Wiege gelegt bekommen hatten. Von hier unten zu versuchen im Ranking aufzusteigen, war ungefähr, als versuche man, seine Grundration Essen gegen ein Drei-Gänge-Menü einzutauschen. Davon ab, dass man keinerlei Anspruch auf Hardware-Updates hatte und so eher stümperhafte Videos produzierte, wenn überhaupt.

K stieß ein Schnauben aus, blinzelte gegen das Tränen seiner Augen an und schob sich an der Hauswand weiter. Erneut überkam ihn ein Husten, das seinen gesamten Körper zu erschüttern schien. Ihm wurde schwarz vor Augen und er wartete einen Moment, bevor er weiterging.

K-7658, trotz Ermahnung setzt du dich weiterhin einer schädlichen Schadstoffkonzentration in der Luft aus. Dir werden 5 B-Coints abgezogen. Bitte begib dich schnellstmöglich in einen mit Luftfilter versehenen Raum.

»Halt die Klappe, Miststück«, murmelte er ein wenig atemlos und schwankte leicht, als er sich von der Wand abstieß. Es galt keine Zeit zu verlieren. Wenn er noch weiter trödelte, würde ihm die verdammte Maschine zwanzig Coints abziehen und dann wäre an die Medizin für B nicht mehr zu denken.

Der Zugang zu dem Haus von Dr. Zey lag in einer schmalen Gasse. Sein Name war eigentlich Z-888, doch damit es zu keinen Verwechslungen kam, hatten die Leute hier unten sich eigene Namen erwählt. So wurde aus Z-Eight, Zey. K war seines Wissens einer der Wenigen, die tatsächlich bei einem Buchstaben blieben. Das lag an seiner Mutter. Sie hatte B und K so genannt, wie das System es ihr vorgegeben hatte, nur die Zahlen ließ sie aus Bequemlichkeit weg. Das hatte sich eingebrannt. Und da es in ihrem Hochhaus niemanden gab, der es genauso handhabte, kam es auch nie zu Verwechslungen.

K taumelte zu dem Lesegerät und kramte die weiße Kunststoffkarte aus seiner Hosentasche. Eigentlich konnten nur die Erkrankten selbst die Zugangskarten für die Gebäude benutzen. Doch aufgrund von Bs schlechtem gesundheitlichen Zustand war die weiße Karte auf K überschrieben worden. Kaum hatte er die gläserne Schiebetür erreicht, schob er die weiße Plastikkarte in den Schlitz daneben und sie öffnete sich. Er trat in die Schleuse, zischend schloss sich die Tür hinter ihm. Der Raum war fensterlos, mit weißen Wänden.

K schob sich die Atemmaske vom Mund und wartete. Auch, wenn er es nicht sah, wusste er, dass ein unsichtbarer Scanner gerade seinen Chip auslas und prüfte, ob er die Berechtigung hatte, die Karte zu benutzen. Damit vermied man, dass sich unerlaubt Zugang zu den Gebäuden verschafft wurde.

Genehmigung erteilt, sagte das Haussystem knapp in seinem Kopf.

Es dauerte einen Moment, bis der Sauerstoffgenerator ansprang und frische Luft in den Raum pumpte. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und wartete, bis ihn die Luft erreichte, in seine Lungen strömte und das schmerzhafte Brennen mit jedem weiteren Atemzug aus seinem Körper bannte. Erneut ergriff ihn Schwindel, doch dieses Mal hatte er den Ursprung in der Sauerstoffdröhnung, die ihm verpasst wurde.

K-7658, der Luftgehalt wurde optimiert. Du kannst nun die Sauerstoffmaske abnehmen. Bitte begib dich zu einem Arzt, um mögliche Spätschäden auszuschließen und das Risiko weiterer Erkrankungen zu minimieren.

»Ja ja, Miststück.«

Mit einem Zischen öffnete sich die zweite Tür, die mit Milchglas versehen war, und K betrat den schmalen Flur. Die kleine Praxis lag im Erdgeschoss, hinter der ersten Tür auf der rechten Seite. Auch hier musste er seine Ankunft nicht mit einem Klopfen oder Signalklingeln verständlich machen, die Tür glitt auf, nachdem er die weiße Karte eingeschoben hatte. Dieses Mal tauchte sie jedoch nicht wieder auf, sondern verschwand in dem Lesegerät. Für seinen nächsten Besuch würde er eine neue erhalten.

Wie fast überall bis Stockwerk 6 war auch diese Wohnung ein Ein-Zimmer-Apartment. Im Vergleich zu den Zimmern in den Kellergeschossen natürlich etwas größer, aber dennoch sehr beklemmend, dafür, dass man die meiste Zeit seines Lebens hier verbrachte.

Die Einrichtung war praktisch und platzsparend. Man hatte eine Liege an der Wand befestigt. Sie konnte hochgeklappt werden, genau wie der kleine Tisch, an dem Dr. Zey jetzt saß. Sein Hocker war mit massiven Schrauben am Boden befestigt, sodass er keinem Diebstahl zum Opfer fallen konnte. Das Bett, gerade so breit, dass man nicht bei jeder Bewegung herunterzufallen drohte, war ebenfalls an die Wand geklappt und mit Riemen hochgebunden – nur zum Schlafen wurde es heruntergelassen. Der Kleiderschrank war in der Wand versenkt, sodass nur hellblaue Kunststofftüren zu erkennen waren. Da es sich um eine Arztpraxis handelte, war daneben ein kleines Waschbecken für die nötigste Hygiene angebracht. Eigentlich gab es von minus 5 bis plus 6 auf den jeweiligen Etagen lediglich Sammelbäder. So war die kleine Waschmöglichkeit ein Luxus, um den K den Doktor beneidete. Es war ebenfalls in die Wand eingelassen und auch aus dem blauen Kunststoff gefertigt. Die Wände waren weiß, wie überall bis Stockwerk sechs.

»Hallo K«, sagte Dr. Zey, ohne von seinem Watchboard aufzuschauen. Er musste sich eine der Liveschaltungen der oberen Bewohner ansehen, denn die freundliche Stimme eines Mannes berichtete in einladendem Tonfall von irgendwelchen Forschungsergebnissen, die K nicht nachvollziehen konnte. Dabei fiel ihm ein, dass er sein eigenes Watchboard mal wieder in seiner Wohneinheit vergessen hatte. Das war nicht erstaunlich, er konnte diesen Teilen nicht viel abgewinnen. Sie alle besaßen so ein Ding und die Zentralstadt war in diesem einen Fall sogar darum bemüht, dass man ihnen stets die neuste Version zukommen ließ. Dabei wäre es K lieber, wenn er Medikamente oder etwas zu essen bekommen würde, statt des A4-großen Bildschirms mit Touchscreen, der in etwa so flach wie ein Blatt Papier war.

»Hi Dr. Zey«, entgegnete K und griff in den schmalen Spalt neben der Tür. Er zog eine verborgene Sitzplatte hervor, die an der Wand befestigt war. Nicht mehr als ein Viereck aus zerschlissenem hellblauem Kunststoff, auf das er sich zumindest kurz niederlassen konnte. Der Weg hier her hatte ihn ausgelaugt und trotz des Sauerstoffs quälten ihn noch immer Halsschmerzen.

Schweigend beobachtete K den Doktor dabei, wie er sich das Video des Mannes anschaute. Er war schlau genug, ihn nicht zu unterbrechen. Für viele Menschen war dieser Kontakt nach oben der einzige wirklich lohnenswerte. Als könnten sie sich dadurch in eine bessere Welt träumen und müssten sich nicht mit dem Chaos hier unten auseinandersetzen. Oder in der Einsamkeit ihrer Wohneinheiten vergehen. K war noch nie besonders fasziniert von dem Netzwerk gewesen und auch die Hochrangigen beeindruckten ihn nicht. Eigentlich achtete er vielmehr darauf, nicht besonders viel von ihnen mitzubekommen, statt an den Lippen dieser fremden Menschen zu hängen, die von schlichten Alltagsdingen berichteten, als hätten sie gerade ein Mittel gegen Strippophelie entdeckt. Dabei wäre das tatsächlich einmal eine wirklich sinnvolle Maßnahme, die mit den B-Coints umgesetzt werden sollte. Doch der Erfindergeist und Forscherdrang der Menschen war nach den Kriegen und dem Aufbau der Stadt fast vollständig zum Erliegen gekommen. Zumindest hatte seine Mutter das immer gesagt. Es gab jetzt andere Ziele, die es zu erreichen galt.

Endlich schaute Dr. Zey von seinem Watchboard auf und lächelte ihn an. »Kennst du Dr. Bycic? Ein faszinierender und wirklich fähiger Mann aus den Top 200.«

»Nein«, entgegnete K und versuchte dabei, nicht zu abfällig zu klingen.

»Er verfolgt einige Theorien, denen ich gern lausche, was die Krankheit deines Bruders angeht. Zwar hat er keine Zeit, sie im praktischen Sinne zu erforschen, aber manche seiner Erkenntnisse spenden zumindest etwas Hoffnung.« Der Arzt lächelte und K hatte Mühe es zu erwidern.

Dr. Zey trug einen hellblauen Zweiteiler, der bereits leicht mitgenommen aussah. Die braun-roten Spuren, die sich von seiner Schulter aus bis über seine Brust zogen, konnten entweder Erbrochenes oder getrocknetes Blut sein. Seine Hose war bereits mehrfach notdürftig geflickt worden und wies ebenfalls verschiedenste Arten von Verfärbungen auf. Doch wer konnte es ihm übelnehmen? Schließlich kostete ein Waschgang mindestens siebzig B-Coints und die Inanspruchnahme einer Schneiderleistung fast das Dreifache.

»Wie geht es ihm?«, fragte der Mann mit der herausstechenden Hakennase und den wissenden Augen.

»Er hat gute Tage und schlechte«, murmelte K. »Gestern war ein schlechter, da ist er kaum aus dem Bett gekommen und ich musste ihn fast zwingen zu trinken.«

»Dabei ist Trinken das Wichtigste. Er muss seine Ration mindestens aufbrauchen, besser noch mehr«, sagte Dr. Zey mahnend.

»Ich muss Ihnen nicht sagen, dass dafür unsere Coints nicht ausreichen, oder? Wir bekommen unsere Grundration und die reicht kaum für einen gesunden Menschen. Nebenbei muss ich auch noch Coints sichern, um überhaupt an die Medikamente zu kommen …« Er wusste selbst nicht, warum er das überhaupt erzählte. Der Doktor wusste das – genau wie er wusste, dass es um Bs Gesundheitszustand schlecht bestellt war. Der Dialog war eine Anhäufung aus Floskeln und leerer Worte.

Dr. Zey seufzte. »Ich habe hier eine Medikamentenprobe, die kann ich dir noch mitgeben. Es sind nur zwei Tabletten, aber sie sollten gegen die Schwächezustände wirken. Eigentlich sind sie nicht direkt gegen die Krankheit, aber sie bekämpfen immerhin eines der Symptome.« Er trat an eine der Klappen, die sich in der Wand verbargen und nur durch die leichten Vertiefungen in Form eines Rechtecks ersichtlich waren. »Zoe, gib mir die Medikamentenprobe von Trechnisazirin.«

Sehr gern, Dr. Zey. Ich mache Mitteilung an die Zentralstadt, dass dieses Medikament zu Probezwecken an B-7658 ausgegeben wurde, schallte es durch einen Lautsprecher. Der Doktor hatte die Möglichkeit, die Stimme in seinem Inneren für alle anderen hörbar zu machen, genau wie die Hochrangigen, die oben in ihren Wolkentürmen hausten.

»Ja, mach das«, knurrte der Arzt leise. Dann entnahm er das kleine blaue Fläschchen und reichte es K. »Aber nur eine, mit genügend Wasser und nur für den Fall, dass es ihm wieder ähnlich ergeht wie gestern.«

»Danke, Doc«, sagte er und verstaute das Medikament in seiner Hosentasche. Zey bekam nur selten Proben und so verteilte er die, die er hatte, nicht leichtfertig. Und wenn dieses Mittel B nur einen der Tage wie gestern ersparen würde, wäre K schon mehr als dankbar.

Zey seufzte und ließ sich wieder auf dem Hocker an seinem Tisch nieder. »Aber vielleicht ist es für seinen Gesundheitszustand auch ratsam, wenn dein Bruder sich aus gewissen Tätigkeiten heraushält, die seinen Rang angehen.«

K schluckte gegen das trockene Gefühl in seinem Hals an. Rang war das Codewort des Untergrundes für diese Woche. Sie umgingen so, dass das System ihre Gespräche filterte und an die Zentralstadt sandte. Die Elite bekämpfte schon so lange die Rebellenformation im Untergrund, dass die Strafen immer härter geworden waren. Inzwischen waren sie an einem Punkt angelangt, bei dem ein nachgewiesener Verdacht der Zusammenarbeit mit der Vereinigung zur sofortigen Exekution führte. Dementsprechend vorsichtig war man also, wenn dieses Thema aufkam. Dass der Doktor es ansprach, bedeutete, dass er etwas wusste, das K noch nicht klar war.

»Ich weiß nicht, was B mit seinem Rang macht. Ich halte mich da raus«, entgegnete er, vielleicht etwas harsch. Doch dieses Thema reizte ihn.

»Dann hat er es dir also noch nicht gesagt?« Der Arzt hob die Augenbrauen.

K atmete angestrengt aus. »Vermutlich will ich es gar nicht wissen.«

»Nein, vermutlich nicht. Aber in diesem Fall solltest du ihn unbedingt ansprechen. Ich selbst finde diese Art des Plans nämlich vollkommen fahrlässig. Vor allem in seinem Zustand, aber auch grundsätzlich. Du solltest ihn zumindest begleiten.«

K spürte, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten. »Ich werde ihn fragen, danke.«

Dr. Zey warf ihm einen eindringlichen Blick zu, nickte und klatschte einmal in die Hände. Er erhob sich und trat wieder zu den Klappen in der Wand. »Kommen wir zu dem Grund, weshalb du eigentlich hier bist. Ich nehme an, dass das von deinem B-Coints-Konto abgeht?«

K nickte knapp.

»Zoe gib mir bitte die übliche Dosis Strechnisin für Patient B-٧٦٥٨ und buche von Konto K-٧٦٥٨.«

Sehr gern, Dr. Zey. Ich muss sie hiermit darauf hinweisen, dass es eine Preisanpassung bei diesem Medikament gab. Statt der bisherigen hundertachtzig B-Coints fand eine Erhöhung auf hundertneunzig Coints statt.

K spürte, wie er in sich zusammensackte und reagierte auf den fragenden Blick des Arztes mit einem schwachen Nicken. Die Preisanpassungen kamen in den letzten Monaten immer häufiger vor und machten Bs Krankheit zu einer untragbaren Last. Doch vielleicht war das auch das Ziel, denn immerhin ging es ja darum, die Kranken als Last der Gesellschaft nach und nach aus ihrem System zu bannen.

»Danke, Zoe, fahre bitte fort.«

Die Klappe sprang auf und ein größeres Röhrchen kam zum Vorschein. Der Doktor reichte es K.

K-7658, dein B-Coints-Konto wurde mit 190 B-Coints belastet. Dadurch gerät dein Kontostand in einen kritischen Bereich mit 11 B-Coints. Bedenke bitte, dass bei einem Kontostand von Null automatisch eine Exekution aufgrund untragbarer Leistung angeordnet wird.

In diesem Moment hatte K nicht einmal eine bissige Erwiderung für das Miststück parat. Eigentlich sorgte er immer dafür, dass sein Coints-Wert vor dem Heimweg nicht auf unter zwanzig Coints fiel. Ansonsten kostete es das System nur einen einzigen Impuls, und er sackte in sich zusammen, als hätte man das Leben einfach aus ihm herausgesaugt. Das wäre nicht nur sein Todesurteil, sondern auch das für B.

»Wenn du dich kräftig genug fühlst, rate ich dir, dich in den Fitnessraum zu begeben und eine halbe-Stunden-Einheit einzulegen. In Verbindung mit meiner ärztlichen Empfehlung bringt dir das ٨ B-Coints.« Er sagte es nebensächlich und griff dabei nach seinem Watchboard. »Du bist jetzt neunzehn und seit deiner Volljährigkeit wird das von der Zentralstadt empfohlen. Es ist also ohnehin überfällig.«

»Das wäre … eine gute Idee«, erwiderte K. Es war eine Chance, den Weg nach Hause heile zu überstehen.

Der Doktor nickte, schaute ihn aber nicht an. Natürlich war es verboten, das System zu betrügen, doch dies war eines der Schlupflöcher, die es ihnen immerhin noch ließ.

»Zoe, ich ordne für den Patienten eine Herz-Kreislaufüberwachung an einem der Trainingsgeräte an. Eine Präventionsuntersuchung für K-7658, bitte.«

Sehr gern, Dr. Zey.

Der Arzt warf ihm ein schmales Lächeln zu, das all die Bitterkeit ausstrahlte, die K selbst verspürte.

»N ein, der Rang ist noch nicht umgesprungen«, sagte Crystal und seufzte. »Ich verstehe das nicht, dabei hätte sich seit heute morgen etwas tun sollen. Wie spät ist es inzwischen? Es muss doch fast Abend sein.«

Miramays Mundwinkel zogen sich demonstrativ nach unten und die hellblau glitzernden Augenbrauen senkten sich leicht. Das Watchboard an ihrem Fahrradtrainer hatte allerdings eine so hohe Auflösung, dass ihr nicht die kleinste Regung im Gesicht ihrer besten Freundin entging. Und in diesem Moment sah Crystal deutlich den amüsierten Funken, der in den hellgrünen Augen aufblitzte. Sie überging ihn jedoch gekonnt mit einem Lächeln. Wenn man in diesen Kreisen verkehrte, gewöhnte man sich schnell daran, dass ein Lächeln nicht unbedingt ein Lächeln und ein Kompliment genauso gut eine Beleidigung sein konnte.

»Die Schwelle bis in die Top 10 ist die größte, das weißt du doch.« Miramay runzelte die Stirn. »Sag mal, schwitzt du?«

Eilig tippte Crystal auf das Display und ließ sich eine Sicht von sich selbst anzeigen. Tatsächlich hatten sich ihre Wangen leicht rötlich verfärbt und ein Schweißfilm ließ ihre Stirn glänzen. Eilig hörte sie auf zu strampeln und wischte sich mehrfach über das Gesicht. »Ich trainiere vielleicht etwas lange heute«, murmelte sie fahrig.

»Du solltest warten, bis du das nächste Live-Video hochlädst, die denken sonst, dass du dein Fitnesslevel verloren hast. Dann kannst du die Top 10 vergessen.« Auch jetzt sah Crystal die leichte Schadenfreude im Gesicht von Miramay. Doch sie schluckte die aufkeimende Wut schnell herunter und rutschte von dem Fahrradsattel. Bei ihren üblichen Dehnübungen spürte sie tatsächlich, dass sie ihre Muskeln überanstrengt hatte. Doch Sport half gegen die Nervosität. Und das war bereits ihr zweites Training an diesem Tag.

Du hast zwei Stunden auf der Sporteinheit verbracht und dir B-Coints im Wert von 32 antrainiert. Leider werden dir wegen Übersäuerung der Muskeln sieben Coints abgezogen, teilte ihr Sixx mit ihrer freundlichen Stimme mit. Soll ich dein Sportprotokoll in dein öffentliches Profil laden?

»Nein«, murmelte Crystal genervt. Es wurde einem hoch angerechnet, wenn man seine Leistung entsprechend des eigenes Körpers einschätzte und sie langsam steigerte. Wenn jedoch zu sehen war, dass sie es übertrieben und auch noch bewusst das Warnsystem ausgeschaltet hatte, würde sie das einige Follower kosten. Und das konnte sie sich jetzt nicht leisten.

»Du solltest aufhören, dir Gedanken zu machen. Das gibt nur Falten«, erklang Miramays Stimme. Crystal nahm das Watchboard aus der Halterung am Sportgerät und ging herüber zu ihrer Couch. Ihre Freundin war gerade dabei, sich die hellblauen Haare zu richten und ihr Make-up zu kontrollieren. Während Crystal es eher schlicht mochte, war Miramay jedes Mittel lieb, um aufzufallen. Ihre Haarfarbe wechselte fast wöchentlich, ihre Schminke war immer grell und extravagant. Zudem war die Tonlage in ihren Videos viel zu schrill und laut. Sie liebte das Extreme und bot ihren Followern entsprechend tiefe Einblicke. In einem Jahr hatte sie ihre Videos einmal ausschließlich nackt veröffentlicht, was ihr einen Haufen männlicher Zuschauer einbrachte. Doch das war nur eine der Möglichkeiten, die sie gefunden hatte, um die Aufmerksamkeit der Menschen zu erringen. Crystal war es häufig zu viel, was ihre Freundin für eher zweifelhaften Ruhm tat und dennoch war sie ihr auch dankbar. Ohne sie wäre Crystal nicht dort, wo sie jetzt stand. Miramay, die zu diesem Zeitpunkt auf dem Rankingplatz dreihundertzwei gestanden hatte, hatte zufällig eines ihrer Videos gesehen, als Crystal gerade in die Top 1000 eingestiegen war. Sie hatte ihr daraufhin vorgeschlagen, ein paar Videos zusammen zu drehen. Das war der Moment, in dem Crystals Aufstieg im Ranking rasend schnell vonstattengegangen war.

Crystal ließ sich auf die Couch fallen. Dort steckte sie das Watchboard in die entsprechende Vorrichtung und richtete sie so aus, dass sie sich gegenseitig anschauen konnten.

»Ich mein damit: entspann dich«, fügte Miramay hinzu.

»Das kann ich nicht, ich bin so aufgeregt.« Ihr Herzschlag beschleunigte sich erneut, als sie an den bevorstehenden Umzug dachte. Sie schenkte Miramay ein breites Lächeln. »Hast du die neuen Bilder aus der Zentralstadt schon gesehen? Sie haben den Marktplatz erneuert. Mit so stylischen Fliesen; schwarz und glänzend. Dazu ein Brunnen und eine Skulptur von diesem Künstler … ähm …«

»Brinn, Rang 251 im Weltranking«, vervollständigte Miramay ihre Überlegung. »Jeder hat die Bilder gesehen, Crystal. Wir kriegen sie alle per Message. Damit wir auch bloß daran erinnert werden, was sie haben und wir nicht.« Der letzte Satz klang eindeutig genervt und so voller Missgunst, dass Crystal kurz erschrak. Doch es war nur ein Sekundenbruchteil, denn dann strahlte Miramay sie wieder zuckersüß an. »Ich freue mich so für dich, meine Süße!« Den letzten Buchstaben zog sie in einem schrillend quietschenden Tonfall in die Länge.

»Du bist schon Rang zwanzig, es ist eine Frage der Zeit, bis du mir Gesellschaft leistest«, sagte Crystal lächelnd. »Dann treiben wir uns zusammen auf dem neuen Marktplatz rum und bestaunen die vielen kleinen Läden.«

»Sicherlich«, murmelte Miramay und atmete hörbar aus. Natürlich wusste Crystal, dass ihre Freundin es schon wesentlich länger als sie versuchte, in das Weltranking einzusteigen. Doch ihre teilweise eher zweifelhaften Aktionen warfen sie auch immer wieder zurück.

»Was meinst du wie es ist? Sich draußen frei bewegen zu können und nicht an sein Apartment gefesselt zu sein?«, sagte Crystal in schwärmerischem Tonfall.

»Naja, unter dieser Kuppel ist ja nicht wirklich unter freiem Himmel …«

»Du weißt, was ich meine«, erwiderte Crystal leicht genervt. Dennoch lächelte sie ihre Freundin an. Diese Art der Missgunst umgab Miramay erst, seitdem Crystal in die Top 15 eingestiegen war und sie überholt hatte.

»Wie soll es schon werden, Crystal? Genau so wie sie es uns versprechen, deswegen machen wir doch diesen ganzen Blödsinn hier.« Sie schnaubte und wischte sich eine hellblaue Strähne aus dem Gesicht. »Eine riesige Stadt, jeder bekommt ein Haus, tolle Nachbarn und Bewegungsfreiheit in der gesamten Stadt. Außerdem eine Highspeed-Leitung, um uns den dauerhaften Kontakt zu unseren neuen Followern zu sichern.« Sie zählte die Dinge mit einer Wehmut in der Stimme auf, die Crystal nur allzu gut nachvollziehen konnte.

In diesem Moment erklang ein Signalton und kurz darauf die Stimme von Sixx: Eine eingehende Live-Botschaft von Wizzle. Möchtest du annehmen, Crystal?

Sie grinste breit und sah, wie Miramay die Augen verdrehte. »Lass mich raten? Wizzle, der Wizzler? Dann bin ich raus! Bye Bye!«

Das Fenster schloss sich, noch bevor Crystal sich verabschieden konnte, doch für den Moment überwog die Freude über den neuen Live-Kontakt. Eilig richtete sie ihre Haare und trällerte dann: »Annehmen, Sixx!«

Keinen Augenblick später öffnete sich das Fenster mit dem Videochat. Einmal mehr war Crystal von diesen perfekten Gesichtszügen fasziniert. Hohe Wangenknochen, markante Gesichtszüge und so tiefblaue Augen wie der Ozean, von dem sie heute Morgen noch geträumt hatte. Wenn er lächelte, waberte ein warmes Kribbeln durch Crystals Bauchgegend und ihre Wangen fühlten sich heiß an. Sie hatte mit Wizzle erst seit einigen Wochen regelmäßigen Kontakt und allmählich schien sich eine kleine Video-Beziehung anzubahnen. Zumindest hoffte sie das.

»Hey Schönheit«, sagte er und lächelte sie an. Ein Lächeln, durch das er immerhin nur knapp zweihundert Follower weniger hatte als sie selbst.

»Hi, Wizzle.«

»Ich habe dein Video heute Morgen gesehen, du sahst wundervoll aus. Ich war ganz enttäuscht, dass du noch kein neues hochgeladen hast.« Er zwinkerte ihr zu und sorgte für einen neuen Schwarm Schmetterlinge, der in ihrer Bauchgegend durcheinanderflatterte.

»Ich war … etwas gestresst«, murmelte sie und hoffte, dass ihr Gesicht nicht die tiefrote Färbung angenommen hatte, die zu der Hitze ihrer Wangen passte. »Diese Sache mit dem aktuellen Rang macht mich vielleicht ein wenig nervös.«

»Rang elf, oder? Jetzt ist es nur noch ein kleiner Sprung und dann ist meine Süße im Weltranking gelistet«, sagte er stolz. Doch die Worte ‚meine Süße‘ hallten immer wieder durch ihren Geist und machten alles andere, was er gesagt hatte unwichtig. Mit Mühe konnte sie das alberne Kichern zurückhalten, das ihre Kehle hinaufkroch.

»Naja, noch tut sich nicht viel.« Sie war dazu geneigt, erneut ihre Followerzahl zu kontrollieren, doch dann entschied sie sich dagegen. Stress schlug sich auf Aussehen und Schlaf nieder und das war das Letzte, was sie gebrauchen konnte.

»Was hältst du von einem Spiel, um dich abzulenken?«, fragte er sanft und schenkte ihr wieder ein Lächeln, das sie mitten ins Herz traf.

»Gern.«

Wizzle suchte Bones für sie aus. Ein virtuelles Kartenspiel, bei dem es um das Sammeln von Karten ging. Eigentlich langweilten Crystal diese Spiele, doch für Wizzle machte sie gern eine Ausnahme. Außerdem stand für den übrigen Tag ohnehin nichts weiter an. Ihre Trainingsleistung hatte sie fast doppelt erfüllt, ihr Gedächtnistraining hatte sie hinter sich gebracht. Sie hatte nach der morgendlichen Sporteinheit einen wissenschaftlichen Abschnitt aus einem Themengebiet gelesen, das ihr gänzlich unbekannt war und einen Fragebogen dazu korrekt beantwortet. Außerdem hatte sie bereits den Kontakt zu ihren Usern gepflegt, indem sie auf Fan-Mails geantwortet und einige Fremdvideos angeschaut und bewertet hatte. Den Mittagsschlaf für innere Ruhe und Stressabbau hatte sie auch folgsam hinter sich gebracht. Und das, obwohl ihr bei all der Aufregung gar nicht nach Schlafen zumute gewesen war.

An diesen Tagen bemerkte Crystal, wie langweilig ihr Leben zwischenzeitlich war. Der Luxus war wundervoll und sie versuchte ihn Tag für Tag immer im gleichen Maße zu schätzen zu wissen, doch auch wenn sie sich noch so sehr anstrengte, nutzte der Alltag ihn zur Selbstverständlichkeit ab. Umso dringlicher wurde ihr Bedürfnis, das Apartment in Neutropolis endlich gegen ein Haus in der Zentralstadt einzutauschen. Für den Luxus, einfach aus der Haustür zu treten und einige Schritte spazieren gehen zu können, würde sie definitiv mindestens die Hälfte ihrer Coints abgeben. Wenn nicht sogar noch mehr.

K lehnte an der Wand im Erdgeschoss seines Hochhauses. Er hatte die Augen geschlossen, spürte den kalten Schweiß auf seiner Stirn und atmete den Geruch von Urin und verdorbenen Lebensmitteln ein. Sein Herz raste so sehr, dass es sich wie das Flattern eines Kolibris anfühlte, der hinter seinen Rippen gefangen war. Außerdem brannte sein Hals, als hätte er pure Säure getrunken. Und dennoch. Er hatte den Weg überstanden und sein Konto wies noch 6 B-Coints auf. Das war nicht viel – man könnte sagen, er klopfte bereits an die Tür von Gevatter Tod – doch es reichte, um weiterzumachen.

Blinzelnd öffnete er die Augen. Er stand vor dem Fahrstuhl. Das Absperrband flatterte vor dem halb geöffneten Schacht und ein Schild war schräg daran befestigt: Außer Betrieb. Eigentlich konnte er sich nicht daran erinnern, dass es jemals anders gewesen war. Erst ab Stockwerk 6 wurden die Fahrstühle auch regelmäßig gewartet und da das ein anderer Schacht als dieser hier war, blieb den unteren Bewohnern nichts anderes übrig, als Treppen zu steigen.

Er stieß sich von der Wand ab und lief nach rechts den Gang entlang, bis er an einer weißen Tür angelangte. Früher hatte hier einmal ‚Downstairs‘ gestanden, doch ein Spaßvogel hatte sich mit einem schwarzen Filzstift verewigt, die Buchstaben durchgestrichen und stattdessen »Way to hell« hingeschmiert.

K drückte die Tür auf und stellte fest, dass wieder ein Teil der Beleuchtung ausgefallen war. Einige Lampen in dem schmalen grauen Kellergang flackerten und warfen ein beinahe gespenstisches Licht auf die Betonstufen. Der Geruch von Schweiß und Mensch schlug ihm entgegen, als er hinabstieg. Die Feuchtigkeit des Wasserdampfes, der hier unten vorherrschte, legte sich heiß auf seine Haut. Als er in Minus 2 angelangte, musste er über jemanden steigen, der sich in einen Schlafsack am Fuß der Treppe eingerollte hatte. Eigentlich wagten es die Obdachlosen nicht, sich in den Gängen zum Schlafen hinzulegen, zu groß war die Angst vor einer überraschenden Kontrolle durch die elektronischen Sicherheitseinheiten. Wenn man sich zwischen den anderen Menschen befand, war die Chance, noch rechtzeitig zu entkommen zumindest ansatzweise gegeben.

»Bitte, Mann …«

K warf einen flüchtigen Blick zu dem Schlafsack, der diesen heiseren Laut ausgestoßen hatte. Der Mann – er schätzte ihn auf Mitte fünfzig – befreite sich leicht aus der raschelnden Hülle. »Kann ich nur eine Nacht bei dir unterkommen? Bitte?«

K wunderte es nicht, dass der Mann ihn das fragte. Morgen stand die wöchentliche Routinekontrolle an und alle, die keine feste Unterkunft nachweisen konnten, waren zum Tode verurteilt. K presste die Zähne fest aufeinander, als ihm die Ungerechtigkeit ein weiteres Mal bewusst wurde. Warum brachte man nicht einfach gleich alle um, statt sie lange dahinsiechen zu lassen?

»Ich würde dir helfen, aber wir sind zu zweit in einer Halbparzelle«, sagte er zähneknirschend.

Der Mann wusste, was das bedeutete. Denn selbst für zwei Menschen war eine Halbparzelle nur dann zulässig, wenn ein direkter Verwandtschaftsgrad bestand.

»Macht nichts, Mann. Trotzdem danke.« Der Versuch eines Lächelns zog an seinen ausgefranzten Mundwinkeln, verlor sich jedoch in einem unwilligen Zucken. K presste die Zähne so fest aufeinander, dass es in seinem Kopf knirschte. Eilig wandte er sich ab, wollte gerade die letzten Stufen hinabsteigen, um das Elend schnellstmöglich hinter sich zu lassen, als er noch einmal stehenblieb.

Er holte tief Luft und sagte: »Gestern ist Ernie aus der sechzehn in Minus 3 gestorben. Ich glaube nicht, dass sie seine Wohneinheit schon umprogrammiert haben und er hat bereits für die nächsten zwei Wochen bezahlt.«

Hoffnung schwamm in dem Blick des Mannes, als er sich aufrichtete.

K biss sich fest auf die Zunge. Das, was er jetzt tat, war mehr als verboten. Tödlich verboten. »Sein Schloss ist noch keines von den biometrischen, sondern ein Codeschloss. Der Code ist 4583. Mit Glück ist das System offen und du kannst dich einfach einloggen, dann bekommst du auch ein paar Coints gutgeschrieben.« Falls du weg bist, bevor das Räumungskommando kommt, fügte er in Gedanken hinzu. Doch die ließen sich in den Untergeschossen gern mal ein paar Tage Zeit, bis sie die Einheiten der Verstorbenen säuberten, also vielleicht hatte er tatsächlich eine Chance.

»Danke«, brachte der Mann, teils fassungslos, teils gerührt hervor und starrte K an, als wäre er nicht von diesem Planeten.

K nickte nur und lief dann weiter die Stufen hinab. Er fühlte sich nicht als Wohltäter – brachte es dem Mann doch nur kurze Zeit, bis er wieder an dieser Stelle stehen und um sein Leben bangen müsste. Er trat an die Tür auf der Minus 3 stand und griff nach der Klinke. Der kleine Scanraum stank nach Exkrementen und K vermied es, darüber nachzudenken wieso das der Fall war. Seine persönliche Karte, die die Daten seines Chips enthielt, trug er immer bei sich. Sie baumelte an einer silbernen Kette um seinen Hals, jederzeit griffbereit, alles andere war strafwidrig. K zog sie unter seinem Hemd hervor und musterte kurz den zerschlissenen Kunststoff, der einst weiß gewesen war, jetzt aber mehr einen gelb-braunen Farbton hatte. In schwarz stand sein Name: K-7658 in der unteren rechten Ecke. Ansonsten gab es keinen Hinweis darauf, dass auf diesem Ding in Kombination mit dem Chip in seinem Kopf sein ganzes bisheriges Leben aufgezeichnet war. Er schob seine Karte in die kubusartige Vorrichtung in der Mitte des Raumes und ließ es zu, dass der Scanner seinen Körper abtastete und den Chip auslas. Wie schon beim Hochhaus von Doktor Zey prüfte das System erneut seine Zugangsrechte.

K-7658, herzlich Willkommen zu Hause. Deinem Konto wird 1 B-Coint gutgeschrieben. Gute Bürger vermeiden es, ihr Haus zu verlassen und suchen die Sicherheit ihres Gebäudes auf. Danke, dass du ein Teil davon bist.

Der leicht ratternde und zerrissene Klang dieser Worte gab ihnen einen ironischen Beigeschmack.

Erst, wenn man die Flure der Einheit betrat, bekam man die Armut dieser Wohnabschnitte mit seiner gesamten Macht zu spüren. Die engen grauen Kellerflure waren besetzt von den Heimatlosen, die sich dem System bisher erfolgreich entzogen hatten. Die Bewohner der Einheiten hier unten wechselten ständig, es gab keine feste Zuweisung der Apartments. Dementsprechend schwer ließ sich danach fahnden, wer tatsächlich irgendwo untergekommen war und wer nicht. Genau wie es möglich war, die Eingangskontrolle zu überlisten. Zumindest in den unteren Stockwerken, wo die Systeme meist veraltet waren. Die Essenszuteilung und die Sicherheit in einem der Bunker waren streng kontrolliert, doch ob jemand tatsächlich heimatlos war, wurde ausschließlich mithilfe der wöchentlichen Kontrollen durch die elektronischen Sicherheitseinheiten überprüft. Meist gelang es dem Großteil der Obdachlosen, für diesen Tag bei einem der Bewohner unterzukommen.

Jetzt jedoch lagen sie auf den Gängen und schliefen oder verspeisten ihre Grundration. Einige blickten aus trägen Augen zu ihm herauf, als K sich an ihnen vorbeischob, andere schienen ihn gar nicht zu bemerken. Ein stetiges Raunen, verbunden mit atemlosem Husten erfüllte den Gang. Zu beiden Seiten gingen zahlreiche Türen ab. Einige waren bereits mit dem biometrischen Schloss versehen, andere hingegen waren durch schlichte Codes gesichert. Erst nach und nach wurden die neuen Systeme angebracht. Meist immer dann, wenn jemand verstorben war.

Die Wohneinheit von B und K trug die Nummer 15889. Die Klappe neben der grauen Tür war mit einem kleinen viereckigen Leuchtfeld versehen, das nun grün aufblinkte. Was bedeutete, dass seine Essensration bereits darin auf ihn wartete. K atmete angestrengt aus. Wenn er gekonnt hätte, hätte er sie einfach darin stehen lassen. In Anbetracht seines Kontostandes wäre dies auch ratsamer gewesen und Hunger hatte er ohnehin nicht. Doch er hatte eben keine Wahl.

Also legte er die Hand auf die graue Metallklappe, wartete bis sie aufsprang und öffnete sie. Die Aluschale und eine Flasche Wasser standen darin. K griff nach beidem und holte es heraus. Daneben lag noch eine frische Montur Kleidung, doch die würde er sich wieder einmal nicht leisten können. Er blickte an sich herunter. Die schwarze Hose und das dazu passende Hemd waren dankbar, was Flecken angingen. Und der Gestank kümmerte hier unten sowieso keinen.

K-7658, deinem Kontostand werden 3-B-Coints für die Grundration abgezogen. Dein Kontostand befindet sich im kritischen Bereich.

»Danke für die Info, Miststück.« K trat an die Tür, schob die Karte in die Prüfvorrichtung, die statt eines altertümlichen Zahlenschlosses angebracht war und wartete, bis sie sich surrend öffnete. Er wurde von Bs keuchendem Husten in Empfang genommen. Ihr Apartment maß gerade einmal fünf Quadratmeter und enthielt ein Bett, einen klappbaren Tisch und einen Stuhl. Die Wände waren grau und von Versorgungsrohren durchsetzt. Auf den Tisch stellte er die Essensration ab und reichte seinem Bruder die Flasche Wasser. »Du musst trinken, hat Zey gesagt.«

B saß auf der Kante ihres Bettes und presste sich die Hand auf den Mund. Sein dunkles Haar war durcheinander, die Gesichtshaut fahl und leicht bläulich verfärbt. Auf seinem Schoß lag sein Watchboard, es war noch immer eines für Kinder, maß also nur etwa A5. Für Kranke gab es auch hier keine Upgrades. K hatte ihm erlaubt, seins zu benutzen, wenn er es nicht brauchte, doch B hing irgendwie an dem kleinen Ding. Er stoppte durch antippen das Video, das er sich gerade angesehen hatte und rollte sein Watchboard zusammen. Durch ihre Flexibilität ließen sich die kleinen Computer gut transportieren, da sie durch knicken und biegen keinen Schaden nahmen. B verstaute seines in der Hosentasche und hob eine Augenbraue, als er K ansah. »Dann soll Zey uns ein paar Coints schenken und ich trinke alles, was er mir vorsetzt.« Die für die Krankheit charakteristisch heisere Stimme war inzwischen so gewohnt für K, dass er gar nicht mehr wusste, wie B damals mit klarer Tonlage geklungen hatte.

»Der hat auch nicht viel mehr als wir.« Er griff in seine Tasche, beförderte die Röhrchen hervor und warf sie B zu. Der fing und grinste ihn breit an. »Drogen …«

In diesen kurzen Momenten wirkte er tatsächlich wie sechzehn und nicht schon wie der alte Mann, den die Krankheit aus ihm machte.

»Es ist schon wieder teurer geworden«, knurrte K und setzte sich neben B auf das Bett. Der öffnete gerade die kleine blaue Plastikflasche und schüttelte eine der Pillen heraus. Er hustete noch einmal, bevor er sich die Tablette in den Hals warf und eilig mit Wasser nachspülte. Dann schloss er die Augen und tat einige rasselnde Atemzüge. K wartete gemeinsam mit ihm, bis der Schmerz und der Hustenreiz nachließen. Die Medikamente wirkten schnell, meist innerhalb von Minuten.

Schließlich öffnete B wieder die Augen, lächelte sanft und nickte. »Verdammt, das ist schon viel besser.« Er nahm das zweite, kleinere Röhrchen und musterte es interessiert. »Was ist das?«

»Eine Probe mit liebem Gruß vom Doktor. Es hilft gegen die Müdigkeitszustände. Es sind aber nur zwei, also wirklich für den absoluten Notfall.«

»Biestig«, sagte B grinsend, was so viel bedeutete wie: cool oder toll.

Auch K spürte Erleichterung in sich aufsteigen, rückte auf dem Bett so weit zurück, dass er sich an die Wand lehnen konnte und ließ seinen Hinterkopf dagegen sinken. »Mein Coints-Kontostand geht fast gegen Null. Teil dir die Tabletten gut ein, die müssen eine Weile reichen.«

In Bs Gesicht trat nun wieder dieser hasserfüllte Ausdruck, der Ks Nerven reizte. Er ahnte bereits, was jetzt kam.

»Umso wichtiger wird es, dass wir endlich etwas unternehmen. Zet hat gesagt, dass …«

»Ich habe gesagt, dass ich von dem Scheiß nichts hören will«, knurrte K. Genau genommen wollte er nichts von Zet hören. Der Rebellenführer, der eigentlich Z-٨٨٩٥ hieß, war zu Ks Leidweisen zu einem von Bs absoluten Idolen geworden. Mit seinen verqueren Ansichten und den falschen Hoffnungen, die er in den Jüngeren schürte, gab es absolut keinen Grund, diesen Typen derart zu vergöttern. Fürchten wäre das richtige Wort.

»Aber es ist wichtig. Es geht um unsere Zukunft, die von uns allen. Deswegen wird jetzt auch endlich etwas unternommen …« B unterbrach sich, seine Augen weiteten sich und er wich eilig dem Blick von K aus.

K schaute seinen Bruder eindringlich an. »Ach? Ich habe von Zey gehört, dass da was im Gange ist. Soll ich dir erst eine reinhauen oder nachdem du es mir erzählt hast?«

»Fuck, du willst es doch ohnehin nicht wissen, oder?«

»Wenn du dich an irgendeinem sinnlosen Scheiß beteiligen willst, dann muss ich das wissen!«

Die sonst so fahle Haut seines Bruders nahm an den Wangen einen rötlichen Farbton an. »Das ist kein Scheiß. Scheiße ist es, dass wir hier unten sitzen und auf unseren Tod warten. Wir dürfen nicht raus und haben kaum genug zum Leben, aber doch zu viel, um zu sterben. Wir siechen dahin wie …«

»Sag es nicht, B«, sagte K in mahnendem Tonfall und biss sich so fest auf die Zunge, dass es schmerzte.

»Wie unsere Mutter. Doch ich sage es.«