Perry Rhodan 152: Die Raum-Zeit-Ingenieure (Silberband) - H. G. Ewers - E-Book

Perry Rhodan 152: Die Raum-Zeit-Ingenieure (Silberband) E-Book

H.G. Ewers

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Beschreibung

Die Tiefe ist ein gigantisches Gebilde zwischen den Universen, eine flache Scheibe von unfassbaren Ausmaßen. Der Arkonide Atlan und der Terraner Jen Salik kämpfen dort für die Zukunft der Milchstraße. Ihre Gegner sind die mysteriösen Grauen Lords, deren Truppen immer weiter vordringen. Siegen die Grauen, ist das Tiefenland verloren – und die Folgen werden die heimatliche Milchstraße erschüttern. Atlan braucht dringend Hilfe – er muss die Raum-Zeit-Ingenieure finden. Diese unbegreiflichen Wesen haben vor Jahrmillionen das Tiefenland erschaffen. Nach vielen Mühen trifft der Arkonide auf die letzten fünf Raum-Zeit-Ingenieure. Doch sind sie bereit, den Menschen zu helfen? Während das Tiefenland zu zerbrechen scheint, geraten Atlan und Jen Salik zudem in die Gewalt der Gegner …

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Nr. 152

Die Raum-Zeit-Ingenieure

Cover

Klappentext

Kapitel 1-10

1. Myzelhinn

2. Auf dem Vagendaplateau

3. Iruna von Bass-Teth

4. Flucht aus Ni

5. Die Lichtebene

6. Die letzten fünf

7. Teleportationen im Licht

8. Grauleben

9. Kommandant der SOL

10. Carfeschs Auftrag

Kapitel 11-22

11. Vor der Grube

12. Konfrontation

13. Ein neuer Aufbruch

14. Ungebetene Gäste

15. Die Graue Kammer

16. Rettungsinseln

17. Starsens Ende

18. Si kitu

19. Perry Rhodan

20. Kitisho

21. Ersehntes Wiedersehen

22. Am Berg der Schöpfung

Nachwort

Zeittafel

Impressum

Die Tiefe ist ein gigantisches Gebilde zwischen den Universen, eine flache Scheibe von unfassbaren Ausmaßen. Der Arkonide Atlan und der Terraner Jen Salik kämpfen dort für die Zukunft der Milchstraße. Ihre Gegner sind die mysteriösen Grauen Lords, deren Truppen immer weiter vordringen. Siegen die Grauen, ist das Tiefenland verloren – und die Folgen werden die heimatliche Milchstraße erschüttern.

Atlan braucht dringend Hilfe – er muss die Raum-Zeit-Ingenieure finden. Diese unbegreiflichen Wesen haben vor Jahrmillionen das Tiefenland erschaffen.

1. Myzelhinn

Hier am Rand der Welt war der Strom der Zeit ein stehendes Gewässer: dunkel und glatt wie ein erblindeter Spiegel, bleiern erstarrt zu ewiger Gegenwart. Am Rand der Welt war die Zeit besiegt.

Aber vielleicht, sinnierte Myzelhinn, war der Sieg über die Zeit in Wahrheit die größte Niederlage. Vielleicht war die Unsterblichkeit der eigentliche Feind des Lebens, eine Krankheit, die nicht einmal durch den Tod geheilt werden konnte.

Er stand hoch über der endlos erscheinenden Weite der Lichtebene, auf dem einzigen Turm der Letzten Bastion, die in majestätischer Pracht die Ebene und den Abgrund trennte. Unter ihm toste die Brandung eines purpurroten Ozeans.

Auf dem Turm, in halber Höhe zwischen Meer und Wolkendecke, herrschte Stille. Irgendwo landeinwärts wühlte ein Wirbel die Atmosphäre auf, und Wind kam über die Ebene heran. Die frische Brise kühlte Myzelhinns Gesicht, nur nicht seine brennenden Augen.

Wie schon so oft vorher wandte er den Blick in jene Richtung, in der er den Grenzwall wusste. Das Tiefenland war flach, keine Krümmung schuf die Illusion der Endlichkeit in Form eines Horizonts. Auch kein Dunst trübte die Sicht. Dennoch blieben die Berge unsichtbar in der Ferne.

Mehr als eine Milliarde Kilometer lagen zwischen der Letzten Bastion und den Bergen; sogar das Licht brauchte eine Stunde, diese Distanz zu überwinden. Und ein Jahr mehr bis Starsen. In der Ferne verschwand alles im Goldlicht des Schöpfungsbergs.

Myzelhinns Augen waren besonders beschaffen. Nach und nach, in visionärer Deutlichkeit, sah er das zerklüftete Massiv des Grenzwalls. Wie ein grimmiges Ungeheuer, das unter seiner eigenen Last zusammengebrochen war, erstreckte sich der Wall von einem Rand des Tiefenlands zum anderen: eine titanische Mauer zwischen der Lichtebene und der grauen Wildnis von Ni. Die zerklüfteten Hänge reichten hinauf zur Tiefenkonstante und vereinten sich dort mit der lückenlosen Wolkendecke, die vom Berg der Schöpfung bis zur verlorenen Stadt am jenseitigen Ende der Welt den Himmel verhüllte.

Das Goldlicht brach sich an Klippen aus Silber und Chrom, an eisernen Graten und kupfernen Steilwänden, an Simsen aus Stahl und aus Bronzemoränen. Uranflöze teilten mit dunklen Strichen Hänge aus blitzendem Zinn; Gletscher aus schillernder Formenergie kalbten lautlos an Wismutbergen; und weit im Osten ergoss sich ein strudelnder Quecksilberfluss in eine Schlucht aus purem Zirkonium.

Dort lag der Platinpass, der einzige gangbare Weg über den Grenzwall.

Myzelhinns Vision verblasste. Er hatte die drei Kundschafter und das Tabernakel von Holt gesehen ...

Sie haben vollbracht, was keinem vor ihnen gelungen ist, erkannte er. Sie haben die wahnsinnigen Wächter der Grube passiert und sind mit dem Tiefenfahrstuhl nach Starsen gelangt. Sie haben die Mauer um Starsen überwunden und die kosmische Weite des Tiefenlands durchquert. Sie haben das Vagenda erreicht und sind als Gefangene der Grauen Lords nach Ni gereist. Dort konnten sie den Verlockungen der Macht und dem Gift des Graueinflusses widerstehen und aus den Kerkern der Lordrichter fliehen. Nun haben sie den Platinpass überquert und sind auf dem Weg zum Rand der Welt, zur Letzten Bastion, zum Berg der Schöpfung – und Zorn begleitet sie. Weil sie unwissend sind ...

Eine Bewegung am Fuß der königsblauen Bastion erregte Myzelhinns Aufmerksamkeit. Er beugte sich über die Brüstung des Turmes und spähte in die Tiefe. Ein Wurm mit fahlweißer Haut, von einem faustgroßen, pulsierenden Organ golden durchschimmert, glitt durch die Fluten aus flüssiger Formenergie. Der Lla Ssann schien nach einem Weg in die Letzte Bastion zu suchen.

Myzelhinn erkannte ihn sofort: Suu Oon Hoo, der letzte Tiefenschwimmer, der mit den Vitalenergieströmen des Vagendas zur Lichtebene gelangt war. Nur Suu Oon Hoo konnte so verrückt sein und hoffen, dass sich die Tore der Bastion für ihn öffneten.

In dem Moment entdeckte ihn der Lla Ssann. »Ich verachte dich«, wisperte Hoos telepathische Stimme in Myzelhinns Bewusstsein. »Ich verachte dich für deinen Verrat, für dieses Verbrechen, das beispiellos in der Geschichte der Tiefe und des Hochlands ist. Ich verfluche dich und deinesgleichen für das, was ihr den Völkern der Tiefe angetan habt. Ihr seid schlimmer als die Grauen Lords, schlimmer als der Tod. Es gibt keine Worte, die das Ausmaß eures Verbrechens beschreiben könnten. Über Äonen haben die Völker der Tiefe euch treu gedient, und zum Lohn für ihre Dienste habt ihr sie dem Graueinfluss geopfert. Ich wünschte, ich könnte euch alle töten ...«

Nichts und niemand kann das, dachte Myzelhinn. Wir Raum-Zeit-Ingenieure haben den Tod besiegt.

Er wandte sich ab, drehte dem zornerfüllten Lla Ssann den Rücken zu, und war nach zwei Schritten bei dem Schacht, der 1000 Meter abwärts reichte. Der Schacht glühte im königsblauen Licht der Psi-Energie, die unter dem Willen Myzelhinns die Festigkeit molekular verdichteten Stahls angenommen hatte.

Mit einem letzten Schritt sprang Myzelhinn in die Tiefe.

Kein Kraftfeld bremste seinen Sturz; kein Sicherheitsmechanismus wurde aktiv, um ihn vor dem tiefen Fall und dem Tod am Grund des Schachtes zu bewahren. Nackte, glatte Wände, die fugenlos nach unten führten – das war alles.

Trotzdem stürzte Myzelhinn nicht. Er sank sacht. Die Luft wurde dichter und bildete ein schützendes Polster, und der Boden empfing ihn weich und federnd, wie er es verdient hatte.

Dienstbeflissene Elemente ... Ein Lächeln, bitter und melancholisch zugleich, umspielte Myzelhinns Lippen.

Verstehst du nun, Suu Oon Hoo?, dachte er. Begreifst du endlich, wie unerfüllbar dein Wunsch ist? Wie willst du jemanden töten, der Raum und Zeit, Materie und Energie als Verbündete hat? Wenn die Waffe versagt, die du auf dein Opfer abfeuerst? Wenn das Gift, das du ihm einflößt, zu wohlschmeckendem Wasser wird? Vor allem, wenn sich deine Mordlust in Liebe verwandelt, sobald du mir gegenüberstehst?

Myzelhinn lauschte.

Stille erfüllte die Bastion. Schon vor langer Zeit war Ruhe in den Gewölben der Psi-Festung eingezogen. All die vielen Stimmen, die einst die Säle mit quirligem Leben erfüllt hatten, waren verklungen. Bald würde die Stille endgültig der einzige Bewohner der Bastion sein.

Aber noch war das Werk nicht vollendet.

Myzelhinn dachte wieder an Suu Oon Hoo und seufzte. Dieser Hass ... Es schmerzte, mit einem so negativen Gefühl verfolgt zu werden. Hass, der den Tiefenschwimmer dazu trieb, die Gefahren des Purpurmeers auf sich zu nehmen, um jene zu töten, die er für Verräter hielt ... Was wussten die Lla Ssann schon von Verrat? Sie sahen nur die Oberfläche: das Vagenda versiegt, das Tiefenland grau ... weil Verrat im Spiel war. Sie fühlten sich ungeheuerlich hintergangen und reagierten auf die einzige ihnen mögliche Weise, mit verzweifeltem Hass. Die Lla Ssann, die Hüter des Vagendas, die wie die Tiziden, die Jaschemen, die Chylinen und die Archivare von Schatzen zu den ältesten und zuverlässigsten Getreuen gehörten, versuchten in ihrem Zorn das Unmögliche – sie wollten jene töten, für die der Tod nur ein bedeutungsloses Wort war.

Myzelhinns Lachen hallte kühl von allen Seiten zurück. Nicht einmal die Jaschemen, die so klug und mächtig waren, dass sie lange dem Graueinfluss und den Angriffen der Lords widerstehen konnten, hatten herausgefunden, warum Myzelhinn und die anderen seiner Art gegen jede Gefahr gefeit waren.

Mit schnellen Schritten durchmaß er den Bogengang, der den Turm an der Südmauer der Bastion mit dem Saal der Zeit-Porträts verband. Niemand begegnete ihm. Die Bastion war groß und der Weg zum Bildersaal weit, dennoch verzichtete Myzelhinn darauf, den Raum oder die Zeit seinen Wünschen gefügig zu machen, sodass aus Metern Millimeter und aus Minuten Sekunden wurden.

Selbst er, dem die Zeit nichts bedeutete, hatte zuweilen Anlass, sich ihren Gesetzen zu unterwerfen.

Myzelhinn war verwirrt von seinem plötzlichen Bedürfnis nach Ruhe. Nach einer Atempause vor der entscheidenden Begegnung mit den Kundschaftern der Hohen Mächte, den drei Rittern der Tiefe, die den Platinpass im Grenzwall überquert hatten und nun in die Lichtebene eindrangen. Ungezählte Generationen waren im Tiefenland geboren worden und gestorben, ohne dass sich in der Letzten Bastion etwas verändert hatte. Und nun, da die größte Umwälzung seit dem Scheitern der Rekonstruktion bevorstand, versuchte er Zeit zu gewinnen ...

Es ist die Furcht vor dem Versagen, dachte er. Die Furcht vor einem erneuten Fehlschlag unserer Pläne. Zweimal sind wir schon gescheitert, mit katastrophalen Folgen. Versagen wir erneut, werden die Konsequenzen extrem: Dann wird das Tiefenland untergehen und alle unsere Schutzbefohlenen werden sterben ...

Myzelhinn blieb schwer atmend stehen. Er war lange Fußmärsche nicht gewohnt.

Schnurgerade verlief der Gang durch die Bastion. In kilometerweiter Ferne, wo Wände, Boden und Decke zu einem vagen blauen Fleck zu verschmelzen schienen, war das Tor zum Saal der Zeit-Porträts.

Des Laufens müde, befahl er dem Raum, sich stärker zu krümmen, damit die Entfernung zum Bildersaal schrumpfte. Binnen eines Augenblicks lag das Halbrund des riesigen offenen Tores vor ihm. Er brauchte nur mehr einen Schritt, dann befand er sich am Ziel.

Der Bildersaal war keineswegs das größte Gewölbe in der Letzten Bastion, jedoch das einzige, das Myzelhinn eine gewisse Ehrfurcht einflößte. Die Decke wölbte sich in schwindelerregende Höhe, die Rückwand lag so weit entfernt, dass die perspektivische Verzerrung sie in ein handtellergroßes Rechteck verwandelte, und jeder Laut erzeugte ein fernes, vielfach reflektiertes Echo.

Myzelhinn zögerte. Die Leere und die Stille bedrückten ihn. Er war lange nicht hier gewesen, hatte diesen Bereich gemieden. Die Atmosphäre im Allerheiligsten seines Volkes weckte Erinnerungen an die Zeit der Hoffnung, an Tausende Gesichter, die er seit Äonen nicht mehr gesehen hatte, an Freunde, die den grauen Weg gegangen waren.

Myzelhinns Herz krampfte sich zusammen, gequält von dem einzigen Schmerz, den ein Wesen wie er fühlen konnte. In endlosen Reihen hingen Bilderrahmen aus goldenem Licht und verstofflichter Vitalenergie an den Wänden aus goldenem Licht – 150.000 Rahmen, und fast alle waren leer.

Er sah hinauf zu jener Stelle, wo ein Farbtupfer zwischen den leeren Rahmen aufblitzte: ein Zeit-Porträt. Sein Blick glitt weiter, fand das zweite, das dritte, das vierte und schließlich das fünfte Porträt.

Nur fünf, dachte er bedrückt. Fünf von 150.000!

Es brauchte eiserne Willenskraft, im Saal der Zeit-Porträts zu bleiben und nicht vor dem Entsetzen zu fliehen. Stumm und von endloser Traurigkeit erfüllt, hielt Myzelhinn den Blick auf das letzte der fünf Bilder gerichtet.

Es war das Porträt eines verwachsenen, knapp einen Meter großen Humanoiden mit brauner, faltiger Haut, runzlig und verschrumpelt wie die Schale eines alten Apfels. Der Rumpf war schmächtig, schien kaum kräftig genug, die Last des wuchtigen, kahlen Kopfes zu tragen. Das Gesicht wurde von großen braunen Augen beherrscht, und sie muteten dunkel und tief wie Brunnenschächte an. Die Nase und der Mund waren dagegen verschwindend klein. Die schlenkernden Arme reichten bis zu den Knien der kurzen Beine, die unter dem Gewicht von Rumpf und Kopf krumm geworden waren; die Füße zehenlos, von dunklem Horn überzogen und auf grotesk anmutende Weise überdimensioniert.

Seit Hunderttausenden von Tiefenjahren hing das Porträt an der Wand des Bildersaals im Herzen der Letzten Bastion, und in diesem eigentlich unvorstellbaren Zeitraum hatte es sich ebenso wenig verändert wie Myzelhinn selbst.

Das Porträt war dreidimensional, doch kein Holo. Es war stofflich-materiell, aber keine Materieprojektion. Es zeigte eine Sekunde aus dem Leben einer Intelligenz, deren Dasein schon Milliarden Jahre währte – eine Sekunde, aus dem Zeitstrom herausgeschnitten und in einem Rahmen aus Vitalenergie konserviert.

Porträt und Porträtierter waren identisch. Zwei Ausgaben ein und derselben Person, vom Abgrund der Zeit getrennt, aber durch eine Technik vereint, die viele Naturgesetze zu ihren Werkzeugen gemacht hatte.

Myzelhinn konzentrierte sich auf das Bild, und wie so oft vorher erfüllte es seine Bitte um ein Zwiegespräch. Das Porträt erwachte übergangslos aus tausendjährigem Schlaf. Der Schädel drehte sich, die dunklen Augen glänzten, und die schmalen Lippen öffneten sich.

»Myzelhinn!«, sagte das Porträt mit seiner hohen, fast piepsend klingenden Stimme. »Bist du es wirklich? Ich habe geträumt ... Viele Träume ... Wie lange, Myzelhinn? Wie viele Tiefenjahre sind seit deinem letzten Besuch verstrichen?«

»Fast tausend Jahre«, antwortete er.

Tausend Jahre, Jahre, Jahre, wisperte das Echo, bis es sich in der Weite des Gewölbes verlor.

»Tausend!« Das Porträt sah nach rechts und links, nach oben und unten. Es blickte zur gegenüberliegenden Wand, zu den goldgefassten leeren Rahmen, die sich lückenlos aneinanderreihten, vom Boden bis hinauf zur hohen Decke, von der äußersten rechten bis zur äußersten linken Seite. Nur Rahmen, keine Bilder.

»Nildefin!«, schrie das Zeit-Porträt verzweifelt. »Wo ist das Bildnis Nildefins? Wo? Bei deinem letzten Besuch hing es noch dort, mir genau gegenüber ... Und Jhaam! Jhaams Porträt ist auch verschwunden! Außerdem Foolgal, Douburlen, Laschiin ... Alle sind fort! Was ist seit deinem letzten Besuch geschehen?«

»Tausend Tiefenjahre sind eine lange Zeit«, sagte Myzelhinn leise. »Schon bei unserem letzten Gespräch gab es nicht einmal mehr vierzig von uns. Dann, vor elf Tiefenjahren, geschah das Unglück. Wir entdeckten, dass die psionischen Siegel des Tores am Berg der Schöpfung schwächer geworden waren. Nildefin, Jhaam, Foolgal, Douburlen, Laschiin und fünfundzwanzig andere zogen zum Berg, brachen die Siegel und öffneten das Tor – gerade weit genug, um eine Nachricht ins Hochland zu senden, einen Hilferuf an die Kosmokraten. Aber das Tor wurde instabil, und als die dreißig versuchten, die Verbindung aufrechtzuerhalten, da atmete die Tiefe sie ein. Wir konnten ihnen nicht helfen, wir kamen zu spät.«

»Also sind auch sie den grauen Weg gegangen«, stellte das Porträt bekümmert fest. »War es tatsächlich ein Unglück, oder ...?«

»Es war eine Falle der Lords«, antwortete Myzelhinn. »Sie haben irgendwie von unserem Vorhaben erfahren und versucht, den Ruf an die Kosmokraten zu verhindern. Als ihnen das nur unvollständig gelang, zerrten sie die dreißig in die Tiefe.«

»Und der Hilferuf?«, fragte das Porträt. »Wurde er beantwortet? Haben die Kosmokraten Hilfe geschickt?«

Myzelhinn presste die Lippen zusammen. Die alte Bitterkeit schnürte ihm sekundenlang die Kehle zu.

»Hilfe ... Ja, sie haben Hilfe geschickt, die Hohen Mächte jenseits der Materiequellen. Wir haben sie um die sofortige Entsendung einer Streitmacht gebeten, mächtig wie die Heerscharen Ordobans. Wir haben sie angefleht, schnellstens Hilfe zu schicken. Wir haben eingestanden, dass wir die Kontrolle über das Tiefenland verloren haben und dass es ohne Unterstützung von außen zur Katastrophe kommen muss. Wir haben erklärt, dass es nicht um uns geht, sondern um die Rettung der Tiefenvölker. Wir haben die Situation schonungslos dargelegt ...« Myzelhinns Stimme überschlug sich vor Erregung. Er zwang sich zur Ruhe, sprach gepresst weiter. »Für diesen Hilferuf mussten dreißig von uns den grauen Weg gehen. Wir, die wir übrig blieben, trösteten uns mit der Hoffnung, dass uns die Kosmokraten nicht im Stich lassen würden. Also warteten wir. Auf eine Armee oder auf Beauftragte der Kosmokraten vom Rang der Sieben Mächtigen, ausgerüstet mit den notwendigen Mitteln, die es ermöglichten, die Verbindung von der Tiefe zum Hochland wiederherzustellen, die Macht der Lords zu brechen und den Graueinfluss zu besiegen.«

»Und?«, drängte das Zeit-Porträt. »Wie schnell ist die Armee eingetroffen? Ist die Verbindung von der Tiefe zum Hochland bereits wiederhergestellt? Wen haben die Kosmokraten geschickt?«

»Drei Kundschafter«, sagte Myzelhinn stockend. »Nur drei. Sie tragen die Aura der Kosmokraten und sind Ritter der Tiefe!«

Myzelhinn und das Zeit-Porträt sahen einander an.

»Du weißt, was das bedeutet?«, fragte das Porträt.

Myzelhinn reagierte mit einer bestätigenden Geste. »Das Tiefenland hat für die Pläne der Kosmokraten seine Bedeutung verloren. Sie sind überzeugt, nicht mehr auf unsere Hilfe bei der Reparatur des Moralischen Codes angewiesen zu sein. Die Kosmokraten werden das Tiefenland opfern.«

»Weil Ordobans Suche nach Äonen erfolgreich war«, sagte das Porträt. »Ordoban hat TRIICLE-9 endlich gefunden! Und ...«, es zögerte, »... die Kosmokraten haben das Kosmonukleotid vielleicht schon für die Rückkehr in die Tiefe präpariert. TRIICLE-9 wird sich endlich wieder in die Doppelhelix einfügen und ... und ...«

»Und das Tiefenland wird im selben Moment in das Normaluniversum stürzen.« Myzelhinns Stimme klang ausdruckslos; nur seine Augen verrieten etwas von seinen Gefühlen: Verbitterung, Entsetzen, Zorn – und Resignation. »Dann unterliegt das Tiefenland den anderen physikalischen Gesetzen und wird in Myriaden Bruchstücke zerfallen. Die Völker der Tiefe werden dabei sterben.«

»Ausgeschlossen«, hauchte das Porträt. »So etwas können die Kosmokraten nicht zulassen!«

»Sie sind allwissend. Ihnen ist bekannt, welche Folgen es haben wird, wenn der Moralische Code beschädigt bleibt. Sie opfern die Tiefenvölker, um sehr viel größere Opfer zu vermeiden. Das ist es, was Allwissenheit bedeutet: der Zwang, grausam zu sein, damit noch schrecklichere Grausamkeiten vermieden werden ...«

Und alles ist unsere Schuld, dachte Myzelhinn verzweifelt. Wir haben versagt, haben unsere Chance vertan, den Moralischen Code zu reparieren. Den Kosmokraten bleibt deshalb keine andere Wahl, unabhängig davon, welche Folgen dies für uns und das Tiefenland haben wird.

Er wandte sich ab, ging mit stockenden Schritten davon. Das Gespräch mit dem Zeit-Porträt hatte ihn aufgewühlt, statt seine Gedanken zu klären.

»Ihr müsst etwas tun!«, rief ihm das Porträt hinterher. »Ihr müsst die Tiefenvölker vor der Katastrophe retten!«

»Wir versuchen es«, sagte Myzelhinn; er sprach leise, mehr zu sich selbst als zu dem Zeit-Porträt. »Aber wir sind nur noch fünf.«

2. Auf dem Vagendaplateau

Bericht Atlan:

Das Vagenda – 1000 Meter hoch über dem Tiefenland erstreckte sich das Plateau aus rostrotem Material scheinbar endlos vor uns. Endlich waren wir alle oben angekommen. Und nun? Wir befanden uns im Zentrum des Tiefenlands, ebenso weit von der gigantischen Stadt Starsen wie von der sagenumwobenen Lichtebene entfernt. Jeweils sechs Lichtmonate, eine gigantische Distanz. Ihr werdet erkennen müssen, dass dort oben auf dem Plateau nicht das Gelobte Land ist. Was Lordrichter Krart gesagt hatte, spukte mir immer noch durch den Kopf. Er hatte uns davon überzeugen wollen, dass es besser sei, wenn wir die Seiten wechselten. Hinüber zum Grauleben? Das hätte bedeutet, alles zu verraten, für das wir bislang gekämpft hatten. Niemals! Auch wenn wohl nur eine kurze Frist blieb, bis Krart mit seinen Armeen uns nachsetzte.

»Atlan!« Im Helmfunk meines TIRUNS erklang plötzlich die Stimme der Spielzeugmacherin. »Mein Ritter ist verschwunden«, jammerte sie. »Er antwortet nicht auf meine Funkanrufe.«

Vor Kurzem war Jen Salik dicht hinter mir gewesen. Ich vermutete, dass er vielleicht ein Stück zurückgeblieben war. Dann hätte ihn durchaus der Schuss eines Verfolgers treffen können. Über den TIRUN registrierte ich keinerlei Gefühlsschwingungen von Jen.

Ich bremste meinen Flug ab und machte kehrt. Meiner Ansicht nach konnte Jen nur hinter dem Heer der Exterminatoren sein, wenn er überhaupt noch irgendwo war.

»Folgt weiterhin dem Tabernakel!«, wies ich meine Gefährten und den Großen Exterminator an. »Es genügt, wenn Clio mich begleitet.«

»Wohin willst du?«, hörte ich die arrogante Stimme des Jaschemen Caglamas Vlot. Ich sah mich nach dem Technotor um und entdeckte ihn, zusammen mit seinem Kollegen Fordergrin Calt, in der Nähe von Tengri Lethos-Terakdschan.

»Nach Jen Salik suchen«, antwortete ich. »Lasst euch dadurch nicht stören.«

»Keineswegs«, erwiderte Calt.

Ich hatte mich längst daran gewöhnt, dass die Technotoren hin und wieder ihre Aktivgestalt wechselten. Aktuell hatten Calt und Vlot ein humanoides Aussehen angenommen.

Clio flog dicht neben mir. Ich deutete schräg nach unten und wusste, dass sie mich verstand. Die Exterminatoren bewegten sich zu dicht gestaffelt, als dass wir zwischen ihnen ausreichend große Lücken gefunden hätten. Über ihnen zu fliegen, hätte uns die Sicht zum Rand des Plateaus genommen. Also blieb nur, unter ihrer Formation hinwegzutauchen.

Es dauerte knapp eine Minute, dann hatten Clio und ich den Pulk der in weiße Schutzanzüge gekleideten Tiefenpolizisten unterflogen und befanden uns wieder nahe am Rand des Vagendaplateaus. Sekunden später waren wir schon darüber hinaus und sahen unter uns die 1000 Meter senkrecht abfallende spiegelglatte Wand.

Gut zehn Kilometer vom Fuß des Plateaus ragte einer der golden leuchtenden Großspeicher auf. Dahinter versank die Ebene in grauem Dämmerlicht, dessen Anblick mich frösteln ließ. Ich ahnte mehr als ich es sah, dass dort die Armeen Lordrichter Krarts aufmarschierten. Es konnte nicht lange dauern, bis dieser Sturm losbrach.

»Jen!«, hörte ich Clio über Funk rufen. »Mein Ritter, wo bist du?«

Der Luftraum war leer, und irgendwo in der Wand hing Jen Salik auch nicht. Ich ließ mich tiefer absinken. In Sichtweite gab es noch keine Streitkräfte der Grauen Lords. Clio überholte mich und landete unsanft in einem Gebüsch, das unter ihrem Gewicht zusammenbrach.

»Hast du dich verletzt?«, fragte ich.

»Nein«, gab die Spielzeugmacherin einsilbig zurück.

Ihr Verhalten ist nicht in Ordnung!, raunte mein Extrasinn.

Sicher, Clio befand sich in einem Ausnahmezustand. Ihre Sorge um Jen war so übersteigert wie die meisten ihrer Gefühle. Aber gerade deshalb hätte ich ihr Verhalten erst dann als ungewöhnlich beurteilt, falls sie sich völlig normal verhielt.

Meine Sorge um den Freund wuchs ebenfalls, zumal die Sensoren des SERUNS absolut keine Spur von ihm anmaßen. Jen Salik schien sich in des Wortes voller Bedeutung in nichts aufgelöst zu haben.

Oder er hat sich entfernt!, gab der Logiksektor zu bedenken.

Das war auch eine Möglichkeit. Nur, warum hätte Jen das tun sollen?

Ich sah mich nach dem Wrack der Gondel um, mit der wir vom Kyberland hierhergekommen waren. Es lag unverändert in der Nähe eines der wenigen noch funktionierenden Vitalenergiespeicher. Vielleicht hatte Jen etwas aus dem Wrack holen wollen. Das erschien mir zwar unwahrscheinlich, ich musste dem aber dennoch nachgehen. Die Frage war nur, was ihn daran hinderte, auf Clios und meine Funkanrufe zu antworten. Ein Unfall?

Oder ein Spähtrupp der Grauen Armeen hat ihn überwältigt, meinte der Extrasinn.

Die Armeen der Grauen Lords standen mindestens vier Kilometer jenseits des Ringes der Aktivatorspeicher. Das schloss einzelne Aktivitäten aber nicht aus.

Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf das Wrack der Tiefengondel, fand es aber nicht mehr. Irritiert flog ich weiter und blickte suchend nach allen Seiten. Unmöglich, dass die Gondel in den wenigen Sekunden verschwunden war, in denen ich nicht auf sie geachtet hatte. Ein Objekt dieser Größe.

»At...«, klang es im Helmfunk auf, mehr nicht.

»Clio?«, rief ich.

Die Spielzeugmacherin antwortete nicht. Ich wandte mich um, sah sie aber nirgends. Überhaupt: Nicht nur Clio und das Gebüsch, in dem sie gelandet war, die ganze Ebene war nicht mehr da. Ebenso das Plateau, die Großspeicher und sogar der graue Dunst weiter draußen.

Eine Falle!, stellte der Logiksektor fest, wenn auch reichlich spät.

»Landen!«, wies ich den TIRUN an und musterte das kaum wahrnehmbare Flimmern, das rings um mich in der Luft hing.

Es war zweifellos eine Falle, in die ich geraten war – und es bedurfte keiner großen Phantasie, mir auszurechnen, dass auch Jen Salik irgendwo in dieser Falle steckte.

»Ist da jemand?«, hörte ich Jen Saliks Stimme im Helmfunk. Meine Füße berührten gerade den Boden, der nicht zur Ebene rings um das Vagenda gehören konnte, jedenfalls bestand er aus einer bläulich schimmernden, glasähnlichen Substanz.

»Ich bin hier – Atlan!«, antwortete ich. »Wo steckst du, Jen?«

Das Flimmern in der Luft war stärker geworden. Es schmerzte den Augen.

»Ich bin hier, zwischen unsichtbaren, aber nicht durchsichtigen Wänden«, hörte ich den Terraner. »Bisher hat sich niemand blicken lassen.«

»Zwischen unsichtbaren Wänden?«, wiederholte ich zweifelnd und musterte die Ortungsanzeigen des TIRUNS. »Unsere Augen sind erfahrungsgemäß höchst unzulänglich, wenn es um Dinge geht, mit denen sie während der Evolution nie konfrontiert wurden. Das trifft nicht für die Ortung zu. Warum habe ich nur Fehlanzeige im Display?«

»Das darfst du nicht mich fragen«, gab Jen zurück.

Normalerweise hätte mein TIRUN ihn über die Funksignale längst angepeilt. Aber nicht einmal das funktionierte in dieser Falle. Was konnte das bloß sein?

Vielleicht solltest du lieber fragen, wer diese Falle gestellt hat, meldete sich der Logiksektor. So etwas kennen wir im Tiefenland noch nicht. Vor allem ist es unwahrscheinlich, dass die Grauen Lords mit solchen Mitteln arbeiten. Wenn sie diese Art von Waffe besäßen, wären sie längst damit gegen euch vorgegangen.

Das leuchtete ein, half mir aber nicht weiter.

»Die Funktionskontrollen spielen verrückt«, hörte ich Jen murmeln. Es klang, als spräche er zu sich selbst.

»Die Kontrollen deines TIRUNS?«, erkundigte ich mich.

»Ja. Sie zeigen Rotwerte. Bei dir auch?«

Ich warf einen Blick auf die Anzeigesymbole. »Bei mir grün. Offenbar sind die Systeme deines TIRUNS ausgefallen. Aber das ist nahezu unmöglich.«

»Deshalb dachte ich, sie spielen verrückt. Aber ich habe tatsächlich ein Problem mit den Systemen. Die Temperatur steigt und der Kohlendioxidgehalt der Atemluft nimmt zu, wenn auch nur minimal.«

»Kannst du den Schutzschirm aktivieren?«, fragte ich.

»Schon versucht«, gab Jen zurück. »Keine Reaktion. Wie ist das bei dir?«

»Erledigt. Schirm ist aktiv.«

Trotzdem ist anzunehmen, dass das besondere energetische Umfeld die Systeme deines TIRUNS bald ebenso stören wird, kommentierte der Extrasinn.

»Jen, was macht dein Internklima?«, fasste ich nach.

»Wird schlechter«, antwortete er. »Aber es ist noch nicht schlimm.«

Er konnte mir nichts vormachen. Ich hörte an seiner Stimme, dass er Angst hatte. Das konnte nur bedeuten, dass es schon schlimmer war, als er sich eingestehen wollte.

»Wenn es extrem wird, musst du den Helm öffnen!«, mahnte ich ihn.

Das dürfte der Sinn des Ganzen sein!, analysierte mein Extrasinn.

Besser als erstickt!, dachte ich zurück.

»Warum bist du eigentlich hierher zurück?«, wandte ich mich wieder an den Freund.

»Ich hatte etwas im Wrack der Gondel vergessen. Aber du kannst mich totschlagen; ich erinnere mich nicht, was.«

»Möglicherweise bist du parapsychisch beeinflusst worden«, überlegte ich laut. »Doch warum ausgerechnet du?«

Jen erwiderte etwas. Ich achtete nur nicht darauf, weil plötzlich die Funktionskontrollen meines Anzugs flackerten. »Ich muss den Helm öffnen«, war das Nächste, was ich von Jen hörte.

»Dann warte nicht damit!«, sagte ich. »Wahrscheinlich werde ich deinem Beispiel gleich folgen. Wenn wir uns wenigstens sehen könnten.«

Er lachte leise. Ich hörte über Funk, dass er den Helm manuell zurückklappte. In der nächsten Sekunde schrie er entsetzt auf – und dann war es totenstill.

»Jen?«, rief ich besorgt. Er antwortete nicht, und ich hörte nicht einmal mehr sein Atmen. Freilich konnte das daran liegen, dass sein Helmfunk ausgefallen war. Ich fürchtete jedoch, dass die Erklärung schlimmer war.

Jäh wurde es finster. Ich hatte das Gefühl, einen Schlag mit einer Stahlstange auf den Schädel zu bekommen, und sackte in mich zusammen. Allerdings behielt ich das Bewusstsein; ich nahm alles, was ringsum vorging, sogar mit nie erlebter Klarheit wahr.

Ich lag auf einer Art Bahre aus schimmerndem Metall, die auf einem Podest in einer leeren Kuppelhalle stand. Leer war die Halle nur für meine Augen. In mentaler Hinsicht wimmelte sie von allen möglichen Lebewesen. Sie erschienen mir fremdartig und vertraut zugleich – und keines war wie das andere. Sie hatten nur eines gemeinsam: Sie strahlten eine fast unglaubliche Friedfertigkeit, Nächstenliebe und Zuversicht aus.

Wie lange dieser Zustand andauerte, würde ich wohl niemals erfahren. Irgendwann zerriss ein heftiger Windstoß alle meine Wahrnehmungen. Ich wollte die Arme nach ihnen ausstrecken, hatte aber keine Kontrolle über meinen Körper.

Nach einer Weile spürte ich eine Hand auf der Stirn, und ein ovales Gesicht mit bernsteingelben Augen blickte auf mich herab. Es ist alles in Ordnung, Atlan!, empfing ich die geistige Botschaft von Lethos-Terakdschan. Auch mit Jen.

Ich atmete auf – und in dem Moment griff die Ohnmacht nach mir ...

Ebenso unvermittelt kam ich wieder zu mir.

Ich setzte mich auf. Mir gegenüber kauerte der Hathor. Seine silbrige Haarmähne wehte im Wind. Er kümmerte sich um Jen Salik, den er in leicht aufrecht sitzender Haltung stützte, und dem es offenbar recht gut ging. Ich atmete auf und sah mich nach Clio um.

»Sie wurde vom Haluter abgeholt«, sagte Lethos-Terakdschan. »Ich fürchte, dass sie am schlimmsten unter dem Zugriff gelitten hat. Domo Sokrat behauptete sogar, sie hätte ihre Immunität gegen den Graueinfluss verloren. Klar, er hält das für einen Vorteil, doch das ist es nicht.«

»Ganz bestimmt nicht«, pflichtete ich Lethos bei. »Aber was meinst du mit ›Zugriff‹?«

»Das ist einfach«, antwortete Jen, als hätte er nur darauf gewartet. »Jemand hat versucht, mein Bewusstsein anzuzapfen. Wohl auch bei dir, und bei Clio ebenso.«

»So einfach ist es leider nicht«, berichtigte der Hathor. »Es stimmt grundsätzlich, was Jen sagte, aber es kompliziert möglicherweise unsere Mission. Er wurde gezielt als Opfer ausgewählt und in eine Falle mit offenbar sechsdimensionaler Komponente gelockt. Ich frage mich, nach welchen Kriterien der Fallensteller ihn auswählte.«

»Immerhin ist er ein Ritter der Tiefe«, sagte ich.

»Nicht der einzige hier«, wandte Tengri ein. »Du bist ebenfalls ein Ritter der Tiefe – und ich bin es in gewissem Sinne auch.«

»Ich bin es nur auf Zeit. Und du bist eigentlich als der Hüter des Domes Kesdschan und des Ordens der Ritter eine Ausnahme in unserer Runde«, überlegte ich. »Jen unterscheidet sich von uns dadurch, dass er seinen Status schon besaß, bevor er im Dom Kesdschan den psionischen Ritterschlag erhielt.«

In ihm hat sich die ÜBSEF-Konstante eines früheren Ritters der Tiefe reinkarniert!, ergänzte mein Extrasinn.

Der Hathor sah mich eigentümlich an. Ich erkannte sofort, dass er ähnliche Gedankengänge wie ich verfolgte.

»Jen hat mit dem Ritterwissen Harden Coonors etwas an sich, das ihn von uns beiden unterscheidet«, sagte Tengri. »Gravierender erscheint mir die Tatsache, dass sich der Fallensteller einer Methode bediente, die in ferner Vergangenheit von den Kontaktsuchern meines Volkes entwickelt wurde: das Krysoptera. Es ist eine Art dimensional übergeordneter Molekülwäsche, obwohl auch diese Erklärung eher verwirrt als klärt.«

»Krysoptera«, wiederholte ich. »Nie gehört. Besteht die Möglichkeit, dass du dich irrst?«

»Nein«, antwortete der Hathor. »Theoretisch wäre das möglich, aber ich konnte die Verwendung des Krysoptera bereits nachweisen. Nur die mit seiner Hilfe hergestellte einseitige Verbindung lässt sich mit dem geistigen Schwert des Diddor-Sanskari durchtrennen – und genau das habe ich getan.«

Ich horchte überrascht auf. Mir wurden einige Aspekte klar, die sich zwangsläufig aus dieser Erklärung ergaben. »Könnten sich außer dir andere Angehörige deines Volkes im Tiefenland aufhalten, Tengri?«, fragte ich.

»Ich habe selbst schon darüber nachgedacht«, antwortete er. »Es ist nicht sehr wahrscheinlich. Wäre es so, hätte Carfesch mich darüber informiert, als er mir den Auftrag gab, in die Tiefe zu gehen.«

Ich gab mich damit zufrieden.

»Wie fühlst du dich?«, wandte ich mich an Jen.

»Kräftig genug, um aufzubrechen. Tengri hat ein wahres Wunder an mir vollbracht.«

Er richtete sich allmählich ganz auf – und da sah ich, dass der Hathor seine Kombination oben geöffnet und teilweise über Jens Oberkörper gezogen hatte. Tengri bemerkte meinen fragenden Blick und erklärte: »Unser Freund hat einen starken Schock erlitten und war schon sekundenlang klinisch tot. Erst der Kontakt mit der Kombination hat ihn zurückgeholt und wiederhergestellt.«

Ich wusste, dass Tengris bernsteingelbe Kombination oder vielmehr das Gewebe silbrig schimmernder Fäden, das sie durchzog, aus semi-organischer Substanz bestand, die in gewisser Weise lebte und auf den Träger ähnlich wie ein Zellaktivator wirkte. Sogar noch vollkommener. Es erschien mir logisch, dass dadurch sogar Reanimationen und Regenerationen ermöglicht wurden.

»Du hättest dir meinen Aktivator ausleihen dürfen«, sagte ich. »Er hätte zusammen mit Jens Aktivator vermutlich dasselbe bewirkt.«

»Dann wärst du jetzt tot«, erwiderte Tengri ernst. »Auch du warst vollständig weggetreten. Seltsamerweise hast du in diesem Zustand gelächelt, obwohl deine Gehirnfunktionen nicht mehr messbar gewesen waren.«

»Gelächelt?« Da war auch diese Erinnerung wieder. Ich sah mich auf der Bahre aus schimmerndem Metall in der Kuppelhalle – und ich glaubte immer noch, die zahllosen fremdartigen Wesen zu spüren, die Friedfertigkeit, Nächstenliebe und Zuversicht ausstrahlten.

»Wenn es ein Jenseits gibt, in das die Gedanken und Gefühle der Verstorbenen fliehen, dann war ich dort«, flüsterte ich unter dem überwältigenden Eindruck dieser Erinnerung.

Tengri Lethos-Terakdschans Gesicht verschloss sich förmlich. Ich musste daran denken, dass die beiden Bewusstseine, die den Projektionskörper Tengris bewohnten, mehr Erfahrungen gesammelt hatten, als ich mir im Entferntesten vorstellen konnte. Wahrscheinlich kannten sie Geheimnisse, nach deren Erforschung zahllose Generationen intelligenter Wesen vergebens gestrebt hatten. Wenn sie diese niemandem offenbaren wollten, mussten sie triftige Gründe dafür haben. Vielleicht vertrugen die entwicklungsgeschichtlich relativ jungen Gehirne von Arkoniden und Terranern keine absoluten Wahrheiten.

Jen Salik deutete auf etwas hinter mir und rief: »Wir müssen fliehen! Der Speicher leuchtet nicht mehr. Er wird grau, und alle anderen ebenso.«

Ich wandte mich hastig um. Der ehedem leuchtende Vitalenergiespeicher, in dessen Nähe das Wrack unserer Gondel lag, war verblasst – und die anderen Speicher, die ich sehen konnte, verfärbten sich bereits grau.

Jenseits der Speicher, wo die Grauen Armeen sich gesammelt hatten, war Bewegung aufgekommen. Auch ohne Einzelheiten zu erkennen, sah ich, dass das graue Wogen und Wallen näher rückte. Die Heere Lordrichter Krarts marschieren. Wenn sie erst richtig in Schwung kamen, würden sie den Rest der Ebene schnell überrannt haben.

»Hier hält uns nichts mehr«, sagte der Hathor. »Wir müssen zurück zu den anderen.«

Die rund 5000 Exterminatoren hatten sich am Rand des Vagendaplateaus zur Verteidigung eingerichtet, so gut es die Umstände eben zuließen.

Das rostrote Material des Plateaus war nicht nur undefinierbar, sondern schlicht unzerstörbar. Ich nahm an, dass es aus einer besonderen Art von Formenergie bestand, die äußerst aktiv war und Schäden bereits im Ansatz ausglich. Mit dem Ausheben von Gräben und anderen Deckungsmöglichkeiten war es also nichts.

»So hat es keinen Sinn«, sagte ich über den auf Kurzdistanz geschalteten Helmfunk zu Tengri und Jen. »So werden wir einen nach dem anderen verlieren.« Ich deutete auf die goldfarbene »Lichtglocke« die noch ein beachtliches Stück entfernt über dem Plateau hing. »Wenn es möglich ist, müssen wir dort hindurch.«

»Es sollte möglich sein«, bestätigte der Hathor. »Der Haluter sagte schon, dass die Glocke aus freier Vitalenergie besteht, die für den Tiefeneinfluss und das Grauleben undurchdringlich ist. Allerdings muss ich davon abraten, sie zu durchstoßen. Das Netzwerk meiner Kombination misst n-dimensionale Eruptionen an. Das Risiko wäre zu groß ...«

»Wenn wir mit dem Rücken an der Wand kämpfen müssen, werden wir alle untergehen«, fiel Jen dem Hathor ins Wort.

»Lordrichter Krart will uns nicht vernichten, sondern uns zum Grauleben bekehren«, wandte ich ein. »Seine Truppen werden nur dann kämpfen, wenn wir uns zur Wehr setzen.«

»Und? Sollen wir uns ergeben?«, protestierte Jen.

»Keinesfalls«, entgegnete ich. »Aber wir haben dennoch kein Recht, die Exterminatoren zu opfern.«

»Das werden wir auch nicht.« Lethos-Terakdschan hob abwehrend die Hände. »Ich bekomme immer noch verbesserte Auswertungen des Netzwerks. Die n-dimensionalen Eruptionen werden in kurzer Zeit zur Instabilität der Glocke und damit zu ihrer Auflösung führen.«

»Na also!«, entfuhr es Jen unbedacht. Er biss sich auf die Unterlippe, als er alle Konsequenzen der Entwicklung erkannte, die er eben fast überschwänglich begrüßt hatte.

Das Vagenda wird dem Zugriff der Grauen Armeen wehrlos ausgeliefert sein, wenn die Glocke erlischt!, raunte mein Logiksektor. Zu der Erkenntnis war ich allerdings gleichzeitig gekommen.

»Wieso konnte es überhaupt zu den n-dimensionalen Eruptionen kommen?«, rief ich. »Das Vagenda muss das vorausgesehen haben, sonst hätte es keinen Hilferuf gesendet. Aber ohne die schützende Glocke aus Vitalenergie taugt unsere Hilfe nicht mehr als der bewusste Tropfen auf den heißen Stein.«

»Mit der Glocke wäre unsere Hilfe unmöglich«, belehrte mich der Hathor. »Wir müssen versuchen, auf dem Vagendaplateau Mittel und Wege für die Verteidigung zu finden.«

»Da!«, rief Jen. »Der Nebel reißt auf!«

Ich blickte nach vorn. Der goldfarbene Dunst verflüchtigte sich schnell. Wo er eben noch scheinbar undurchdringbar lastete, schälten sich in der Nähe des Plateaurands vielfältige Strukturen heraus. Gebäudekomplexe mit einer architektonischen Fülle wie in Starsen wurden sichtbar, dazwischen weitläufige Plätze, festungsartige Bauwerke und ausgedehnte Grünflächen. Hier und da ragten auf quaderförmigen Sockeln graublaue Türme mit den für Transmitterdome charakteristischen schüsselförmigen Aufsätzen in den Himmel. Jedoch waren sie wesentlich kleiner als die Transmitterdome des Tiefenlands.

»Dort werden sich unsere Exterminatoren wenigstens verschanzen können«, stellte ich fest.

»Dann sollten sie schnell damit anfangen.« Jen Salik deutete über die Schulter zurück.

Ich folgte seinem Wink mit den Augen und hielt schier den Atem an, als ich die graue Flut sah, die gegen den Fuß des Vagendaplateaus brandete und an der Klippenwand hinaufschäumte: Tausende und Abertausende unterschiedlichster schwebender Kriegsmaschinen, dazu Millionen schwer bewaffneter Kämpfer aus einer Vielzahl von Völkern.

Gegen diese Flut stemmt sich auch eine Elitetruppe wie die Exterminatoren vergeblich!, warnte der Extrasinn.

Es war so, kein Zweifel. Wir würden zurückweichen müssen, aber wenigstens kämpfend, damit die Grauen Heere nicht so schnell vorankamen.

Was nutzt der winzige Zeitgewinn?, fragte mein Logiksektor. Ihr gewinnt nur eine Galgenfrist. Die Kosmokraten haben euch mit völlig unzureichenden Mitteln in einen Kampf geschickt, der schon deshalb von vornherein aussichtslos war. Auf Terra nannte man ein solches Verhalten früher verbrecherisch.

Ich lachte bitter. Wir dürfen trotzdem nicht kapitulieren! Jedenfalls so lange nicht, wie es auf dem Vagenda noch Raum gibt, in den wir zurückweichen können.

Ich schaltete den Helmfunk auf größere Reichweite. »Atlan an die Exterminatoren und unsere anderen Gefährten!«, rief ich. »Das Grauleben greift massiert an. Zieht euch in das Terrain zurück, das durch die Auflösung des goldenen Nebels frei geworden ist! Lethos-Terakdschan, Jen Salik und ich folgen euch. Wir werden eine hinhaltende Verteidigung aufbauen.«

»In Ordnung«, hörte ich gleich darauf die Stimme Sokrats. »Ich brenne darauf, an deiner Seite zu kämpfen und die Sturmtruppen der Grauen Lords zu vernichten, mein Ritter!«

Mit meinem Orbiter ging wieder das halutische Temperament durch. Aber auch er würde kein Wunder vollbringen können angesichts der überwältigenden Übermacht.

»Er wird anscheinend nicht gefragt, ob Er mit den vorgeschlagenen Vorkehrungen einverstanden ist«, ertönte die hochmütig-nörgelnde Stimme eines der beiden Jaschemen.

»Allerdings nicht«, gab ich kompromisslos zurück, damit die Technotoren sich nicht erst der Illusion hingaben, sie hätten ein Mitbestimmungsrecht. »Außerdem irrst du dich, wenn du meine Befehle mit Vorschlägen verwechselst. Atlan, Ende!«

Wir waren in breiter Front in den Streifen aus Grünflächen, Gebäudekomplexen und kleinen Festungen eingedrungen, der bereits vom goldenen Nebel der Vitalenergieglocke freigegeben war und etwa 20 bis 50 Kilometer breit sein mochte.

Auf Anraten des Tabernakels von Holt hatten wir dabei Ausschau gehalten nach den Lla Ssann, den sogenannten Tiefenschwimmern, die Hüter des Vagendas sein sollten. Das Tabernakel beschrieb sie als wurmförmige, um die drei Meter lange und fünfzig Zentimeter durchmessende Lebewesen, die in der Körpermitte ein faustgroßes, unter der Haut pulsierendes, golden schimmerndes Organ besitzen sollten – und außerhalb der Vitalströme telekinetische Kräfte zur Fortbewegung benutzten.

Mehr hatte das Tabernakel uns nicht über diese Lebensform verraten – und es schien auch nicht nötig zu sein, denn allem Anschein nach waren sie ausgestorben. Wir entdeckten nicht ein einziges dieser Wesen. Die Grünflächen waren verwahrlost, die Landeplätze leer bis auf etliche Schrotthalden, und die Gebäudekomplexe erwiesen sich als Geisterstädte, durch deren leere Fensterhöhlen der Wind heulte und deren Straßen sich in karg bewachsene Dünenlandschaften verwandelt hatten.

Lediglich einige der festungsähnlichen Bauwerke waren nicht völlig leer geräumt. Die Exterminatoren entdeckten dort Kriegsmaterial wie Projektorstäbe, Sprengdrähte, Elektronetze sowie ein Sammelsurium handlicher Waffen mit Munition und unterschiedlichste Minen. Diese Funde weckten in mir Erinnerungen an erbitterte Stellungskämpfe während des Methankriegs zwischen Arkoniden und Maahks. Wir hatten auf zahlreichen Planeten gegen erdrückende Übermachten kämpfen müssen und versucht, dieses Handikap durch taktisch überlegenen Einsatz selbsttätiger Defensivwaffen auszugleichen. Aufgrund dieser Erinnerungen wies ich die Terminatoren an, den gut zehn Kilometer breiten Streifen, den wir bereits durchquert hatten, mit allen Schikanen wie Belastungs- und Akustikminen, Springminen und fernzündbaren Sprengsätzen zu spicken. Außerdem ließ ich die Straßen mit in den Sanddünen vergrabenen Elektronetzen und die Gebäude mit Sprengdrähten präparieren. Die Projektorstäbe wurden so eingestellt und postiert, dass sie die Ortungs- und Zielpositroniken anrückender Kampfmaschinen verwirrten.

Wir waren keineswegs schon mit allem fertig, da quollen die Angriffsspitzen der Grauen Heere bereits auf den oberen Rand des Vagendaplateaus. Zielstrebig näherten sie sich der verlassenen Zone. Ich war froh darüber, dass die Lords ihre Kriegsmaschinen vorschickten und die aus vielen Völkern rekrutierten Sturmtruppen teils erst mit mehreren Kilometern Distanz folgen ließen.

Als die ersten Maschinen von Explosionen zerrissen, unter in sich zusammenstürzenden Bauwerken begraben und von den Energiestößen der Elektronetze geschmolzen wurden, geschah das, womit niemand von uns gerechnet hatte. In den Geisterstädten wimmelte es mit einem Mal von Robotern aller Couleur. Viele von ihnen fielen schon in den ersten Minuten nach ihrem Erscheinen unseren Installationen zum Opfer. Doch Hunderttausende dieser kleinen Maschinen blieben unversehrt und stürzten sich mit solcher Vehemenz auf uns, dass unsere Gegenwehr schnell überrannt wurde.

Wären diese Roboter auf Töten programmiert gewesen, es hätte für uns alle wohl das Ende bedeutet. Allerdings trafen sie keine Anstalten, uns Schaden zuzufügen – vorerst jedenfalls.

Ich selbst wurde innerhalb weniger Augenblicke von mindestens einem Dutzend Robotern umringt – zwergenhafte, etwa einen Meter große Gestalten aus rostrotem Metallplastik. Zweifellos gehörten sie zum Vagenda. Sie hatten jeder zwei kurze Beine und vier bis zum Boden reichende Arme. Die Köpfe waren silbrig schimmernde Spitzkegel ohne sichtbare Öffnungen oder Sensoren.

Die Roboter redeten! Sie gebrauchten den Tiefenslang, den wir alle beherrschten.

»Ich bin dein Diener!«, schallte es mir vielstimmig in den Ohren, während Dutzende von Greifhänden an meinem TIRUN zupften und zerrten. »Du brauchst nur zu befehlen; ich gehorche.«

Ich schielte zu den Gefährten. Die Exterminatoren waren so gut wie vom Boden verschluckt, denn sie hatten sich in bestens getarnten Verteidigungsstellungen eingenistet. Nur die beiden Jaschemen, Jen Salik, Tengri und unsere drei Orbiter befanden sich in meiner Nähe auf einem halb unter Sanddünen begrabenen Platz. Sie alle reagierten relativ hilflos oder zumindest irritiert. Die Jaschemen hatten ihre Schutzschirme aktiviert, etwas anderes war von ihnen auch nicht zu erwarten gewesen. Dass sogar Domo Sokrat darauf verzichtete, seine Kräfte einzusetzen, um die zierlich wirkenden Roboter zu zerquetschen, ließ mich schmunzeln.

Dieser Anflug von Ironie verging mir allerdings, als ich sah, dass eine Horde Roboter drei Exterminatoren aus einem Bunker zerrte und die Tiefenpolizisten förmlich in Stücke riss. Anschließend eilte jeder Roboter mit seinem Stück davon. Sie schienen in ihrem irren Drang, jeder einen Herrn zu finden, auch mit dem Stück eines Herrn vorliebzunehmen, wenn nicht für jeden ein Herr da war.

»Schaltet die Schutzschirme ein!«, befahl ich über Funk. »Notfalls zerstört die Roboter! Sie sind nur Maschinen. Lasst sie keinesfalls zu nahe an euch heran!«

Gegen unsere Energieschirme waren die Roboter in der Tat machtlos. Sie wurden bei der Berührung teils schwer beschädigt oder auch nur zurückgeschleudert. Dennoch drängten sie sich immer wieder an uns heran und schränkten allein dadurch unsere Bewegungsfähigkeit enorm ein. Zwar blieben die meisten Kriegsmaschinen der Grauen Heere von den Explosionen aufgerissen oder ausglühend in den Minenfeldern liegen, und die Sturmtruppen verhielten sich abwartend, doch unaufhörlich quollen in breiter Front weitere Maschinen über den Rand des Plateaus. Irgendwann, und das wohl sehr bald, würden unsere Vorrichtungen erschöpft sein.

»Zurück!«, ordnete ich an. »Zieht euch durch die tote Zone an die Grenze des Glaslabyrinths zurück!«

Aber nicht weiter!, warnte das Tabernakel von Holt telepathisch. Wenn jemand ohne Erlaubnis der Lla Ssann ins Glaslabyrinth eindringt, ruft das unweigerlich die Armee der Schatten auf den Plan.

»Weiter kämen wir vorerst sowieso nicht«, gab ich zurück. »Das Glaslabyrinth ist immer noch von der freien Vitalenergie verhüllt. Sobald sie sich verflüchtigt, sehen wir weiter. Vorher müssen wir uns aus der Umklammerung der Roboter lösen und größeren Abstand zu den Grauen Heeren gewinnen.«

Wir setzten uns in Bewegung. Zu dicht aufschließende Roboter wurden zerstört – und für einige Minuten gewannen wir tatsächlich wieder Abstand. Dann setzten die Roboter Projektoren ein, die unsere Schutzschirme destabilisierten. Bei den Exterminatoren brachen sie sogar teilweise zusammen. Aus unserem anfangs geordneten Rückzug wurde eine unkontrollierte Flucht. Es war Glück im Unglück, dass die Grauen nicht zügig nachstießen, sondern sich vorsichtig durch die tote Zone tasteten.

Was bedeuteten unter diesen Umständen schon die höchstens 30 Kilometer, die uns vom Glaslabyrinth trennten. Ohnehin wusste ich so gut wie nichts über jene Region, denn das Tabernakel hatte bisher nur bruchstückhafte Informationen preisgegeben. Höchste Zeit, dass das schwarze Kästchen uns mehr verriet – vor allem, wie wir die Erlaubnis der Lla Ssann gewinnen sollten, in ihr Gebiet einzudringen ...

Die goldfarbenem Nebel ähnelnde freie Vitalenergie brodelte über der Grenze zwischen dem Bereich mit den Geisterstädten und dem Glaslabyrinth. Das Tabernakel von Holt hatte sich nach der Flucht aus der toten Zone unmittelbar an der Grenze in den Innenhof eines vierstöckigen Bauwerks hinabgesenkt, das ebenso verlassen zu sein schien wie alle anderen Gebäude. Ich war ihm mit Jen und Tengri gefolgt. Unsere Orbiter hatten sich uns ebenso angeschlossen wie die beiden Jaschemen und einige Exterminatoren.

Auch wenn die Grauen Heere momentan Distanz hielten, die Luft war erfüllt vom fernen Donnern unaufhörlicher Explosionen, vom Dröhnen, Röhren und Heulen der uns folgenden Kriegsmaschinerie. Die Grauen belegten die von uns und den Exterminatoren wieder verlassenen Gebiete der toten Zone seit Stunden mit einem nicht enden wollenden Trommelfeuer. Eine wahre Feuerwalze tobte durch die letzten Sperrgürtel.

Ich fragte mich, wie viele der kleinen Roboter der toten Zone in diesem Inferno vernichtet wurden. Immerhin schienen genug von ihnen zu entkommen, dass sie uns die Hölle heiß machen konnten, wie Terraner zu sagen pflegten. Seltsamerweise wurden wir, das heißt, die kleine Gruppe um Tengri, Jen und mich, längst nicht so schlimm attackiert wie das Gros der Exterminatoren. Vielleicht, weil sich das Tabernakel bei uns befand? Ich war mir dessen sogar ziemlich sicher, denn das Kästchen war bislang in keiner Weise von den Robotern bedrängt worden.

Ich eilte den Torweg entlang, der aus dem Innenhof zur Grenze des Glaslabyrinths führte. Angespannt spähte ich in das farbenprächtige Funkeln und Flackern eines wahren Ozeans großer Kristallgebilde. Es erstreckte sich mindestens über den Bereich, auf den die Vitalenergie den Blick freigegeben hatte.

Jen Salik kam an meine Seite. »Wir werden bald eindringen müssen.« Er nickte in Richtung Glaslabyrinth. »Bonsin und Tengri versuchen bereits, telepathisch Kontakt mit den Hütern des Vagendas aufzunehmen.«

»Ich versuche es zusätzlich über Funk«, sagte ich. Immerhin wussten wir nicht, ob eine telepathische Verbindung mit den Lla Ssann überhaupt möglich war.

Jen lehnte sich mit schussbereiter Waffe an eine Mauer und beobachtete die Umgebung des vierstöckigen Bauwerks. Ich konnte damit ungestört alle Möglichkeiten einer Kontaktaufnahme mit den Lla Ssann testen. Nach zehn Minuten musste ich eingestehen, dass meine Versuche, Funkkontakt mit den Hütern des Vagendas aufzunehmen, gescheitert waren.

Wieder musste ich an Lordrichter Krart denken. Ich zweifelte nicht daran, dass er ernsthaft interessiert war, Jen, Tengri und mich für die Sache des Graulebens zu gewinnen. Er hatte nach dem Abschuss unserer Gondel geradezu mit Engelszungen argumentiert, um uns von der Graukraft zu überzeugen.

Trotzdem war es schlicht undenkbar, dass wir Ritter der Tiefe uns den Grauen Lords anschlossen. Auch wenn es wahr sein sollte, dass die Raum-Zeit-Ingenieure fehlerhaft oder sogar teilweise verbrecherisch handelten, würden wir niemals zum Gegner überlaufen. Etwas anderes war es, die Haltung des Lordrichters zu unseren Gunsten zu nutzen. Solange er hoffte, uns »bekehren« zu können, würde er wenigstens zögern, uns mit allen Mitteln vernichten zu wollen. Wie ich die Situation einschätzte, hatte Krart starke Widersacher und dementsprechende Schwierigkeiten im eigenen Lager. Das, und nicht reine Selbstlosigkeit, konnte der Grund dafür sein, dass er Jen, Tengri und mich in die Graue Kammer, das Führungsgremium der Grauen Lords, holen wollte. Vielleicht sollten wir seine Hoffnung, uns für sich zu gewinnen, ein wenig anfachen.

Das stoßweise Schrillen der von den Exterminatoren eingesetzten Intervallwaffen schwoll binnen Sekunden zum Crescendo an. Ich ließ den TIRUN die letzten Kontaktversuche mit den Lla Ssann abbrechen und auf Helmfunk schalten.

»Was geht da vor sich?«, erkundigte ich mich bei Jen, der sich soeben um die Mauerkante am Ausgang des Torwegs herumschob.

»Deckung!«, schrie er statt einer Antwort und ließ sich fallen.

Ich lag den Bruchteil einer Sekunde später am Boden. In der Luft hing ein Heulen, Knattern und Rauschen, das ich nur zu gut kannte. In unmittelbarer Nähe stürzte ein Kampfgleiter ab. Es konnte sich nur um einen Gleiter der Grauen handeln – wahrscheinlich wie alle bisher über dem Vagenda operierenden Kampfgleiter ein reines Robotfahrzeug. Allerdings ahnte ich, dass es sich anders verhielt; es war die Summe der Begleitumstände, die mir das verriet.

»Falls der Gleiter nicht zerschellt oder explodiert, versuchen wir, die Besatzung zu bergen!«, rief ich Jen zu.

»In Ordnung!«, erwiderte er nur. Wie so oft verstanden wir uns auf Anhieb.

Ich sah nur einen dicht über das Gebäude huschenden feurigen Schemen. Die Ortungseinblendung im Helmdisplay zeigte mir, dass es sich um einen Doppelrumpfgleiter handelte und dass nur eines der beiden Triebwerke brannte. Eine passable Notlandung lag also durchaus im Bereich des Möglichen.

Schon wieder auf den Beinen, konnte ich gerade noch erkennen, dass der Gleiter ungefähr entlang der Grenzlinie zwischen der toten Zone und dem Glaslabyrinth taumelte. Ruckartig brach er nach links aus, bremste zugleich mit dem intakten Triebwerk und hohem Gegenschub ab und fiel beinahe sanft zwischen zwei hügelgroße Kristallballungen im Glaslabyrinth. Knirschend rutschte der Gleiter noch einige Meter weit, dann lag er still.

Aus dem Torweg stürmten drei Exterminatoren und legten ihre Zepter auf die Maschine an, deren rechtes Triebwerk vor sich hin brutzelte.

»Halt, nicht schießen!«, rief ich ihnen zu.

Zögernd senkten die Exterminatoren die Waffen.

»Möglicherweise ist eine Besatzung an Bord«, erklärte ich. Und weil diese Begründung für Exterminatoren keineswegs ausreichend gewesen wäre, fügte ich hinzu: »Außerdem dürfen wir nicht auf das Gebiet der Lla Ssann schießen, wenn wir sie nicht provozieren wollen.«

Für das Argument zeigten sich die Exterminatoren schon zugänglicher. »Sollen wir die Besatzung gefangen nehmen?«, fragte einer von ihnen.

»Das übernehmen Jen Salik und ich. Ihr überschreitet die Grenze nicht, gebt uns aber notfalls Feuerschutz!«

Ich winkte Jen zu und lief los. Er folgte mir. Wir erreichten den Gleiter, ohne dass wir behelligt wurden.

Enorme Hitze schlug uns entgegen. Das Schott zur Steuerkabine war verzogen, vermutlich als Folge energetischer Entladungen, deren Spuren nicht zu übersehen waren. Mit mehreren Desintegratorschüssen sprengte ich das Schott auf, trat aber vorsichtshalber zurück.

Zuerst wankten zwei Gestalten heraus, die annähernd hominid waren, nur sahen ihre Köpfe terranischen Fußbällen ähnlicher als den Köpfen von Menschen. Ihnen folgte ein kleines Geschöpf mit zwei kurzen Beinen, vier langen Armen und insektoidem Gesicht. Es stützte ein weiteres Wesen – und bei dessen Anblick reagierte ich überrascht.

Ein Kolonialterraner?, kommentierte mein Extrasinn.

Er war mittelgroß, schlank und hatte hellrotbraune Haut mit einem schwachen goldfarbenen Schimmer. Schwarzes Zottelhaar mit grünlichem Schimmer hing ihm über die Ohren. In den leicht geschlitzten Augen sah ich goldfarbene Pupillen. Und die Hakennase des Mannes war so markant, dass sie bestimmt über etliche Generationen hinweg vererbt worden war.

Er hätte trotzdem kein Mensch sein müssen. Aber er trug einen SERUN terranischer Produktion – und das war für mich der endgültige Beweis.

»Das darf doch nicht wahr sein!«, hörte ich Jen im Helmfunk.

»Hallo!«, sagte ich auf Interkosmo. »Du befindest dich auf dem Territorium der Lla Ssann, mein Freund. Ich rate dir, uns über die Grenze zu folgen.«

Er richtete sich zu voller Größe auf und musterte mich mit einem vernichtenden Blick. »Ich habe dich nicht verstanden«, erklärte er im Tiefenslang, jener dem Armadaslang eng verwandten Sprache. »Du solltest wissen, dass du Lordrichter Wraihk vor dir hast. Ergebt euch!«

»Der ist kein Grauer Lord, bestenfalls ein Terranerabkömmling«, meinte Jen.

»Wir wären jetzt ebenfalls Graue Lords, wenn wir Krarts Drängen nachgegeben hätten«, sagte ich. »Allerdings hätten wir dadurch wohl kaum unser Interkosmo verlernt.«

Ich hatte diesmal altterranisches Englisch gesprochen. Unser Gegenüber mit dem Aussehen eines Menschen und dem vermeintlichen Titel eines Grauen Lords schien wieder kein Wort verstanden zu haben.

»Nehmt sie gefangen!«, befahl er seinen Begleitern.

Die Leute gehorchten. Das hätten sie besser lassen sollen, denn die drei Exterminatoren, die Jen und mir Feuerschutz gaben, sahen darin einen Angriff und feuerten. Immerhin hatten sie ihre Zepter auf Paralyse geschaltet, und die Begleiter des Lordrichters sanken nur gelähmt zu Boden.

»So wendet sich das Blatt«, stellte ich im Tiefenslang fest. »Du bist unser Gefangener, Lordrichter Wraihk.«

Er warf sich herum und stürmte davon, tiefer ins Glaslabyrinth hinein. Dabei bewegte er sich wahrscheinlich rein zufällig so geschickt, dass sich zwischen ihm und den Exterminatoren zuerst Jen und ich befanden und dann der Gleiter. Deshalb kamen die Exterminatoren nicht mehr zum Schuss – und Jen und ich zögerten zu lange, da der Graue keine Gefahr für uns bedeutete.

Erst als er weiter ins Glaslabyrinth stürmte, entschloss ich mich, ihn zu paralysieren, damit er nicht den Lla Ssann in die Hände fiel. Doch jemand kam mir zuvor. Es knallte ein paar Mal scharf.

Ich lag im selben Moment flach am Boden, denn ich kannte dieses Geräusch. Es war Gewehrfeuer. Der oder die Unbekannte schoss mit Highspeed-Patronen.

Jen war ebenfalls in Deckung gegangen, wenn auch mit Verspätung. Zu seinem Glück hatten die Schüsse nicht ihm gegolten.

Ich hatte im Niederwerfen gesehen, dass der vermeintliche Graue Lord die Arme hochriss und taumelte. Als ich am Boden lag, war er aus meinem Blickfeld verschwunden. Allerdings war mir schon klar, dass ihm nicht mehr zu helfen war. Auf diese Art und Weise hatte ich schon zu viele Leute sterben sehen. Ich zerbiss einen Fluch zwischen den Zähnen, schaltete meinen Schutzschirm ein und richtete mich auf. Sofort prallten mehrere Projektile vom IV-Schirm ab und heulten als Querschläger davon. In etwa 50 Metern Entfernung huschte eine dunkle Gestalt zwischen zwei hausgroßen Kristallballungen davon.

Mein Paralysator knisterte. Der Fliehende überschlug sich und stürzte. Vier andere dunkle Gestalten lösten sich in der Nähe aus ihren Deckungen. Diesmal schossen Jen und die drei Exterminatoren.

Überraschend materialisierten Bonsin und Lethos-Terakdschan zwischen Jen und mir.

»Großangriff!«, rief Lethos mir zu. »Die Roboter haben den Fehler begangen, einen Gegenangriff auf die Grauen zu starten. Sie wurden vernichtend geschlagen, und die Grauen Armeen greifen jetzt ungestüm an, ihre Soldaten vorneweg.«

Das änderte viel. Zwar bestand kein Zweifel am Ausgang eines solchen Kampfes, denn die Grauen waren uns weit überlegen, aber die Exterminatoren konnten exzessiv kämpfen. Sie würden Tausende ihrer Gegner mit in den Tod nehmen – in einen sinnlosen Tod.

»Wo ist der Große Exterminator?«, fragte ich.

»Er kommt mit den drei Exterminatoren, die uns Feuerschutz gaben«, antwortete Jen.

Augenblicke später landete sie bei uns. Ich wandte mich sofort an den Anführer.

»Deine Truppe soll sich geordnet ins Glaslabyrinth zurückziehen!«, ordnete ich an. »Sag deinen Leuten, dass sie auf die angreifenden Grauen nur mit Paralysatoren schießen dürfen.«

»Damit würden wir nichts ausrichten!«, protestierte der Große. »Die Schutzschirme der Angreifer können wir nur mit mehreren gleichzeitigen Treffern durchbrechen.«

»Egal!«, entgegnete ich. »Lordrichter Krart will mich zur Aufgabe zwingen, aber er irrt sich. Wir geben nicht auf, sondern stoßen in möglichst geschlossener Formation ins Glaslabyrinth vor.«

»Dann werden uns die Lla Ssann die Armee der Schatten auf den Hals hetzen«, warnte Jen.

»Das wäre endlich eine Art Kontakt«, erwiderte ich – und Jen verstand, worauf ich hoffte.

Der Große Exterminator begriff ebenfalls – zumindest, dass ich meinen Entschluss nicht rückgängig machen würde. Er sprach über Funk zu seiner Truppe – und schon brachen seine Kämpfer überall aus der toten Zone hervor und stürmten ins Glaslabyrinth.

Ich selbst lief endlich zu dem gefallenen Fremden. Nicht, dass ich glaubte, ihm helfen zu können. Ich hoffte lediglich, Hinweise auf seine Herkunft zu bekommen. Vielleicht stammte er doch von einer terranischen Siedlungswelt.

Als ich ihn erreichte, stand ich einigermaßen fassungslos vor der Gestalt, die als graues Bündel aus einem langen Kapuzenmantel und einem ovalen Gesicht mit zwei großen, schwarzen und toten Augen bestand. Das war unzweifelhaft ein Grauer Lord – und er sah auch so aus, fast ein Ebenbild von Lordrichter Krart.

Wie war es möglich, dass ich einen Terraner fallen sah, aber nur Minuten später ein Grauer Lord vor mir lag?

Zauberei!, kommentierte der Extrasinn mit leicht spöttischem Unterton.

Es musste eine bessere, vor allem eindeutigere Erklärung geben. Doch mir blieb keine Zeit, mich darauf zu konzentrieren. An der Grenzlinie zwischen toter Zone und Glaslabyrinth erschienen die Sturmtruppen der Grauen ...

Hinter uns drängten die Kampfverbände der Grauen Heere heran. Mit meiner Anweisung, keine tödlichen Waffen einzusetzen, hatte ich den Exterminatoren weitgehend die Hände gebunden. Sie versuchten zwar, die Angreifer auf Distanz zu halten, indem sie mit Desintegratoren und Impulsstrahlern Gräben zogen und mit ihren auf Intervall geschalteten Zeptern Kristallballungen zum Einsturz brachten. Das alles war durchaus wirksam, leider nur für begrenzte Zeit. Wir mussten Schritt um Schritt zurückweichen.

Tengri, Jen und ich ließen die auf Suggestivwirkung geschalteten TIRUN-Waffen ausschwärmen. Damit konnten wir einige Hundert Gegner so extrem friedfertig stimmen, dass sie ihre Waffen wegwarfen und – je nach Mentalität – einfach davongingen oder gar versuchten, ihre Kameraden zur Aufgabe zu bewegen. Aber insgesamt gesehen bewirkte das denkbar wenig.

Dennoch wäre das alles noch kalkulierbar gewesen, wenn sich vor uns nicht eine zweite Front formiert hätte: die Schatten. Nach der Notlandung des gegnerischen Gleiters, dem darauf folgenden ersten Schusswechsel und der missglückten Flucht des Wesens, das sich quasi vor unseren Augen von einem Terranerabkömmling zu einem Grauen Lord verwandelt hatte, waren immer mehr dieser seltsamen Gestalten aufgetaucht und hatten uns kompromisslos angegriffen.

Sie verwendeten durchaus nicht nur Projektilwaffen wie die ersten Schatten, sondern ebenso Desintegratoren, Impulsstrahler und Intervallwaffen – aber vor allem: Sie kämpften wie die Teufel.

»Ich muss herausfinden, warum sie sich ohne Rücksicht auf eigene Verluste in den Kampf stürzen«, sagte ich zu Jen und Tengri, während wir gemeinsam versuchten, den beiden Jaschemen zu helfen. Gemeinsam mit fünf Exterminatoren hatten sie sich zu weit vorgewagt und waren von den Gegnern eingeschlossen worden.

»Seid bloß vorsichtig!«, vernahm ich Domo Sokrats Stimme im Helmfunk. »Und wartet nicht auf mich. Clio steckt in der Klemme und Bonsin ist spurlos verschwunden.«

»Bonsin ist teleportiert!«, rief Lethos. »Er wollte erkunden, wie es weiter innen im Glaslabyrinth aussieht.«

»Und was ist mit Clio?«, fragte ich. »Braucht sie unsere Hilfe?«

»Das schaffe ich allein«, gab der Haluter zurück. »Nur kann ich euch nicht unterstützen.«

»Hierher!«, rief Jen Salik.

Ich dachte zuerst, dass er Tengri und mich meinte, doch er winkte ein Dutzend Exterminatoren zu uns heran. Der Große befand sich bei der Gruppe, die neben uns in Deckung ging.

»Wir haben seit der Landung auf dem Vagendaplateau hundert Kämpfer verloren«, berichtete der Große Exterminator. »Die meisten sind den verrückten Robotern zum Opfer gefallen, der Rest den Sturmtruppen und den Schatten.«

Was hätte ich darauf antworten sollen? Keiner von uns hatte sich der Illusion hingegeben, dass die Exterminatoren ohne Verluste aus den Kämpfen hervorgehen könnten. Es lag mir auch fern, zu erklären, dass die Exterminatoren schließlich zum Kämpfen und Sterben geschaffen worden seien. Doppelte Moral war nie meine Sache gewesen. Also schwieg ich, betroffen und zornig. Ohne mir selbst erklären zu können, auf wen ich eigentlich zornig war.

»Jetzt ist die Gelegenheit günstig!«, sagte Jen. »Eben ist wieder ein Angriff der Schatten von den Jaschemen abgewiesen worden.«

Mit einem schnellen Blick schätzte ich die Lage ein, nickte und gab das Zeichen zum Sturm.

Wir sprangen aus unseren Deckungen und griffen in dem Moment an, als die Schatten rings um die Igelstellung der Jaschemen nach ihrem zurückgeschlagenen Angriff gerade wieder in ihrem Bereich untertauchen wollten.

Ohne dass es mir bewusst geworden war, hatte ich meine TIRUN-Pfeile gedanklich wieder auf Suggestion geschaltet – das erste Mal im Kampf gegen die Armee der Schatten. Ich merkte es erst, als ich sah, dass die von mir attackierten Gegner halbdurchsichtig wurden und von innen heraus aufglühten.

Nur erkannte ich nicht, warum die Suggestorstrahlung so auf die Schatten wirkte. Diese Wesen sahen trotz ihres seltsamen Namens nicht irgendwie schattenhaft aus, sondern schienen durch und durch körperlich zu sein.

Mehrere Minuten kam ich nicht dazu, über das Phänomen nachzudenken, denn unser Angriff blieb schlicht inmitten feindlicher Verstärkungen stecken.

Dann wurde es fast schlagartig still.

Lethos-Terakdschan, Jen Salik und ich ließen uns neben den beiden Jaschemen fallen. Wir schalteten sogar unsere Schirme aus, denn für kurze Zeit waren wir relativ geschützt. An die 150 Exterminatoren waren zu beiden Seiten an uns vorbeigestürmt und warfen die Schatten auf einer Breite von 200 Metern weit zurück.

»Es wurde höchste Zeit«, sagte Fordergrin Calt so arrogant wie fast immer. »Ihr kämpft zu lasch.«

»Wir sind nicht versessen darauf!«, gab ich heftig zurück.

Calts Erwiderung hörte ich nicht mehr, denn da hatte ich etwas entdeckt, das meine ganze Aufmerksamkeit beanspruchte. Dort, wo ich einen der Schatten getroffen und – wie ich bis dahin annahm – kampfunfähig gemacht hatte, glühte die halbdurchsichtige Gestalt stärker auf und erlosch danach langsam, bis sie gänzlich verschwunden war.