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Die Geschichte eines Mundänen - er durchlebt sieben Lebensstationen Nach wie vor ist die SOL mit ihrer Besatzung in der Vergangenheit gestrandet, nach wie vor gibt es für das alte Generationenraumschiff keine Möglichkeit zur Rückkehr in die Gegenwart. Durch einen Abgrund von 18 Millionen Jahren von ihren Gefährten in der heimatlichen Milchstraße getrennt, müssen Atlan und seine Begleiter in der Galaxis Segafrendo um ihr Überleben kämpfen. In Segafrendo tobt seit über tausend Jahren ein fürchterlicher Krieg. Die mörderischen Mundänen haben die friedliche Kultur der Galaktischen Krone so gut wie zerstört; es kann sich nur noch um wenige Jahre handeln, bis die Invasoren die Galaxis komplett beherrschen. Und die Besatzung der SOL weiß, daß sie in diesen Konflikt praktisch nicht eingreifen kann. Das ist auch nicht ihre Aufgabe. Bevor das Raumschiff in die Vergangenheit geschleudert wurde, erhielt die Besatzung einen Auftrag der Superintelligenz ES: Man müsse nach Auroch-Maxo-55 fliegen, um von dort einen Kym-Jorier zu bergen. Gelinge das nicht, drohe der Untergang der Menschheit. Auroch-Maxo ist mittlerweile näher gerückt. In der Dunkelwolke verbirgt sich der gesuchte Planet. Nach diesem forschen aber auch Hunderttausende von Einheiten der Mundänen. Und Auroch-Maxo-55 ist anscheinend die letzte von RUNRICKS WELTEN...
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Seitenzahl: 144
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Nr. 2034
Runricks Welten
Die Geschichte eines Mundänen – er durchlebt sieben Lebensstationen
von Ernst Vlcek
Nach wie vor ist die SOL mit ihrer Besatzung in der Vergangenheit gestrandet, nach wie vor gibt es für das alte Generationenraumschiff keine Möglichkeit zur Rückkehr in die Gegenwart. Durch einen Abgrund von 18 Millionen Jahren von ihren Gefährten in der heimatlichen Milchstraße getrennt, müssen Atlan und seine Begleiter in der Galaxis Segafrendo um ihr Überleben kämpfen.
In Segafrendo tobt seit über tausend Jahren ein fürchterlicher Krieg. Die mörderischen Mundänen haben die friedliche Kultur der Galaktischen Krone so gut wie zerstört; es kann sich nur noch um wenige Jahre handeln, bis die Invasoren die Galaxis komplett beherrschen. Und die Besatzung der SOL weiß, dass sie in diesen Konflikt praktisch nicht eingreifen kann.
Das ist auch nicht ihre Aufgabe. Bevor das Raumschiff in die Vergangenheit geschleudert wurde, erhielt die Besatzung einen Auftrag der Superintelligenz ES: Man müsse nach Auroch-Maxo-55 fliegen, um von dort einen Kym-Jorier zu bergen. Gelinge das nicht, drohe der Untergang der Menschheit.
Auroch-Maxo ist mittlerweile näher gerückt. In der Dunkelwolke verbirgt sich der gesuchte Planet. Nach diesem forschen aber auch Hunderttausende von Einheiten der Mundänen. Und Auroch-Maxo-55 ist anscheinend die letzte von RUNRICKS WELTEN …
Runrick – Der Mundäne durchlebt alle Höhen und Tiefen des Lebens.
Praciss – Die Stellvertreterin Runricks an Bord des S-Zentranten setzt sich für ihn ein.
Cael-Ogor – Der Mismatiker fördert lange Zeit Runricks Talent.
Rantomeen – Der Kommandant des S-Zentranten entwickelt sich zu Runricks Erzfeind.
Mettzall
Der mächtige S-Zentrant MASMOKO glitt mit gedrosselter Fahrt durch die ungewöhnliche Dunkelwolke, angeführt und geleitet von der XIRMICCA, dem exotischen Walzenschiff. Die XIRMICCA diente dem Koloss als Lotsenschiff, das den Weg durch den hyperenergetisch geladenen Staub finden sollte.
Sie waren bereits seit Tagen unterwegs, ohne ein Ziel aufgespürt zu haben, nicht einmal den Schatten davon. Sie irrten durch Zonen strahlenden Staubes, ohne irgendwelche Bezugspunkte, ohne verlässliche Ortungsergebnisse. Sie wussten nicht einmal, wo ungefähr innerhalb der Dunkelwolke sie sich befanden. Runrick drängte sich allmählich der Verdacht auf, dass die XIRMICCA so orientierungslos war wie sein S-Zentrant.
Doch diesen Gedanken verdrängte er sofort wieder. Die XIRMICCA war ein Schiff mit Seele, die eine Affinität zu artverwandten Manifestationen besaß. Sie würde mit untrüglichem Spürsinn die psionische Präsenz finden, falls sich diese in dieser Dunkelwolke versteckte.
Runrick war sicher, dass diese Präsenz, die kläglichen Überreste der Superintelligenz ESTARTU, hier war und nirgendwo sonst. Hier in der Auroch-Maxo-Dunkelwolke, dem einzigen Ort in Segafrendo, wo die geschlagene ESTARTU Zuflucht gefunden haben konnte.
Es gab einige Anzeichen, Indizien dafür, dass sich Rest-ESTARTU hier versteckte. Die XIRMICCA – die Seele dieses Walzenschiffes – hatte aus der die Dunkelwolke beherrschenden Hyperstrahlung Elemente herausgefiltert, die auf Spuren einer höheren Identität hinwiesen. Und auch der Seher Gyshonee hatte seltsame Anomalien aufgespürt, die sich von ihm nicht richtig einordnen ließen, aber ohne weiteres Ausstöße einer höhergeordneten Wesenheit sein konnten.
Selbst Runrick hatte schon solche Wahrnehmungen gehabt. Er besaß nämlich ein außergewöhnliches Wahrnehmungssystem wie kein anderer sehender Mundäne. Sinne, die in frühester Kindheit auf Rauber Baan geschult worden waren. Er konnte sich nicht absolut darauf verlassen, aber sie vermittelten ihm gewisse Ahnungen. Und diese Ahnungen bestärkten ihn in der Überzeugung, dass ESTARTU – oder das, was von ihr verblieben sein mochte – in der Auroch-Maxo-Dunkelwolke präsent war. Sie würden die Präsenz aufstöbern und dann …
»Wo bist du mit deinen Gedanken, Runrick?«, vernahm er die Stimme seiner Stellvertreterin, der Mun-10 Praciss. »Schon an Bord von MUNMOKO?«
Runrick antwortete nicht. Er führte zuerst seinen Gedankengang zu Ende: Sie würden die Präsenz aus spärlichen Überresten der Superintelligenz ESTARTU aufstöbern und vernichten. Damit wäre der Feldzug in Segafrendo so gut wie gelaufen. Er würde das Werk zu Ende führen und dann diese Galaxis den Mismatikern zur Weiterbearbeitung übergeben.
»Du solltest nicht zu weit in die Zukunft schweifen, Runrick«, drang wieder Praciss' Stimme in seine Gedanken. »Etwas ist vorher noch zu erledigen. Das schwerste Stück Arbeit liegt noch vor uns.«
»Ich bin nicht nach Segafrendo gekommen, um halbe Sachen zu machen«, sagte Runrick. »Ich werde ESTARTU erledigen. Ich bin schon ganz nahe dran.«
Wenn das erledigt war, würde er von der MASMOKO auf die MUNMOKO überwechseln und das Oberkommando über den Segafrendo-Feldzug übernehmen. Und diese Riesengalaxis für die Eingliederung in K'UHGARS Mächtigkeitsballung vorbereiten. Die Mismatiker würden die Organisation dieser Angelegenheit übernehmen.
Praciss konnte sich gute Chancen ausrechnen, das Kommando über die MASMOKO zu übernehmen. Sie wäre dann die erste Mundänin, die das Kommando über einen S-Zentranten führte. Sie hätte es verdient. Sie war eine hervorragende Kriegerin und Strategin.
»Darf ich dich etwas fragen, Runrick?«, fragte Praciss. »Man sagt, das Kriegshandwerk sei für dich eine ungeliebte Disziplin. Stimmt das?«
Ja, das stimmt!, hätte er antworten und es dabei bewenden lassen können. Aber damit wäre die Sache nicht abgehandelt gewesen. Sein Leben war etwas vielschichtiger, bewegter und verschlungener verlaufen, als dass man es mit so einer lapidaren Aussage hätte abtun können.
»Die Sache ist die, Praciss«, antwortete er bedächtig, »dass ich ganz andere Lebensträume hatte, als die Karriere eines Kriegers einzuschlagen. Als kleiner Junge dachte ich, etwas Besonderes zu sein.«
Praciss war sichtlich überrascht, dass der ansonsten so verschlossene Mun-2 ihr so bereitwillig Antwort gab. Sie wollte die Gunst des Augenblicks nützen und ihn mehr aus der Reserve locken.
»Du bist etwas Besonderes, Runrick«, schmeichelte sie. »Du bist einer der erfolgreichsten lebenden mundänischen Heerführer …«
Runrick brachte sie mit einer herrischen Handbewegung zum Schweigen. Praciss musste annehmen, dass sie zu weit gegangen sei und seinen Zorn erregt hatte. Aber er blieb besonnen.
»Ich glaubte, etwas Besonderes zu sein, weil ich auf Rauber Baan meine Ausbildung erhielt«, sagte er.
»Auf Rauber Baan?«, rief Praciss überrascht aus. »Wie das? Ich dachte, auf Rauber Baan würden nur blinde Seher ihre Ausbildung erhalten!«
»Ich wurde blind geboren«, sagte Runrick schlicht.
»Aber …«, begann Praciss, verstummte jedoch sofort, als sie Runricks entrückten Gesichtsausdruck merkte.
Runrick erinnerte sich an seine Zeit auf Rauber Baan, der Stätte der blinden Seher, wo sein Leben seinen Anfang genommen hatte. Die erste Welt, in die er eingetreten war. Sein weiterer Lebensweg ließ sich in sieben Stationen unterteilen. Sieben Welten. Alles markante Meilensteine seines Lebens. Jede dieser sieben Welten hatte ihn geprägt und geformt – und letztlich das aus ihm gemacht, was er nun war: ein erfolgreicher, hochgeachteter Mun-2.
Aber Rauber Baan war die Welt, die ihn am stärksten und nachhaltigsten geformt hatte. Seine erste Welt blieb seine heimliche Sehnsucht bis heute. Es war für ihn das verlorene Paradies. Er hatte sich dort unter seinesgleichen gefühlt. Als Blinder unter blinden Sehern.
Doch die Wahrheit war, dass er bloß ein Zwitterwesen war, das nirgendwo eingeordnet werden konnte.
Er tauchte in Gedanken ein in seine erste Welt und ließ sein bewegtes Leben noch einmal vor seinem geistigen Auge Revue passieren.
Rauber Baan
Die Mismatiker hatten ein kleines Problem mit meiner Blindheit. Ich war zwar mit Augen geboren worden, aber diese Augen waren tot. Ein ganz seltener Fall.
Blinde Seher dagegen wurden ohne Augen geboren. Das Problem der Mismatiker war: Wie sollten sie mich klassifizieren? Ich war keiner der beiden mundänischen Kasten zuzuordnen. Ich war kein echter Seher, würde aber auch nie der Kriegerkaste zugeordnet werden können. Blinde Krieger gab es nicht.
Die Mismatiker entschlossen sich schließlich, mich nach Rauber Baan zu bringen, der Ausbildungsstätte für Seher. Und erst mal abzuwarten, was aus mir werden würde. Also landete ich auf der Welt der besonderen Mundänen.
Ich war damals erst wenige Wochen alt und hatte natürlich keine Ahnung von den Schwierigkeiten, die ich den Mismatikern bereitete. Das erfuhr ich alles erst später.
Meine ersten Eindrücke waren die von einer Vielzahl von Geräuschen, einer unbeschwerten Leichtigkeit, die einer Schwerelosigkeit nahekam, und von knisternder, belebender Körperspannung. In mir erwachte ein Glücksgefühl, das mir Zufriedenheit und Geborgenheit vermittelte. Es gab keinen Schmerz für mich, ich litt nie Not, es fehlte mir an nichts.
Obwohl ich nicht sehen konnte, was um mich geschah, war meine Welt nicht finster. Die beständigen Hintergrundgeräusche, ein Knistern und Wispern, Raunen und Singen, ließen leuchtende Gebilde in meinem Geist entstehen.
Und dann stellte sich der Tastsinn ein. Ich entdeckte die Welt der unendlichen Formen, und ich erforschte mit den Fingern meinen Körper.
In der Welt der Geräusche gab es immer wiederkehrende Lautfolgen. Ich entdeckte, dass viele der Laute ihren eigenen, ganz genau definierten Sinn hatten. Und im Nu konnte ich sprechen. Es gab auch Hintergrundgeräusche, die nicht der Sprache zuzuordnen waren. Aber den meisten von ihnen konnte ich ihre spezifische Bedeutung zuweisen. Ich wusste bald, welches Geräusch beim Bewegen oder Verrücken welchen Gegenstands entstand. Ich bekam Appetit, wenn das Klingeln zu hören war, das die Essenszeit einläutete. Ich gluckste freudig, wenn mein Lehrer sich mir zur Spielzeit widmete. Und ich plärrte, wenn die spielerische Lehrstunde vorbei war.
Und irgendwann entdeckte ich, dass ich mehrere Lehrer hatte. Sie sprachen zwar alle mit ähnlicher Stimme, aber es gab gewisse Unterschiede in der Modulation. Sie fühlten sich zwar alle fast gleich an, aber meine Tastsinne verrieten mir, dass die Oberfläche ihrer Körper und Extremitäten unterschiedliche Strukturen aufwiesen. Die Unterschiede waren nur minimal, aber ich hatte sehr sensible Hände und Fingerkuppen, mir konnte man schon früh nichts vormachen.
Ich gab meinen Lehrern verschiedene Namen, und sie ließen es sich gefallen. Es begann mich jedoch sehr bald zu irritieren, dass meine Lehrer sich anders anfühlten als ich mich. Ich fragte Lito einfach, warum das so war, und er antwortete, das sei darauf zurückzuführen, dass er und die anderen Lehrer Roboter seien und ich ein Mundäne.
Und dann bekam ich Besuch von einem, der sich Cael-Ogor nannte. Er besaß eine völlig fremdklingende Stimme und eine ganz andere Ausstrahlung als die Roboter. Er hatte ein sehr schwaches Energiefeld und war darum für mich nur schwer zu erfassen. Dafür umgab ihn eine andere Aura, eine eigene Art Kraftfeld. Und seine Stimme kam von hoch oben.
»Du bist kein Mundäne«, stellte ich fest. »Bist du ein Roboter?«
»Nein, Runrick«, sagte Cael-Ogor sanft. »Ich bin ein Mismatiker. Ein Lebewesen wie ein Mundäne, nur von anderer Art.«
Es tat gut, einmal eine andere Stimme als die eines Robots zu hören. Ich griff nach ihm, um sein Aussehen zu ertasten, aber meine Finger stießen gegen etwas Nachgiebiges, das mich abwehrte.
»Lass das, Runrick«, tadelte Cael-Ogor. »Mundänen und Mismatiker sollten auf Distanz bleiben. Es ist besser, du gebrauchst deine Vorstellungskraft an Stelle deiner Sinne.«
Und dann erzählte er mir einiges über diese Welt und dass es viele anderer ähnlicher bewohnter Planeten gab. Eine ganze Galaxis davon, und es gab viele verschiedene Galaxien, alle von den unterschiedlichsten Lebensformen bewohnt, ein ganzes Universum.
Es war erfreulich zu erfahren, dass es viele andere Lebewesen wie Mundänen und Mismatiker gab. Auch hier auf Rauber Baan, der Schule der Seher. Von Cael-Ogor erfuhr ich von meiner Andersartigkeit. Dass ich und die anderen Seher etwas Besonderes seien, ganz außergewöhnliche Mundänen. Die Elite.
Mir rauchte bald der Kopf von dem vielen Neuen, das ich erst verarbeiten musste. Mich interessierte vor allem, was mit den anderen mundänischen Sehern auf Rauber Baan sei und warum ich sie noch nicht kennengelernt hatte.
»Das wirst du bald, Runrick«, versprach Cael-Ogor. Der Mismatiker hielt sein Versprechen.
Es war ein Tag wie jeder andere, als Cael-Ogor nur wenige Schlafensperioden nach dem ersten Gespräch wieder zu mir kam und sagte: »Würdest du mich begleiten, Runrick? Ich möchte dich mit einigen anderen bekannt machen.«
»Gerne«, sagte ich aufgeregt, aber auch ein wenig bange.
Er hob mich hoch und setzte mich auf eine Scheibe mit Sitzmulde, Lehne und Haltegriffen. Es handelte sich um eine Antigravscheibe, wie Cael-Ogor mir verriet. Ich klammerte mich ängstlich an die Griffe, weil der Sitz ein wenig nachgab und schwankte. Cael-Ogor beruhigte mich und meinte, dass ich nicht abstürzen und auch nicht hinausfallen könne.
Ich war damals, bei meinem ersten Ausflug, noch sehr jung, und längeres Gehen machte mir noch sehr viel Mühe. Darum war ich für die Transporthilfe überaus dankbar.
Und dann ging es los. Die Ausfahrt wurde für mich zu einer aufregenden Expedition und zu einem unvergesslichen Erlebnis. Und ich erinnere mich noch heute an jede Einzelheit, die mein kindlicher Geist wahrnahm, wie lange dies auch schon zurückliegt.
*
Cael-Ogor schilderte mir die Umgebung nicht, in die ich kam. Als ich mich danach erkundigte, wie die Welt aussah, sagte er nur: »Die Welt, wie ich sie sehe, soll für dich ohne Bedeutung sein, Runrick. Wenn deine Sinne erst geschult sind, wirst du eine ganz andere Wahrnehmung von deiner Umwelt haben. Ich will dir keine falschen Eindrücke vermitteln. Du wirst Rauber Baan selbst entdecken.«
Ich stellte fest, dass ein rascher Wechsel der Gegebenheiten stattfand. Ich spürte den Fahrtwind im Gesicht, der mir ein Gefühl von rascher Bewegung vermittelte. Cael-Ogors Schritte an meiner Seite klangen zuerst hallend, dann wieder dumpf.
Bis jetzt hatte ich den Eindruck enger Räumlichkeiten gehabt. Nun stießen meine tastenden Sinne auf einmal ins Leere. Das Gefühl von schier endloser Weite ängstigte mich. Da waren keine Wände, keine Decken, die mir ein Echo schickten. Ich klammerte mich fest an die Haltegriffe, um nicht ins Nichts fallen zu können.
Die vertrauten Düfte waren auf einmal wie fortgeblasen. Fremdartige Gerüche strömten auf mich ein. Sie verwirrten mich durch ihre Vielfalt, raubten mir den Atem.
Ich entspannte mich erst, als das weite Land wieder durch Mauern begrenzt wurde und Cael-Ogors Schritte erneut auf hartem Boden hallten.
Während unseres langen Weges hatte der Mismatiker kein Wort gesprochen; er hatte mich sich selbst überlassen. Jetzt, nachdem er mit mir einen langen Raum durchschritten hatte, hielt er an und sagte: »Ich stelle dich jetzt deinen Geistesbrüdern vor. Erschrick nicht, wenn sie dir sehr nahe kommen oder gar mit ihren Sinnen in dich dringen. Sie meinen es nicht böse, sie sind bloß neugierig.«
Cael-Ogor setzte sich wieder in Bewegung. Ich vernahm das Knistern einer sich desaktivierenden Energieschranke. Kaum war die Energieschranke gefallen, brannte mir ein unglaubliches Durcheinander von Geräuschen entgegen. Die einen dröhnten schmerzhaft in den Ohren, die anderen brandeten gegen meinen Geist. Ich hatte den Eindruck von einer großen Ansammlung von Lebewesen, die sich auf engstem Raum zusammendrängten.
»Ich bitte um Ruhe!«, ertönte Cael-Ogors Stimme. »Ich bringe euch den Frischling Runrick, um ihn mit euch bekannt zu machen. Er war bis jetzt isoliert und tritt zum ersten Mal seinesgleichen gegenüber. Merkt ihr denn nicht, dass euer Gequassel ihn völlig verstört? In K'UHGARS Namen ersuche ich euch, auf ihn Rücksicht zu nehmen. Also bitte!«
Cael-Ogor sprach streng, aber auch mit einer gewissen Ehrfurcht. Sein Appell wirkte. Das Stimmengewirr ebbte zu einem leisen Raunen ab, das Plärren in meinem Geist wurde zu einem verhaltenen Summen. Aber ganz konnten die Zöglinge ihre geistigen Aktivitäten nicht abstellen, das war klar.
»Dürfen wir deinen Schützling nun kennenlernen, Cael?«, rief jemand, dessen Stimme alt klang.
Und ein anderer fügte mit kindlicher Stimme hinzu: »Oder willst du ihn unter ein Schutzfeld stellen?«
Ich spürte Cael-Ogors Atem an meinem Ohr, und dann raunte er mir zu: »Sie werden dich jetzt mit ihren Fingern und ihrem Geist betasten wollen, Runrick. Ist dir das recht?«
Ich nickte nur, weil mir vor Aufregung die Stimme versagte. Cael-Ogor hob mich aus meiner Schwebesänfte und stellte mich auf die Beine. Mir schlotterten ein wenig die Knie.
»Runrick steht zu eurer Verfügung«, sagte Cael-Ogor und wich zurück. »Aber seid nicht grob zu ihm. Er ist sehr zart.«
Ich spürte auf meiner Haut die Luftdruckwelle, als sich mir Dutzende von Körpern mit scharrenden Schritten näherten. Sie hielten erst dicht vor mir an. Ich spürte die Elektrizität ihrer Körper und merkte sogleich, dass sie ganz anders gelagert war als die des Mismatikers.
Arme langten nach mir, sensible Finger ertasteten mein Gesicht und Teile meines Körpers. Die elektrische Spannung verstärkte sich, sprang auf mich knisternd über und durchrieselte meinen Körper. Aber es war kein unangenehmes Gefühl. Das Bemühen der Seherzöglinge, sanft mit mir umzugehen, war deutlich zu erkennen.
»Ist der aber lieb!«, sagte jemand von hoch oben.
»Was für ein Winzling«, sagte ein anderer im Knien und knetete dabei sanft meine Hände.
»He, Runrick, ich bin Hiawatta, aber alle nennen mich Hia. Willst du mein Kleines sein, Runi?«, sagte jemand, der mein Gesicht streichelte und dessen Finger sich durch meinen Haarflaum zum Hinterkopf tasteten. Die Finger zuckten aber sofort wieder zurück, und Hiawatta rief erschrocken: »Er hat ja Gesichtsnarben am Hinterkopf!«
»Runrick ist ein wenig anders«, erläuterte Cael-Ogor. »Er ist was Besonderes unter den Besonderen.«
Die Scheu der Seherschüler legte sich danach wieder, und sie kamen erneut näher, um mich auf ihre eigene Weise zu betrachten.
»Ich bin Alegotto«, sagte eine Stimme, die nichts Kindliches an sich hatte, »und so etwas wie der Großvater in diesem Kindergarten. Mein Wort ist Befehl.«
Große, aber sehr feinfühlige Hände schlossen sich um mein Gesicht. Gleichzeitig spürte ich, wie sich ein feinmaschiges Netz auf meinen Geist legte und in ihn eindrang. Die Finger tasteten sich zu meinem Hinterkopf, befühlten ihn ausgiebig, bevor sie wieder zu meinem Gesicht wanderten. Ich hatte den Eindruck, dass sie jede meiner Hautporen erforschten.
Als die Finger meine Augen erreichten, hielten sie an. Ungläubig, wie es schien. Dann tasteten sie sich wiederum über meine Lider, wanderten ab und kehrten zurück. Das wiederholte sich ein paar Mal, bevor Alegotto über seine Schulter nach oben sagte: »Runrick ist doch keiner von uns. Er hat Augen!«