PERRY RHODAN-Kosmos-Chroniken: Alaska Saedelaere - Hubert Haensel - E-Book

PERRY RHODAN-Kosmos-Chroniken: Alaska Saedelaere E-Book

Hubert Haensel

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Beschreibung

Alaska Saedelaere ist ein eher durchschnittlicher Terraner. Als er jedoch im Jahr 3428 mit einem Transmittersprung vom Planeten Bontong zum Planeten Peruwall überwechselt, verschwindet er zwischen den Dimensionen, um erst vier Stunden später wieder aufzutauchen. In seinem Gesicht tobt eine fremdartige Masse – und jedes intelligente Wesen, das in diese Masse blickt, wird wahnsinnig und stirbt. Alaska Saedelaere wird zu dem Mann mit der Maske und zu einem der wichtigsten Mitstreiter Perry Rhodans. Und er wird zu einem kosmischen Wesen, zu einem jener Terraner, die anscheinend dazu ausersehen sind, das Universum mit all seinen Wundern auf ganz besondere Weise kennenzulernen. Bei seinen Reisen ins Innere des Schwarms oder zur menschenleeren Erde im Herrschaftsbereich der Superintelligenz BARDIOC gelangt Saedelaere zu Erkenntnissen, die ihn noch mehr von den "normalen" Menschen entfremden ...

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Kosmos-Chroniken

Alaska Saedelaere

von

Cover

Klappentext

Zitat

Widmung

1. BUCH – Schicksalsschläge

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

Archiv des Besonderen – Teil 1

2. BUCH – Hoffnungen

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

Archiv des Besonderen – Teil 2

3. BUCH – Allein gelassen

20.

21.

22.

23.

24.

Archiv des Besonderen – Teil 3

4. BUCH – Entscheidungen

25.

26.

27.

28.

29.

Zeittafel

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

Perry Rhodan

Kosmos-Chroniken Alaska Saedelaere

Zum Inhalt dieses Buches:

Alaska Saedelaere ist ein eher durchschnittlicher Terraner. Als er jedoch im Jahr 3428 mit einem Transmittersprung vom Planeten Bontong zum Planeten Peruwall überwechselt, verschwindet er zwischen den Dimensionen, um erst vier Stunden später wieder aufzutauchen. In seinem Gesicht tobt eine fremdartige Masse – und jedes intelligente Wesen, das in diese Masse blickt, wird wahnsinnig und stirbt. Alaska Saedelaere wird zu dem Mann mit der Maske und zu einem der wichtigsten Mitstreiter Perry Rhodans.

»Es ist dunkler,

wenn ein Stern erlischt,

als wenn er nie geleuchtet hätte.«

(Das murmelte Alaska Saedelaere im Selbstgespräch.

Meinem Vater gewidmet,

dem ich die Liebe zur SF verdanke.

Leider durfte er den Mythos Alaska Saedelaere

nur unvollständig erleben.

Es sind die Faszination einer zukünftigen Technik,

die ungeheure Weite der Schöpfung

und die Begegnung mit fremden Wesen

(auch in uns selbst),

die PERRY RHODAN zur

größten Science-Fiction-Serie der Welt machten.

Ich danke meiner Ehefrau und unseren Töchtern

für Geduld und Nachsicht

1. BUCH

Schicksalsschläge

3428 n. Chr. und früher

1.

Der Schmerz traf ihn unvorbereitet. Alaska Saedelaere taumelte; stöhnend riss er die Arme hoch, aber die abwehrende Bewegung kam viel zu spät.

Ein grässliches Pochen plagte sein Gesicht. Vom Haaransatz bis zum Kinn schienen alle Nerven bloßzuliegen. Qualvolle, wenig menschlich klingende Laute drangen über seine Lippen. Er verkrallte die Hände im Gesicht, seine Daumen drückten auf die Kiefergelenke, und die Finger wühlten sich zwischen die Haarwurzeln. Beide Daumen stießen in weiches, schwammiges Gewebe. Als gäbe es keine Wangenknochen mehr. Auch die Stirn schien sich in eine wogende Masse verwandelt zu haben, die kaum Widerstand bot.

Alaska Saedelaeres Brustkorb hob und senkte sich unter hastigen Atemzügen. Die Furcht hatte ihn eben wie ein tückisches Raubtier angesprungen. In Gedankenschnelle wuchs sie zur Panik. Dennoch ignorierte sein Verstand das Unglaubliche.

Er hörte Schritte heranhasten. Eine verzerrte Stimme durchbrach das dröhnende Hammerwerk in seinem Schädel: »Mr. Saedelaere, endlich. Sie werden seit Stunden erwar...« Ein halb ersticktes Gurgeln ließ den Satz abbrechen. Dann erklang es stockend: »Drei kleine Siganesen, die wär'n gern groß gewesen. Einer erstickte am Genetikbrei, da blieben nur noch zwei. Du brennst, du ...« Die Stimme wechselte zum tiefen Bass: »Versteck dich nicht!« und schraubte sich in schrillen Diskant empor: »Ich seh dich ... ich seh dich ...«

Zwei kräftige Fäuste umklammerten Saedelaeres Handgelenke und rissen seine Arme zur Seite. Weil er verzweifelt nach einer Erinnerung suchte, konnte und wollte er sich nicht dagegen wehren. Er war schlicht hilflos und wusste nicht, was geschehen war.

Sein Gegenüber starrte ins Leere.

Speichel rann über Saedelaeres Kinn, doch das bemerkte er nicht einmal. Mit einem verzweifelten Ruck befreite er sich aus dem lasch werdenden Griff. Auf gewisse Weise erinnerte ihn sein Gegenüber an einen Roboter, dessen Motorik von einer Sekunde zur anderen ausgefallen war.

Der abklingende Schock des Transmitterdurchgangs ließ das Zucken in seinem Gesicht intensiver werden und den Drang, sich herumzuwerfen und in panischem Entsetzen zu fliehen, schier übermächtig. Hautnah spürte Alaska Saedelaere das Unheimliche, das mit jedem Atemzug mehr Macht über ihn gewann.

Seine Finger tasteten über Wangen und Kinn und berührten warmes, nachgiebiges Fleisch. Es schien der Berührung auszuweichen.

Unvollständige Rematerialisation, durchzuckte ihn ein aberwitziger Gedanke. Probleme während des Hyperraumdurchgangs.

Bruchstückhaft flackerte die Erinnerung auf. Alaska hatte den Transmittersprung von Bontong nach Peruwall empfunden, als würde sein Innerstes nach außen gekehrt. Eine alles verzehrende Glut und zugleich die unbeschreibliche Kälte des absoluten Nichts hatten jede Regung erstarren lassen ...

Waren für ihn die theoretischen Gefahrenmomente wahr geworden, angefangen von nicht kompensierten unterschiedlichen Bewegungsvektoren im Bereich von Sende- und Empfangstransmitter bis hin zu extremen mehrdimensionalen Störfeldern?

Seine Panik wuchs ... Er fühlte fremde Blicke wie Seziermesser auf der Haut. Mit eisigen Fingern krallte sich das Unheimliche fest, als wolle es nie wieder loslassen.

Saedelaere schrie, weil er das Zucken im Gesicht nicht mehr ertrug. Es würde ihn in den Wahnsinn treiben.

Reiß es heraus!, hämmerte ein wilder Gedanke. Vernichte das Ding, ehe es vollends von dir Besitz ergreift! Seine Finger verkrampften. Alaska Saedelaere glaubte schon zu spüren, wie er die Nägel ins Fleisch schlug und an dem wogenden Etwas zerrte.

Ekel schüttelte ihn, während ein Rest klaren Denkvermögens davor warnte, der Panik nachzugeben. Die kosmetische Chiroplastik brachte noch ganz andere Kunststücke zuwege, als nur ein verlorenes Gesicht neu aufzubauen.

Stimmen in allernächster Nähe erschreckten ihn. Abermals ergriff jemand seinen Arm. Die Berührung war unangenehm. Weil Alaska erst mit sich selbst ins Reine kommen musste. Er war nicht mehr der Mensch, der auf Bontong den Transmitter betreten hatte – er hatte sich auf eine Art und Weise verändert, die er selbst noch nicht verstand.

»Lasst mich!«, keuchte er, während er mit beiden Händen den formlosen Klumpen Fleisch bedeckte, der mit einem menschlichen Gesicht wenig Ähnlichkeit hatte. Um das zu erkennen, brauchte er keinen Spiegel, das konnte er fühlen.

Drei Männer hielten ihn fest und redeten auf ihn ein. In einem Tonfall, der seinen Zorn wachsen ließ.

»Ich bin nicht verrückt!«, keuchte er. »Aber ich weiß nicht, was geschehen ist.«

Die Männer gehörten zum Ordnungsdienst. Das nahm er wie durch einen dichten Schleier hindurch wahr. Schweiß und Tränen brannten in seinen Augen. Er blinzelte heftig, als seine Hände zur Seite gezerrt wurden – zugleich kam er frei.

Unkontrollierte Laute ausstoßend, wichen die Uniformierten vor ihm zurück. Einer setzte noch zum Reden an, zumindest schnappte er nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen – und übergab sich. Würgend brach es aus ihm hervor, während er auf die Knie sank.

Die beiden anderen torkelten davon. Sie stürzten schon nach wenigen Schritten. Während sich der eine zuckend in Embryonalhaltung zusammenrollte, versuchte der andere, auf allen vieren davonzukriechen. Sein Heulen wurde zum erstickten Wimmern, als Alaska ihm folgte und sich über ihn beugte, und verstummte jäh, als der Techniker ihn festhielt.

Endlos lange Sekunden vergingen, bis Saedelaere begriff, dass der Mann nicht mehr atmete. Er zerrte den schlaffen Körper hoch und schüttelte ihn. Aber sein Gegenüber war tot.

Alaska musste Ordnung in seine wirr durcheinander wirbelnden Gedanken bringen. Es gelang ihm nicht. Tief im Unterbewusstsein wuchs die entsetzliche Gewissheit, dass er selbst für alles verantwortlich war.

Rasend hämmerte sein Herz gegen die Rippen. Ein unsichtbares Band zog sich um den Brustkorb zusammen und hinderte ihn am Atmen, aber immer noch krallte er beide Hände in die Uniform des Toten, als wolle er nie wieder loslassen.

»Keine hastige Bewegung, Mister!«

Saedelaere erstarrte in vornübergebeugter Haltung. Aus den Augenwinkeln heraus gewahrte er zwei Kampfroboter und die flirrenden Abstrahlmündungen ihrer Waffenarme. Der Wachmann, den die Kampfmaschinen flankierten, hielt ebenfalls einen Kombistrahler im Anschlag.

Der Mann, der sich eben noch erbrochen hatte, kippte wimmernd zur Seite. Und der Dritte kreischte schrill: »Schießt! Macht das Monstrum alle! Schießt doch, schießt ...«

Alaska zitterte wie Espenlaub. Lange konnte er sich nicht mehr so gebückt halten.

Die Roboter waren heran. »Geh langsam auf die Knie! – Leg dich auf den Bauch! – Spreiz die Arme zur Seite!«

Alaska widersprach nicht. Er war sogar erleichtert darüber, dass ihm die Entscheidung abgenommen wurde, und drückte das Gesicht auf den Boden. Die Kühle des Stahlplasts stach wie mit Nadeln ins Fleisch und weckte neue Lebensgeister. Gleich darauf hätte er schreien können vor Schmerz. Was immer mit ihm geschehen war, sein Immunsystem schien einen gewaltigen Kampf auszufechten. Jede Körperzelle rebellierte. Alaska biss sich die Unterlippe blutig.

Die Kampfroboter standen neben ihm. Mit einigem Abstand folgte der Wachmann. »Wilston war mein Freund. Warum hast du ihn getötet?«

Die Geräusche verrieten Saedelaere, dass der Uniformierte in die Hocke ging, den Strahlenkarabiner neben sich legte und den Leichnam auf die Seite drehte.

»Wie hast du ihn umgebracht?«

Ein scharfer Befehl veranlasste die Roboter, Saedelaere auf die Beine zu stellen. Schwer hing er im Griff der Kampfmaschinen. Dem Wächter blieb der Aufschrei im Hals stecken, als er den Techniker anstarrte.

»Mörder«, gurgelte er. »Mör-der!« Zitternd hob er den auf Thermo-Modus geschalteten Karabiner. Sein irres Lachen klang wie in einem schlechten Film.

Warum ging dieser Albtraum nicht endlich vorbei?

»Ich habe nichts verbrochen!«, stieß Saedelaere hervor.

Ein wildes Kichern – dann, stockend: »Wer ... schickt dich?« Die Waffe ruckte unruhig hin und her.

Der Mann ist wahnsinnig geworden, erkannte Saedelaere. Hatte das mit seinem Gesicht zu tun? Wenn er es recht bedachte ...

Ein Schuss fauchte. Alaska schloss die Augen. Er wollte den Tod nicht sehen, spürte nur ein grenzenloses Bedauern. Wie würde es sein, zu sterben, ohne den wahren Grund dafür zu kennen?

Die sengende Hitze blieb aus. Saedelaere registrierte es beinahe widerwillig. Der Schuss hatte nicht ihm gegolten, vielmehr war der Wachmann von einem der Kampfroboter paralysiert worden.

»Warum?«, ächzte er ungläubig.

»Es ist meine Aufgabe, Leben zu schützen. Sie benötigen medizinische Versorgung.«

»Und wenn ich ablehne?« Alaska verstand selbst nicht, weshalb er das sagte. Seine Verbitterung und Enttäuschung wuchsen mit jedem Atemzug. Ihm war klar, dass die Veränderung in seinem Gesicht eine unglaubliche Bedrohung darstellte. Mit einem Mal war alles anders. Keiner seiner hochfliegenden Pläne hatte noch Sinn. Er dachte an Liv, ihre gemeinsame Zeit und die Jahre, die sie noch miteinander hatten verbringen wollen.

Sein Gesicht pulsierte und schien aufzuplatzen wie eine dünne Membran unter Überdruck.

»Sie stehen unter Quarantäne, Sir!«, sagte einer der Roboter. »Die Mediziner werden alles Weitere entscheiden.«

»Ich brauche keinen Arzt. Was soll der tun? Das herausschneiden, was in mir zuckt? Es verändern? Offenbar verliert jeder den Verstand, der mich anschaut – oder er stirbt.«

»Die Ursache wird erforscht werden.«

»Ich muss zurück, den Transmittersprung wiederholen und ...«

Alaska riss sich los. Er handelte instinktiv und ohne nachzudenken. Er hatte ein Problem, und der Transmitter erschien ihm als die einzig mögliche Lösung. Noch einmal entstofflichen und abstrahlen. Irgendwohin. Darauf hoffen, dass das, was sich in ihm eingenistet hatte, die Verbindung verlor. Eine vage Hoffnung, aber die einzige überhaupt.

Zwei, drei weit ausgreifende Sätze. Alles um ihn her verwischte zur Bedeutungslosigkeit, er sah nur noch den Transmitter vor sich.

Das Gerät war abgeschaltet, und ohne Justierung auf eine Gegenstation baute sich das Entstofflichungsfeld nicht auf. Als Techniker beherrschte Saedelaere die erforderlichen Handgriffe im Schlaf. Wenige Sekunden würden ihm genügen, die Verbindung wieder aufzubauen.

Aber was kam danach?

Egal.

Nur dieses verfluchte Ding wieder loswerden, das sich in ihm eingenistet hatte. Es war fremd. Und es lebte. Das spürte Alaska überdeutlich.

Ein Schlag zwischen die Schulterblätter ließ ihn taumeln. Er biss sich die Lippe auf, und der warme Blutgeschmack würgte ihn erneut.

Weiter!

Er spürte seinen Rücken nicht mehr. Das Gefühl der Taubheit griff auf die Arme über und breitete sich weiter aus.

Alaskas Schritte wurden langsamer. Der Transmitter, fast schon zum Greifen nahe, begann vor seinen Augen zu verschwimmen.

Die Luft erschien ihm plötzlich zähflüssig wie Sirup. Sie dämpfte jedes Geräusch; nicht einmal den eigenen keuchenden Atem hörte er noch. Mühsam kämpfte Saedelaere sich vorwärts, zeitlupenhaft, unwirklich.

Dann stürzte er, kippte einfach vornüber und hatte nicht einmal mehr die Kraft, die Arme auszubreiten. Eine endlose, düstere Tiefe empfing ihn.

Es war ein eigenartiges Empfinden, wahrzunehmen, wie die eigenen Gedanken verwehten, sich in hauchzarte Nebelschleier auflösten ...

... und eine rasch um sich greifende Leere zurückließen.

Der Lähmschuss aus der Roboterwaffe hätte nur seine bewussten Körperreaktionen ausschalten sollen, nicht auch den Geist. Halbherzig fragte sich Alaska Saedelaere, was mit ihm geschah. Nie hatte er über sein Ende nachgedacht. Bis dahin, hatte er immer geglaubt, lagen noch hundert lange Jahre vor ihm – und die Medizin machte rasante Fortschritte. Mit künstlichen Ersatzteilen im Körper zu leben, mit einem geklonten Herzen, Biofiltern oder Knochen aus Terkonit, erschien ihm keineswegs unmenschlich. Als Techniker mit Leib und Seele schreckte er nicht vor solchen Gedanken zurück, sondern betrachtete sie eher als persönliche Herausforderung.

Die Schwärze raubte ihm den Atem. War das der Tod? Es hieß, man sehe sein Leben in diesem Moment noch einmal vor sich vorbeiziehen – die Wahrheit war anders. Einige wenige zusammenhängende Gedanken konnten unmöglich sein ganzes Leben gewesen sein.

Eine friedvolle Stille umfing ihn. Selbst das unheimliche Zucken im Gesicht ebbte ab.

Der Sturz schien unaufhaltsam ...

2.

Erinnerung.

Innerhalb von Minuten schlug das Wetter um. Düstere Gewitterwolken beherrschten den bis eben türkisfarbenen Himmel, und nur hie und da geisterten noch die Strahlenfinger beider Sonnen durch Wolkenlöcher.

Erstes Donnergrollen zwang die Männer und Frauen des Demontagetrupps, im Eilschritt die verfallene Piste zu überqueren. Eine üppige Pflanzenwelt hatte den Betonplast aufgesprengt. Die Gebäude am Rand der Piste waren ebenfalls baufällig; zu akzeptieren, dass sie erst vor wenig mehr als dreißig Jahren errichtet worden waren, fiel schwer.

Trotz des aufkommenden Sprühregens hielt Alaska Saedelaere einen Augenblick lang inne. Der dampfende Dschungel erschien ihm wie ein monströses Lebewesen, fremd und mit menschlichen Sinnen nicht zu begreifen.

Point of last return war ein orakelhafter Name für die kleine Welt fern aller Schifffahrtsrouten, deren strategisch günstige Lage zur galaktischen Eastside ihr einziger Vorteil war. Während die Blues-Kriege allmählich abebbten, hatte die Solare Abwehr mit dem Bau des Stützpunkts begonnen. Aus Gründen, die Saedelaere ohnehin wenig interessierten, war die Geheimdiensttätigkeit nie über die Errichtung dreier kuppelförmiger Bauten und der Landepiste hinausgekommen. Das Gerücht kursierte, der Planet hätte sich gegen die Menschen zur Wehr gesetzt und hätte die Techniker nur geduldet, weil sie gekommen waren, um aufzuräumen. Alaska hielt das für Raumfahrergarn, das Neulinge wie ihn ängstigen sollte.

Daran dachte er, als er sich mit dem Handrücken den Regen aus dem Gesicht wischte. Die Nässe brannte unangenehm, fast wie Säure auf der Haut.

»Die Arbeit wartet, Alaska! Niemand bezahlt Sie fürs Philosophieren.«

Er schreckte aus seinen Gedanken auf. Die Kollegen wussten nicht, dass Point of last return seine erste fremde Welt war. Ebenso wenig, dass er schon mit fünf Jahren davon geträumt hatte, zu den Sternen zu fliegen – ein Traum, der ihn während der Ausbildung wiederholt in Bedrängnis gebracht hatte. Zumal sein Abschluss einer gehobenen Flottenlaufbahn nicht eben förderlich gewesen war.

Der Donner kam näher, und der Regen wurde dichter. Ein Raunen hing in der Luft. Zweifellos stammten die Geräusche von den Pflanzen, die sich zuckend über die Piste wanden.

Alaska fröstelte und schlug den Kragen seines Overalls hoch. Die Kombination schlotterte um seinen Körper. Ohnehin nur Haut und Knochen, hatte er während der letzten Tage vor Aufregung wenig gegessen. An der Demontage eines aufgelassenen SolAb-Stützpunktes teilzuhaben, das war ungefähr, als hätte man ihn überraschend aufgefordert, dem Großadministrator Perry Rhodan oder dessen Stellvertreter Reginald Bull die Hand zu schütteln.

Obwohl es weiß Gott keine militärischen Geheimnisse zu entdecken gab, blieb für Saedelaere das Flair galaktischer Geschichte. Er arbeitete für eine bedeutende solare Firma, die Interstellar Equipment and Positronic Inc., zwar nur für eine aufs Abwracken von Schiffen und Raumstationen spezialisierte Tochtergesellschaft, aber die Aufstiegschancen bestärkten ihn in der Gewissheit, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben.

Fast zu spät bemerkte er das Hindernis vor sich. Alaska strauchelte und konnte sich gerade noch abfangen. Der Auflageteller einer der zwölf Teleskoplandestützen des Schweren Kreuzers war weit in den Boden eingesunken, und die heimische Flora rankte üppig an der mehrfach mannsdicken Säule in die Höhe.

Saedelaeres Blick folgte den peitschenden Zweigen. Weit musste er den Kopf in den Nacken legen, um mehr als hundert Meter über sich den Ringwulst des Kugelraumers zu sehen. Die Düsenöffnungen waren groß genug, selbst Lastengleitern einen bequemen Einflug zu bieten. In Gedanken sah er die gleißenden Partikelströme der Impulstriebwerke zünden und die Piste mit einer Feuerlohe überfluten. Von urzeitlichem Tosen begleitet, löste sich das Schiff vom Boden, stieg erst majestätisch langsam, aber dann rasch schneller werdend in den Himmel und war Sekunden später nur noch als flammender Stern zu sehen.

Im Gegensatz zu seiner Vorstellung würde sich der Kugelraumer niemals mehr erheben. Zwei Wochen waren für die Feinarbeit des Demontagetrupps kalkuliert, der die wertvollen High-Tech-Aggregate einer privaten Nutzung zuführen sollte. Den Rest würden danach Abwrackroboter besorgen.

Obwohl sein Nacken zu schmerzen begann, starrte Alaska unverwandt in die Höhe. Schiffe wie dieses – die TERRA-Klasse mit zweihundert Metern Durchmesser – galten als die Arbeitstiere in der Solaren Flotte. Hauptsächlich wurden sie für Erkundungsmissionen, aber auch als bewegliche Angriffskreuzer eingesetzt. Die wertvollen Transformgeschütze waren längst von der Solaren Abwehr geborgen worden. Alle anderen Waffensysteme unterlagen nicht der militärischen Geheimhaltung.

Unbekannte hatten das Schiff wrack geschossen; eine Notlandung war dennoch möglich gewesen. Saedelaere fühlte sich von dem stählernen Gebirge geradezu erdrückt. In dem Moment glaubte er zu ahnen, was Rhodan und Bull empfunden haben mussten, als sie im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert als erste Menschen auf dem heimischen Mond den gestrandeten, fünfhundert Meter durchmessenden Forschungskreuzer der Arkoniden entdeckt hatten. Die Begegnung mit den Arkoniden war der Grundstein für mittlerweile nahezu eineinhalb Jahrtausende Raumfahrtgeschichte geworden.

Das Summen des Kombi-Armbandgeräts schreckte Alaska aus seinen Gedanken auf. »Wir haben den Zeitplan einzuhalten, Saedelaere. Beeilung also, oder ich lasse Sie zu einem anderen Projekt versetzen!«

Die obere Polrundung des Schiffes entzog sich seinen Blicken. Sogar aus größerer Distanz hätte er die Nordhalbkugel nicht sehen können, weil dichter Brodem den Stahl umfloss. Der Regen schoss wie ein Sturzbach über den Ringwulst in die Tiefe. Saedelaere zog den Kopf zwischen die Schultern, als er im Eilschritt die Wasserwand durchbrach.

Der Antigrav hob ihn zur Bodenschleuse empor. Die Schäden im Bereich des Shift-Hangars hielten sich in Grenzen, wohingegen die höher liegenden Decks weitgehend verwüstet waren. Die Zerstörungen erweckten den Eindruck schwacher Transformexplosionen. Bekannt war einzig und allein, dass unidentifizierte Raumer den Aufklärer angegriffen hatten. Die galaktopolitische Lage war und blieb höchst brisant. Eine Vielzahl kleiner Sternenreiche rebellierte gegen die Mutterwelt Terra und das Solare Imperium. Dem Carsualschen Bund ebenso wie dem Imperium Dabrifa oder der Zentralgalaktischen Union traute Saedelaere einen solchen Überfall zu, auch wenn er es nicht gewagt hätte, die Vermutung laut zu äußern. Andererseits machten Piraten immer häufiger von sich reden. Ihre Anführerin, hieß es, sei eine Greisin. Und das alles war vermutlich erst der Beginn umfassender Sezessionsbestrebungen, die das Ende des terranischen Sternenreichs heraufbeschwören konnten.

Mit atomaren Schneidbrennern und Desintegratoren hatten die Arbeiter einen Weg zu den Impulstriebwerken, Stützmassetanks und Felddüsen gebahnt. Während Saedelaere sich durch einen engen Seitenkorridor zwängte, der in Sonnenglut geschmolzen und bizarr wieder erstarrt war, dachte er an das heraufziehende Unwetter. Er glaubte zu spüren, dass sich die Atmosphäre mit Energie auflud.

Minuten später erreichte er die erste der großen, den Waffensystemen vorgeschalteten Speicherbänke. Teile des Zwischendecks waren herabgebrochen, mannsdicke Feldleiter hingen wie die Eingeweide einer urweltlichen Kreatur herab. An ihren Bruchstellen glommen irisierende Feuer.

»Die Messinstrumente liegen bereit. Kümmern Sie sich um die Peripherie! Wir haben Schwankungen im Energiepegel, die eingedämmt werden müssen. Falls Kriechströme weiterhin die Isolationen unterwandern, holen wir uns bald heiße Ohren.«

Saedelaere nickte knapp. Jedes Wrack barg Gefahren, Interstellar Equipment and Positronic Inc. hatte ausdrücklich darauf hingewiesen. Aber gerade diese Gefahr bedeutete zugleich einen unwiderstehlichen Reiz: Demjenigen, der die hochgezüchtete Technik in allen Situationen beherrschte, stand die Milchstraße offen. Über diesen Umweg in die Technikercrew eines der neuen Großraumschiffe aufgenommen zu werden, erhofften sich viele, die aus den unterschiedlichsten Gründen zunächst ihre Zukunft in der Privatwirtschaft gesucht hatten. Auch Alaska Saedelaere träumte inzwischen wieder von einer Karriere in der Solaren Flotte, obwohl er vor beinahe zehn Jahren abgewiesen worden war. Ihre körperliche Konstitution entspricht nicht den Mindestanforderungen ..., hieß es in einem standardisierten Schreiben der Flottenverwaltung, das er wie eine persönliche Herausforderung in seinen Unterlagen verwahrte.

»Ich bin zu groß, zu dürr – und zu unbedeutend«, hatte Alaska geschimpft. »Mangelnder Ehrgeiz wird mir ebenfalls unterstellt. Das lasse ich so nicht auf mir sitzen.«

Seine zwei Meter Körpergröße waren vererbt. Ebenso der hagere Wuchs. Er sei klapperdürr, behaupteten manche. Saedelaere tat das mit einem Achselzucken ab. Er konnte essen, soviel er wollte, und setzte kein Gramm Fett zu. Und was die Bedeutungslosigkeit anbetraf: Mit vielen wichtigen Persönlichkeiten des Solaren Imperiums hatte er gemeinsam, dass er auf der Erde geboren worden war. Auch wenn seine Eltern sich nie über den exakten Geburtstermin hatten einigen können – es war um Mitternacht vom 2. auf den 3. Dezember des Jahres 3400 gewesen, eine seltsame Unklarheit, die ihn in Jugendjahren veranlasst hatte, abwechselnd an jedem von beiden Tagen zu feiern.

Mit knappen Schaltungen justierte er die Messgeräte. Die Anzeigen blieben im Normbereich. Nahezu zwanzig Minuten lang untersuchte Saedelaere die Isolierung der Speicherbank – bis er einen ersten Energieabfall registrierte.

Fahrig wischte er sich über die Stirn. Er schwitzte. Die Speicherbank war gesperrt, also hatte kein Endverbraucher Zugriff. Die Anzeige des Messgeräts veränderte sich dennoch mit Werten, die nur einen Schluss zuließen: Irgendwo im Wrack wurden soeben Waffensysteme hochgefahren.

Saedelaere winkelte den linken Arm mit dem Minikom an. »Die Geschütze abschalten! Sofort! Was hier an Energie abfließt ...«

»Wir haben einen Computerfehler«, antwortete eine bebende Stimme. »Der Vorgang ist nicht zu stoppen.«

»Was geht hier eigentlich vor?«

»Zwei Thermogeschütze mittschiffs laden. Sie wurden aktiv, als wir die Hauptwandler abbauten ... Mein Gott, die sind taub, da fließt nichts in die Projektoren. Das kriegen wir nicht unter Kontroll...« Die Stimme überschlug sich und verstummte.

Ohrenbetäubender Lärm brandete auf. Eine unsichtbare Faust fegte Saedelaere gegen die Speicherbank. Vergeblich riss er die Arme hoch, um den Aufprall abzufangen, ein heftiger Schmerz raubte ihm fast die Besinnung.

Er stürzte, überschlug sich und rollte den plötzlich schräg stehenden Boden hinab. Begriffe wie oben und unten verwischten innerhalb eines einzigen erschreckten Herzschlags.

Gleißende Lichtbogen ließen Verkleidungen zähflüssig abtropfen. Dröhnend schlug etwas Gewaltiges neben Saedelaere auf, eine zweite Druckwelle wirbelte ihn herum. Ein unerträglicher Schmerz tobte in seiner linken Schulter; Oberarm und Schlüsselbein mussten mehrfach gebrochen sein. Alaska schaffte es nicht mehr, sich aufzurichten ...

... und gerade dieser Umstand rettete ihm das Leben. Eine tonnenschwere Stahlplatte schrammte an der Wand entlang und verkantete sich im letzten Moment, bevor sie alles unter sich zermalmt hätte. Ein mörderischer Schlag nagelte Alaska auf den Boden.

Im nächsten Moment schien eine glühende Helligkeit alles zu verbrennen. Alaska Saedelaere hörte sich schreien. Es war ein unmenschlicher Schrei, der im Chaos des Maschinenraums dennoch ungehört verhallte. Saedelaeres letzter Gedanke galt der Feuerwoge, die sengend zwischen den Aggregaten hindurchtoste.

Erwachen.

Der Übergang kam abrupt. Die Hitze wich einer inneren Kälte und der Erkenntnis, dass er noch lebte. Alaska wusste nicht, wie er dem Inferno entronnen war. Vielleicht hatte die über ihm verkantete Stahlplatte den Feuersturm abgelenkt.

Er schaffte es nicht, die Lider zu öffnen. Auch die Lippen brachte er nicht auseinander, er produzierte lediglich tief in der Kehle ein dumpfes Gurgeln. Die Welt erschöpfte sich für ihn in fahler Düsternis und vagen Schatten. Sie pulsierten, schienen in der einen Sekunde anzuschwellen und schrumpften in der nächsten zur Bedeutungslosigkeit. Schließlich beugte sich einer dieser Schatten über ihn und bildete Tentakel aus. Die Berührung war wie ein tiefer Nadelstich, der alle Gedanken lähmte.

Alaska Saedelaere registrierte, dass viel Zeit verstrich, doch er konnte die Spanne nicht einordnen. Minuten reichten nicht mehr, es mussten Stunden sein, die er in absoluter Reglosigkeit verbrachte.

Der Techniker verfluchte seine Hilflosigkeit.

Irgendwann begann er zu verstehen, dass Medikamente die Schmerzen betäubten. Seine Haut war großflächig verbrannt, er lag in einem Regenerationstank, der die Körperfunktionen stabilisierte und mit Nährflüssigkeit ein beschleunigtes Zellwachstum anregte.

Ich häute mich wie ein Reptil, schoss es ihm durch den Sinn. Aber wenigstens lebe ich.

Waren die Kollegen ebenfalls gerettet worden? Die Frage quälte ihn. Nach einer Weile glitt er wieder hinüber ins Reich der Träume. Er schlief ruhig und tief, und als er erneut erwachte, hatten die Schatten menschliche Konturen angenommen, wenngleich er die Augen noch immer nicht richtig aufbekam.

»Wie fühlen wir uns, Mr. Saedelaere?« Die Stimme klang hohl und wurde von einem leichten Echo begleitet. Wie in einem leeren Raum.

Tief atmete Alaska ein und brachte dann stockend hervor: »Ich weiß nicht, wie Sie sich fühlen – mich interessiert, ob alle aus dem Wrack entkommen sind.«

Es war mühsam, die Augen zu öffnen. Alaska blickte in das starre Gesicht eines Aras. Der eiförmige, hochgewölbte und haarlose Schädel des Galaktischen Mediziners schwebte irgendwie im Nichts.

Der Ara seinerseits musterte ihn, als taxiere ein Sammler ein seltenes exotisches Insekt, schrecke aber aus unbekanntem Grund davor zurück, dieses einmalige Geschöpf in seine Sammlung aufzunehmen. Erst allmählich registrierte Saedelaere, dass er selbst den Mediziner nur als Hologramm sah. Die dreidimensionale Wiedergabe erklärte die unwirkliche Akustik, denn das Bild entstand als Head-up-Display auf der Innenseite des seltsamsten Helms, den Alaska je getragen hatte.

Gut eine Handbreit vor seinem Gesicht wölbte sich die dunkle Fläche. Das Ding war deutlich größer als die üblichen Raumhelme und saß nach unten offen auf den Schultern. Die zweifellos vorhandene Polsterung war nicht zu spüren. Sensoren an hauchdünnen Fäden tasteten Alaskas Schläfen ab und bewegten sich immer weiter in sein Gesicht hinein.

»Er phantasiert«, hörte Saedelaere eine zweite Stimme sagen. »Wie Sie es vorhergesehen haben, Dr. Tarlam. Vermutlich wird er nie die ungeheuerliche Tragweite des Unfalls akzeptieren. Falls es wirklich ein Unfall war ...«

»Das zu beurteilen steht uns nicht zu, Dr. Ramuddi. Unsere Aufgabe ist, dieses bislang einmalige Phänomen medizinisch zu dokumentieren.«

»Für mich hat die Wiederherstellung des Patienten Priorität, Tarlam. Das mag Ihnen als Ara seltsam erscheinen, aber ich habe einen medizinischen Eid abgelegt. Das Wohl meiner Patienten steht über dem Aspekt, mit ihren Krankheiten horrende Summen zu verdienen. Ich hoffe, dass Saedelaere eines Tages sein Leben normal weiterführen kann.«

Der Ara lachte spöttisch. »Das nenne ich terranische Borniertheit. Ich frage mich, weshalb ihr nicht schon in eurem eigenen kleinen Sonnensystem zugrunde gegangen seid. Die Gefahr, hochaktive Erreger einzuschleppen, steigt mit jedem Lichtjahr, das Raumschiffe tiefer in den Kosmos vordringen.«

»Natürlich lässt sich mit der Angst der Patienten gut verdienen«, brauste Ramuddi auf. »Manchmal frage ich mich genau deshalb, ob die Aras perfekte Mediziner oder gerissene Kaufleute sind.«

»Wie stark sind die Verbrennungen?«, fragte Saedelaere zögernd.

»Welche Verb...?«

»Sagte ich es nicht? Er verdrängt die Verantwortung. Weil er das Geschehen selbst herbeigeführt hat. – Woran erinnern Sie sich, Mr. Saedelaere?«

Alaska schwitzte und fror gleichzeitig, als die Holos beider Mediziner ihn herausfordernd anblickten. Vergeblich wühlte er in seiner Erinnerung nach einem Hinweis darauf, wie er das Wrack des 200-Meter-Kreuzers verlassen hatte. Er wusste es nicht. Doch er begann sich zu entsinnen, dass seine Verbrennungen nur partiell und keineswegs so schwerwiegend gewesen waren wie die Splitterbrüche der linken Schulter und des Oberarms. Aber das alles war verheilt ...

... vor allem lag es etliche Jahre zurück.

Alaska atmete hastiger. Die Sensoren wichen zurück, als sein Gesicht zu zucken begann. Er stöhnte, als sich ihm Bilder der jüngsten Vergangenheit ins Bewusstsein drängten.

Alaska Saedelaere glaubte sich selbst zu sehen, wie er auf einen Torbogentransmitter zuging. Es war nicht das neueste Modell, aber in der Zuverlässigkeit seit Jahrhunderten unübertroffen. Mit dem Aufbau des Entstofflichungsfeldes sprangen die Sendekontrollen auf Grünwerte um.

Ein amüsierter Ruf hielt ihn zurück: »Hast du das Bild dabei, Alaska?«

Er zögerte, aber das Feixen des Transmittertechnikers verriet, welches Bild Barthold meinte. Vor zwei Wochen, nach einer halb durchzechten Nacht, hatte Barthold ihm das Holo einer dreibusigen Zaliterin zugesteckt und behauptet, eines nicht mehr fernen Tages wäre man durchaus in der Lage, eine subatomare Abtastung während eines Transmitterdurchgangs vorzunehmen. »... stell dir vor, Alaska, du könntest alles und jeden verändern. Und nach deinem Tod wirst du aus dieser Schablone zu neuem Leben erweckt. Sooft du willst.«

Er hatte irritiert abgewinkt. »Das wäre nicht mehr ich. Weil meine Erfahrungen der letzten Jahre und Jahrzehnte fehlen würden, wäre das immer nur ein wiederhergestellter Status quo. Langweilig.«

»Ich hätte nichts dagegen, stets von neuem in diesem Alter zu erwachen. Funktioniere eine Schablone um, und deine Geliebte hat plötzlich drei Brüste. So wie die hier. Was hältst du davon, Alaska?«

»Verschone mich damit!«, hatte er abgewehrt und an Liv gedacht, die er in wenigen Wochen wiedersehen würde. Nahezu ein halbes Standardjahr stand ihnen für gemeinsame Unternehmungen zur Verfügung.

Bartholds Holo hatte er ... Er wusste nicht mehr, wo es abgeblieben war ...

Sein Gesicht juckte höllisch. Unwillkürlich wollte er mit beiden Händen zugreifen – aber er konnte die Arme nicht bewegen.

»Das Fesselfeld besteht zu Ihrem eigenen Schutz, Mr. Saedelaere«, behauptete eine Stimme, die Alaska mittlerweile als die von Dr. Ramuddi erkannte.

Was um alles in der Welt war mit ihm los? Warum akzeptierte er die Situation ohne Protest? Gedankenfetzen erschreckten ihn. Sie wirbelten wie in einem irrealen Kaleidoskop durcheinander und ließen sich nicht beeinflussen. Schreckgeweitete Augen starrten ihn aus dem Nichts heraus an. Panik und Entsetzen spiegelten sich in verzerrten Grimassen, von denen nur ein Teil menschlich wirkte.

Alaskas Gesicht tobte. Er redete sich ein, dass der Heilungsprozess die Nerven rebellieren ließ, denn die Explosion hatte sein Gesicht verbrannt. Zugleich wusste er, dass er sich selbst belog. Dass die Mediziner ihn argwöhnisch beobachteten, spürte er deutlich. Auch, dass sie ihn fürchteten. Hatten sie ihn ans Bett gefesselt, damit er sich den Helm nicht vom Schädel ziehen konnte?

Vergeblich spannte er die Muskeln an. Er war nicht bereit, sich mit der Hilflosigkeit abzufinden. Messgeräte reagierten mit schrillen Tonfolgen auf seine wachsende Anspannung.

»Ich verlange einen Anwalt«, stieß er hervor – und biss sich sofort auf die Zunge. Was hatte er anderes getan, als einen Transmitter zu benutzen? Oder wollte er sich nicht erinnern?

»Sie sind krank, Mr. Saedelaere.«

»Der letzte Medocheck auf Bontong beweist das Gegenteil«, brachte er hervor.

»Sie waren vier Stunden lang verschollen. Das wurde minutiös rekonstruiert. – Unklar ist, wo Sie sich während dieser Zeit befanden. Dass etwas Absonderliches mit Ihnen geschah, steht außer Frage.«

Alaska schwieg. Vergeblich wühlte er in seiner Erinnerung nach etwas, von dem er aber noch nicht wusste, wie es aussah.

»Die Wahrheit, Mr. Saedelaere! Sie allein kennen sie.«

Er lauschte dem eigenen hastigen Atmen und dem unerklärlichen Pochen, das von der Stirn über die Wangenknochen bis zum Kinn hinab seine Wahrnehmungen ausfüllte.

»Erinnern Sie sich!« Die Stimme wurde hart und unnachgiebig. Sie erhielt einen fast schon hypnotischen Zwang.

Vom ersten Augenblick an war es eine Art Hassliebe gewesen, die ihn mit der Dschungelwelt Point of last return verbunden hatte. Vor allem hatte er Monate benötigt, die Folgen der Explosion zu überwinden. Mehrere Techniker waren damals ums Leben gekommen, seine eigenen Verbrennungen hatten nur seelische Narben hinterlassen. Dagegen war der Transmitterunfall ...

Die Bilder vor seinem inneren Auge vermischten sich wie zwei übereinander geblendete Trivid-Szenen. Je hartnäckiger er sich dagegen sträubte, desto deutlicher trat die Gegenwart in den Vordergrund.

Vier Stunden fehlten in seiner Zeitrechnung.

»Sie können sich unmöglich so lange im Hyperraum befunden haben, Mr. Saedelaere«, drängte eine neue Stimme. »Sie wurden manipuliert. Sagen Sie mir, von wem und zu welchem Zweck!«

Seine Gedanken rasten. Zum wiederholten Mal sah sich Alaska Saedelaere auf der Handelsstation Bontong den Transmitter betreten – und scheinbar ohne Verzögerung erreichte er die Transmitterhalle auf Peruwall.

Aber was war mit seinem Gesicht geschehen? Es gehörte ihm nicht mehr, war im einen Augenblick gefühllos taub und schien im nächsten in hellen Flammen zu stehen. Dann spiegelte sich fahler Feuerschein auf der Helminnenseite – ein Eindruck, der ihn frösteln ließ.

»... nehmen Sie mir endlich den Helm ab und geben Sie mir einen Spiegel!«, verlangte er.

»Verzichten Sie besser darauf, Mr. Saedelaere. – Sie würden sich kaum gefallen.«

»Glauben Sie, dass ich die Wahrheit nicht ertrage?«

»Drei Menschen sind tot. Andere haben den Verstand verloren. – Und das nur ... weil Ihr Gesicht ... sich auf eine Art und Weise verändert hat, die wir noch nicht verstehen. Möglicherweise lässt sich der Vorgang rückgängig machen, aber dafür brauchen wir Ihre Mithilfe.«

Alaska hielt den Atem an. Erst als er schon glaubte, ersticken zu müssen, rang er keuchend nach Luft. »Wie schlimm ist es?«, stieß er bebend hervor. »Wie schlimm?«, wiederholte er Sekunden später und stemmte sich mit aller Kraft gegen die Fesseln. »Was ist das in meinem Gesicht?«, schrie er dann mit sich überschlagender Stimme. »Ihr könnt es mir nicht vorenthalten! Ich will es sehen!«

Da war ein kurzer, kaum wahrnehmbarer Druck im Nacken. In seinen Adern wallte es heiß auf. Ein Wechselbad aus Hitze und Eiseskälte schüttelte ihn. Alaska Saedelaere schrie – aber sein Schreien wurde mit jeder Sekunde leiser.

3.

Wieder wechselten sich Licht und Schatten ab, ebenso wie die Stille und ein unruhiges Raunen. Alaska Saedelaere schaffte es nicht, sich auf einzelne Wahrnehmungen zu konzentrieren, das Konglomerat unterschiedlichster Eindrücke verschwamm unter seiner Schädeldecke wie die Wiedergabe eines schlecht justierten Funkempfängers.

Er taumelte auf dem schmalen Grat zwischen Trance und Wachen. In diesem Zustand nahm er zwar die eigene Hilflosigkeit deutlich wahr, brachte aber nicht genügend Kraft auf, sich dagegen zu sträuben. Noch glaubte er an einen Albtraum, aus dem er jeden Moment aufschrecken musste.

Wie viel Zeit verging, vermochte er nicht zu sagen. Ob Stunden oder Tage – es interessierte ihn kaum. Diese Begriffe hatten etwas seltsam Abstraktes, er kannte ihre Bedeutung, gleichwohl blieb er davon ausgenommen, als stünde ihm alle Zeit des Universums zur Verfügung.

Du bist mit Medikamenten ruhiggestellt, damit du keinen Schaden anrichten kannst, wollte ihm eine zynische innere Stimme einreden. In solchen Augenblicken sträubte er sich gegen die energetischen Fesseln, die ihn in steriler Umgebung festhielten, und schrie seinen Zorn hinaus. Niemand erlöste ihn von der Qual, von dem dann in seinem Gesicht tobenden Feuer, das ihn schier in den Wahnsinn trieb.

Die Anfälle kamen und gingen in unregelmäßigen Abständen. Alaska konnte sie nicht kontrollieren, ihm wurde nur zunehmend bewusst, dass er im ersten Moment wiedergewonnener Bewegungsfreiheit die Finger in sein Gesicht gekrallt und das tobende Fleisch herausgerissen hätte – egal, was danach mit ihm geschah. Die Fesseln hinderten ihn daran, sich selbst zu verstümmeln.

»Wie fühlen Sie sich heute, Mr. Saedelaere?«

Alaska schreckte auf. Er reagierte verwirrt und versuchte, die beklemmende Leere in seinen Gedanken zu überwinden.

»Wir bekommen einen schönen Tag«, fuhr die Stimme fort. Jedes Wort traf den Techniker wie ein Messerstich. Verbissen starrte er auf den blinden Helm. Warum aktivierten die Mediziner nicht wenigstens das Head-up-Display, damit seine Einsamkeit weniger erdrückend wurde?

»Für mich kein schöner Tag.« Der Widerspruch reizte Saedelaere. »Solange ich nur Ihr Versuchsobjekt ...«

»Es ist bedauerlich, dass Sie Ihre Krankheit so sehen. Warum igeln Sie sich ein und lassen niemanden an sich heran?«

Alaskas zynisches Lachen klang hart und rau und überaus unnahbar. »Ich lasse niemanden an mich heran?«, echote er. »Wer hat mir diesen verfluchten Helm aufgesetzt? Seit drei Tagen warte ich, dass endlich jemand die Wahrheit sagt. Aber vermutlich hat keiner der Ärzte auch nur den Schimmer einer Ahnung.«

»Sieben«, berichtigte die Stimme, die Alaska Saedelaere keinem zuordnen konnte, den er in den wenigen nicht von Medikamenten umnebelten Stunden im Holodisplay gesehen hatte. »Seit sieben Tagen ignorieren Sie jeden Versuch einer Zusammenarbeit. Ihre Sturheit grenzt an Selbstverachtung, Mr. Saedelaere. – So kann kein gedeihliches Verhältnis zwischen uns entstehen. Wir würden Ihnen gerne helfen, aber Sie müssen sich selbst ebenfalls helfen wollen.«

Er hatte den Atem angehalten und stieß die Luft prustend wieder aus. »Sieben Tage? Wollen Sie mir das wirklich einreden? Welches Psychospiel treiben Sie?«

»Keines, Alaska. Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich Sie Alaska nenne?«

»Machen Sie, was Sie wollen. Nur bringen Sie mich wieder in Ordnung!«

»Ohne Ihre Mithilfe ist das ein schwieriges Unterfangen. Offenbar wollen Sie sich nicht erinnern.«

»Da gibt es nichts ...« Das Zucken in Saedelaeres Gesicht wurde heftiger, als bewege sich etwas unbeschreiblich Fremdes unter der Haut. »Was immer es ist, schneiden Sie das Ding weg! Worauf warten Sie noch?«

Horrorgeschichten kamen ihm in den Sinn. Von Tieren, die ihre Eier unter die menschliche Haut legten. Angeblich benötigte die schmarotzende Brut für ihr Heranwachsen Jahre, aber sobald sie die zu eng gewordene Kinderstube sprengte, war der ahnungslose Wirt dem Tod näher als dem Leben.

Alaska hatte nie darüber nachgedacht, ob man solche Medienberichte glauben durfte. Vielleicht waren sie nur die Ausgeburt phantasiebegabter Schreiberlinge, die eine Sauregurkenzeit überbrücken mussten. Erstmals fragte er sich, ob die Ursache seiner Veränderung auf Point of last return verborgen lag. Was, wenn er sich im Dschungel infiziert hatte und die Inkubationszeit erst nach Jahren endete?

»Woran denken Sie, Alaska?«

Der Techniker schreckte auf. »Nichts von Bedeutung«, antwortete er schnell und ärgerte sich zugleich, dass er abblockte. Weshalb erzählte er nicht einfach von früher?

»Wir zeichnen Ihre Mentalströme auf, Alaska, und die hektischen Ausschläge widersprechen Ihrer Behauptung. Ähnliche Oszillationen waren jedes Mal zu sehen, bevor Sie aufwachten. Erinnern Sie sich? Ihr Schlaf ist wie eine Art Koma – als wollte Ihr Geist dem Körper entfliehen.«

»Ich weiß nichts.«

»Versuchen Sie, sich zu erinnern!«

»Ich bin müde. Nehmen Sie mir den Helm ab!«

»Tun Sie etwas dafür!«

Mit geschlossenen Augen horchte Alaska Saedelaere in sich hinein. Ihm war klar, dass der andere ihn aus der Reserve locken wollte.

»Ist das keine normale Klinik?«, fragte er stockend. »Wurde ich in ein Haus für mentale Probleme eingeliefert?«

»Das Star-Spital gilt als das bedeutendste Transplantationszentrum auf Peruwall.«

»Warum operiert mich niemand?«

»Das ist ... wie soll ich sagen? ... etwas diffizil.« Die Antwort des Arztes kam zögernd. »Zudem liegt seit Tagen eine offizielle ... äh ... Anfrage vor. Sie werden heute verlegt, Alaska.«

»Gut.«

»Wollen Sie nicht wissen, wohin?«

Saedelaeres Achselzucken blieb im Ansatz stecken. »Ich hoffe, in eine Klinik, in der man mir wirklich helfen kann.«

»Nach Mimas«, sagte der Arzt.

Ein jäher Schauder überlief den Techniker. Zugleich schien sich sein Gesicht – oder was immer dessen Stelle eingenommen hatte – zu verhärten. Lebt dieses ... dieses Ding wirklich?, fragte sich Alaska Saedelaere zum wer weiß wievielten Mal. Oft genug hatte er versucht, willentlich auf die Muskelkontraktionen Einfluss zu nehmen, ohne dass ihm dies gelungen wäre.

Der Saturnmond Mimas war bekannt für seine erstklassigen Sanatorien. Im Solaren Imperium besaß der Name einen Klang wie Aralon bei den Galaktischen Medizinern. Aber Mimas war auch teuer – unerschwinglich für einen einfachen Techniker. Schon der Aufenthalt würde Unsummen verschlingen, von den Behandlungskosten ganz zu schweigen.

»Vergessen wir das Ganze«, brachte Saedelaere stockend hervor. »Meine Versicherungskategorie reicht nicht für Mimas. Von einer genetischen Rekonstruktion ganz zu schweigen.«

»Woher wollen Sie wissen, dass ein Wiederaufbau nötig wird?«

»Ich spüre, was mit meinem Gesicht geschehen ist.«

Alaska hatte das unbestimmte Gefühl, dass der Arzt neben ihm zögernd nickte. »Das mit den Kosten ist geklärt«, hörte er ihn sagen. »Sie erhalten in Kürze Besuch. Eine Korvette aus dem Sonnensystem ist vor knapp einer halben Stunde gelandet.«

Nein!, schrie alles in ihm, und Alaska sträubte sich mit jeder Faser. Ich will nicht, dass sie sich meinetwegen ins Unglück stürzt. Liv kann das niemals finanzieren.

»Schicken Sie sie weg!«, forderte er den Arzt auf. »Liv soll mich nicht so sehen.«

Das Geräusch eines aufgleitenden Schotts ließ Saedelaere verstummen. Er versuchte sich vorzustellen, wie Liv Andaman stehen blieb und ihn anstarrte. Was mochte angesichts seiner Hilflosigkeit in ihr vorgehen? Sicher, sie hatten viel Spaß miteinander gehabt, aber inzwischen war er der falsche Kandidat für einen Ehevertrag. Auch wenn er es noch verdrängte, spürte er unbewusst, dass seine Veränderung nicht rückgängig zu machen war. Um wie viel besser wäre es gewesen, er hätte den Transmitter niemals verlassen. Verweht im Hyperraum – einen schöneren und schmerzloseren Tod gab es nicht.

Sekundenlang erschienen ihm die eigenen hastigen Atemzüge wie das einzige Geräusch in der bedrückenden Stille. Dann klangen Schritte auf. Unter dem Helm hörte Alaska sie nur verzerrt. Dennoch wusste er sofort, dass das nicht Liv war.

»Was wollen Sie von mir?«, fragte er zögernd.

Der Besucher verharrte. »Wie geht es Ihnen, Mr. Saedelaere?«

»Bestens«, antwortete Alaska zynisch. »Und wenn ich den Helm endlich loshätte, wäre es vermutlich gar nicht auszuhalten.«

»Es freut mich, dass Sie das so gelassen sehen. Eine gewisse Portion Humor macht das Leben in allen Situationen erträglicher.«

»Ich meine es ernst«, widersprach Saedelaere. »Und um Missverständnissen vorzubeugen: Mimas ist für mich unerschwinglich.«

»Das ist erledigt, Mr. Saedelaere.«

»Ich sagte nein.«

»Sind Sie immer so hartnäckig?«

Alaska schwieg.

»Offiziell wurden Sie als Sicherheitsrisiko eingestuft«, fuhr der Fremde fort. »Was immer Ihnen zugestoßen ist, Mr. Saedelaere, die Solare Abwehr hat Anlass genug, Sie unter ihre Fittiche zu nehmen.«

»Mit anderen Worten: Niemand hat Interesse daran, mir wirklich zu helfen.«

»Sie missverstehen ...«

»Ich bin sehr wohl in der Lage, eins und eins zusammenzuzählen. Ich frage mich nur, weshalb man mich absichtlich im Ungewissen lässt. Fürchtet jemand, mein Fall könnte eine Lawine anstoßen? Gibt es militärische oder nur wirtschaftliche Gründe, Mr. Unbekannt?«

»Deighton«, sagte der andere schroff. »Solarmarschall Galbraith Deighton. Falls das hilft, Ihre Vermutungen zu relativieren.«

»Ein ganz hohes Tier also.« Alaska Saedelaere pfiff anerkennend zwischen den Zähnen hindurch. »Haben Sie sich meinetwegen nach Peruwall bemüht? Und sind Sie nun enttäuscht?«

»Ganz im Gegenteil«, versicherte der Abwehrchef. Dass er als so genannter Gefühlsmechaniker in der Lage war, die Emotionen von Menschen zu identifizieren, versetzte ihn in den Rang eines Mutanten. Außerdem trug er seit über fünfhundert Jahren einen Zellaktivator und gehörte damit zum engen Kreis der potentiell Unsterblichen um Perry Rhodan.

»Im Grunde Ihres Wesens sind Sie unsicher, Mr. Saedelaere«, fuhr Deighton fort. »Sie haben keine Ahnung, wie Sie mit sich selbst umgehen sollen. Zugleich sind Sie fasziniert. Von etwas, das Sie zwar spüren, aber nicht kennen. Sie entwickeln einen Zwiespalt, der gefährlich werden kann, falls er nicht in die richtigen Bahnen gelenkt wird.«

»Und das wollen Sie übernehmen, Solarmarschall? Sie oder die SolAb? Saedelaere, die menschliche Waffe, die den Wahnsinn bringt, für mich wäre das eine aberwitzige Vorstellung. Ein Iwan Iwanowitsch Goratschin im Mutantenkorps genügt. Lassen Sie mich also aus dem Spiel.«

»Wir wollen Ihnen helfen, Mr. Saedelaere. Schon um sicherzustellen, dass der Unfall ein einmaliges Ereignis bleibt. Wo anders als auf Mimas hätten wir die Möglichkeiten dazu? Ich appelliere an Ihr Verantwortungsbewusstsein ...«

Alaska Saedelaere versuchte vergeblich, sich seiner Empfindungen bewusst zu werden. Dabei wusste er bereits, dass Galbraith Deighton Recht hatte. Es half nichts, sich in ein selbst erbautes Schneckenhaus zu verkriechen und mit dem Schicksal zu hadern. Die vielleicht einzige Chance, die ihm noch geboten wurde, durfte er nicht aus falschem Selbstverständnis ignorieren.

Der Abendwind trug das salzige Aroma des Goshun-Sees herauf. Alaska Saedelaere genoss den Rundblick von der Panoramakuppel des Wohnblocks aus. Terrania, die Hauptstadt nicht nur der Erde, sondern zugleich Zentrum des Solaren Imperiums, war eine quirlige Metropole, ein unüberschaubarer Wurmtopf ebenso bizarrer wie funktioneller Bauten, ineinander verwobener Hochstraßen und Gleiterbahnen, ausgedehnter Parks und wimmelnder Menschenmassen. Wie eine Spielzeuglandschaft erstreckte sich die gewaltige Stadt bis an den Horizont. Raumschiffe in Warteposition wirkten in Dutzenden Kilometern Distanz immer noch wie stählerne Gebirge, deren Flanken von den Strahlen der untergehenden Sonne mit Feuer übergossen wurden.

Gedankenverloren kaute Saedelaere auf seiner Unterlippe. Vor nahezu eineinhalb Jahrtausenden war die zurückkehrende erste Mondexpedition nicht wie erwartet in den Vereinigten Staaten, sondern in der damals unwirtlichen Wüste Gobi gelandet. Perry Rhodan und Reginald Bull hatten auf dem Mond ein arkonidisches Raumschiff entdeckt, mit Hilfe der weit fortgeschrittenen Technik die Dritte Macht gegründet und später die vereinte Menschheit zu den Sternen geführt.

Es gab da draußen weit mehr exotisches und intelligentes Leben, als die in ihrer Selbstherrlichkeit zerstrittenen Völker des 20. Jahrhunderts sich jemals hätten träumen lassen.

Die Erde war keine Scheibe ...

Sie hatte nie im Mittelpunkt des Universums gestanden, war nie von der Sonne umkreist worden ...

Anfangs noch ungläubig, später schon fasziniert, hatten die Menschen der Erde gelernt, dass allein in der heimischen Milchstraße auf zigtausenden Welten intelligentes Leben existierte. Viele fremde Völker waren in ihrer technischen Entwicklung den Menschen so weit voraus gewesen wie der Homo sapiens des beginnenden Atomzeitalters den Mauerbauern von Jericho achttausend Jahre vor Beginn der christlichen Zeitrechnung.

Alaska Saedelaere kniff die Brauen zusammen und legte den Kopf in den Nacken. Während im Westen das Purpur der kurzen Abenddämmerung verwehte, funkelten im Osten schon die ersten Sterne. Sein suchender Blick fand das Sternbild der Leier mit dem Hauptstern Wega: Nur siebenundzwanzig Lichtjahre entfernt – nach kosmischen Entfernungen ein Katzensprung – lebten die Ferronen. Von den Terranern unterschieden sie sich durch ihre geringere Größe, die blassblaue Haut und das kupferfarbene Haar. Das System der Wega hatte für die Menschheit auf ihrem Weg in den Kosmos einen ersten Prüfstein bedeutet, als es darum ging, die kriegerischen, echsenartigen Topsider abzuwehren.

Die Liste der galaktischen Völker war lang. Arkoniden, Akonen, Springer, Aras; die vielen Völkerstämme der tellerköpfigen Blues in der galaktischen Eastside; die gewaltigen Haluter, vor fünfzigtausend Jahren erbitterte Gegner der Lemurer, der Ersten Menschheit; Unither, Naats und die Roboterzivilisation der Posbis ebenso wie die IVs, Swoons oder gar Hornschrecken ...

Bevor er die Technikerlaufbahn einschlug, hatte Alaska mit dem Gedanken gespielt, galaktische Geschichte zu studieren. Letztlich war er vor der Theorie zurückgeschreckt. Nie hatte ihn wirklich interessiert, welcher arkonidische Herrscher wann aus welchem Grund Transmitter ächten ließ oder in welchem Jahr ein Großteil der überlebenden Lemurer vor den Halutern in die Nachbargalaxis Andromeda geflohen war.

Vielmehr hatte er sich von den gewaltigen technischen Errungenschaften inspirieren lassen, von den Sonnentransmittern zum Beispiel, die von der Ersten Menschheit für ihre Flucht benutzt worden waren. Was hätte er dafür gegeben, die blauen Riesensonnen des Sechsecktransmitters im Zentrum der Milchstraße mit eigenen Augen zu sehen – doch die Sonnen existierten seit einigen Jahrhunderten nicht mehr.

Schon immer hatte sich Alaska lieber den Wind um die Nase wehen lassen, als über Dateien zu brüten. Fünfzehn war er gewesen, als seine erste eigene Robotkonstruktion den Haushalt durcheinander gebracht hatte, und ein Jahr später hatte er den Standardgleiter eines Nachbarn zur Höchstleistung frisiert. Ohne dessen Wissen. Was ihm nach einer Beinahe-Kollision eine behördliche Verwarnung eingetragen hatte und zugleich das wohlwollende Interesse zweier Hersteller für Atmosphärentriebwerke ...

Das ferne Dröhnen eines startenden Raumfrachters schreckte Saedelaere aus seinen Überlegungen auf. Hoch am Nachthimmel gluteten die Impulsbündel aus dem Ringwulst eines Kugelraumers und ließen das Schiff in Sekundenschnelle mit den Sternen verschmelzen.

Liv verspätete sich ganz gegen ihre Art. Ausgerechnet an ihrem letzten gemeinsamen Abend. Am nächsten Morgen würde er eine Space-Jet der Tombstone-Werke besteigen, um für neun Monate zum abschließenden Trainingscamp auf den Mars zu fliegen. Danach, wenn alles wie vorgesehen klappte, hatte er den »Techniker« in der Tasche und zugleich einen Vertrag, der ihn für zwei Jahre an Tombstone band.

Keine Ahnung, was währenddessen aus Liv und ihm werden würde. In drei Monaten waren sie einander noch nicht so nahe gekommen, wie Alaska es sich anfangs gewünscht hatte. Diesen 27. Mai 3422 hatte er sich jedoch besonders markiert.

Er wischte die feuchten Handflächen an der Hose ab. Liv hatte ihm vom ersten Augenblick an gefallen, und das nicht nur, weil sie sich in der Raumschiffsfotografie schon einen Namen gemacht hatte. Einige ihrer holografischen Aufnahmen hingen in großen Ausstellungen; Liv verstand es perfekt, die Imposanz gewaltiger Schiffsrümpfe mit winzigen Details zu verbinden und den Blick der Betrachter für das Wesentliche zu schärfen. Mikrometeoriten zerfurchten selbst Terkonitstahl; Haarrisse in den Stützmassetanks eines Impulstriebwerks bedeuteten über kurz oder lang eine tödliche Gefahr.

Schritte näherten sich. Alaskas Puls raste. Er hatte sich umdrehen und Liv in die Arme schließen wollen, aber er konnte es nicht. Vielmehr stand er wie angewurzelt am Rand der Terrasse und fragte sich, was Liv wirklich an ihm fand. In spätestens ein bis zwei Jahren würde sie im Licht der breiten Öffentlichkeit stehen, dann störte der dürre, aufgeschossene Mann an ihrer Seite nur. Er war kein Medientyp, mochte sich mitunter selbst nicht. Zwei Meter Schwindsucht hatte man ihn schon genannt. Das änderte nichts daran, dass er häufig Mahlzeiten ausfallen ließ und zudem lockere Kleidung bevorzugte, in deren Taschen sich viel Werkzeug verstauen ließ.

Alaska zuckte zusammen, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. Er schluckte krampfhaft, als Livs Finger durch sein kurzes Haar wühlten.

»Neun Monate sind keine Ewigkeit«, begann sie, »und läppische achtzig Millionen Kilometer bis zum Mars keine Entfernung. – Was ist mit dir? Endlose Betrübnis? Oder weshalb gibt es keinen Begrüßungskuss?«

Irgendetwas warnte ihn davor, sich umzudrehen. – Da war eine Ahnung von Gefahr, die den lauen Abend Lügen strafte und eine Hitzewelle durch seinen Körper schickte. Geh!, schrien seine Gedanke. Lass mich allein! Er brachte keinen Laut hervor, schaffte es nicht einmal, sich gegen den sanften Druck zu sträuben, mit dem Liv ihn zu sich herumzog.

»Ich habe einen Fotoauftrag auf dem Mars angenommen. Für die Whistler-Company. Roboterstudien in naturbelassenem Terrain ...« Ihre grünen Augen sprühten vor Freude. Aber schon im nächsten Moment glätteten sich die Lachfalten in den Augenwinkeln, legte sich ein Schleier über ihren Blick. Liv Andaman brachte nur noch ein unartikuliertes Gurgeln über die Lippen. Ihre Hände verloren die Kraft, rutschten an seinen Armen entlang abwärts.

Alaska umklammerte ebenso blitzschnell ihre Handgelenke. »Liv«, schrie er sie an, »was ist los mit dir?«

Die junge Frau lachte wirr. Aus weit aufgerissenen Augen starrte sie durch Saedelaere hindurch und schien ihn nicht einmal mehr wahrzunehmen. Im nächsten Moment sackte sie in sich zusammen.

»Nein«, keuchte Alaska, während Tränen seinen Blick verschleierten. »Das wollte ich nicht. Schau mich nicht an, Liv ... Nein!« Er spürte die entsetzliche, von ihm selbst ausgehende Bedrohung. So weit es eben ging, drehte er sich zur Seite, damit Liv sein Anblick erspart blieb, während sie schwer in seinen Armen hing. Zugleich wurde alles anders. Terranias Skyline wich der nüchternen Umgebung einer Standardkabine, deren Stirnseite die dreidimensionale Abbildung des Planeten Mars zeigte. Das Bett davor war zerwühlt, der kleine Bildschirm des Interkoms mit einem Tuch verhängt. Das Schott zur angrenzenden Nasszelle stand offen.

»Ich musste Ihnen ein Kreislauf stabilisierendes Mittel injizieren.« Die Stimme des Medorobots holte Alaska vollends in die Realität zurück. Er entsann sich, dass er vor Stunden an Bord der Korvette gebracht worden war. Der Bordarzt hatte ihm ein Schlafmittel verabreicht, doch es schien wenig wirkungsvoll gewesen zu sein und hatte ihm nur neue Albträume beschert. Halb benommen musste er nach einem Fluchtweg gesucht haben.

»Ich bringe jedem den Tod, der mich ansieht«, ächzte Saedelaere. »Warum lässt du mich nicht einfach sterben?«

»Auf Mimas arbeiten die besten Mediziner des Solaren Imperiums, Sir.«

Alaska verdrehte den Kopf, um sich vielleicht in der Brustplatte des Medoroboters zu spiegeln. Er wollte nur ein wenig mehr sehen als das fahle Flackern, das er bislang kannte. Aber die Injektion begann bereits zu wirken.

4.

Übergangslos war da ein Gefühl des Schwebens, verbunden mit einem raschen Wechsel von Licht und Schatten.

»... um eine Operation zu erwägen, müssen wir wissen, wie tief dieses – dieses Ding überhaupt sitzt.«

»Sie glauben daran, dass es mit Kreislauf und Nervengewebe verbunden ist, Dr. Bishar?«

»Ich halte alles für denkbar.«

»Auch, dass dieses Etwas lebt?«

»Ein Schmarotzer – warum nicht? Leider waren unsere Kollegen auf Peruwall zu zurückhaltend.«

»Bitte, achten Sie auf den Patienten! Er ist wieder bei Bewusstsein.«

»Wie fühlen Sie sich?«

Alaska schlug die Augen auf. Über sich sah er die Leuchtplatten eines langen Korridors. »Ich kann die Frage nicht mehr hören«, brachte er stockend hervor. Ein Kloß im Hals würgte ihn; er hustete gequält.

Die Ärzte wechselten einen kurzen Blick. Dann schürzte der Kleinere von ihnen die Lippen und zwirbelte ein Ende seines kunstvoll gedrehten Schnauzbarts. »Ich hätte dennoch gerne eine Antwort, Mr. Saedelaere. Wie es aussieht, werden wir längere Zeit miteinander zu tun haben. – Ich bin Dr. Bishar, Xenobiologe. Mein Kollege ist Professor Rosenholz, spezialisiert auf Mikrochirurgie und gentechnische Heilverfahren.«

Erst als Dr. Bishar auch das andere Bartende zwischen Daumen und Zeigefinger drehte, lief es Saedelaere siedend heiß den Rücken hinab. Er sah die Mediziner direkt, nicht über ein Display. Das bedeutete, dass seine Veränderung ihnen nichts anhaben konnte. Er schluckte schwer.

»Sind Sie ... immun? Ich meine, jemand hat mir den Helm abgenommen und ...«

»Wir befinden uns auf Mimas, Mr. Saedelaere. Die mitunter archaischen Methoden unserer Berufskollegen auf irgendwelchen Siedlungswelten sind hier keineswegs Standard. Wir wollen Ihnen jede Freiheit zugestehen, deshalb umgibt ein einfaches Deflektorfeld Ihren Kopf. Solange es aktiv ist, können Sie sich im Prinzip frei bewegen.«

»Als wandelnder Leichnam ohne Kopf?«

Dr. Bishar begann zu lächeln. »Derart drastisch würde ich das nicht formulieren.«

»Aber Sie geben mir Recht?«

»Alles ist relativ, Mr. Saedelaere.«

Alaska schüttelte den Kopf und besann sich erst danach, dass den Medizinern seine Reaktion wegen des unsichtbar machenden Deflektorfeldes verborgen blieb. »Mit anderen Worten: Sie kaschieren ebenfalls nur Symptome. Die Ursache kennen Sie nicht.«

Der Name Mimas stand nicht nur als Synonym für die kommerzialisierte Medizin überhaupt, sondern zugleich für spektakuläre Erfolge, die kein anderes therapeutisches Zentrum des Solaren Imperiums aufwies. Energiekuppeln bedeckten weite Teile der Mondoberfläche. Sie ermöglichten den Einsatz unterschiedlichster klimatischer Bedingungen ebenso wie extreme Schwerkraftverhältnisse oder Atmosphären, die für Menschen ohne Schutzanzug tödlich wirkten. Maahks aus der Nachbargalaxis Andromeda fanden auf Mimas die gleiche medizinische Hilfe wie die Chlorgas atmenden Gradosima. Und über allem hing, gewaltig und imposant, der zweitgrößte Planet des Solsystems, Saturn, im Mittel lächerliche 185.000 Kilometer entfernt.

Zum ersten Mal empfand Alaska Saedelaere Angst vor der Zukunft. Die Ahnung, dass er die weitläufigen Anlagen niemals wieder verlassen würde, quälte ihn. Falls sich seine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten, blieb ihm nur die Isolation, ein Leben unter einem plumpen Helm oder hinter einem Deflektorfeld versteckt.

Weil sein Anblick den Verstand raubte ...

... oder sogar tötete.

Die Furcht fraß an seiner Seele. Wie es in ihm aussah, ging dennoch niemanden etwas an. Von früher Jugend an hatte er die Einsamkeit kennen gelernt, nur arrangiert hatte er sich nie mit ihr. Wahrscheinlich würde er das auch niemals tun.

»Warum gerade ich?« Seine Frage blieb unbeantwortet.

Ein Schott glitt vor ihm und den Ärzten auf. Sich vorzustellen, was ihn erwartete, fiel Alaska nicht schwer: ein enges und ausbruchsicheres Gefängnis, gerade genug Platz, um zu schlafen, denn die meiste Zeit würde er ohnehin von einer Untersuchung zur nächsten weitergereicht werden. Er bereute es bereits, sich mit Galbraith Deighton eingelassen zu haben.

Zu seiner Überraschung bezog er jedoch eine großzügige Suite mit ungehindertem Ausblick auf den Saturn. Der Planet in seiner überwältigenden Imposanz schien zum Greifen nahe.

Raumschiffe zogen Sternschnuppen gleich ihre Bahn. Mimas verfügte über einen umfassend ausgebauten Raumhafen für den solaren Nahverkehr. Transmitter spielten im Klinikbereich eine eher untergeordnete Rolle, da für viele Kranke der Transport durch den Hyperraum eine unzumutbare Belastung bedeutete.

Minutenlang stand Alaska unbewegt da, und jeder neue Atemzug kam ein wenig hastiger als der vorangegangene. Sein Versuch, sich zu erinnern, blieb vergebens, den schwarzen Fleck in seinem Gedächtnis konnte er nicht überwinden. Da war nur die Ahnung von etwas Unheimlichem, das sich seinem Zugriff entzog.

Vier Stunden, hämmerte es unter seiner Schädeldecke. Vier verfluchte Stunden haben mein Leben verändert.

Die Ärzte hatten ihn allein gelassen. Er registrierte es nur beiläufig, denn der goldene Käfig, den sie ihm boten, änderte nichts an seinem Status als Gefangener.

Hunderttausende Menschen benutzten jeden Tag Transmitter, um in Nullzeit weite Entfernungen zu überwinden. Die Gefahr, dabei zu Schaden zu kommen, war denkbar gering. Am liebsten hätte Saedelaere sich hingestellt und lauthals losgebrüllt, doch das konnte er nicht. Weil Gefühle für ihn nie so wichtig gewesen waren wie für andere Menschen. Seine Eltern hatten ihn zu einem rationalen Menschen erzogen. Er funktionierte, weil es von ihm erwartet wurde. Wie ein technisches Gerät.

»Für jedes Problem ... gibt es ... eine Lösung.« Überzeugt davon, dass er belauscht wurde, stieß er den Satz hervor. Eine optische Überwachung wagte wohl niemand. »Habe ich Recht? Galbraith Deighton – was immer Sie sich von mir erhoffen, vergessen Sie es. Ich eigne mich nicht als Monster.«

Sein Gesicht entwickelte wieder dieses verhasste zuckende Eigenleben. Im ersten Reflex wollte Alaska die Finger ins Fleisch schlagen, dann warf er sich herum und stürmte in die angrenzende Hygienezelle.

Suchend drehte er sich einmal um die eigene Achse. Ein matter Überzug auf den Wänden verhinderte jede Reflexion. Spiegel waren schon gar nicht vorhanden.

»Was ist aus meinem Gesicht geworden, Mr. Deighton? Ich habe ein Recht darauf, es endlich zu sehen!«

Er blieb allein mit sich und seinen Ängsten. Niemand antwortete. Zweifellos werteten nicht Menschen, sondern Positroniken die Aufzeichnungen aus.

»Und wenn ich nicht mitspiele? Gelte ich dann noch als lukrativer Patient oder schon als renitent?« Er beugte sich über das Waschbecken und schöpfte mit beiden Händen. Mit einer schnellen Bewegung verteilte er das kalte Wasser im Gesicht. Im ersten Moment spürte er nicht einmal die Kälte, doch dann begannen die Nerven zu toben, als rebelliere ein Teil von ihm. Alaska schrie auf und verkrampfte die Hände über den Wangenknochen. Er registrierte kaum, dass er aus der Nasszelle taumelte und wimmernd aufs Bett sank. Er vergrub den Kopf im Kissen, aber nach wie vor umzuckten ihn orangerote Blitze wie eine Korona.

Eine Stunde vor Mitternacht, Standardzeit. Seit deiner Ankunft auf Mimas liegt ein Wechselbad der Gefühle hinter dir, wie du es nie zuvor erlebt hast. Zeitweise hast du den Eindruck, verrückt zu werden – und nichts und niemand scheint den schleichenden Prozess aufhalten zu können. Dann fällst du von einer neuen Hoffnung in die nächste Niedergeschlagenheit und findest keinen Boden. Schuld daran ist das »Ding« in deinem Gesicht. Noch fehlt dir eine bessere Bezeichnung dafür – und die Ärzte schweigen sich aus. Heißt das, dass sie ebenfalls keine Ahnung haben oder dass sie die Wahrheit kennen und dich bewusst in Ungewissheit lassen?

Dein Schreibstift fällt auf die Tischplatte, du knetest deine Finger. Im nächsten Moment lehnst du dich ruckartig zurück, und dein Blick frisst sich an der Folie und den wenigen in zittriger Schrift hingeschmierten Zeilen fest. 3. März 3428, steht da als Überschrift. Hattest du wirklich vor, ein Tagebuch zu schreiben? Für wen? Nur weil du die Folien und den Stift in der Schublade gefunden hast oder weil du dich fühlst, als müsstest du im nächsten Moment zerplatzen? Dein Herz hämmert bis zum Hals, und jeder Pulsschlag pochte, wie unter Überdruck durch die Adern.

Immerhin verhält sich das »Ding« in deinem Gesicht so ruhig, als wäre nie etwas vorgefallen. Ist es überhaupt noch da, oder hat es sich, womöglich als Nebenwirkung der Untersuchungen, zurückgebildet?

Zögernd beginnst du wieder zu schreiben.

Ich musste immer schon kämpfen und sollte es längst gewohnt sein, dass das Leben nichts verschenkt. Da draußen wartet die Galaxis mit all ihrer Schönheit und Vielfalt – und ich stehe mir mit meinen Schuldgefühlen plötzlich selbst im Weg.

Ich hasse mich.

Nein: Ich hasse das »Ding« in meinem Gesicht.

Du schürzt die Lippen, und die Bewegung fällt dir schwer, als gehorchten die Muskeln nicht mehr allein deinem Willen. Deine Haut spannt, zieht sich zusammen, dehnt sich aus, im Rhythmus des Pulsschlags.

Wie kannst du etwas hassen, von dem du nicht einmal weißt, was es ist? Du glaubst, dein größtes Problem sei die Ungewissheit; aber vermutlich wärst du ruhiger, wenn du dich selbst sehen könntest. Warum zeigt man dir nicht endlich dein Spiegelbild? Aus Furcht, du könntest ebenfalls sterben oder den Verstand verlieren?

Ein kurzes, hektisches Lachen quillt über deine Lippen. Saturn schimmert durch das Panoramafenster herein. Gewaltige Wolkenbänder und Sturmwirbel vermischen sich. Der Schatten eines der anderen Monde – der Größe nach Thetys oder Dione – wandert düster über die pastellfarbene Wolkenwüste.

»Sie können mir nicht helfen«, murmelst du kurzatmig. Vergeblich versuchst du dich zu erinnern, was zwischen Bontong und Peruwall geschah. In einer eigentlich nicht messbaren Zeitspanne, die in Wahrheit vier Stunden gedauert hatte.

Vier Stunden, in denen du ...

Die Leere in deinem Schädel, so unheimlich und unerträglich sie ist, dehnt sich aus. Schwärze erfasst deine Wahrnehmung – aber irgendwo glimmt ein winziger, fahler Funke. Von einer unwiderstehlichen Kraft angezogen, glaubst du, darauf zuzustürzen.

Zeitlos ...

Von wohligen Empfindungen geborgen ...

Auch wenn du's nicht in Worte zu fassen vermagst, schwebst du in der Ewigkeit, eingehüllt von einem türkisfarbenen Schimmer und geborgen in einer Sphäre ungeahnten Gleichklangs. Aus dem Nichts heraus materialisierende bunte Schemen huschen vorbei; es ist dir unmöglich, ihre Form zu beschreiben. Sie erscheinen wie Gestalt gewordene Gedanken.