Pestalozzis Berg - Lukas Hartmann - E-Book

Pestalozzis Berg E-Book

Lukas Hartmann

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Beschreibung

Johann Heinrich Pestalozzi, der große Pädagoge, an einem Wendepunkt seines Lebens: Als 1798 das von ihm aufgebaute Waisenhaus in Stans geschlossen und in ein Militärlazarett umgewandelt wird, bricht Pestalozzi zusammen. Das Porträt einer faszinierenden, widersprüchlichen Persönlichkeit.

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Lukas Hartmann

Pestalozzis Berg

Diogenes

Nachdem anfangs 1798 französische Truppen die Eidgenossenschaft besetzt hatten, wurde im April die Helvetische Republik ausgerufen und eine zentralistische Verfassung in Kraft gesetzt, die die Vorrechte des Adels und der Städte abschaffte. Im September erhoben sich die Nidwaldner Bauern gegen die neue Regierung; doch die Franzosen schlugen den Aufstand blutig nieder. Stans wurde geplündert und in Brand gesteckt; zu Dutzenden irrten verwaiste Kinder herum.

Pestalozzi, Ehrenbürger der Französischen Revolution, hatte den Ministern Stapfer und Rengger schon kurz nach dem Umsturz den Plan für eine staatliche Armenanstalt vorgelegt und sie gebeten, ihm deren Leitung zu übertragen. Auf sein Drängen hin beschloss die Regierung, in Stans eine solche Anstalt zur Aufnahme der Waisen zu gründen. Am 7. Dezember zog Pestalozzi in einen baufälligen Flügel des Kapuzinerinnen-Klosters ein. Zeitweise hatte er für achtzig Kinder zu sorgen. Er rieb sich auf im Kampf gegen Kälte und Hunger, gegen Verwahrlosung, Unwissenheit und Verachtung.

Bereits nach einem halben Jahr, im Frühsommer 1799, als das österreichische Heer sich der Zentralschweiz näherte, wurde die Anstalt in ein Militärlazarett verwandelt. Der helvetische Kommissar Zschokke überbrachte den Befehl, das Kloster zu räumen. Pestalozzis Widerstand blieb erfolglos: Er musste, wie Jahre zuvor auf dem Neuhof, die Kinder, die er aufgenommen hatte, wegschicken. An Selbstmord denkend, verließ er Stans. Bei Fellenberg in Hofwil, einem Anhänger seiner Ideen, brach er zusammen. Zehender, der gebildete Gurnigelwirt, bot ihm seine Gastfreundschaft an. Pestalozzi reiste auf den Gurnigel bei Bern, wo sich, mitten in einem Gebirgswald, ein berühmtes Mineralbad befand. In sechswöchiger Abgeschiedenheit erholte sich Pestalozzi allmählich und gewann den Glauben an die revolutionären Möglichkeiten der Volksbildung zurück. Er schrieb den Brief an einen Freund über seinen Aufenthalt in Stans, der, nie abgeschickt, 1807 von einem Mitarbeiter veröffentlicht wurde. Am 23. Juli 1799 trat Pestalozzi eine Stelle als Lehrer an der Armenschule in Burgdorf an; er wollte seine METHODE, mit deren Hilfe er das Volk aus der Unwissenheit zu befreien hoffte, in praktischer Arbeit weiterentwickeln.

Immer langsamer gingen die Pferde. Pestalozzi hörte, wie der Kutscher sie antrieb; die Stimme schien ihm fern und gläsern. In scharfen Kehren führte die Straße aufwärts. Ringsum Wald: dunkle Föhren, ab und zu Buchen. Seit sie im Schatten fuhren, hatte die Hitze nachgelassen; er atmete leichter, obgleich der Polsterstoff unangenehm süßlich roch. Das trübe Fensterchen ließ sich nicht weiter zurückschieben. Im Inneren war’s dämmrig; eine blaugepolsterte, rüttelnde Zelle. Er schaute hinaus und sah, inmitten der abgestuften Grüntöne, Holunderbeeren, gelbleuchtendes Johanniskraut am Wegrand.

Johanniskraut ist gut gegen Krätze und Ausschlag. Man kocht die Blüten in Essigsud, gibt die Essenz zu Hundeschmalz. Ich habe die Kinder ja immer gesalbt, ich habe es an nichts fehlen lassen. Gewaschen, entlaust, gesalbt. Zschokke, was weißt du schon davon? Johanniskraut, Kamille und Salbei. Wir hätten die Stengel in Büscheln aufgehängt und getrocknet. Glaubt mir, noch ein paar Wochen, und wir hätten uns aus eigener Kraft erhalten.

Der Kutscher war vom Bock gestiegen und ging mürrisch, mit schwerfälligen Schritten neben der Kutsche her. Die Pferde schnaubten. Eine halbe Stunde noch, sagte er, halb zu sich, halb zu seinem Passagier.

Pestalozzi drängte sich in seine Ecke; schützend umgaben ihn die Wände.

Draußen eine Lichtung. Ich bin ihr Vater gewesen. Anna, verachte mich nicht. Anna, du hörst mir nicht zu. Ich weiß, das Geld. Ich möchte die Dublonen vor dir ausschütten können, eimerweise, klirrende Kaskaden; du solltest staunen. Aber hetze nicht Jacques gegen mich auf. Ich leide unter seinen Anfällen, Anna, ich leide wie du.

Das Fenster füllte sich mit hellem Gelbgrün, ein Gerstenacker. Brot für die Kinder. Pfundweise schüttete Lisabeth das Mehl in die Mulde, goss Wasser hinzu, knetete Teig, der bis zum Ellbogen an ihren Armen klebte, den kräftigen Mädchenarmen, von denen er träumte, dass sie ihn umfassten, eines Nachts vielleicht, in aller Heimlichkeit. Aber wichtiger war der Esparsettenwuchs. Tausende von lichtgrünen Keimlingen in der neubewässerten Erde, auf die er Mergel gekarrt hatte, um sie zu verbessern. Der Hagel vernichtete die Ernte. Auch dies vernichtet und zerstört.

Pestalozzi hörte Hufgetrappel, Räderrollen, Gelächter. Der Kutscher knallte mit der Peitsche, und der Wagen schwankte zur Seite. Die Reisepost kam ihnen entgegen. Ein gelber Schein, ein offenes Verdeck; Damen mit Hüten; schon verhüllte Staub die Sicht, und die Geräusche entfernten sich. Fluchend trieb der Kutscher die Pferde wieder in die Straßenmitte. Er wandte sich zurück.

Haben sie’s gesehen?, fragte er. Besoffen, alle besoffen. Das ist so Brauch nach der Badekur.

Der Kutscher hatte rötliche Haare, rote Bartstoppeln, unruhige Augen. Solche Menschen kennen nicht einmal das ABC.

Halt!, rief Pestalozzi. Er rüttelte an der Tür. Der Kutscher öffnete sie und starrte ihn verständnislos an. Pestalozzi kletterte hinaus. Nicht nötig, sagte der Kutscher, das letzte Stück ist flacher. Ich steige selber gleich wieder auf.

Pestalozzi schüttelte den Kopf und bestieg, während die Kutsche weiterrollte, mit einiger Mühe den Bock. Verlegen setzte sich der Kutscher neben ihn. Es ist nicht üblich, sagte er, dass die Herren hier sitzen. Pestalozzi schwieg. Der Kutscher ergriff zögernd die Zügel und wollte sie Pestalozzi übergeben. Herrenlaunen; manchmal kam sie die Lust an, Kutscher zu spielen, er kannte das. Pestalozzi wehrte mit einer unwilligen Handbewegung ab.

Wie der Herr will, murmelte der Kutscher. Pestalozzi atmete den Stallgeruch seiner Joppe ein. So roch das Volk. Auch die Kinder hatten gerochen. Anna würde die Nase rümpfen. Anna, du begreifst nicht, dass ich das Volk aus seiner Niederung reißen will, du wirst es nie begreifen. Zwischen Tannenwipfeln sah er den frühsommerlichen Himmel. Wolken durchzogen ihn, er schloss die Augen.

Die Müdigkeit eines halben Jahres, eine laue Wärme, als stocke das Blut. Vor seinen Augen tanzten Funken, zerrannen in goldenen Kreisen, die sich dehnten und platzten; Regenbogenfarben, wenn das Licht sich bricht. Ich habe den Kindern vom großen Newton erzählt. Im Ofen brannten die Scheiter, aber die Bise drang durch alle Ritzen. Wie die Tiere haben wir uns zusammengeschart.

Der Kutscher hustete und spuckte. Pestalozzi schielte zur Seite. Der Kutscher rückte auf seinem Sitz zurecht, er spreizte die Beine mit den strammgezogenen Hosen; das eine Knie berührte Pestalozzis Oberschenkel. Obwohl die Berührung leicht war, schmerzte sie ihn ihrer Plötzlichkeit wegen.

Der Kutscher schnaufte mit pfeifendem Geräusch durch die Nase. Pestalozzi presste seine Hände gegen die Ohren. Das Rauschen des Bluts. Ein weiterer Wagen kreuzte den ihren, lautlos diesmal, als schwebten die Pferde samt Kutsche durch grüne und blaue Dämmerung.

Der Wald öffnete sich, und der Hang ging in ein Plateau über. Vor seinem Blick stand ein langgestrecktes Gebäude, das aus mehreren ineinandergeschachtelten Teilen bestand. Unter alten Bäumen, halb versteckt, weitere Gebäude, zum Teil aus Holz gebaut.

Ruhe, ich will nur meine Ruhe.

 

Die Kutsche bog, nach der letzten Steigung, mit knirschenden Rädern auf die bekieste Terrasse ein. Zehender stand graugekleidet vor einer Seitentür, neben Kübeln, in denen Pflanzen mit schwertförmigen Blättern wuchsen. Leute gingen über den Platz, in Gespräche vertieft; die Damen trugen Sonnenschirme. Von irgendwoher klang Gelächter.

Willkommen im Gurnigel, rief Zehender, als die Kutsche vor ihm hielt. Pestalozzi kletterte, von Zehenders Hand geführt, hinunter. Er fühlte sich schwindlig; es bedrückte ihn, dass die Sonne so ungehindert schien. Aus dem Licht trat er in den Schatten, den die Hausfront warf.

Gut gereist?, fragte Zehender.

Pestalozzi nickte verwirrt.

Wo haben Sie Ihr Gepäck?

Der Kutscher hob aus dem Gepäckkasten einen verschlossenen Reisesack und stellte ihn neben Pestalozzis Füße.

Ist das alles?

Der Kutscher nickte. Er blieb vor ihnen stehen, die Hände in die Hüften gestemmt.

Er kann gehen. Zehender deutete auf die Stallungen jenseits des Platzes.

Der Kutscher kehrte mit einer plötzlichen Bewegung den Herren den Rücken zu, löste die Bremse und packte das Pferd neben ihm am Halfter. Es warf ein paarmal den Kopf hin und her; wiehernd begann es zu ziehen; das andere trottete gehorsam mit.

Soll ich Ihnen zuerst Ihr Zimmer zeigen?, fragte Zehender. Es liegt auf der Sonnenseite. Ein separiertes Zimmer übrigens, da Sie ja Ruhe suchen. Er ergriff Pestalozzis Reisesack und ging ihm voran die Stufen der Freitreppe hinauf zur Tür, die halb offen stand und in eine holzgetäfelte Eingangshalle führte.

In diesem Flügel, sagte Zehender, haben wir im Augenblick nur sehr wenig Gäste. Im Hauptteil sind etwa fünfzig untergebracht, darunter auch Franzosen, trotz des Krieges.

Franzosen?

Geschäftsleute aus Lyon, aus Dijon, sogar aus Paris. Die Revolution hat die reichen Bürger noch reicher gemacht.

Sie gingen eine breite, mit roten Teppichen belegte Treppe hinauf. Gänge, Zimmerfluchten, auf der anderen Seite eine Art gedeckte Galerie, die der hintern Fassade entlanglief. Er nahm Gobelins in verblassten Farben wahr, Kommoden mit Silberbeschlägen. Der einzige Mensch, der ihnen begegnete, war ein Zimmermädchen, das sich mit kaum vernehmlichem Gruß an ihnen vorbeidrückte.

Am Ende eines Ganges öffnete Zehender eine unverschlossene Tür. Das Zimmer war angenehm in seinen Maßen, karg, doch ausreichend möbliert; ans Fenster geschoben ein Bett mit einladend gewölbtem Duvet.

Hier will ich liegen, und die Tage sollen lautlos verstreichen, einer wie der andere.

Zehender stellte das Gepäck vor den Schrank. Er deutete aufs Waschgeschirr. Ich werde dafür sorgen, dass Sie ständig frisches Wasser aus der obern Quelle haben. Behagt Ihnen der Raum? Pestalozzi nickte. Kühles, linderndes Wasser. Als Kind war er mit Fieber im Bett gelegen, und Barbara, die Magd, hatte ihm Umschläge gemacht. Ihre Hände, vor denen er sich sonst fürchtete, waren sanft und rücksichtsvoll. Sie tränkten das Tuch im Kamillensud und breiteten es über seine Stirn; der Kamillengeruch brachte in das verdunkelte Zimmer die Erinnerung an die Sommertage beim Großvater in Höngg. Er lag in lauem Schweiß; durchs Halbdunkel wanderten Gestalten, mit denen er sprach. Barbara hatte die Fenster mit Tüchern verhängt, damit keine frische Luft hereindrang; Durchzug war schädlich.

Schon eine Weile redete Zehender. Ich nehme an, Sie wollen sich das Essen aufs Zimmer bringen lassen. Wenn Sie aber einmal Gesellschaft vorziehen sollten, sind Sie im Speisesaal herzlich willkommen. Ich esse wenig, sagte Pestalozzi, ich vertrage nur einfache Speisen.

Ich möchte Ihnen das Haus zeigen, sagte Zehender, es ist weitläufig. Sie können sich leicht verirren. Pestalozzi schwieg; Zehender räusperte sich. Wie gefällt Ihnen die Aussicht? Pestalozzi trat ans Fenster: Wälder, so weit das Auge reichte. So viel Grün machte ihm Angst. Mit Mühe nahm er, in großer Entfernung, helle Flächen wahr, die sich mosaikartig ineinanderschoben. Es gibt auch Felder, sagte er.

Der Jura liegt heute im Dunst, sagte Zehender. Es heißt, das schöne Wetter halte an.

Sie gingen hinaus. Pestalozzi folgte seinem Wirt durch weitere Gänge.

Das Gehen auf Teppichen war ihm ungewohnt; von Schritt zu Schritt hatte er die unbehagliche Empfindung, einzusinken und wie in einem Moor festgehalten zu werden, ein Gefangener des riesigen Hauses. Der Speisesaal war leer und sah so kalt und leblos aus, als würde er nicht mehr benützt.

Wir haben drei Speisesäle, sagte Zehender. Dieser ist für die vermögenden Gäste bestimmt. Auch der große Gesellschaftsraum steht ihnen zur Verfügung; er dient zur Belustigung am Abend. Wir haben stets ein paar Musikanten hier, die zum Tanz aufspielen. Kürzlich habe ich ein Billard angeschafft, das großen Anklang findet, und vielleicht haben Sie draußen die Kegelbahn bemerkt.

Die gedeckten Tische glichen Bahren. Hinter der Fensterfront drohte der Wald. An der einen Wand hingen, in vergoldeten Rahmen, Porträts, Gesichter unter Lockenperücken; der dunkle Hintergrund ließ sie wächsern erscheinen. Pestalozzi vermied es, sie anzusehen; eines der Gesichter erinnerte ihn an Anna. Diese sauertöpfische Pedanterie. Dein vergeblicher Kampf gegen den Schmutz; Erde an meinen Schuhen, verschütteter Kaffee, verschüttete Suppe, Tintenflecke auf Ärmeln und Hosen; die schwarzen Fingernägel, die ungekämmten Haare. Dieses ewige Reiben, Putzen, Säubern. Ich kann mich nicht sauber halten. Aber Schmutz ist fruchtbar, Anna. Wenn ich endlich Bauer sein dürfte, ein einfacher Bauer, dann wäre mir geholfen.

Zehender führte ihn zu den Badestuben im Erdgeschoss. Hinter den verschlossenen Türen erklang Stimmengewirr, vermischt mit Plätschern und Gelächter.

Die meisten Gäste, sagte Zehender, nehmen um diese Zeit das Nachmittagsbad. Das Wasser der Stockbrunnenquelle wird, wie Sie draußen sehen können, in hölzernen Röhren hierher geleitet und, sofern der Gast dies wünscht, im Ofen erwärmt, bevor es in den Badkasten fließt. Den meisten ist’s angenehmer, in Gesellschaft zu baden als allein; deshalb befinden sich in jeder Stube achtzehn Kästen, wobei durch spanische Wände dem sittlichen Empfinden Genüge getan wird. Ein tägliches Bad wäre heilsam für Sie, Herr Pestalozzi; es beruhigt die erregten Nerven, noch besser wäre es, mit Regelmäßigkeit vom Quellwasser zu trinken. Zehenders Stimme klang scharf und fordernd. Pestalozzi schüttelte den Kopf.

Barbara hatte ihn am Samstag jeweils geschrubbt von Kopf bis Fuß, mit Seife und Bürste; er saß im hölzernen Zuber, umflossen von Wasser, das ihm kochend heiß schien; er klagte leise vor sich hin, verstummte, wenn die Qual nachließ. Nachher lag er mit krebsroter, brennender Haut im Bett, weinend vor ohnmächtigem Zorn.

Sie standen draußen. Pestalozzi hörte den Wind in den Baumwipfeln und wieder, halb verweht vom Wind, das Gelächter, schrill diesmal, mit lüsternen Untertönen. Zehender wies auf die Holzgebäude im Schatten der Eichen. Wir haben eine eigene Bäckerei und ein kleines Schlachthaus, sagte er. Es ist uns daran gelegen, die Ansprüche der Gäste zu befriedigen. Sehen Sie den Weg dort? Er führt durch ein Stück Wald und über Alpenweiden zu unsern beiden Quellen. Während das Schwarzbrunnenwasser schwefelhaltig ist, enthält das Stockbrunnenwasser heilkräftige Mineralien wie Natrium und Magnesia. Wir haben vor allem Erfolg bei Gichtbrüchigen und Magenkranken vorzuweisen; das Stockbrunnenwasser wirkt aber auch gegen Melancholie.

Gäste gingen vorüber; mit kaum verhohlener Neugierde musterten sie den Neuankömmling.

Wenn Sie den Spaziergang zum Schwarzbrünnlein nicht scheuen, sagte Zehender, sollten Sie dort ein Tropfbad nehmen, wie es die Bauern aus der Umgebung tun. Überhaupt müssten Sie fleißig spazieren gehen, um tiefgreifend auf den erschöpften Organismus einzuwirken. Wir haben, den Wegen entlang, Ruhebänke für unsere Gäste aufgestellt. Aber ich sehe, Sie sind matt, und ich schwatze. Kommen Sie, ich bringe Sie aufs Zimmer zurück.

 

Er fand sich allein in seinem Zimmer; wie er hingekommen war, wusste er nicht mehr. Eine Weile saß er auf dem Bett und betrachtete die Maserung des dunkel gebeizten Holztäfers. Das Atmen machte ihm Mühe; die Erkältung, die er sich in den ungeheizten Klostergängen geholt hatte, wollte seit Monaten nicht ausheilen. Er hustete; spürte die Stiche in seiner Brust. Warum nicht sterben am Blutsturz?

Die Luft im Zimmer erschien ihm dumpf und stickig. Er öffnete das Fenster. Der leichte Wind, der hereinströmte, kühlte ihm das Gesicht. Die Wälder waren dunkler geworden; regungslos stand die Sonne über dem Horizont; sie hatte die Farbe vernichtender Glut. Mit Jacques war er zum Tümpel gegangen und hatte ihm die raubgierigen Libellen gezeigt. Libellen, die Larven der Köcherfliege, Frösche mit flinken Zungen. Jacques weinte, als der Störmetzger im Neuhof den Schafen den Schädel spaltete und ihr Blut das Fell besudelte. Er weinte, wenn eines der aufgenommenen Bettelkinder ihn unsanft berührte. Jacques, du bist so schwach, so schreckhaft, ein Schürzenzipfelkind, wie ich es gewesen bin. Deine Augen blicken durstig; ich verstehe, was sie fordern. So viele Züge Annas: das Zögernde und Wankelmütige; ihre Kraft fehlt dir jedoch, die Kraft, die ihr zufließt, wenn ich versagt habe, die Kraft, die sie aufbringt, um mich mit Schelt- und Trostworten aus dem Elend zu ziehen. Ich könnte dich hassen, Anna, und ich fürchte mich vor meinem Hass.

Er begann zu frieren. Ein Schwarm Dohlen kreiste über den Tannen. In der Nähe sprachen Leute miteinander; aber er sah und verstand sie nicht. Er schloss das Fenster und legte sich in den Kleidern aufs Bett. Frierend zog er die Decke bis zum Kinn und rollte sich, mit angezogenen Knien, auf die Seite, wie er’s als Kind getan hatte. In den Füßen dieses Gefühl eisiger Erstarrung, als ob sie sich von ihm gelöst hätten.

 

So war er, im Dezember, durch Stans gegangen. Die helvetische Regierung hatte seinem hartnäckigen Drängen endlich nachgegeben, Stapfer, der Erziehungsminister, ihn beauftragt, die verwaisten Stanser Kinder zu betreuen und an ihnen seine Methode zu erproben.

Das Dorf war verwüstet; die Franzosen hatten sich gründlich gerächt. Nur wenige Häuser waren unversehrt geblieben. Ausgebrannte Ruinen und Balkenskelette hoben sich vom frisch gefallenen Schnee ab. Hier und dort bellte ein Hund. Er sah unzählige Fußspuren; aber das Leben schien sich vor ihm zu verbergen. Er galt als Kollaborateur, als Verräter, der die Partei der Unterdrücker ergriffen hatte. Er suchte nach den Kindern, zu deren Vater man ihn ernannt hatte. Ab und zu ein Schatten, der vorbeiglitt, hinter einer Mauer verschwand, die Ahnung einer zwerghaften Gestalt, eines hellen Gesichts.

Ich gebe euch Suppe und warme Kleider. Seine Stimme widerhallte von den zerstörten Mauern. Die Luft roch nach erkalteter Asche. Er bestieg eine Anhöhe. Wie ein erblindeter Spiegel lag der See vor ihm. Aus einer Ruine stieg Rauch auf. Jemand lachte, nicht fröhlich, eher angstvoll und verloren. Ein Kind? Auf einmal schien ihm, aus allen Mauern dringe Flüstern und Wispern. Er horchte angestrengt; aber die Wortfetzen, die er zu verstehen glaubte, ergaben keinen Sinn.

Man hatte den baufälligen Flügel des Klosters zur Armenanstalt bestimmt. Auch hier Spuren des niedergeschlagenen Aufstands. Fast sämtliche Fensterscheiben waren zerbrochen. An der Vorderfront stand ein Holzgerüst. Stapfer hatte versprochen, das Kloster in kürzester Zeit auf Regierungskosten wiederherstellen zu lassen. Die Nonnen, die den unversehrten Teil bewohnten, hatten Pestalozzi mit freundlicher Gleichgültigkeit empfangen. Einzig Truttmann, der Klostergeistliche, hatte ihm Beistand zugesagt.

Pestalozzi ging durch die hohen, hallenden Gänge, maß – er wusste nicht zum wievielten Mal – mit seinen Schritten die Räume aus, in denen er die Kinder versammeln wollte, um sie aus ihrer bettelhaften Verkommenheit zu erlösen. Die Menschen bilden. Ich will sie versammeln um mich und an ihrer Wärme genesen.

In den Räumen war es bitterkalt; der Wind blies durch ungezählte Spalten und Risse. Von der Decke rieselte Verputz. Kein Ofen, kein Herd, kein Mobiliar. In einer Ecke war Stroh angehäuft, das ihm Truttmann verschafft hatte. Pestalozzi nahm einen Arm voll nach dem andern und breitete es über den Boden aus. Wenigstens dies, ein paar Armvoll Wärme, ein wenig Schutz. Er schlug seine Hände gegeneinander, damit das Blut in sie zurückkehrte; doch sie blieben bis zu den Knöcheln leblos wie die Füße in den städtischen Schuhen, die ihm Stapfer als Geschenk aufgedrängt hatte.

Im größten Raum, dem ehemaligen Refektorium, gab es einen Kamin mit geborstenem Mantel. Pestalozzi las draußen im Schnee, bei den Obstbäumen, abgebrochene Zweige auf. Mit Mühe gelang es ihm, Feuer zu schlagen. Er benützte beschriebene Blätter aus seinem Gepäck als Zunder; etwas anderes war nicht zu finden. Das feuchte Holz fing erst nach mehreren Versuchen Feuer. Der Rauch zog schlecht ab und erfüllte den Raum mit beißendem Geruch. Pestalozzi kniete vor dem Kamin und blies ins Feuer; er blies, bis ihm schwarz vor den Augen wurde. Er hielt seine Hände so nahe an die Flammen, dass sie die Haare versengten; doch er empfand keinerlei Schmerz. Das schwache Feuer vertrieb die Kälte nicht.

Es klopfte an die Tür. Im Zimmer war’s dunkel. Pestalozzi richtete sich angstvoll im Bett auf.

Wer ist da? Die Tür öffnete sich; von einem Windlicht fiel ein heller Schein ins Zimmer. Kathrin? Konnte es sein? Diese schlanke, fast magere Silhouette, die leichte Neigung des Kopfes. Sie trat ein; die Kerze beleuchtete ihr Gesicht. Er erkannte das Mädchen, dem sie im Gang begegnet waren; enttäuscht sank er in die Kissen zurück.

Soll ich Licht machen?, fragte sie. Pestalozzi nickte. Sie zündete die Öllampe am Kopfende des Bettes an. Sie war jung, vielleicht siebzehn; schüchtern blickte sie an ihm vorbei.

Wollt Ihr essen?

Ich bin nicht hungrig, sagte Pestalozzi.

Einen Teller Suppe vielleicht?

Er nickte. Ich friere, sagte er.

Ich bringe Euch eine Wärmflasche, sagte das Mädchen. Wenn Ihr wollt, kann ich das Zimmer heizen. Mit unbewegter Miene strich sie die Bettdecke glatt. Einen Augenblick lang spürte er ihre Hand auf seinem Schenkel.

Ich bin krank, sagte er.

Sie zog ihm das Kissen mit nachdrücklicher Sanftheit unter dem Kopf weg, schüttelte es, schob es zurück. Ich bringe Euch Lindenblütentee, sagte sie, der vertreibt das Fieber.

Wie heißt du?, fragte Pestalozzi.

Mädi.

So heißt meine Schwiegertochter.

Sie lächelte. Mein Vater ist Korber in Guggisberg.

Mein Vater war Chirurg, sagte Pestalozzi. Ich weiß nicht mehr, wie er ausgesehen hat.

Ist er früh gestorben?

Ich war sechs. Es sind viele gestorben, die um mich waren.

Sie blieb vor ihm stehen.

Mädi, sagte er, leg deine Hand auf meine Stirn, es wird mir guttun.

Sie gehorchte zögernd; ihre Hand war angenehm kühl, fast gewichtlos.

Mein Kopf ist erhitzt, sagte Pestalozzi, und die Füße sind wie Eis.

Das macht das Fieber.

Ich wollte nicht mehr leben. Sie haben mir die Kinder weggenommen. Ich will dir’s erzählen, wenn ich bei klarem Verstand bin. Er schwieg; das Mädchen ging hinaus. Die Stelle, wo ihre Hand gelegen hatte, begann zu brennen. Auch Kathrins Hände hatten ihn berührt, schmalfingrige, bräunliche Hände, die den durchlöcherten Ärmeln entschlüpften. Zu dir darf ich nicht zurückgehen. Dein zusammengerollter Körper auf dem Stroh unter all den Schlafenden. Du bist so mager gewesen, so hinfällig zart und widerstandslos. Ein verschattetes Gesicht; meine Worte haben es manchmal aufzuhellen vermocht. Und die Augen? Goldbraun wie Bernstein? Vielleicht. Die Bilder zerfließen. Ich bin krank. Man verachtet mich. Anna hat mein Scheitern jedes Mal vorausgesagt; alles ist mir misslungen. Wohin soll ich jetzt gehen?

Er versuchte zu schlafen, bis das Mädchen wiederkam. Durchs Haus tönten Schritte, manchmal dumpf, manchmal hell. Die Müdigkeit in allen Gliedern, ziehende Schmerzen. Er geriet in einen Zustand des Halbschlafs, in dem er alle Regungen geschärft wahrnahm, obschon er sie nicht mehr zu benennen vermochte. Knistern und Knacken im Holz, Getrappel, eine grollende Stimme, die Befehle zu erteilen schien. Diese unendliche Müdigkeit.