Peter Schlemihls wundersame Geschichte - Adelbert von Chamisso - E-Book + Hörbuch

Peter Schlemihls wundersame Geschichte Hörbuch

Adelbert von Chamisso

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Beschreibung

Klassenlektüre und Textarbeit einfach gemacht: Die Reihe Reclam XL – Text und Kontext erfüllt alle Anforderungen an Schullektüre und Bedürfnisse des Deutschunterrichts: * Schwierige Wörter werden am Fuß jeder Seite erklärt, ausführlichere Wort- und Sacherläuterungen stehen im Anhang. * Zusatz-Materialien im Anhang erleichtern das Verständnis des Werkes und liefern Impulse für Diskussionen im Unterricht: zu Quellen und Stoff, Biographie des Autors, Epoche und Rezeptionsgeschichte. Chamissos 1814 entstandene "phantastische Novelle" (Thomas Mann) erzählt die Geschichte Peter Schlemihls, der seinen Schatten für einen nie versiegenden Sack Gold verkauft, infolgedessen, statt glücklich zu werden, aus der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen wird und seitdem ruhelos mit Siebenmeilenstiefeln die Welt durchwandert, um die Natur zu erforschen. Die Bände von Reclam XL sind im Textteil seiten- und zeilenidentisch mit den gelben Ausgaben der Universal-Bibliothek. UB- und XL-Ausgaben sind also nicht nur im Unterricht nebeneinander verwendbar – es passen auch alle Lektüreschlüssel, Erläuterungsbände und Interpretationen dazu. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

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Zeit:1 Std. 6 min

Sprecher:Heiner Heusinger

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Adelbert von Chamisso

Peter Schlemihls wundersame Geschichte

Herausgegeben von Florian Gräfe

Reclam

Der Text dieser Ausgabe ist seiten- und zeilengleich mit der Ausgabe der Universal-Bibliothek Nr. 93. Er wurde auf der Grundlage der gültigen amtlichen Rechtschreibregeln orthographisch behutsam modernisiert.

 

Zu Chamissos Peter Schlemihl gibt es bei Reclam:

– Erläuterungen und Dokumente (Nr. 8158)

– eine Interpretation in: Erzählungen und Novellen des 19. Jahrhunderts in der Reihe »Interpretationen« (Nr. 8413)

 

2., durchgesehene und erweiterte Ausgabe

 

2014, 2020 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2020

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-960588-3

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019439-3

www.reclam.de

Inhalt

An meinen alten Freund Peter SchlemihlPeter Schlemihls wundersame GeschichteIIIIIIIVVVIVIIVIIIIXXXIAn Adelbert von ChamissoVorrede des HerausgebersAnhang1. Zur Textgestalt2. Anmerkungen3. Leben und Zeit4. Zur Entstehung der Novelle 18135. Peter Schlemihl als Spiegelung des Autors5.1 Methodische Probleme herkömmlicher biographischer Deutung5.2 Deutungshinweise des Autors6. Zur Bedeutung des Schattens6.1 Der Schatten als Interpretationshilfe für den Charakter eines Menschen: Die Physiognomik6.2 Der Schatten als »gesellschaftliches Existenzrecht«7. Zur Gattung7.1 »Phantastische Novelle«: Thomas Mann7.2 »Übergewicht der Wirklichkeit« gegenüber den »herkömmlichen Märchenrequisiten«: Ernst Loeb7.3 »Wirklichkeitsmärchen«: Paul-Wolfgang Wührl8. Peter Schlemihl und die Romantik8.1 »Unbehagen an der Normalität«: Rüdiger Safranski8.2 »Die Welt muss romantisiert werden«: Novalis»Blütenstaub«-Fragmente. 77. Fragment (1798)8.3 Peter Schlemihl – »ein Unikat«: Peter von Matt9. Abbildungen des Peter Schlemihl10. LiteraturhinweiseAnzeige

[3]An meinen alten Freund Peter Schlemihl

Da fällt nun deine Schrift nach vielen Jahren

Mir wieder in die Hand, und – wundersam! –

Der Zeit gedenk ich, wo wir Freunde waren,

Als erst die Welt uns in die Schule nahm.

Ich bin ein alter Mann in grauen Haaren,

Ich überwinde schon die falsche Scham,

Ich will mich deinen Freund wie ehmals nennen

Und mich als solchen vor der Welt bekennen.

Mein armer, armer Freund, es hat der Schlaue

Mir nicht, wie dir, so übel mitgespielt;

Gestrebet hab ich und gehofft ins Blaue,

Und gar am Ende wenig nur erzielt;

Doch schwerlich wird berühmen sich der Graue,

Dass er mich jemals fest am Schatten hielt;

Den Schatten hab ich, der mir angeboren,

Ich habe meinen Schatten nie verloren.

Mich traf, obgleich unschuldig wie das Kind,

Der Hohn, den sie für deine Blöße hatten. –

Ob wir einander denn so ähnlich sind?! –

Sie schrien mir nach: Schlemihl, wo ist dein Schatten?

Und zeigt ich den, so stellten sie sich blind

Und konnten gar zu lachen nicht ermatten.

Was hilft es denn! man trägt es in Geduld,

Und ist noch froh, fühlt man sich ohne Schuld.

Und was ist denn der Schatten? möcht ich fragen,

Wie man so oft mich selber schon gefragt,

So überschwänglich hoch es anzuschlagen,

Wie sich die arge Welt es nicht versagt?

Das gibt sich schon nach neunzehntausend Tagen,

Die, Weisheit bringend, über uns getagt;

Die wir dem Schatten Wesen sonst verliehen,

Sehn Wesen jetzt als Schatten sich verziehen.

[4]Wir geben uns die Hand darauf, Schlemihl,

Wir schreiten zu, und lassen es beim Alten;

Wir kümmern uns um alle Welt nicht viel,

Es desto fester mit uns selbst zu halten;

Wir gleiten so schon näher unserm Ziel,

Ob jene lachten, ob die andern schalten,

Nach allen Stürmen wollen wir im Hafen

Doch ungestört gesunden Schlafes schlafen.

Berlin, August 1834

Adelbert von Chamisso

An Julius Eduard Hitzig von Adelbert von Chamisso

Du vergissest niemanden, Du wirst Dich noch eines gewissen Peter Schlemihls erinnern, den Du in früheren Jahren ein paar Mal bei mir gesehen hast, ein langbeiniger Bursch, den man ungeschickt glaubte, weil er linkisch war, und der wegen seiner Trägheit für faul galt. Ich hatte ihn lieb – Du kannst nicht vergessen haben, Eduard, wie er uns einmal in unserer grünen Zeit durch die Sonette lief, ich brachte ihn mit auf einen der poetischen Tees, wo er mir noch während des Schreibens einschlief, ohne das Lesen abzuwarten. Nun erinnere ich mich auch eines Witzes, den Du auf ihn machtest. Du hattest ihn nämlich schon, Gott weiß wo und wann, in einer alten schwarzen Kurtka gesehen, die er freilich damals noch immer trug, und sagtest: »der ganze Kerl wäre glücklich zu schätzen, wenn seine Seele nur halb so unsterblich wäre, als seine Kurtka.« – So wenig galt er bei Euch. – Ich hatte ihn lieb. – Von diesem Schlemihl nun, den ich seit langen Jahren aus dem Gesicht verloren hatte, rührt das Heft her, das ich Dir mitteilen will. – Dir nur, Eduard, meinem nächsten, innigsten Freunde, meinem bessren Ich, vor dem ich kein [5]Geheimnis verwahren kann, teil ich es mit, nur Dir und, es versteht sich von selbst, unserm Fouqué, gleich Dir in meiner Seele eingewurzelt – aber in ihm teil ich es bloß dem Freunde mit, nicht dem Dichter. – Ihr werdet einsehen, wie unangenehm es mir sein würde, wenn etwa die Beichte, die ein ehrlicher Mann im Vertrauen auf meine Freundschaft und Redlichkeit an meiner Brust ablegt, in einem Dichterwerke an den Pranger geheftet würde, oder nur wenn überhaupt unheilig verfahren würde, wie mit einem Erzeugnis schlechten Witzes, mit einer Sache, die das nicht ist und sein darf. Freilich muss ich selbst gestehen, dass es um die Geschichte schad ist, die unter des guten Mannes Feder nur albern geworden, dass sie nicht von einer geschickteren fremden Hand in ihrer ganzen komischen Kraft dargestellt werden kann. – Was würde nicht Jean Paul daraus gemacht haben! – Übrigens, lieber Freund, mögen hier manche genannt sein, die noch leben; auch das will beachtet sein. –

Noch ein Wort über die Art, wie diese Blätter an mich gelangt sind. Gestern früh bei meinem Erwachen gab man sie mir ab – ein wunderlicher Mann, der einen langen grauen Bart trug, eine ganz abgenützte schwarze Kurtka anhatte, eine botanische Kapsel darüber umgehangen, und bei dem feuchten, regnichten Wetter Pantoffeln über seine Stiefel, hatte sich nach mir erkundigt und dieses für mich hinterlassen; er hatte, aus Berlin zu kommen, vorgegeben. – – –

 

  Kunersdorf, den 27. Sept. 1813

Adelbert von Chamisso

 

  P. S. Ich lege Dir eine Zeichnung bei, die der kunstreiche Leopold, der eben an seinem Fenster stand, von der auffallenden Erscheinung entworfen hat. Als er den Wert, den ich auf diese Skizze legte, gesehen hat, hat er sie mir gerne geschenkt.*

[6]An Ebendenselben von Fouqué

Bewahren, lieber Eduard, sollen wir die Geschichte des armen Schlemihl, dergestalt bewahren, dass sie vor Augen, die nicht hineinzusehen haben, beschirmt bleibe. Das ist eine schlimme Aufgabe. Es gibt solcher Augen eine ganze Menge, und welcher Sterbliche kann die Schicksale eines Manuskriptes bestimmen, eines Dinges, das beinah noch schlimmer zu hüten ist, als ein gesprochenes Wort. Da mach ich’s denn wie ein Schwindelnder, der in der Angst lieber gleich in den Abgrund springt: ich lasse die ganze Geschichte drucken.

Und doch, Eduard, es gibt ernstere und bessere Gründe für mein Benehmen. Es trügt mich alles, oder in unserm lieben Deutschlande schlagen der Herzen viel, die den armen Schlemihl zu verstehen fähig sind und auch wert, und über manch eines echten Landsmannes Gesicht wird bei dem herben Scherz, den das Leben mit ihm, und bei dem arglosen, den er mit sich selbst treibt, ein gerührtes Lächeln ziehn. Und Du, mein Eduard, wenn Du das grundehrliche Buch ansiehst, und dabei denkst, dass viele unbekannte Herzensverwandte es mit uns lieben lernen, fühlst auch vielleicht einen Balsamtropfen in die heiße Wunde fallen, die Dir und allen, die Dich lieben, der Tod geschlagen hat.

Und endlich: es gibt – ich habe mich durch mannichfache Erfahrung davon überzeugt – es gibt für die gedruckten Bücher einen Genius, der sie in die rechten Hände bringt, und, wenn nicht immer, doch sehr oft die unrechten davon abhält. Auf allen Fall hat er ein unsichtbares Vorhängschloss vor jedwedem echten Geistes- und Gemütswerke, und weiß mit einer ganz untrüglichen Geschicklichkeit auf- und zuzuschließen.

Diesem Genius, mein sehr lieber Schlemihl, vertraue ich Dein Lächeln und Deine Tränen an, und somit Gott befohlen!

 

  Nennhausen, Ende Mai 1814

Fouqué

[7]An Fouqué von Hitzig

Da haben wir denn nun die Folgen Deines verzweifelten Entschlusses, die Schlemihlshistorie, die wir als ein bloß uns anvertrautes Geheimnis bewahren sollten, drucken zu lassen, dass sie nicht allein Franzosen und Engländer, Holländer und Spanier übersetzt, Amerikaner aber den Engländern nachgedruckt, wie ich dies alles in meinem »Gelehrten Berlin«des Breiteren gemeldet; sondern, dass auch für unser liebes Deutschland eine neue Ausgabe, mit den Zeichnungen der englischen, die der berühmte Cruikshank nach dem Leben entworfen, veranstaltet wird, wodurch die Sache unstreitig noch viel mehr herum kommt. Hielte ich Dich nicht für Dein eigenmächtiges Verfahren (denn mir hast Du 1814 ja kein Wort von der Herausgabe des Manuskripts gesagt) hinlänglich dadurch bestraft, dass unser Chamisso bei seiner Weltumsegelei, in den Jahren 1815 bis 1818, sich gewiss in Chile und Kamtschatka, und wohl gar bei seinem Freunde, dem seligen Tameiamaia auf O-Wahu darüber beklagt haben wird, so forderte ich noch jetzt öffentlich Rechenschaft darüber von Dir.

Indes – auch hievon abgesehen – geschehn ist geschehn, und Recht hast Du auch darin gehabt, dass viele, viele Befreundete in den dreizehn verhängnisvollen Jahren, seit es das Licht der Welt erblickte, das Büchlein mit uns lieb gewonnen. Nie werde ich die Stunde vergessen, in welcher ich es Hoffmann zuerst vorlas. Außer sich vor Vergnügen und Spannung, hing er an meinen Lippen, bis ich vollendet hatte; nicht erwarten konnte er, die persönliche Bekanntschaft des Dichters zu machen, und, sonst jeder Nachahmung so abhold, widerstand er doch der Versuchung nicht, die Idee des verlornen Schattens in seiner Erzählung: »Die Abenteuer der Sylvesternacht«*, durch das [8]verlorne Spiegelbild des Erasmus Spikher, ziemlich unglücklich zu variieren. Ja – unter die Kinder hat sich unsre wundersame Historie ihre Bahn zu brechen gewusst; denn als ich einst, an einem hellen Winterabend, mit ihrem Erzähler die Burgstraße hinaufging, und er einen über ihn lachenden, auf der Glitschbahn beschäftigten Jungen unter seinen Dir wohlbekannten Bärenmantel nahm und fortschleppte, hielt dieser ganz stille; da er aber wieder auf den Boden niedergesetzt war, und in gehöriger Ferne von den, als ob nichts geschehen wäre, Weitergegangenen, rief er mit lauter Stimme seinem Räuber nach: »Warte nur, Peter Schlemihl!«

So, denke ich, wird der ehrliche Kauz auch in seinem neuen, zierlichen Gewande viele erfreuen, die ihn in der einfachen Kurtka von 1814 nicht gesehen; diesen und jenen aber es außerdem noch überraschend sein, in dem botanisierenden, weltumschiffenden, ehemals wohlbestallten Königlich Preußischen Offizier, auch Historiographen des berühmten Peter Schlemihl, nebenher einen Lyriker kennen zu lernen,* der, er möge malaiische oder litauische Weisen anstimmen, überall dartut, dass er das poetische Herz auf der rechten Stelle hat.

Darum, lieber Fouqué, sei Dir am Ende denn doch noch herzlich gedankt für die Veranstaltung der ersten Ausgabe, und empfange mit unsern Freunden meinen Glückwunsch zu dieser zweiten.

 

  Berlin, im Januar 1827

Eduard Hitzig

[9]Peter Schlemihlswundersame Geschichte

I

Nach einer glücklichen, jedoch für mich sehr beschwerlichen Seefahrt, erreichten wir endlich den Hafen. Sobald ich mit dem Boote ans Land kam, belud ich mich selbst mit meiner kleinen Habseligkeit, und durch das wimmelnde Volk mich drängend, ging ich in das nächste, geringste Haus hinein, vor welchem ich ein Schild hängen sah. Ich begehrte ein Zimmer, der Hausknecht maß mich mit einem Blick und führte mich unters Dach. Ich ließ mir frisches Wasser geben, und genau beschreiben, wo ich den Herrn Thomas John aufzusuchen habe: – »Vor dem Nordertor, das erste Landhaus zur rechten Hand, ein großes, neues Haus, von rot und weißem Marmor mit vielen Säulen.« Gut. – Es war noch früh an der Zeit, ich schnürte sogleich mein Bündel auf, nahm meinen neu gewandten schwarzen Rock heraus, zog mich reinlich an in meine besten Kleider, steckte das Empfehlungsschreiben zu mir, und setzte mich alsbald auf den Weg zu dem Manne, der mir bei meinen bescheidenen Hoffnungen förderlich sein sollte.

Nachdem ich die lange Norderstraße hinaufgestiegen, und das Tor erreicht, sah ich bald die Säulen durch das Grüne schimmern – »also hier«, dacht ich. Ich wischte den Staub von meinen Füßen mit meinem Schnupftuch ab, setzte mein Halstuch in Ordnung, und zog in Gottes Namen die Klingel. Die Tür sprang auf. Auf dem Flur hatt ich ein Verhör zu bestehn, der Portier ließ mich aber anmelden, und ich hatte die Ehre, in den Park gerufen zu werden, wo Herr John – mit einer kleinen Gesellschaft sich erging. Ich erkannte gleich den Mann am Glanze seiner wohlbeleibten Selbstzufriedenheit. Er empfing mich sehr gut – wie ein Reicher einen armen Teufel, wandte sich [10]sogar gegen mich, ohne sich jedoch von der übrigen Gesellschaft abzuwenden, und nahm mir den dargehaltenen Brief aus der Hand. – »So, so! von meinem Bruder, ich habe lange nichts von ihm gehört. Er ist doch gesund? – Dort«, fuhr er gegen die Gesellschaft fort, ohne die Antwort zu erwarten, und wies mit dem Brief auf einen Hügel, »dort lass ich das neue Gebäude aufführen.« Er brach das Siegel auf und das Gespräch nicht ab, das sich auf den Reichtum lenkte. »Wer nicht Herr ist wenigstens einer Million«, warf er hinein, »der ist, man verzeihe mir das Wort, ein Schuft!« »O wie wahr!« rief ich aus mit vollem überströmenden Gefühl. Das musste ihm gefallen, er lächelte mich an und sagte: »Bleiben Sie hier, lieber Freund, nachher hab ich vielleicht Zeit, Ihnen zu sagen, was ich hiezu denke«, er deutete auf den Brief, den er sodann einsteckte, und wandte sich wieder zu der Gesellschaft. – Er bot einer jungen Dame den Arm, andere Herren bemühten sich um andere Schönen, es fand sich, was sich passte, und man wallte dem rosenumblühten Hügel zu.

Ich schlich hinterher, ohne jemandem beschwerlich zu fallen, denn keine Seele bekümmerte sich weiter um mich. Die Gesellschaft war sehr aufgeräumt, es ward getändelt und gescherzt, man sprach zuweilen von leichtsinnigen Dingen wichtig, von wichtigen öfters leichtsinnig, und gemächlich erging besonders der Witz über abwesende Freunde und deren Verhältnisse. Ich war da zu fremd, um von alle dem vieles zu verstehen, zu bekümmert und in mich gekehrt, um den Sinn auf solche Rätsel zu haben.

Wir hatten den Rosenhain erreicht. Die schöne Fanny, wie es schien, die Herrin des Tages, wollte aus Eigensinn einen blühenden Zweig selbst brechen, sie verletzte sich an einem Dorn, und wie von den dunkeln Rosen, floss Purpur auf ihre zarte Hand. Dieses Ereignis brachte die ganze Gesellschaft in Bewegung. Es wurde Englisch Pflaster gesucht. Ein stiller, dünner, hagrer, länglichter, ältlicher Mann, der neben mitging, und den ich noch nicht bemerkt hatte, steckte sogleich die Hand in die knapp anliegende [11]Schoßtascheseines altfränkischen, grautaffentnen Rockes, brachte eine kleine Brieftasche daraus hervor, öffnete sie, und reichte der Dame mit devoter Verbeugung das Verlangte. Sie empfing es ohne Aufmerksamkeit für den Geber und ohne Dank, die Wunde ward verbunden, und man ging weiter den Hügel hinan, von dessen Rücken man die weite Aussicht über das grüne Labyrinth des Parkes nach dem unermesslichen Ozean genießen wollte.

Der Anblick war wirklich groß und herrlich. Ein lichter Punkt erschien am Horizont zwischen der dunklen Flut und der Bläue des Himmels. »Ein Fernrohr her!« rief John, und noch bevor das auf den Ruf erscheinende Dienervolk in Bewegung kam, hatte der graue Mann, bescheiden sich verneigend, die Hand schon in die Rocktasche gesteckt, daraus einen schönen Dollond hervorgezogen, und es dem Herrn John eingehändigt. Dieser, es sogleich an das Aug bringend, benachrichtigte die Gesellschaft, es sei das Schiff, das gestern ausgelaufen, und das widrige Winde im Angesicht des Hafens zurücke hielten. Das Fernrohr ging von Hand zu Hand, und nicht wieder in die des Eigentümers; ich aber sah verwundert den Mann an, und wusste nicht, wie die große Maschine aus der winzigen Tasche herausgekommen war; es schien aber niemandem aufgefallen zu sein, und man bekümmerte sich nicht mehr um den grauen Mann, als um mich selber.

Erfrischungen wurden gereicht, das seltenste Obst aller Zonen in den kostbarsten Gefäßen. Herr John machte die Honneursmit leichtem Anstand und richtete da zum zweiten Mal ein Wort an mich: »Essen Sie nur; das haben Sie auf der See nicht gehabt.« Ich verbeugte mich, aber er sah es nicht, er sprach schon mit jemand anderem.

Man hätte sich gern auf den Rasen, am Abhange des Hügels, der ausgespannten Landschaft gegenüber gelagert, hätte man die Feuchtigkeit der Erde nicht gescheut. Es wäre göttlich, meinte wer aus der Gesellschaft, wenn man türkische Teppiche hätte, sie hier auszubreiten. Der Wunsch war nicht sobald ausgesprochen, als schon der [12]Mann im grauen Rock die Hand in der Tasche hatte, und mit bescheidener, ja demütiger Gebärde einen reichen, golddurchwirkten türkischen Teppich daraus zu ziehen bemüht war. Bediente nahmen ihn in Empfang, als müsse es so sein, und entfalteten ihn am begehrten Orte. Die Gesellschaft nahm ohne Umstände Platz darauf; ich wiederum sah betroffen den Mann, die Tasche, den Teppich an, der über zwanzig Schritte in der Länge und zehn in der Breite maß, und rieb mir die Augen, nicht wissend, was ich dazu denken sollte, besonders da niemand etwas Merkwürdiges darin fand.

Ich hätte gern Aufschluss über den Mann gehabt, und gefragt, wer er sei, nur wusst ich nicht, an wen ich mich richten sollte, denn ich fürchtete mich fast noch mehr vor den Herren Bedienten, als vor den bedienten Herren. Ich fasste endlich ein Herz, und trat an einen jungen Mann heran, der mir von minderem Ansehen schien als die andern, und der öfter allein gestanden hatte. Ich bat ihn leise, mir zu sagen, wer der gefällige Mann sei dort im grauen Kleide. – »Dieser, der wie ein Ende Zwirn aussieht? der einem Schneider aus der Nadel entlaufen ist?« »Ja, der allein steht« – »den kenn ich nicht«, gab er mir zur Antwort, und, wie es schien, eine längere Unterhaltung mit mir zu vermeiden, wandt er sich weg und sprach von gleichgültigen Dingen mit einem andern.

Die Sonne fing jetzt stärker zu scheinen an, und ward den Damen beschwerlich; die schöne Fanny richtete nachlässig an den grauen Mann, den, so viel ich weiß, noch niemand angeredet hatte, die leichtsinnige Frage: ob er nicht auch vielleicht ein Zelt bei sich habe? Er beantwortete sie durch eine so tiefe Verbeugung, als widerführe ihm eine unverdiente Ehre, und hatte schon die Hand in der Tasche, aus der ich Zeuge, Stangen, Schnüre, Eisenwerk, kurz, alles, was zu dem prachtvollsten Lustzelt gehört, herauskommen sah. Die jungen Herren halfen es ausspannen, und es überhing die ganze Ausdehnung des Teppichs – und keiner fand noch etwas Außerordentliches darin. –

[13]Mir war schon lang unheimlich, ja graulich zu Mute, wie ward mir vollends, als beim nächst ausgesprochenen Wunsch ich ihn noch aus seiner Tasche drei Reitpferde, ich sage Dir, drei schöne, große Rappen mit Sattel und Zeug herausziehen sah! – denke Dir, um Gottes willen! drei gesattelte Pferde noch aus derselben Tasche, woraus schon eine Brieftasche, ein Fernrohr, ein gewirkter Teppich, zwanzig Schritte lang und zehn breit, ein Lustzelt von derselben Größe, und alle dazugehörigen Stangen und Eisen, herausgekommen waren! – Wenn ich Dir nicht beteuerte, es selbst mit eigenen Augen angesehen zu haben, würdest Du es gewiss nicht glauben. –

So verlegen und demütig der Mann selbst zu sein schien, so wenig Aufmerksamkeit ihm auch die andern schenkten, so ward mir doch seine blasse Erscheinung, von der ich kein Auge abwenden konnte, so schauerlich, dass ich sie nicht länger ertragen konnte.