Pflanzen als Bilder der Seele - Ernst-Michael Kranich - E-Book

Pflanzen als Bilder der Seele E-Book

Ernst-Michael Kranich

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Beschreibung

Ernst-Michael Kranich zeigt in feinsinnigen Blumenbetrachtungen und im Nachspüren seelischer Stimmungen, dass Farben, Formen, Wuchs und Blütenbildungen einzelner Pflanzen mit bestimmten menschlichen Gefühlen korrespondieren. Nicht nur im Menschen, auch in der Pflanzenwelt zeigen sich seelische Haltungen und Gebärden. So entsteht anfänglich die Erkenntnis einer Welt, in der Mensch und Natur innerlich zusammengehören. In fünfundzwanzig Betrachtungen bekannter Blütenpflanzen nähert sich Ernst-Michael Kranich deren Besonderheiten und erschließt ein Verständnis dafür, wie die im Jahreslauf sich entwickelnde Pflanzenwelt seelischen Regungen des Menschen entspricht; einzelne Pflanzen zeigen eine Verwandtschaft zu Gefühlen, die wir in unserem Inneren vorfinden und beobachten können. Die Pflanze ist Bild – sie verweist mittelbar auch auf die innere Befindlichkeit des Menschen: von der Sehnsucht im Vorfrühling über Hoffnung und Begeisterung bis hin zur Wehmut im Herbst. Methodisch klar entwickelt Kranich einen Ansatz, der zur Überwindung der Spaltung zwischen Mensch und Natur beitragen kann.

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ERNST-MICHAEL KRANICH

PFLANZENALS BILDER DERSEELE

Skizze einer physiognomischenNaturerkenntnis

INHALT

Zum Thema und zur Methode

Schneeglöckchen und Krokus

Die Tulpe

Buschwindröschen und Osterglocke

Das März-Veilchen

Der Aronstab

Physiognomische Metamorphosen

Krokus – Schwertlilie – Gladiole – Freesie

Die Nelke

Wicken und Platterbsen

Glockenblumen

Morphologische und physiognomische Gestalterkenntnis

Löwenmaul, Fingerhut und Königskerze

Die Rose

Die Sonnenblume

Bilder des Sommers und Herbstes

Hahnenfuß – Johanniskraut – Doldengewächse – Eisenhut – Herbstzeitlose

Die Erde: ein beseeltes Wesen im Kosmos

Epilog

Nachwort zur zweiten Auflage

Anmerkungen

ZUM THEMA UND ZUR METHODE

Intention und Inhalt dieser Schrift stehen im Zusammenhang aktueller Fragen, die unsere Zukunft betreffen. Ein wesentliches Fundament unserer Zivilisation, die Naturwissenschaft, hat in den vergangenen Jahren viel von seiner früheren Sicherheit eingebüßt. Vor allem jenes Verhältnis, das der Mensch durch sie zur Natur gewonnen hat, ist unter dem Eindruck seiner Folgen zum Problem geworden. Vielen ist bewusst geworden, dass die Menschheit Gefahr läuft, durch ihre Wissenschaft von der Natur die Natur selbst zu zerstören. Unter dem Eindruck dieser bedrängenden Situation ist nicht nur wie früher zu fragen: Wie weit ist die Naturwissenschaft in der Erforschung der Natur gekommen? Sondern viel grundsätzlicher: Kann sie mit ihren Methoden der Natur überhaupt gerecht werden?

Die neuzeitliche Naturwissenschaft untersucht die Natur durch das Experiment. Ihre Einstellung zur Natur ist manipulativ. So trägt sie den Keim zur Technik, dem großen Faszinosum unserer Zeit, schon von ihrem Ausgangspunkt an in sich. Technisches Denken, das durch die Naturwissenschaft so intensiv gefördert wurde, ist aber nicht ohne Rückwirkung auf die naturwissenschaftliche Theoriebildung geblieben. Die mechanistische Interpretation der Naturvorgänge lässt die Natur als eine komplizierte Maschinerie erscheinen. Die von vielen unbemerkte Okkupation des Naturerkennens durch den technischen Verstand führte zu der fatalen Auffassung: «Wir erkennen einen Gegenstand, soweit wir ihn machen können.»1 So kommt es, dass wir heute nur das «Technikparadigma der modernen Naturwissenschaft» besitzen und «als Angehörige einer technischen Kultur bereits Schwierigkeiten haben, genau zu sagen, was und wo Natur ist».2

Diese Situation bedeutet ein schwer lösbares Dilemma. Soll der Weg in die Zukunft nicht zu einer immer weiter fortschreitenden Zerstörung führen, dann ist eine andere Einstellung erforderlich. Der Mensch muss für das Leben der Natur, das er durch seine Technik so tief beeinflusst, die Verantwortung übernehmen. Das ist in den vergangenen Jahren vielfach und eindrucksvoll formuliert worden. Wie aber kann man zu einer Sache oder einem Wesen eine moralische Beziehung gewinnen, das man kaum kennt und nicht versteht? Alles, was die Natur außer dem engen Ausschnitt mechanisch ablaufender Prozesse ist, bleibt dem gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Denken hinter den Mauern der eigenen Theorie unzugänglich. Das gilt auch für die Ökologie, die zwar ganzheitliche Systeme untersucht, aber unter höchst eingeengten Gesichtspunkten. Bedingung für ein neues, moralisches Verhältnis zur Natur ist ein Verstehen, das tiefer dringt als die gegenwärtigen Interpretationen.

Nun hat Adolf Portmann vor Jahren darauf hingewiesen,3 dass der Mensch neben der «theoretischen Funktion», die die Natur analysiert, das qualitativ Erlebte in Quantitatives ummünzt und die Bilder der naturwissenschaftlichen Weltdeutung unterwirft, durch die «ästhetische Funktion» noch einen anderen Zugang zur Natur hat. Durch sie erfährt er die Natur in ihren Formen, Farben usw. unmittelbar. Sie lässt den Menschen die Dimension des «Unfassbaren» erleben, jenseits der wissenschaftlichen Rationalität. Diese ästhetische Funktion mit ihrer für den Menschen so belebenden und befruchtenden Wirkung sei viel stärker als bisher zu kultivieren. In der Schule müsse man neben der Naturwissenschaft eine Naturkunde mit dem Ziel eines «savoir de cœur» pflegen.

Diese Auffassung spielt in den gegenwärtigen Erörterungen über eine ökologisch orientierte Erziehung eine große Rolle. Man kann – das ist sicher – keine von Verantwortung beseelte Beziehung zur Natur begründen, wenn das Wissen um die Natur weiterhin von öden, mechanistischen Bildern bestimmt wird. Es ist aber zu fragen: Führt eine Zweigleisigkeit von ästhetischer Naturerfahrung und mechanistischer Naturdeutung weiter? Kommt man aus dem Dilemma heraus, indem man zu dem bisherigen theoretischen Wissen ein ästhetisches Erleben hinzufügt? Auf diese Weise entsteht im Menschen ein Zwiespalt zwischen Herz und Verstand. Denn der Verstand begreift nicht, was als Natur erlebt wird, und das Herz kann sich nicht mit den wesenlosen und sinnleeren Bildern des Verstandes verbinden.

Es reicht nicht, diese zwei Bewusstseinsformen, zwischen denen kein Zusammenhang besteht, nebeneinander zu kultivieren. Hier ist der Punkt, wo etwas oft Postuliertes einzulösen ist, nämlich die Veränderung des Bewusstseins. Sie hätte die Aufgabe, den Zwiespalt zwischen den beiden Bewusstseinsformen durch Ausweitung des Erkennens auf die bisher unerschlossenen Dimensionen der Natur zu überwinden.

Was heißt das im Konkreten?

In der Begegnung mit der Natur erfährt der Mensch Dimensionen, die dem Verstand nicht greifbar sind. Im Erleben des Schönen und Erhabenen ahnt er, dass die Natur mehr ist als das, was die Naturwissenschaft beschreibt. Das Erleben des Unendlichen im Anblick des Ozeans, das Gefühl, in einem Sonnenaufgang sei etwas von den Geheimnissen der Schöpfung anwesend, die Erhabenheit eines Berges oder die Schönheit einer blühenden Sommerwiese – das alles ergreift den Menschen, weil in ihm, wie er meint, tiefere Bereiche der Natur anklingen. Mit Erkenntnis und Wissenschaft haben diese Erlebnisse zunächst nichts zu tun. Sie sind dem Bewusstsein nicht recht greifbar.

Ähnlich ist es mit Erlebnissen, die sich mehr auf Einzelnes beziehen. Auch Pflanzen «sprechen» nicht nur zu den Sinnen und dem Verstand. Sie berühren das menschliche Gemüt. Ein Maiglöckchen «wirkt» innig, der blaue Eisenhut streng. Wir sprechen von der kraftvollen Eiche, der lieblichen Birke und dem bescheidenen Veilchen. Das alles sind Anmutungserlebnisse im Bereich der ästhetischen Naturerfahrung. Ihnen haftet sicher Subjektives an. Aber eines ist unabweisbar: die Dimension des Rätselhaften. Wo der Mensch Rätsel erlebt, weiß er, dass in den Dingen etwas enthalten ist, was in dem bisher Erkannten, möglicherweise aber auch in den verfügbaren Erkenntnismethoden nicht aufgeht.

Wenn es gelingt, das, was man in solchen Anmutungserlebnissen als Rätsel empfindet, mit dem erkennenden Bewusstsein zu durchdringen, dann wird die Kluft zwischen rationaler Klarheit und den unbestimmten Dimensionen des ästhetischen Erlebens überwunden; denn die Klarheit des Erkennens wird in das Gebiet des bisher nur Erlebten ausgeweitet. Wie aber kann man das, was man als Anmutung beim Betrachten von Pflanzen erlebt, bewusst erfassen? Man muss jenen Bereich, der beim ästhetischen Anschauen im eigenen Innern auflebt, genau kennenlernen. Das sind innere Seelenzustände, vor allem Gefühle. Man wird auch die Pflanzen in ihren Formen und Farben eingehend betrachten. Dann kann sich zeigen, inwieweit sich im Menschen bisher verschlossene Bereiche der Pflanzenwelt aussprechen.

Man betritt ein neues Gebiet des Forschens, indem man das Objektivitätspostulat der modernen Naturwissenschaft – die Forderung, die Natur objektiv zu untersuchen, d. h. unter Ausschluss des Menschen – aufgibt. Wir wollen nicht erörtern, inwieweit dieses Postulat schon immer eine Fiktion war, sondern darauf hinweisen, dass eine methodische Erweiterung des Naturerkennens nur möglich ist, wenn man die von diesem Postulat bestimmten Grenzen überschreitet. Man muss allerdings, um nicht ins Ungewisse und Unüberprüfbare zu kommen, mit großer Sorgfalt vorwärtsschreiten und sich von jedem Schritt Rechenschaft geben.

Zunächst ist der naheliegende Einwand zu beseitigen, man verfalle der Subjektivität, wenn man sich den eigenen inneren Seelenzuständen zuwende. «Subjektiv» hat eine doppelte Bedeutung. Es bezeichnet die inneren Erlebnisse, insofern sie dem einzelnen Menschen als Subjekt angehören. Dieses Subjektive ist genauso Erfahrung wie ein Baum oder ein Haus. Deshalb schreibt H. Schmitz pointiert: «Gefühle sind nicht subjektiver als Landstraßen, nur weniger fixierbar.»4 Subjektiv wird aber auch in wertendem Sinn gebraucht. Dann bezeichnet es Täuschung und Irrtum, die dadurch entstehen, dass der Mensch ein Gefühlserlebnis unreflektiert beispielsweise einem Gegenstand zuschreibt.

Nun kommt dem Menschen die eigene Innenwelt nicht in gleicher Weise zu Bewusstsein wie die Dinge seiner Umgebung. Er richtet seine Aufmerksamkeit auf die Tatsachen und Vorgänge der äußeren Welt, auch auf seine Vorstellungen und Gedanken. An diesen entzünden sich Gefühle, Wünsche und andere Seelenregungen. Er lebt zwar in ihnen, betrachtet sie aber nicht. So befindet sich das Subjektive, das persönliche Eigenwesen in einem Dämmerzustand. Man «kennt» es intim, ohne aber ein klares Bewusstsein von ihm zu haben. Deshalb sind auch die Anmutungserlebnisse so unbestimmt und schwer formulierbar. Der erste Schritt ist also ein bewussteres Durchdringen der eigenen Innenwelt, ein Aufhellen des dämmerhaft Seelischen. Dabei wendet man seine Aufmerksamkeit den inneren Erlebnissen so zu wie sonst den äußeren Gegenständen. Sie werden dadurch zu einem Objektiven.

Das kann nur allmählich geschehen; denn das Gebiet der inneren Seelenvorgänge ist viel reicher und differenzierter, als man zunächst vermutet. Macht man sich die Mühe, die Seelenerlebnisse einigermaßen umfassend aufzuzählen – von den verschiedenen Tätigkeiten, die mit dem Vorstellen zusammenhängen (Vorstellen, Erinnern, Sich-Besinnen, Vermuten, Erwägen usw.) über das weite Reich der Gefühle bis hin zu den mannigfachen Äußerungen des Wollens, Begehrens und Wünschens –, dann ahnt man: Die innere Welt des Subjektiven steht an Reichtum und Fülle der äußeren Welt kaum nach.

Mit den vom Bewusstsein durchdrungenen Regungen der Seele kann man sich den Formen und Farben der Pflanzen zuwenden. Dann klärt sich, was man zunächst nur als Anmutung erlebt hat. Man entdeckt eine bisher verborgene Dimension in der Pflanzenwelt – eine zunächst außerordentlich überraschende Entsprechung zwischen den Regungen der menschlichen Seele und den Form- und Farbgebärden der Pflanzen.

Mit diesen Bemerkungen wollen wir den Untersuchungen der folgenden Kapitel keineswegs vorgreifen, sondern nur auf die Methode unserer Untersuchungen hinweisen. Es handelt sich um eine «physiognomische» Erkenntnismethode, weil sie das, was sich in den Erscheinungen der lebendigen Natur an seelenhaften Qualitäten äußert, mit der vollen Klarheit und Besonnenheit des Erkennens erfasst.

Wir meinen keineswegs, mit der physiognomischen Erkenntnismethode hätte man den Schlüssel, um nun endgültig die Rätsel der Natur zu lösen. Man muss sich von der Illusion befreien, es gäbe die eine Methode. Wir stimmen ganz mit folgender Äußerung von Hans Primas überein: «Alle Versuche, eine Einheit der Gesetze, der Methoden, der Darstellungsarten oder der Ziele zu erzwingen, haben ausnahmslos zu einer Verarmung der Wissenschaften geführt.»5 Wer lange Jahre den Rätseln der lebendigen Natur nachforscht, erfährt, dass er sich mit einer Welt befasst, die verschiedene Dimensionen oder Schichten in sich birgt. Jede dieser Dimensionen kann man nur durch eine angemessene Methode erforschen. Und erst wenn man im Laufe der Zeit die Natur mit einer Reihe verschiedener Methoden betrachtet, lernt man sie in der Fülle und Tiefe ihres Wesens kennen. «Die Suche nach einer Einheitswissenschaft ist eine monotheistische Projektion, die heute aufgegeben werden muss.»6 Wir sind allerdings der Auffassung, dass der physiognomischen Erkenntnismethode eine besondere Bedeutung zukommt, wenn es wie heute um eine Revision des bisherigen Verhältnisses des Menschen zur Natur geht.

SCHNEEGLÖCKCHEN UND KROKUS

Wir können aus dem weiten Reich der Blütenpflanzen nur wenige Pflanzen betrachten. Dabei wollen wir dem Leben der Natur, d. h. dem Jahreslauf mit dem Wandel seiner Formen, folgen und mit dem zeitigen Frühjahr beginnen.

In dieser Zeit, in der die Sonne die noch feuchte und kühle Natur mit ihrem Licht von Tag zu Tag stärker erfüllt, blühen Kräuter, die das Gemüt besonders innig berühren: das Schneeglöckchen, der Märzenbecher, der Krokus, der Gelbstern, die Scilla, der Huflattich. Bei aller Verschiedenheit ihrer Formen ist diesen Pflanzen eines gemeinsam. In ihnen erreicht das Pflanzenwesen einen nur geringen Grad der Entfaltung. Am deutlichsten ist das bei den Zwiebelpflanzen. Bei ihnen wird der knospenhafte Winterzustand, die Zwiebel, nie völlig überwunden. Aus ihm entfalten sich einfache, schmale Blätter. Es sprießt noch kein Stängel empor, der die Blätter sich frei im Luftraum entfalten ließe. Nur der Blütentrieb dringt mit einer oder wenigen Blüten hervor. Die Pflanzenbildung ist ganz verhalten. Das Leben der Natur «erwacht», es vereinigt sich anfänglich mit den Kräften der Umgebung, mit der Luft und dem Licht. – Im ästhetischen Anschauen leben Ahnungen von der Intimität dieses gleichsam kindhaft reinen Lebens auf.

Diese Beobachtungen können zum Anlass werden, im eigenen Innern solche Vorgänge und Regungen zu betrachten, in denen sich das Leben der Seele in ähnlicher Weise anfänglich der Welt zuwendet, z. B. das Erwachen und das Sehnen. – Wenn man so von der Natur zu inneren Vorgängen der Seele übergeht, lässt man sich von einer Analogie leiten. Nimmt man diese aber nur als Hinweis auf eine mögliche Beziehung und prüft, ob sie auch wirklich besteht, dann kommt man nicht in jenes fragwürdige Gebiet, in dem vages Vermuten für Erkenntnis ausgegeben wird. Will man in das noch weitgehend unerschlossene Gebiet des Zusammenhangs von Mensch und Pflanzenwelt bewusst eindringen, dann sollte man beherzigen, was Rudolf Steiner von einem solchen Bestreben gesagt hat: «Nicht flüchtig, sondern ernst und auf Schritt und Tritt müssen wir solche Dinge zu verfolgen suchen.»7

Sehnen und Sehnsucht sind Regungen, die aus den innersten Bezirken der Seele aufsteigen. Sie sind intimer als Wünsche oder gar Begierden. Philipp Lersch, einer der bedeutenden Psychologen des 20. Jahrhunderts, schreibt: «Sehnsucht ist … nichts anderes als eine besondere Erscheinungsform der Liebe zu etwas. Sie entsteht immer dann, wenn der Gegenstand der Liebe in der Gegenwart entrückt ist.» Sehnsucht geht zu dem, was dem eigenen Innern besonders nahesteht, aber unerreichbar ist. Deshalb ist «Sehnsucht … hinweggerichtet über das Hier und Jetzt und lässt es in den Schatten der Bedeutungslosigkeit versinken.»8 Sie ist inneres Verlangen nach dem Fernen. Zu ihm fühlt sich die Seele hingezogen.

So sind zwei Erlebnisse mit dem Sehnen verbunden. Zum einen das der inneren Einsamkeit; denn das, womit man verbunden sein möchte, ist nicht da. Und aus dem Erlebnis des Mangels entspringt zum anderen das Gefühl eines feinen inneren Schmerzes. Dieser durchsetzt das sehnende Sich-hingezogen-Fühlen. Im Schmerz zieht sich die Seele immer zusammen. So wird das innere Sich-hingezogen-Fühlen eng. Beide Erlebnisse klingen in der Sehnsucht zusammen. In der Einsamkeit ist die Seele auf ihr eigenes Inneres konzentriert; aus diesem erhebt sich ein von Schmerz verengtes Verlangen, das sich zur Ferne hingezogen fühlt.

Seelengebärde der Sehnsucht.

Wendet man die Aufmerksamkeit genauso wach dem eigenen Innern zu wie sonst den Dingen der Außenwelt, dann bemerkt man: Sehnsucht ist innere Bewegung, und zwar Bewegung in der Art einer inneren Gebärde. Man kann sie in einer Form wiedergeben. In dieser kommt zunächst das sich von der Umgebung absondernde einsame Eigensein zum Ausdruck, in dem die Seele in sich zentriert ist; hier entspringt das enge Verlangen, das sich mit dem Fernen sehnlichst vereinigen möchte. Eine solche Form ist nicht als starre Figur, sondern dynamisch aufzufassen. Sie ist ein Bild innerer Bewegung, an dem im Anschauen die Identität mit der Gebärde der Sehnsucht erlebt werden kann.

Dem Sehnen ist das beginnende Erwachen ähnlich. Auch bei ihm möchte sich das Innere mit dem Äußeren verbinden, erreicht es aber noch nicht. Beginnendes Erwachen ist jener Zwischenzustand, den Michelangelo in der Gestalt des Morgens in der Medici-Kapelle dargestellt hat. Die Seele zieht gerade in den Leib ein. Es kommt zu ersten Bewegungen. Der Kopf wird noch kaum gehoben, die Augen öffnen sich, der Blick dringt aber noch nicht in die Welt hinaus. Die Seele ist aus dem Ozean des bewusstlosen Schlafes aufgetaucht, sie hat das Zwischenreich des Traumes schon weitgehend durchschritten. Die Bilderwelt des Traumes verglimmt noch nicht ganz, während das Tagesbewusstsein am Seelenhorizont kaum dämmert. Noch während des Träumens beginnt ein anderes Erleben: ein inneres Sich-Weiten und Sich-Öffnen zur Welt des Tages, bevor das Bewusstsein diese betritt.

So lernt man auch das Erwachen als Bewegung der Seele kennen. Auch sie kann man in ihren inneren Gesten schildern: Aus der abgesonderten Sphäre des Inneren beginnt sich das innere Leben nach außen zu entfalten, verbindet sich aber noch nicht mit der äußeren Welt; es weitet sich, während in der Tiefe des Innenraumes die Sphäre des Traumes noch nicht abgeklungen ist.

Wendet man sich mit dem, was man so in der eigenen Seele kennenlernt, den Pflanzen des Vorfrühlings zu, dann kommt man zu einer überraschenden Erfahrung. Es ist, wie wenn man dem, was man in sich erfasst hat, nun auch äußerlich begegnete. Die Formen und Gebärden des Schneeglöckchens, jenes ersten Frühlingsboten, der schon im Februar aus dem Dunkel der Erde hervordringt, beginnen zu sprechen. Man findet in ihnen wieder, was in der eigenen Seele der Beginn des Erwachens ist. Aus der abgeschlossenen Eigensphäre der Zwiebel wächst ein eigenartiger Trieb hervor. Er ist vom bleichen, schwach ergrünenden Scheidenblatt umhüllt, in dem sich die absondernde Gebärde der Zwiebel fortsetzt. Aus dieser Hülle kommen zwei schmale Blätter hervor, die unten in der Zwiebel entspringen und sich oben nur wenig in die Umgebung entfalten, so, wie wenn sie das Licht und die Atmosphäre nur berühren würden. Zwischen ihnen steigt ein Blütentrieb aus der Tiefe empor. An seiner Spitze umhüllen zwei Hochblätter wie eine Knospe die Blüte. Und wie unten Blätter und Blütentrieb in der Zwiebel entspringen, so kommt auch oben die Blüte aus einem Innern hervor. Sie wendet sich nach unten als Ausdruck eines nach innen gerichteten Daseins. Dieses weitet sich durch die drei äußeren Blütenblätter. In ihm erscheint dann eine enge geheimnisvolle Sphäre aus den drei kleineren Blütenblättern. Sie sind in ihrer Form verhalten und haben ein eigenes Leben, das sich in der grünlichen Färbung ausspricht. – Oft ist die Erde noch gegenüber der Umgebung durch eine dünne Schneedecke abgesondert, wenn die Schneeglöckchen im Garten, in Parkanlagen und in den noch kahlen Laubwäldern blühen (s. Farbabb. 1).

Schaut man nicht nur mit dem Gegenstandsbewusstsein in die Natur, sondern auch mit dem aufgehellten Seelenleben, dann erfasst man in der Gestalt und Entfaltungsgebärde des Schneeglöckchens den Ausdruck des beginnenden Erwachens. Was für den Menschen inneres Seelenerleben ist, manifestiert sich auch in der Natur, im Gewande des stofflichen Lebens. Wenn ein geistig oder seelisch Wesenhaftes in einem vergänglichen Medium erscheint, dann bezeichnet man diese Offenbarung als Bild. Insofern ist das Schneeglöckchen Bild jenes Zwischenzustandes zwischen Traum und Wachen.

Man findet im zeitigen Frühling eine andere Pflanze, die in ihren Formen und ihrer Zartheit der Seelengebärde des Sehnens entspricht. Es ist der Krokus, der im März und April, selten schon im Februar, in den Gärten und auf den Wiesen der Voralpen und Alpen blüht. Eine bleiche Hülle aus Scheidenblättern kommt aus dem dunklen Erdreich hervor. Sie umschließt eine lange, enge Blütenröhre, die sich mit sechs Blütenblättern weitet und nach oben wendet. Wie sich die Seele aus der Tiefe des Herzens in innerem Verlangen nach dem Fernen sehnt, so steigen die Krokusblüten aus dem Dunkel der kühlen, feuchten Erde zum Licht empor. Ist der Himmel wolkenlos und die Luft milde, dann öffnen sich die Blüten etwas stärker – wie wenn sie sich mit der noch schwach wirkenden, gleichsam fernen Sonne vereinigen wollten. Auch die Blätter zeigen das enge Emporstreben, welches für das Sehnen charakteristisch ist. Gräbt man eine Krokuspflanze aus, dann findet man im Boden eine Verdickung. Es ist keine Zwiebel wie beim Schneeglöckchen, sondern eine Knolle. Genau betrachtet sind es zwei Knollen übereinander, unten eine alte und über ihr eine junge, die sich in jedem Jahr neu bildet. In dieser Knolle ist der Stängel angeschwollen. Seine Kräfte haben sich in sich konzentriert. So bleibt der Blütenstiel kurz und der Fruchtknoten beim Blühen unter der Erdoberfläche. Dies alles ist eine Geste, die dem einsamen In-sich-Sein entspricht.

Schneeglöckchen (Galanthus nivalis).

Der Botaniker beschreibt den Krokus als eine Pflanzengattung aus der Familie der Schwertliliengewächse (Iridaceen) und das Schneeglöckchen als Narzissengewächs (Amaryllidaceen). In der Gattung Krokus unterscheidet er eine große Anzahl von Arten. Der Frühlingskrokus (Crocus albiflorus) wächst auf den Bergwiesen, bisweilen in solchen Mengen, dass man von Weitem meint, es läge noch Schnee. Am bekanntesten ist der Echte Safran (Crocus sativus; s. Farbabb. 2). In den Gärten blüht häufig auch der goldgelbe Crocus aureus, der aus dem südlichen Ungarn und dem Balkan stammt. Die meisten Krokusarten haben ihre Heimat im Mittelmeergebiet. – Die eigenartige Form des Krokus ist dem Botaniker ein Rätsel.

Echter Safran (Crocus sativus) im Längsschnitt (aus Strasburger, Lehrbuch der Botanik).

Diese Form lernt man wie beim Schneeglöckchen durch die hier skizzierte Betrachtungsweise verstehen. Hat man das Seelenleben so weit aufgehellt, dass die inneren Bewegungen und Gebärden bewusst werden, dann erfasst man mit voller Klarheit: Wie im Schneeglöckchen die Seelenform des beginnenden Erwachens, so erscheint im Krokus – als Bild – die Seelenform des Sehnens im Leben der Natur. So wird auch verständlich, weshalb Schneeglöckchen und Krokus das Gemüt so stark berühren. Sie sprechen zur menschlichen Seele, weil sie selbst Ausdruck eines Seelischen sind.

Zu diesem Seelischen gehören nicht nur Form und Gebärde der Pflanze, sondern auch ihre Farbe, vor allem die der Blüten. Das Bild des beginnenden Erwachens erglänzt weiß, das des Sehnens in verschiedenen Farben, besonders in Weiß, Violett und Gelb. Das Weiß ist mit seinem reinen, lichten Charakter, der durch nichts getrübt wird, ein Ausdruck von keuscher, leidenschaftsloser Helligkeit. Im Violett ist die Seelentiefe des Blau durchwärmt vom Rot zu religiöser Gestimmtheit. Im Gelb erscheint eine heitere, freudige Stimmung, die im Sehnen auflebt, wenn man dem Ersehnten entgegengeht. So manifestiert sich im Krokus ein rein geistiges, ein religiöses und ein freudiges Sehnen. Das Weiß des Schneeglöckchens hat eine Beziehung zu dem Beginn des Erwachens, in dem die Seele sich mit leidenschaftslosen Kräften aus dem Schlaf löst und dem hellen Bewusstsein des Tages entgegengeht.

In den Anmutungserlebnissen, von denen diese Betrachtung ausgegangen ist, klingt etwas an, was nicht nur eine subjektive, für das Erkennen bedeutungslose Reaktion auf die Eindrücke der Natur ist. Um das, was in der Anmutung lebt, zur Klarheit zu bringen, bedarf es eines neuen Anschauens, in dem die eigene Seele zum Organ des Anschauens wird. Wendet man sich mit bewusst durchdrungenen Seelenprozessen wie denen des Sehnens und des beginnenden Erwachens der Natur zu, dann wird die Natur zur «Mitwelt» (Meyer-Abich). Man findet in ihren Erscheinungen etwas, was dem eigenen Wesen tief verwandt ist. Diese Verwandtschaft liegt aber nicht dort, wo sie heute gesucht wird, im Bereich der Physis, sondern im Seelischen, wo man sie im Allgemeinen nicht einmal vermutet.

Frühlingskrokus (Crocus albiflorus)

a. Blüte, unten der kurze Blütentrieb und Fruchtknoten

b. Die Blüte erhebt sich aus der von den Scheidenblättern gebildeten Hülle

(aus W. Troll, Praktische Einführung in die Pflanzenmorphologie).

Lernt man in der Pflanzenwelt Bilder des Seelischen kennen, so entstehen neue Fragen. Die Natur selbst wird in neuer Weise zum Rätsel. Denn in ihr werden Dimensionen sichtbar, die in das bisherige Bild nicht hineinpassen. Offensichtlich geht die Natur nicht in dem auf, was man ihr an Wesenszügen zugesteht. Wir wollen auf diese Fragen erst eingehen, wenn wir durch weitere Betrachtungen eine reichere Anschauung haben.

Über die Form des Erkennens ist aber schon jetzt eine Aussage möglich. In ihr bewahrheitet sich der alte Satz, dass Gleiches mit Gleichem erkannt wird, in unserem Fall Seelisches mit Seelischem. Seelenvorgänge wie das Sehnen gehören nicht der Sinneswelt, dem materiellen Dasein an. Auch wenn sie sich im Physischen manifestieren, sind sie ihrem Wesen nach übersinnlich. Rudolf Steiner beschreibt in seinen Darstellungen über den Weg der geistigen Schulung die erste Stufe des übersinnlichen Erkennens als Imagination. Ein Kennzeichen der Imagination ist es, «in solche bildlichen Vorstellungen einzudringen, die im Sinne des Goetheschen Wortes ‹Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis› die höheren Welten darstellen».9 Die ersten Schritte auf dem Weg zur Ausbildung der Imagination geht man, wenn man die vergänglichen Formen und Farben der Pflanzen als Bild oder Gleichnis des Übersinnlichen, eben des Seelischen, erkennen lernt. Der innere Zusammenhang von Mensch und Natur, der heute gesucht wird, verlangt imaginative Naturerkenntnis. Durch diese offenbart sich das, was das Gegenstandsbewusstsein als eine bestimmte physische Pflanze auffasst, als Bild einer tieferen, übersinnlichen Wirklichkeit. Die gleiche übersinnliche Wirklichkeit trägt der Mensch auch in seiner eigenen Seele. Sie kann daher Erkenntnisorgan für jene Welt werden, die in den Bildern der Natur imaginativ zum Ausdruck kommt.

DIE TULPE