Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele - Moses Mendelssohn - E-Book

Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele E-Book

Moses Mendelssohn

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Beschreibung

Diese Ausgabe von "Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele" wurde mit einem funktionalen Layout erstellt und sorgfältig formatiert. Moses Mendelssohn (1729-1786) war ein deutscher Philosoph der Aufklärung und gilt als Wegbereiter der Haskala. 1767 veröffentlichte er Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele - einen viel gelesenen philosophischen Text, der in mehreren Auflagen erschien und in zehn Sprachen übersetzt wurde. Dieses Werk ist eine Interpretation des platonischen Dialogs Phaidon, "modernisiert und in Wolffische Metaphysik verwandelt" (Hegel). Seinen Dialogen stellte Mendelssohn - von Zeitgenossen als "deutscher Sokrates" bezeichnet - eine lesenswerte Biographie zu "Leben und Charakter des Sokrates" voran.

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Moses Mendelssohn

Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele

Leben und Charakter des Sokrates + Phädon in drei Gesprächen

Books

- Innovative digitale Lösungen & Optimale Formatierung -
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-1076-3

Inhaltsverzeichnis

Vorrede
Leben und Charakter des Sokrates
Phädon, oder über die Unsterblichkeit der Seele.
Erstes Gespräch.
Zweytes Gespräch
Drittes Gespräch
Anhang zur 2. Auflage des Phädon 1768
Anhang zur 3. Auflage des Phädon 1769

Vorrede

Inhaltsverzeichnis

Folgende Gespräche des Sokrates mit seinen Freunden, über die Unsterblichkeit der Seele, sollten meinem Freunde Abbt gewiedmet werden. Er war es, der mich aufgemuntert hatte, diese vor einigen Jahren angefangene und weggelegte Arbeit wieder vorzunehmen. Als er noch zu Rinteln Professor war, gab er mir, in einem von seinen freundschaftlichen Briefen, seine Gedanken über Spaldings Bestimmung des Menschen zu erkennen. Aus unserm Briefwechsel über diese Materie sind die kleinen Aufsätze entstanden, die in dem neunzehnten Theil der Litteraturbriefe, unter dem Titel: Zweifel und Orakul die Bestimmung des Menschen betreffend, vorkommen. Ich hatte das Glück, über einige der wichtigsten Punkte meines Freundes Einstimmung zu erhalten, ob ich ihm gleich nicht in allem Genüge leisten konnte. Mit der Offenherzigkeit eines wahren Freundes, goß er die geheimsten Empfindungen seiner Seele, sein ganzes Herz in meinen Busen aus. Seine philosophischen Betrachtungen erhielten durch die sanften Empfindungen des guten Herzens einen eignen Schwung, wodurch sie die Liebe zur Wahrheit in der kältesten Brust würden entzündet haben, und seine Zweifel selbst unterließen niemals neue Aussichten zu entdecken, und die Wahrheit in ein helleres Licht zu setzen. Unserer Abrede gemäß, sollte ich folgende Gespräche ausarbeiten, und darinn die vornehmsten Lehrsätze, worinn wir übereinkamen, auseinandersetzen; und diese sollten in der Folge zur Grundlage unseres Briefwechsels dienen.

Allein es hat der Vorsehung gefallen, dieses aufblühende Genie vor der Zeit der Erde zu entziehen. Kurz und rühmlich war die Laufbahn, die er hienieden vollendet hat. Sein Werk vom Verdienst wird den Deutschen ein unvergeßliches Denkmaal seiner eigenen Verdienste bleiben: mit seinen Jahren verglichen, verdienet dieses Werk die Bewunderung der Nachkommenschaft. Was für Früchte konnte man nicht von einem Baume hoffen, dessen Blüthe so vortrefflich war. Er hatte noch andre Werke unter der Feder, die an Vollkommenheit, wie er an Erfahrenheit und Kräften des Geistes, zugenommen haben würden. Alle diese schönen Hoffnungen sind dahin! Deutschland verliert an ihm einen trefflichen Schriftsteller, die Menschlichkeit einen liebreichen Weisen, dessen Gefühl so edel, als sein Verstand aufgeheitert war; seine Freunde den zärtlichsten Freund, und ich einen Gefährten auf dem Wege zur Wahrheit, der mich vor Fehltritten warnete. –

Nach dem Beyspiel des Plato, habe ich den Sokrates in seinen letzten Stunden die Gründe für die Unsterblichkeit der menschlichen Seele seinen Schülern vortragen lassen. Das Gespräch des griechischen Schriftstellers, das den Namen Phädon führet, hat eine Menge ungemeiner Schönheiten, die, zum Besten der Lehre von der Unsterblichkeit, genutzt zu werden verdieneten. Ich habe mir die Einkleidung, Anordnung, und Beredsamkeit desselben zu Nutze gemacht, und nur die metaphysischen Beweisthümer nach dem Geschmacke unserer Zeiten einzurichten gesucht. In dem ersten Gespräche konnte ich mich etwas näher an mein Muster halten. Verschiedene Beweisgründe desselben schienen nur einer geringen Veränderung des Zuschnitts, und andere einer Entwickelung aus ihren ersten Gründen zu bedürfen, um die Ueberzeugungskraft zu erlangen, die ein neuerer Leser in dem Gespräche des Plato vermisset. Die lange und heftige Deklamation wider den menschlichen Körper und seine Bedürfnisse,1 die Plato mehr in dem Geiste des Pythagoras, als seines Lehrers geschrieben zu haben scheinet, mußte, nach unsern bessern Begriffen von dem Werthe dieses göttlichen Geschöpfes, sehr gemildert werden; und dennoch wird sie den Ohren manches jetzigen Lesers fremde klingen. Ich gestehe es, daß ich blos der siegenden Beredsamkeit des Plato zu Gefallen, diese Stelle beybehalten habe.

In der Folge sahe ich mich genöthiget, den Plato völlig zu verlassen. Seine Beweise für die Immaterialität der Seele scheinen, uns wenigstens, so seichte und grillenhaft, daß sie kaum eine ernsthafte Widerlegung verdienen. Ob dieses von unserer bessern Einsicht in die Weltweisheit, oder von unserer schlechten Einsicht in die philosophische Sprache der Alten herrühret, vermag ich nicht zu entscheiden. Ich habe in dem zweyten Gespräche einen Beweis für die Immaterialität der Seele gewählet, den die Schüler des Plato gegeben, und einige neuere Weltweisen von ihnen angenommen. Er schien mir nicht nur überzeugend, sondern auch am bequemsten, nach der Sokratischen Methode vorgetragen zu werden.

In dem dritten Gespräche mußte ich völlig zu den Neuern meine Zuflucht nehmen, und meinen Sokrates fast wie einen Weltweisen aus dem achtzehnten Jahrhunderte sprechen lassen. Ich wollte lieber einen Anachronismus begehen, als Gründe auslassen, die zur Ueberzeugung etwas beytragen können.

Auf solche Weise ist folgendes Mittelding zwischen einer Uebersetzung und eigenen Ausarbeitung entstanden. Ob ich auch etwas Neues habe, oder nur das so oft gesagte anders vorbringe, mögen andere entscheiden. Es ist schwer, in einer Materie, über welche so viel große Köpfe nachgedacht haben, durchgehends neu zu seyn, und es ist lächerlich, es affektiren zu wollen. Wenn ich hätte Schriftsteller anführen mögen, so wären die Namen Plotinus, Cartes, Leibnitz, Wolf, Baumgarten, Reimarus u. a. oft vorgekommen. Vielleicht wäre dem Leser auch alsdann deutlicher in die Augen gefallen, was ich von dem Meinigen hinzugethan habe. Allein dem bloßen Liebhaber ist es gleichgültig, ob er einen Beweisgrund diesem oder jenem zu verdanken hat; und der Gelehrte weiß das Mein und Dein in so wichtigen Materien doch wohl zu unterscheiden. Ich bitte gleichwohl meine Leser, auf die Gründe, die ich von der Harmonie der moralischen Wahrheiten, und insbesondere2 von dem System unserer Rechte und Obliegenheiten herhole, aufmerksam zu seyn. Ich erinnere mich nicht, sie bey irgend einem Schriftsteller gelesen zu haben, und sie scheinen mir für denjenigen, der in die Grundsätze einstimmet, überzeugend zu seyn. Die Art des Vortrags hat mich genöthiget, sie als bloße Ueberredungsgründe anzubringen: ich halte sie aber für fähig, nach der Schärfe der strengsten Logik ausgeführet zu werden.

Den Charakter des Sokrates habe ich für dienlich erachtet, voraus zu schicken, um bey meinen Lesern das Andenken des Weltweisen aufzufrischen, der in den Gesprächen die Hauptperson ausmachet. Coopers Life of Socrates3 hat mir dabey zum Leitfaden gedienet, jedoch sind auch die Quellen zu Rathe gezogen worden.

Fußnoten

1S. 50 u. f.

2S. 117 u. f.

3 London. 1750.

Leben und Charakter des Sokrates

Inhaltsverzeichnis

Charakter des Sokrates.

Sokrates, Sohn des Bildhauers Sophroniskus und der Hebamme Phänareta, der weiseste und tugendhafteste unter den Griechen, ward in dem vierten Jahre der sieben und siebzigsten Olympiade, zu Athen, in der alopecischen Zunft daselbst geboren. Der Vater hielt ihn in seiner Jugend zur Bildhauerkunst an, in welcher er keine geringen Progressen gemacht haben muß, wenn die bekleideten Grazien, die auf der Mauer zu Athen, hinter der Bildsäule der Minerva standen, wie verschiedene versichern, von seiner Arbeit gewesen. Zeiten, in welchen ein Phidias, Zeuxis und Myron lebten, können keiner mittelmäßigen Arbeit eine so wichtige Stelle eingeräumt haben.

Etwa in seinem dreyßigsten Jahre, als sein Vater längst todt war, und er, ohne sonderliche Neigung, aber aus Noth, die Bildhauerkunst noch immer trieb, lernte ihn Krito, ein vornehmer Athenienser, kennen, bemerkte seine erhabenen Talente, und urtheilte, daß er dem menschlichen Geschlechte durch sein Nachdenken weit nützlicher werden könnte, als durch seine Handarbeit. Er nahm ihn aus der Schule der Kunst, und brachte ihn zu den Weisen der damaligen Zeit, um ihm Schönheiten einer höhern Ordnung zur Betrachtung und Nachahmung vorhalten zu lassen. Lehret die Kunst, das Leben im Leblosen nachzuahmen, den Stein dem Menschen ähnlich zu machen; so suchet die Weisheit hingegen, das Unendliche im Endlichen nachzuahmen, die Seele des Menschen jener ursprünglichen Schönheit und Vollkommenheit so nahe zu bringen, als es in diesem Leben möglich ist. Sokrates genoß den Unterricht und den Umgang der berühmtesten Leute in allen Wissenschaften und Künsten, von welchen seine Schüler den Archelaus, Anaxagoras, Prodikus, Evenus, Isimachus, Theodorus und andere nennen.

Krito versahe ihn mit den Nothwendigkeiten des Lebens, und Sokrates legte sich anfangs mit vielem Fleiße auf die Naturlehre, die zur damaligen Zeit sehr im Schwange war. Er merkte aber gar bald, daß es Zeit sey, die Weisheit von Betrachtung der Natur auf die Betrachtung des Menschen zurückzuführen. Dieses ist der Weg, den die Weltweisheit allezeit nehmen sollte. Sie muß mit Untersuchung der äußerlichen Gegenstände anfangen, aber bey jedem Schritte, den sie thut, einen Blick auf den Menschen zurückwerfen, auf dessen wahre Glückseligkeit alle ihre Bemühungen abzielen sollten. Wenn die Bewegung der Planeten, das Wesen der himmlischen Körper, die Natur der Elemente u. s. w. nicht wenigstens mittelbar einen Einfluß in unsre Glückseligkeit haben: so ist der Mensch gar nicht bestimmt, sie zu untersuchen. Sokrates war der erste, wie Cicero sagt, der die Philosophie vom Himmel herunter gerufen, in die Städte eingesetzt, in die Wohnungen der Menschen geführet, und über ihr Thun und Lassen Betrachtungen anzustellen genöthiget hat. Indessen gierig er, wie überhaupt die Neuerungsstifter zu thun pflegen, auf der andern Seite etwas zu weit, und sprach zuweilen von den erhabensten Wissenschaften, mit einer Art von Geringschätzung, die dem weisen Beurtheiler der Dinge nicht geziemet.

Damals stand in Griechenland, wie zu allen Zeiten bey dem Pöbel, die Art von Gelehrten in großem Ansehen, die sich bemühen, eingewurzelte Vorurtheile und verjährten Aberglauben durch allerhand Scheingründe und Spitzfindigkeiten zu begünstigen. Sie gaben sich den Ehrennamen Sophisten, den ihre Aufführung in einen Ekelnamen verwandelte. Sie besorgten die Erziehung der Jugend, und unterrichteten auf öffentlichen Schulen so wohl, als in Privathäusern, in Künsten, Wissenschaften, Sittenlehre und Religion, mit allgemeinem Beyfalle. Sie wußten, daß in demokratischen Regierungsverfassungen die Beredsamkeit über alles geschätzt wird, daß ein freyer Mann gerne von Politik schwatzen höret, und daß die Wissensbegierde schaaler Köpfe am liebsten durch Mährchen befriediget seyn will: daher unterließen sie niemals, in ihrem Vortrage gleißende Beredsamkeit, falsche Politik und ungereimte Fabeln so künstlich durcheinanderzuflechten, daß das Volk sie mit Verwunderung anhörte und mit Verschwendung belohnte. Mit der Priesterschaft standen sie in gutem Vernehmen; denn sie hatten beiderseits die weise Maxime: leben und leben lassen. Wenn die Tyranney der Heuchler den freyen Geist der Menschen nicht länger unter dem Joche halten konnte: so waren jene Scheinfreunde der Wahrheit bestellt, ihn auf falsche Wege zu verleiten, die natürlichen Begriffe durcheinander zu werfen, und allen Unterschied zwischen Wahrheit und Irrthum, Recht und Unrecht, Gutem und Bösem, durch blendende Trugschlüsse aufzuheben. In der Theorie war ihr Hauptgrundsatz: Man kann alles beweisen und alles wiederlegen, und in der Ausübung: Man muß von der Thorheit anderer, und seiner eigenen Ueberlegenheit, so viel Vortheil ziehen, als man nur kann. Diese letztere Maxime hielten sie zwar, wie leicht zu erachten, vor dem Volke geheim, und vertrauten dieselbe nur ihren Lieblingen, die an ihrem Gewerbe Theil nehmen sollten; allein die Moral, die sie öffentlich lehrten, war nichts destoweniger für das Herz der Menschen eben so verderblich, als ihre Politik für die Rechte, Freyheit und Glückseligkeit des menschlichen Geschlechts.

Da sie listig genug waren, das herrschende Religionssystem mit ihrem Interesse zu verwickeln: so gehörte nicht nur Entschlossenheit und Heldenmuth dazu, ihren Betrügereyen Einhalt zu thun, sondern ein wahrer Tugendfreund durfte es ohne die behutsamste Vorsichtigkeit nicht wagen. Es ist kein Religionssystem so verderbt, das nicht wenigstens einigen Pflichten der Menschheit eine gewisse Heiligung giebt, die der Menschenfreund verehren, und der Sittenverbesserer, wann er nicht seiner eigenen Absicht zuwider handeln will, unangetastet lassen muß. Von Zweifel in Religionssachen zur Leichtsinnigkeit, von Vernachläßigung des äußerlichen Gottesdienstes zur Geringschätzung alles Gottesdienstes überhaupt, pflegt der Uebergang sehr leicht zu seyn, besonders für Gemüther, die nicht unter der Herrschaft der Vernunft stehn, sondern von Geiz, Ehrsucht oder Wollust regieret werden. Die Priester des Aberglaubens verlassen sich nur allzusehr auf diesen Hinterhalt, und nehmen zu demselben, wie zu einem unverletzlichen Heiligthum, ihre Zuflucht, so oft ein Angriff auf sie geschiehet.

Solche Schwierigkeiten und Hindernisse standen dem Sokrates im Wege, als er den großen Entschluß faßte, Tugend und Weisheit unter seinen Nebenmenschen zu verbreiten. Er hatte, von der einen Seite, seine eignen Vorurtheile der Erziehung zu besiegen, die Unwissenheit anderer zu beleuchten, Sophisterey zu bestreiten, Bosheit, Neid, Verleumdung und Beschimpfung von Seiten seiner Gegner auszuhalten, Armuth zu ertragen, festgesetzte Macht zu bekämpfen, und, was das schwerste war, die finstern Schrecknisse des Aberglaubens zu vereiteln. Von der andern Seite waren die schwachen Gemüther seiner Mitbürger zu schonen, Aergernisse zu vermeiden, und der gute Einfluß, den selbst die albernste Religion auf die Sitten der Einfältigen hat, nicht zu verscherzen. Alle diese Schwierigkeiten überstand er mit der Weisheit eines wahren Philosophen, mit der Geduld eines Heiligen, mit der uneigennützigen Tugend eines Menschenfreundes, mit der Entschlossenheit eines Helden, auf Unkosten und mit Verlust aller weltlichen Güter und Vergnügungen. Gesundheit, Macht, Bequemlichkeit, Leumund, Ruhe und zuletzt das Leben selbst, gab er auf die liebreichste Weise für das Wohl seiner Nebenmenschen hin. So mächtig wirkte in ihm die Liebe zur Tugend und Rechtschaffenheit, und die Unverletzlichkeit der Pflichten gegen den Schöpfer und Erhalter der Dinge, den er durch das reine Licht der Vernunft auf die lebendigste Art erkannte.

Diese höheren Aussichten des Weltbürgers hielten ihn indessen nicht ab, die gemeineren Pflichten gegen sein Vaterland zu erfüllen. In seinem sechs und dreyßigsten Jahre that er Kriegesdienste wider die Potidäer, die Einwohner einer Stadt in Thrazien, die sich wider ihre Tributherrn, die Athenienser, empört hatten. Allhier versäumte er die Gelegenheit nicht, seinen Körper wider alle Beschwerlichkeiten des Kriegs und Rauhigkeit der Jahreszeit abzuhärten, und seine Seele in Unerschrockenheit und Verachtung der Gefahr zu üben. Er trug, durch die allgemeine Einstimmung seiner Mitwerber selbst, den Preis der Tapferkeit davon, überließ aber denselben dem Alcibiades, den er liebte, und hiedurch aufmuntern wollte, solche Ehrenbezeigungen von seinem Vaterlande künftighin durch eigene Thaten zu verdienen. Kurz vorher hatte er ihm in einem Gefechte das Leben gerettet. Man belagerte die Stadt Potidäa in der strengsten Kälte. Andere verwahrten sich wider den Frost, er blieb bey seiner gewöhnlichen Kleidung, und gieng mit bloßen Füßen über das Eis. Die Pest wütete in dem Lager und in Athen selbst. Es ist fast nicht zu glauben, was Diogenes Laertius und Aelian versichern: Sokrates soll der einzige gewesen seyn, den sie gar nicht angegriffen. Ohne aus diesem Umstande, der ein bloßer Zufall hat seyn können, etwas zu schließen, kann man überhaupt mit Gewißheit sagen, daß er von einer starken und dauerhaften Leibesbeschaffenheit gewesen, und solche durch Mäßigkeit, Uebung und Entfernung von aller Weichlichkeit so zu erhalten gewußt hat, daß er wider alle Zufälle und Beschwerlichkeit des Lebens abgehärtet war. Gleichwohl hat er auch im Felde nicht unterlassen, seine Seelenkräfte nicht nur zu üben, sondern äußerst anzustrengen. Man sah ihn zuweilen vier und zwanzig Stunden auf eben der Stelle, mit unverwandten Blicken, in Gedanken vertieft stehn, als wenn der Geist von seinem Körper abwesend wäre, sagt Aulus Gellius. Man kann nicht läugnen, daß diese Entzückungen eine Anlage zur Schwärmerey gewesen, und man findet in seinem Leben mehrere Spuren, daß er nicht völlig davon befreyet gewesen. Indessen war es eine unschädliche Schwärmerey, die weder Hochmuth noch Menschenhaß zum Grunde hatte, und die in der Verfassung, in welcher er sich befand, ihm sehr nützlich gewesen seyn mag. Die gemeinen Kräfte der Natur reichen vielleicht nicht hin, den Menschen zu so großen Gedanken und standhaften Entschließungen zu erheben.

Nach geendigtem Feldzuge kehrte er in seine Vaterstadt zurück, und fieng an mit Nachdruck Sophisterey und Aberglauben zu bekämpfen, und seine Mitbürger in Tugend und Weisheit zu unterrichten. Auf öffentlichen Straßen, Spaziergängen, in Bädern, Privathäusern, Werkstätten der Künstler, wo er nur Menschen fand, die er bessern zu können glaubte, da hielt er sie an, ließ sich mit ihnen in Gespräche ein,4 erklärte ihnen, was recht und unrecht, gut und böse, heilig und unheilig sey; unterhielt sie von der Vorsehung und Regierung Gottes, von den Mitteln ihm zu gefallen, von der Glückseligkeit des Menschen, von den Pflichten eines Bürgers, eines Hausvaters, eines Ehemannes u. s. w. Alles dieses niemals in dem aufdrängenden Ton eines Lehrers, sondern als ein Freund, der die Wahrheit selbst erst mit uns suchen will. Er wußte es aber durch die einfältigsten Kinderfragen so einzuleiten, daß man von Frage zu Frage, ohne sonderliche Anstrengung, ihm folgen konnte, ganz unvermerkt aber sich am Ziele sah, und die Wahrheit nicht gelernet, sondern selbst erfunden zu haben glaubte. Ich ahme hierinn meiner Mutter nach, pflegte er im Scherze zu sagen: Sie gebieret selbst nicht mehr, aber sie besitzet Kunstgriffe, wodurch sie andern ihre Geburten zur Welt bringen hilft. Auf eine ähnliche Weise versehe ich bey meinen Freunden das Amt eines Geburtshelfers. Ich frage und forsche so lange, bis die verborgene Frucht ihres Verstandes ans Licht kömmt.

Diese Methode, die Wahrheit zu erfragen, war auch die glücklichste, die Sophisten zu widerlegen. Wenn es zu einem ausführlichen Vortrage kam, so war ihnen nicht beyzukommen. Denn da standen ihnen so viel Ausschweifungen, so viel Mährchen, so viel Scheingründe, und so viel rednerische Figuren zu Gebote, daß die Zuhörer verblendet wurden, und überzeugt zu seyn glaubten. Ein allgemeines Händeklatschen pflegte ihnen selten zu entstehen. Und man stelle sich den triumphirenden Blick vor, mit welchem solche Lehrer alsdann auf ihre Schüler, oder wohl gar Wiedersacher, herabsahen. Was that Sokrates bey einer solchen Gelegenheit? Er klatschte mit; wagte aber einige gar leichte von der Sache etwas entfernte Fragen, die der hochgelehrte Mann für albern hielt, und aus Mitleiden beantwortete. Nach und nach schlich er sich der Sache näher, immer mit Fragen, und immer indem er seinem Gegner die Gelegenheit abschnitt, in anhaltende Reden auszuschweifen. Dadurch wurden sie genöthigt, die Begriffe deutlich auseinander zu setzen, richtige Erklärungen gelten, und aus ihren falschen Voraussetzungen ungereimte Folgerungen ziehen zu lassen. Zuletzt sahen sie sich so in die Enge getrieben, daß sie ungeduldig wurden. Er aber ward es niemals, sondern ertrug ihre Unart selbst mit der größten Gelassenheit, fuhr fort die Begriffe zu entwickeln, bis endlich die Ungereimtheiten, die aus den Grundsätzen der Sophisten folgten, dem einfältigsten Zuhörer handgreiflich wurden. Auf solche Weise wurden sie ihren eignen Schülern zum Gelächter.

In Ansehung der Religion scheint er folgende Maxime vor Augen gehabt zu haben. Jede falsche Lehre oder Meynung, die offenbar zur Unsittlichkeit führet, und also der Glückseligkeit des menschlichen Geschlechts entgegen ist, wurde von ihm auf keinerlei Weise verschont, sondern öffentlich, im Beyseyn der Heuchler, Sophisten und des gemeinen Volks, bestritten, lächerlich gemacht, und in ihren ungereimten und abscheulichen Folgen gezeigt. Von dieser Art waren die Lehren der Fabeldichter von den Schwachheiten, Ungerechtigkeiten, schändlichen Begierden und Leidenschaften, die sie ihren Göttern zuschrieben. Ueber dergleichen Sätze, so wie über unrichtige Begriffe von der Vorsehung und Regierung Gottes, auch über die Belohnung des Guten und die Bestrafung des Bösen war er niemals zurückhaltend, niemals, selbst zum Scheine nicht, zweifelhaft, sondern allezeit entschlossen, die Sache der Wahrheit mit der größten Unerschrockenheit zu verfechten, und, wie der Erfolg gezeigt, sein Bekentniß mit dem Tode zu versiegeln. Eine Lehre aber, die bloß theoretisch falsch, und den Sitten so großen Schaden nicht bringen konnte, als von einer Neuerung zu befürchten war, ließ er unangefochten, bekannte sich vielmehr öffentlich zu der herrschenden Meynung, beobachtete die darauf gegründeten Ceremonien und Religionsgebräuche, vermied hingegen alle Gelegenheit zu einer entscheidenden Erklärung; und wann ihr nicht auszuweichen war, so hatte er eine Zuflucht in Bereitschaft, die ihm niemals entstehen konnte: er schützte seine Unwissenheit vor.

Hierunter begünstigte ihn vorzüglich die Methode zu lehren, die er, wie wir gesehen, aus andern Einsichten gewählt hatte. Denn da er seine Lehren niemals mit dem Hochmuthe eines alleswissenden Mannes ankündigte, da er vielmehr nichts selbst behauptete, sondern allezeit die Wahrheit durch Fragen von seinen Zuhörern herauszulocken suchte: so war ihm erlaubt, das nicht zu wissen, was er nicht wissen konnte, oder durfte. Die Eitelkeit, auf alle Fragen eine Antwort zu wissen, hat so manchen großen Geist verführt, Dinge zu behaupten, die er in dem Munde eines andern getadelt haben würde. Sokrates war von dieser Eitelkeit weit entfernt. Von Dingen, die über seinen Horizont waren, gestand er mit der naivesten Freymüthigkeit: Dieses weiß ich nicht; und wann er merkte daß ihm Fallen gelegt wurden, und gewisse Geständnisse abgelockt werden wollten, so zog er sich aus dem Spiele, und sagte: Nichts weiß ich! Das Orakel zu Delphi erklärte ihn für den weisesten unter allen Sterblichen. »Wißt ihr, sprach Sokrates, warum Apollo mich für den größten Weisen auf Erden hält? Weil andere mehrentheils etwas zu wissen glauben, was sie nicht wissen. Ich aber sehe wohl ein und gestehe, daß alles, was ich weiß, darauf hinausläuft, daß ich nichts weiß.«

Der Ruhm des Sokrates, verbreitete sich in ganz Griechenland, und es kamen die angesehensten und gelehrtesten Männer von allen Gegenden zu ihm, um seines freundschaftlichen Umgangs und Unterrichts zu genießen. Die Begierde ihn zu hören, war unter seinen Freunden so groß, daß mancher sein Leben wagte, um nur täglich bey ihm zu seyn. Die Athenienser hatten bey Lebensstrafe verboten, daß sich kein Megarenser auf ihrem Gebiete betreten lassen sollte. Euklides von Megara, ein Freund und Schüler des Sokrates, ließ sich dadurch nicht abhalten seinen Lehrer zu besuchen. Des Nachts gieng er, in bunte Weiberkleider gehüllt, von Megara nach Athen, und des Morgens, ehe es Tag war, gieng er wieder seine zwanzig tausend Schritte zurück nach Hause. Bey dem allen lebte Sokrates in der äußersten Armuth und Dürftigkeit, und wollte sich nichts für seinen Unterricht bezahlen lassen, obgleich die Athenienser so lehrbegierig waren, daß sie sichs große Summen würden haben kosten lassen, wann er auf Belohnung gedrungen hätte. Die Sophisten wußten von dieser Bereitwilligkeit schon bessern Gebrauch zu machen.

Es muß ihm desto mehr Ueberwindung gekostet haben, diese Dürftigkeit zu ertragen, da seine Frau, die berüchtigte Xantippe, eben nicht die genügsamste Hausfrau gewesen, und er auch für Kinder zu sorgen gehabt, die ihre Verpflegung von seiner Hand erwarteten. Es ist zwar noch nicht ausgemacht, daß die Xantippe von so böser Gemüthsart gewesen, als man gemeiniglich glaubet. Die Mährchen, die zu ihrer Beschimpfung bekannt sind, rühren von spätern Schriftstellern her, die sie nur vom Hörensagen haben konnten. Plato und Xenophon, die am besten davon unterrichtet seyn mußten, scheinen sie als eine mittelmäßige Frau gekannt zu haben, von der sich weder viel gutes noch viel böses sagen läßt. Ja man wird in folgendem Gespräche nach dem Plato finden, daß sie, an dem letzten Tage des Sokrates, mit ihrem Kinde bey ihm im Kerker gewesen, und sich außerordentlich über seinen Tod betrübt hat. Alles was man sonst bey diesen glaubwürdigsten Schriftstellern zu ihrem Nachtheile findet, ist etwa eine Stelle in dem Tischgespräche Xenophons, wo jemand den Sokrates fragt, warum er sich eine Frau genommen, die so wenig umgänglich wäre? worauf dieser in seinem gewöhnlichen Tone antwortet: »Wer mit Pferden umgehen lernen will, der wählet sich zu seiner Uebung kein geduldiges Lastthier, sondern ein muthiges Roß, das schwer zu bändigen ist. Ich, der ich mit Menschen umgehen lernen will, habe mir aus eben der Ursache eine Hausfrau gewählt, die unverträglich ist, um die verschiedene Laune der Menschen desto besser ertragen zu lernen.« An einer andern Stelle läßt eben dieser Schriftsteller den Sohn des Sokrates, den Lamproklus, sich gegen seinen Vater über die harte Begegnung, mürrische Gemüthsart und unerträgliche Laune seiner Mutter beschweren. Allein aus der Antwort des Sokrates erhellet, zu ihrem Lobe, daß sie, bey ihrem zänkischen Gemüthe, die Pflichten einer Hausmutter gleichwohl sorgfältig beobachtet, und ihre Kinder geliebt, und gehörig verpflegt hat. Dieses Zeugniß ihres Ehemannes widerlegt offenbar alle schimpfliche Histörchen, die man auf ihre Unkosten ersonnen, und wodurch man sie der Nachwelt als ein Beyspiel eines bösen Weibes aufgestellt hat. Man kann mit gutem Grunde glauben, daß Sokrates seine Kunst mit Menschen umzugehen an seiner Ehegenoßinn nicht vergebens geübt hat: daß er vielmehr durch unermüdete Geduld, Gefälligkeit, Sanftmuth, und durch seine unwiederstehlichen Ermahnungen die Härte ihres Temperaments überwunden, ihre Liebe gewonnen, und sie dergestalt gebessert haben wird, daß sie aus einem unverträglichen Weibe, eine gute Hausmutter, und, wie ihre Aufführung vor seinem Ende ausweiset, eine zärtliche Ehefrau geworden. Dem sey indessen wie ihm wolle, so müssen ihm seine häuslichen Umstände die Armuth weit beschwerlicher gemacht haben: da er nicht sich allein, sondern einer ganzen Familie, und vielleicht einer unzufriedenen und über seine strenge Genügsamkeit sich beklagenden Familie, von seinem Thun und Lassen Rechenschaft zu geben hatte. Niemand war besser von den Pflichten eines Hausvaters unterrichtet, als Sokrates. Er wußte wohl, daß ihm obliege, so viel zu erwerben und anzuschaffen, als zum ehrlichen Auskommen für seine Familie nöthig sey, und er hat diese natürliche Pflicht seinen Freunden sehr oft eingeschärft. Allein was ihn selbst betraf, so stand ihm eine höhere Pflicht im Wege, die ihn verhinderte, jener Genüge zu leisten. Das Verderbniß der Zeiten, da alles des feilen Gewinnstes halber geschahe, und insbesondere die niederträchtige Habsucht der Sophisten, die ihre verderblichen Lehren um baares Geld verkauften, und die schändlichsten Mittel anwendeten, sich auf Unkosten des betrogenen Volks zu bereichern: diese legten ihm die Verbindlichkeit auf, ihnen die äußerste Uneigennützigkeit entgegen zu setzen, damit seine reinen und unbefleckten Absichten keiner übeln Auslegung fähig seyn möchten. Er wollte lieber darben, und, wenn ihn der Mangel zu sehr drückte, von Almosen leben, als durch sein Beyspiel den schmuzigen Geldgeiz dieser falschen Weisheitslehrer nur einigermaßen rechtfertigen.

Er unterbrach diese wohlthätigen Beschäfftigungen, und zog abermals freiwillig mit zu Felde wider die Boeotier. Die Athenienser verloren eine Schlacht bey Delium, und wurden aufs Haupt geschlagen. Sokrates zeigte seine Tapferkeit so wohl im Treffen, als auf dem Rückzuge. »Hätte jedermann seine Pflicht so gethan, wie Sokrates, spricht der Feldherr Laches beym Plato, so wäre der Tag gewiß nicht unglücklich für uns gewesen.« Als alles floh, gieng er auch zurück, aber Schritt vor Schritt, und indem er sich öfters umkehrte, um einem Feinde, der ihm etwa auf den Hals käme, Wiederstand zu thun. Er fand den Xenophon, der vom Pferde gefallen und verwundet war, unterwegens liegend, nahm ihn auf seine Schulter, und brachte ihn in Sicherheit.

Die Priester, Sophisten, Redner und andre, die dergleichen feile Künste trieben, Leute, denen Sokrates ein Dorn im Auge seyn mußte, machten sich desselben Abwesenheit zu Nutz, und suchten die Gemüther wider ihn aufzubringen. Bey seiner Zurückkunft fand er eine geschlossene Partey, der kein Mittel ihm zu schaden zu niederträchtig war. Sie mietheten, wie man zu glauben Ursach hat, den Komödienschreiber Aristophanes, daß er durch ein Possenspiel, das man damals Komödie nannte, den Sokrates verhaßt und lächerlich zu machen suchte, um das gemeine Volk theils auszuholen, theils vorzubereiten, und wann der Streich gelänge, ein mehreres zu wagen. Diese Fratze führte den Namen die Wolken. Sokrates war die Hauptperson, und die Figur, die diese Rolle machte, gab sich Mühe ihn nach dem Leben zu konterfeyen. Kleidung, Gang, Geberde, Stimme, alles äffte er natürlich nach. Das Stück selbst hat sich, zur Ehre des verfolgten Weltweisen, bis auf unsre Zeiten erhalten. Man kann sich kaum etwas ungezogeners gedenken.

Sokrates pflegte sonst niemals das Theater zu besuchen, außer wann die Stücke des Euripides, (daran er selbst, wie einige wollen, Antheil gehabt) aufgeführt wurden. Den Tag, da dieses Pasquill aufgeführt werden sollte, gieng er gleichwohl hinein. Er hörte, daß viele Fremde, die zugegen waren, sich erkundigten, wer dieser Sokrates im Original sey, der auf der Bühne so gehöhnt werde? Er trat mitten im Schauspiel hervor, und blieb, bis ans Ende des Stücks, auf einer Stelle stehn, wo ihn jedermann sehen und mit der Kopey vergleichen konnte. Dieser Streich war für den Dichter und seine Komödie tödtlich. Die possenhaftesten Einfälle thaten keine Wirkung mehr: denn das Ansehn des Sokrates erregte Hochachtung und eine Art von Erstaunen über seine Unerschrockenheit. Auch fand das Stück keinen Beyfall. Der Dichter veränderte es, und brachte es das folgende Jahr wieder auf die Bühne, aber mit eben so schlechtem Erfolge. Die Feinde des Weltweisen sahen sich genöthiget, die vorgehabte Verfolgung bis auf eine günstigere Zeit zu verschieben.

Kaum war der Krieg mit den Boeotiern geendiget, so mußten die Athenienser schon ein neues Heer anwerben, um dem Lacedämonischen Feldherrn Brasidas Einhalt zu thun, der in Thrazien verschiedene Städte, und unter andern die wichtige Stadt Amphipolis ihrer Herrschaft entzogen hatte. Sokrates ließ sich die Gefahr, in die ihn seine letzte Abwesenheit gesetzt, nicht abhalten, dem Vaterlande abermals zu dienen. Dieses war das letzte mal daß er seine Vaterstadt verlassen hatte. Nach der Zeit kam er, bis an sein Ende, nicht aus dem Gebiete der Athenienser, und unterließ niemals, der Jugend, die ihn suchte, seinen freundschaftlichen Umgang zu gönnen, und ihr durch Lehren und gutes Exempel die Liebe zur Tugend einzuflößen. Wie er aber überall ein großer Freund und Liebhaber der Schönheit war, so schien er in der Wahl seiner Freunde auch auf körperliche Schönheit zu sehen. Ein schöner Körper, pflegte er zu sagen, verspricht eine schöne Seele, und wenn sie der Erwartung nicht zusagt, so muß sie verwahrlost worden seyn. Daher er sich denn viele Mühe gab, das Inwendige dieser Personen mit ihrem wohlgebildeten Aeußerlichen übereinstimmend zu machen. Niemand aber war ihm so angelegen, als Alcibiades, ein junger Mensch von ungemeiner Schönheit und von großen Talenten, der hochfahrend, muthig, leichtsinnig und überaus feuriges Temperaments war. Diesen verfolgte er unermüdet, ließ sich bey allen Gelegenheiten mit ihm in Unterredung ein, um ihn durch freundschaftliche Ermahnungen und liebreiche Verweise von den Ausschweifungen des Ehrgeizes und der Wollust, wozu er von Natur sehr geneigt war, abzuhalten. Plato läßt ihn bey dieser Gelegenheit öfters Ausdrücke brauchen, die beynahe verliebt scheinen: daher man in spätern Zeiten Gelegenheit genommen, den Sokrates eines sträflichen Umgangs mit jungen Leuten zu beschuldigen. Allein die Feinde des Sokrates selbst, Aristophanes in der Komödie, und Melitus in seiner Anklage, thun hiervon nicht die geringste Erwähnung. Melitus beschuldigt ihn zwar, daß er die Jugend verderbe, allein, wie aus der Antwort des Sokrates