Phantasium - Yvette Himmel - E-Book

Phantasium E-Book

Yvette Himmel

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Beschreibung

Immer wieder erzählte Ellas Oma ihr Geschichten über ein magisches Land voller Feen, Wichtel und fliegenden Sternentigern. Bisher hielt die 10jährige Ella diese für erfunden … bis sie eines Tages neugierig einem Glühwürmchen in den Wald folgt. Plötzlich findet sie sich in einem Land voller Magie und Fantasie wieder, das dem der Erzählungen ihrer Oma sehr ähnelt. Phantasium nennen es seine Bewohner. Fasziniert geht die fantasievolle Ella auf Entdeckungsreise, begegnet sprechenden Riesenblumen, tanzt mit Feen und lernt neue Freunde kennen. Doch schon bald versteht sie, dass nicht alles so friedlich ist, wie es scheint: Ein mysteriöses Wesen namens Aphantasia entzieht den Bewohnern Phantasiums die Fantasie und damit ihre Magie. Und Ella ist die Einzige, die ihn aufhalten kann. Zumindest laut einer uralten Prophezeiung. Doch reicht Ellas Fantasie aus, um das gesamte Phantasium zu retten? Ein spannendes Abenteuer, ein Königreich in dunkler Gefahr und ein Mädchen, das großen Mut beweisen muss. In diesem besonderen Märchen geht es um Fantasie, Freundschaft und den Glauben an das Gute im Menschen. "Die Geschichte eignet sich hervorragend, um erneut die Fantasie vieler Kinder beflügeln. Lesenswert für alle Kinder, die die Geschichten von Alice im Wunderland und die unendliche Geschichte lieben."

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Yvette Himmel

Phantasium

Impressum

1. Auflage

Copyright © 2022 – Yvette Himmel

Alle Rechte vorbehalten.

Coverdesign & Buchlayout: BookDesigns, www.bookdesigns.de Illustration Cover: @ Elena Schweitzer, depositphotos.com

Illustrationen im Buch: Tree vector created by brgfx - www.freepik.com, Flower vector created by user2104819 - www.freepik.com, Hot chocolate @ nordfox- depositphotos.com Verlag: Yvette Himmel c/o Zeuner Publishing, Inh. J. Zeuner, Zum Badestrand 2b,

15754 Heidesee OT Prieros

Vertrieb: Tolino Media

eBook ISBN: 9783759292438

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. Der herausgebende Verlag, Autor und in Verbindung stehende Dritte sind für individuelle Entscheidungen nicht verantwortlich und in keiner Weise für dem Buch entnommene und befolgte Informationen haftbar.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

1. Das Glühwürmchen

2. Der Feenbaum

3. Die Prophezeiung

4. Der Sternentiger

5. Der Phantasiemeister

6. Das Training

7. Blumengeflüster

8. Die Himmelsblume

9. Das Dunkel

10. Aphantasia

Epilog

1. Das Glühwürmchen

Ella hat den Glauben an die Magie nie aufgegeben. Das hätte ihre Oma nämlich nie zugelassen. Jeden Tag erzählte sie ihrer Enkeltochter von fantastischen Abenteuern, die sie in ihrer Kindheit erlebt hatte. Von sprechenden Riesenblumen. Fliegenden Tigern, die aus einer Art Sternenstaub bestehen. Und von einem Land voller Fantasie und Freunde, die mit ihrer Magie Außergewöhnliches erschaffen konnten.

„Kann ich auch Magie haben, Omi?“, hatte Ella sie jedes Mal nach einer solchen Geschichtsstunde gefragt. Die Oma hatte als Antwort jedes Mal sanft gelacht und das Näschen des Mädchens gekniffen.

„Aber die hast du doch schon. Wir alle haben die Magie in uns drin. Und jetzt trink deine heiße Schokolade fertig, Süße.“

Auch heute noch, Jahre später und nach dem Tod ihrer Oma, erinnerte sich Ella an die Geschichten. Aus diesem Grund konnte sie auch nie an einem Blumenbeet vorbeigehen, ohne ihnen einen guten Tag zu wünschen. Nur im Falle, dass es dieselben lebendigen Blumen aus Omas Abenteuern waren. Sie hatte bemerkt, dass ihre Schulfreunde das gar nicht cool fanden und ihr manchmal verwunderte Blicke zuwarfen. „Die haben einfach nicht so viel Fantasie, wie du“, hatte Ellas Mutter zur Beruhigung immer beteuert. Trotzdem beschränkte sich Ella darauf, ihre Gespräche mit Pflanzen nur in dem riesigen Garten vor ihrem Haus zu führen. Dort hatte sie stets ihre Ruhe und konnte ihrer Fantasie freien Lauf lassen. So saß sie zum Beispiel stundenlang auf der Wiese und las in einem der unzähligen Bücher, die ihre Oma ihr hinterlassen hatte. Viele davon hatte die Oma selbst geschrieben. Diese waren Ellas Lieblingsgeschichten und manchmal las sie auch den Blumen vor, da sie nicht selten die Helden darin spielten. Genau wie heute.

Doch das faszinierende Schattenspiel, welches die Sonne mit den Blumen spielte, hatte sie abgelenkt. Die Schatten auf dem Boden sahen Ellas Meinung nach aus wie flatternde Flügel von Feen. Sie streckte gerade die Hand aus, um eine solche Fee spielerisch einzufangen, als sie unterbrochen wurde.

„Ella, hast du Lust auf ein Stückchen Kuchen?“, fragte die weiche und vertraute Stimme ihrer Mutter. Ella schüttelte ihren lockigen Kopf, ohne aufzublicken. Die Feen waren verschwunden. Stattdessen sah sie nur die dunklen Umrisse ihrer Mutter auf dem grünen Gras. Die Mutter lachte leise hinter ihr und kniete sich dann vor dem Mädchen hin, um auf Augenhöhe zu sein. „Erzählen dir die Blumen wieder spannende Geschichten?“, fragte sie und fuhr ihrer Tochter sanft durchs lange braune Haar.

Ella nickte nur und blickte weiterhin konzentriert auf das Blumenbeet vor ihr. Sie wollte ihr nicht erklären, dass es in Wirklichkeit sie war, die den Blumen die Geschichten erzählte. Ihre Mutter hatte ihre Faszination mit Geschichten und der Natur nie verstanden. Sie mochte zum Beispiel auch den Wald nicht, an den ihr Garten grenzte. Aber Ella liebte ihn. Sie würde am liebsten ihre ganze Zeit darin verbringen.

„Ist dir auch bestimmt nicht kalt?“, fragte ihre Mutter besorgt und deutete auf das Tutu-Kleid, das Ella trug. Es war ihr absolut liebstes Outfit. Sie mochte die vielen Farben, die sich als glitzernde Kleckse über das ganze Röckchen verteilten. Es erinnerte sie an das Ende eines Regenbogens. An den Ort, an dem der Kobold mit dem Goldtopf auf einen wartete. Endlich blickte Ella zu ihrer Mutter auf. Sie lächelte und schüttelte dann den Kopf. Ihr war nämlich ganz und gar nicht kalt. Der Boden war schön und kuschelig und warm. Sie hatte gar keine Lust, sich von der Stelle zu bewegen.

„Alles klar. Viel Spaß mit deinen Freunden“, sagte ihre Mutter und zeigte auf die farbenfrohen Blumen. „Komm aber ins Haus, bevor die Sonne untergeht!“, erinnerte sie Ella noch und stand dann auf.

Ella sah ihr nach, bis sie im Haus verschwunden war. Dann rückte Ella ihr glitzerndes Röckchen zurecht und räusperte sich. „Also … wo waren wir stehengeblieben?“, fragte sie eine gelbe Blume mit ernster Miene. Diese wackelte zur Antwort fröhlich im Wind hin und her. Ellas Gesicht hellte sich auf und sie griff nach dem ersten Buch auf dem Bücherstapel, der neben ihr auf der Wiese lag. „Jetzt weiß ich es wieder! Wir sind bei Kapitel 6 angelangt. Die Heldin hat gerade herausgefunden, dass sie betrogen wurde. Also … Kapitel 6.“ Sie räusperte sich erneut und begann den Blumen wieder vorzulesen. Sie waren tolle Zuhörer. Meist lauschten sie nur schweigend und gespannt dem Abenteuer, doch an den wichtigsten Stellen, wackelten sie aufgeregt hin und her. Dadurch wusste Ella, dass sie die Geschichte genauso sehr mochten wie sie. Sie waren viel bessere Zuhörer als beispielsweise ihr Vater. Der war abends immer so müde, dass sich seine Augenlider nach ein paar Sätzen gleich schlossen. Er behauptete zwar immer, Ella auch mit geschlossenen Augen noch zuzuhören, aber Ella war sich da nicht so sicher. Somit hatte sie entschieden, von nun an nur den Blumen vorzulesen. Nicht selten verlor sie sich komplett in den Geschichten und ihre Mutter musste sie daran erinnern, wieder ins Haus zu kommen.

Heute sollte nicht viel anders sein. Ohne dass Ella es groß bemerkte, sank die Sonne im Hintergrund immer tiefer. Erst, als ihre Augen die Buchstaben auf den Seiten nicht mehr ausmachen konnten, legte sie das Buch zur Seite und schaute zum Himmel auf.

„Es tut mir leid, euch an dieser spannenden Stelle hängenzulassen, aber ich muss nach Hause. Mama ist bestimmt schon besorgt!“, meinte Ella zu den Blumen. Sie schnappte sich den Bücherstapel, drückte ihn sich an die Brust und machte ein paar Schritte auf das Haus zu. Ein sanftes Summen nahe ihrem Ohr, brachte sie jedoch zum Stillstand. Ein Schmetterling vielleicht? Ella liebte Schmetterlinge! Sie könnte ihre wunderschönen Flügel stundenlang betrachten. Manchmal wünschte Ella sich, selber Flügel zu besitzen. Denk an all die tollen Abenteuer, die man da erleben könnte! Ganz wie in ihren geliebten Büchern. „Wie in den Filmen, meinst du?“, erinnerte sich Ella ihre Freundin Sarah sagen. Bücher waren nicht wirklich beliebt bei ihren Freunden. Viel lieber schauten sie sich die Abenteuer auf den Bildschirmen an. Ella hingegen spielte viel lieber mit ihrer Fantasie. Die hat sie schon auf so einige abenteuerliche Reisen begleitet.

Da war dieses Summen wieder! „Wo bist du, hübscher Schmetterling?“, fragte Ella leise und drehte ihren Kopf suchend umher. „Oh“, machte sie überrascht, als kein Schmetterling vor ihrer Nase auftauchte, sondern ein Glühwürmchen. Zumindest dachte Ella, es sei ein Glühwürmchen. Waren diese normalerweise so groß? Ella war sich nicht mehr sicher, da sie bereits seit Jahren kein Glühwürmchen mehr gesehen hatte. Dieses hier leuchtete gelblich und war etwa so groß wie eine Münze. Ella legte den Kopf schief und kniff die Augen zusammen, um es besser erkennen zu können. Das Licht war allerdings zu hell, um das Tier dahinter ausmachen zu können. Begeistert klatschte Ella in die Hände und ließ dabei die Bücher fallen. Sie verfehlten nur knapp ihre Zehen.

„Du bist aber hübsch“, sagte das Mädchen und trat noch näher an das Glühwürmchen heran. Zur Antwort wirbelte es mehrere Male in Höchstgeschwindigkeit um Ellas Kopf herum. Das Mädchen kicherte wild und schloss die Augen. „Halt! Du machst mich noch ganz schwindelig!“, rief sie. Ihre Wange fühlte sich plötzlich ganz warm an und sie öffnete vorsichtig ihre Augen wieder. Das Glühwürmchen entfernte sich und tanzte vor ihrer Nase auf und ab. Ob es wohl brennen würde, wie ein Feuer, wenn man es berührt? Ella streckte vorsichtig die Hand nach dem Licht aus. Blitzschnell wich es ihren Fingerspitzen aus. Ganz schön flink, dachte Ella. Das Glühwürmchen flog nun gemütlich in Richtung Wald. Ella blickte dem Tier nachdenklich hinterher. „Ob es im Wald wohl noch mehr Glühwürmchen gibt?“, fragte sie sich. Unsicher kaute sie auf ihrer Unterlippe. Doch die Neugier gewann die Überhand. Wenn schon ein einzelnes Glühwürmchen so hell leuchtete, wie hübsch wäre es denn, eine ganze Gruppe zu sehen? Entschieden lief Ella dem Glühwürmchen hinterher. Den Wald kannte sie eh schon wie ihre eigene Westentasche. Sie verbrachte beinahe jeden ihrer freien Schulnachmittage hier. Da machte es auch nichts, dass es jetzt ein wenig dunkel war. Außerdem war das Licht des Glühwürmchens beinahe so hell, wie das einer Taschenlampe. Eine Zeit lang gingen Ella und das Glühwürmchen entspannt nebeneinanderher. Plötzlich aber legte das Tier einen Zahn zu und raste Ella davon voraus, noch tiefer in den Wald.

„Hey! Warte auf mich!“, rief Ella überrascht und rannte los. Es war gar nicht so einfach, das Glühwürmchen nicht aus den Augen zu verlieren. Ella war kurz davor, aufzugeben und sich eine Pause zu gönnen, da kam das Glühwürmchen endlich zum Stillstand. Erleichtert und außer Atem, lehnte sich Ella an einen Baum. Sie massierte sich die müden Beine und warf dem Glühwürmchen einen genervten Blick zu. Dieser Sprint war nun wirklich nicht nötig gewesen. Außerdem waren da gar keine anderen Glühwürmchen! Enttäuscht blickte sich Ella im Wald um. Keine Spuren von anderen Glühwürmchen. Ella holte tief Luft und schüttelte den Kopf. Vielleicht hätte sie doch lieber einfach nach Hause gehen sollen. Ella stieß sich vom Baum ab und wollte sich gerade zum Gehen wenden, als sie ihre Umgebung genauer betrachtete. Sie stand inmitten einer kleinen Lichtung. Außer dem großen Baum, den sie gerade als Stütze gebraucht hatte, war sie leer. Verwundert ließ Ella ihren Blick über den riesigen Baum gleiten. Sie hatte ihn noch nie gesehen. Genauso wenig wie diese Lichtung. Wie war das möglich? Sie war sich sicher gewesen, jeden Winkel dieses Waldes erkundigt zu haben. Sie trat näher an den Baum. War es das Licht des Glühwürmchens, oder strahlte der Baum tatsächlich ein seltsames Leuchten aus? Einen solchen Baum hätte sie ganz bestimmt bemerkt! Fasziniert streckte sie die Hand nach dem Stamm aus. Er fühlte sich ungewöhnlich warm an. Ein Gefühl der Geborgenheit breitete sich in Ellas Brust aus. Doch da war noch was anderes. Ein Geruch. Das Parfum ihrer Oma! Konzentriert schloss Ella die Augen und schnupperte. Eben war sie sich noch so sicher gewesen, das Lieblingsparfum ihrer Oma in der Luft wahrgenommen zu haben. Doch da war nichts mehr. Als sie die Augen wieder öffnete, trat sie einen erschrockenen Schritt vom Baum weg. Sie traute ihren eigenen Augen nicht. Wo zuvor noch ein ganz normaler Baumstamm gewesen war, war plötzlich eine Tür erschienen. Ihr Rahmen leuchtete in einer intensiven goldenen Farbe. Sie hatte allerdings keinen Türknauf. Doch den brauchte es gar nicht, denn die Türe war bereits einen Spalt breit geöffnet.

Ella rieb sich die Augen. Sie musste sicherstellen, dass sie sich das nicht einbildete. Als sie fertig war, war die Tür immer noch da. Ella tat einen vorsichtigen Schritt näher. Sie kaute nervös auf ihrer Lippe, als sie ihren Oberkörper vorlehnte, um durch den Türspalt zu gucken. Es war zu dunkel, um etwas sehen zu können.

Plötzlich näherte sich das Glühwürmchen der Tür, schwebte kurz im Türspalt und flüsterte ihr zu: „Zeit für ein echtes Abenteuer, liebe Ella.“

Erschrocken schrie Ella kurz auf. Das Glühwürmchen konnte sprechen! Bevor Ella etwas antworten konnte, war es allerdings schon im Dunkeln hinter der Türe verschwunden.

Unsicher hüpfte Ella von einem Bein aufs andere. Natürlich wollte sie wissen, was sich hinter dieser offensichtlich magischen Tür befand. Aber konnte sie wirklich einfach ahnungslos einem Glühwürmchen folgen?

Ella räusperte sich zaghaft. „Wo führt diese Tür denn hin?“, fragte sie in den Türspalt hinein. Zu ihrer Erleichterung tauchte das Glühwürmchen wieder auf.

„Zu einem Abenteuer“, antwortete es. Die Stimme klang seltsam menschlich. Ein Schauer rann Ellas Rücken hinab. „Du magst doch Abenteuer, oder?“, fragte das Glühwürmchen als Ella nicht antwortete.

„Naja … in meinen Büchern schon, ja“, meinte Ella schließlich und kratzte sich nervös den Nasenrücken.

„Die Bücher deiner Oma?“

Ellas Augen weiteten sich. Woher wusste das Glühwürmchen denn, dass ihre Oma Schriftstellerin war?

„Emilia hätte ein solches Abenteuer nie ausgeschlagen“, fuhr das Glühwürmchen fort. Emilia! Das war der Name von Ellas Oma gewesen.

„Woher …?“ Doch bevor sie die Frage über die Lippen gebracht hatte, war das Glühwürmchen schon wieder verschwunden. „Warte! Woher kennst du meine Oma?“, rief Ella hinterher. Keine Antwort. Sie schloss die Augen und tat einen tiefen Atemzug. „Ok, Ella. Das Glühwürmchen hat recht. Oma hätte keine Angst vor einem solchen magischen Abenteuer gehabt. Also … nimm deinen ganzen Mut zusammen … und folge dem Glühwürmchen!“, sagte Ella laut vor sich hin. Als sie die Augen wieder öffnete, hatte die Tür sich einen weiteren Spaltbreit geöffnet. „Na dann …“, murmelte Ella und riss die Tür ganz auf. Dann trat sie endlich in den Baum hinein.

***

Es war stockdunkel. „Ähm … Glühwürmchen?“, fragte sie unsicher. Blitzschnell tauchte es neben ihr auf und Ella konnte wieder sehen. Zum Glück hatte sie keinen weiteren Schritt nach vorne gemacht, sonst wäre sie glatt eine riesige Wendeltreppe hinuntergepurzelt. Ella trat auf die erste Stufe und schaute hinab. Das Ende war nicht in Sicht.

„Ich soll also da hinabsteigen?“, fragte Ella und blickte zum Glühwürmchen. Zur Antwort hüpfte es in der Luft auf und ab. Ella nickte und begann mit dem Abstieg. Die Treppenstufen wirkten sehr alt und knarzten laut unter Ellas Gewicht.

„Die gehen jetzt aber nicht kaputt, oder?“, fragte Ella besorgt. Das Glühwürmchen kicherte, sagte aber nichts. Für Ellas Nerven war das nicht gerade sehr hilfreich. Nach einigen Minuten des Schweigens, bemerkte Ella, dass das Strahlen des Glühwürmchens immer schwächer wurde. Sie konnte inzwischen kaum mehr die nächste Treppenstufe ausmachen.

„Es ist zu dunkel. Ich brauche mehr Licht“, gab Ella schließlich zu und blieb stehen.

„Dann stelle es dir einfach vor.“ Ella runzelte ab dieser Antwort die Stirn.

„Was soll ich mir vorstellen?“, fragte sie.

„Das Licht“, meinte das Glühwürmchen.

„Aber … du kannst doch einfach mehr Licht machen …?“, meinte Ella verwirrt.

Erneut nur ein Kichern zur Antwort. Es wurde immer dunkler und langsam bekam es Ella doch ein wenig mit der Angst zu tun. „Bitte, kannst du mir mehr Licht machen?“, fragte sie, diesmal freundlicher.

„Nein. Aber du kannst. Stell dir das Licht einfach vor“, wiederholte das Glühwürmchen.

„Was soll das denn bringen? Ich bin keine Zauberin, ich kann es nicht einfach hell werden lassen!“, gab Ella ein wenig aufgeregt zurück.

„Aber du hast doch die Magie in dir“, sagte das Glühwürmchen.

Ella wollte gerade etwas Schnippisches zurückgeben, da erinnerte sie sich an Omas Worte. Genau das hatte sie auch immer gesagt. War es bloß ein Zufall, oder wusste das Glühwürmchen tatsächlich so viel über ihre Oma?

„Hier ist alles möglich, solange du es dir vorstellen kannst“, erklärt das Glühwürmchen.

Ella war noch immer nicht ganz überzeugt, aber sie hatte keine andere Wahl. Sie schloss die Augen und stellte sich angestrengt vor, wie eine ganz helle Lichtkugel vor ihr auftauchte und immer größer wurde.

„Ja! Du hast es geschafft!“, rief das Glühwürmchen aufgeregt und Ella riss die Augen auf. Tatsächlich schwebte eine Lichtkugel in der Größe eines Basketballs etwa einen Meter vor ihr in der Luft. Ungläubig starrte Ella auf das Licht. Hatte ihre Oma all die Jahre über Recht gehabt? Trug Ella die Magie in sich?

„Nun lass uns aber schnell weitergehen“, unterbrach das Glühwürmchen Ellas Gedankengang. Es hatte recht. Ella wusste ja gar nicht, wie lange dieses magische Licht anhalten würde. Besser also, so schnell wie möglich hier wegzukommen. Wenige Minuten später, überwand sie endlich die letzte Stufe. Sie musste sich ganz weit unter der Erde befinden. Als Ella sich umsah, entdeckte sie allerdings keinen Ausgang. Sie befand sich in einem runden Raum mit hölzernen Wänden, ganz ohne Türen. Eine Sackgasse.

„Hast du mir einen Streich gespielt, Glühwürmchen? Hier geht’s ja gar nicht weiter“, meinte Ella und verschränkte die Arme vor der Brust. Das Glühwürmchen kicherte erneut. Dann schwebte es auf eine der Wände zu und … verschwand. Einfach so. Es war durch die Wand hindurchgeflogen, als würde sie gar nicht existieren. Schnell rannte Ella zur selben Wand und inspizierte sie mit den Händen. Sie war hart und fühlte sich sehr echt an. Ella lehnte sich versuchshalber mit der Schulter gegen sie. Sie gab nicht nach. Frustriert stampfte Ella mit dem Fuß auf den Boden. Jetzt war sie auch noch ganz allein. Sie sah die ewig lange Wendeltreppe hinauf. Vielleicht sollte sie einfach wieder zurückgehen. Dann fiel ihr Blick auf die magische Lichtkugel. Sie hatte sie kreiert. Mit ihrer Magie. Sie wandte sich wieder der Wand zu, durch die das Glühwürmchen verschwunden war.

„Wenn alles möglich ist, was man sich vorstellt … dann …“, murmelte Ella und schloss zum wiederholten Mal die Augen. Sie stellte sich vor, wie sie ganz einfach durch die Wand hindurch laufen konnte, ohne dass diese jeglichen Widerstand leistete. Genau wie das Glühwürmchen vor ihr. Sie ging langsam, aber bestimmt auf die Wand zu und dann … nichts. Als sie die Augen öffnete, erstreckte sich vor ihr eine Landschaft, die sie nur aus den Beschreibungen der Bücher ihrer Oma kannte.

„Willkommen im Phantasium“, sagte das Glühwürmchen.

2. Der Feenbaum

Ella traute ihren Augen nicht. „Träume ich gerade?“, fragte sie, während sie ihren Blick über die hügelige Landschaft vor ihr schweifen ließ. Ella hatte noch nie zuvor Gras so grün und Blumen so bunt gesehen. Zu ihrer Linken erstreckte sich ein Wald, dessen Bäume ständig ihre Farben zu ändern schienen. Gerade eben waren sie noch blau, nun leuchteten sie in einem hellen Orange. Manche der Bäume reichten so weit in den Himmel, dass die Baumspitzen in den Wolken verschwanden. Obwohl … das konnten keine Wolken sein. Sie sahen aus, wie die Schäfchenwolken, die sie kannte, allerdings türmen sich auf ihnen ganze Gebäude. Richtig hohe Gebäude sogar! Manche ähnelten Schlössern, die sie so nur aus ihren Büchern kannte. Normale Wolken konnten dieses Gewicht unmöglich tragen.

„Wunderschön, nicht?“ Ellas Blick zuckte zurück zum Glühwürmchen.

„Wie ist das möglich?“, fragte Ella und deutete auf die Wolken.

Das Glühwürmchen kicherte. „Im Phantasium ist alles möglich. Solange du es dir nur vorstellen kannst“, antwortete das Glühwürmchen schließlich.

Ella runzelte die Stirn. Sie war nicht sicher, was sie mit dieser Aussage anfangen sollte. „Ist das dein Zuhause?“, fragte Ella weiter, im Versuch zu verstehen, was hier vor sich ging. Das Glühwürmchen hüpfte auf und ab. „Gibt es noch mehr sprechende Glühwürmchen hier?“ Anstelle einer Antwort leuchtete das Glühwürmchen plötzlich ganz hell.

Ella hob schnell eine Hand, um ihre Augen zu schützen. Als sie sie wieder sinken ließ, war das Tier verschwunden. Stattdessen stand da ein Mädchen. Ella schätzte sie in ihrem Alter. Sie trug ein erdfarbenes Kleid, welches ihr bis zu den Knien reichte und keine Schuhe. Doch es waren nicht etwa die nackten Füße, die Ellas Aufmerksamkeit auf sich zogen. Nein. Es waren die etwa ein Meter hohen Flügel, die aus den Schulterblättern des Mädchens ragten. Sie waren regenbogenfarben und glitzerten im strahlenden Sonnenlicht. Sie waren dem Muster auf Ellas Röckchen nicht unähnlich.

„Ich bin kein Glühwürmchen“, sagte das Mädchen schließlich. Ella wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Ein sprechendes Glühwürmchen war schon phantastisch genug gewesen. Aber nun hatte sich das Tier auch noch vor ihren Augen in ein Mädchen verwandelt. Selbst für die phantasievolle Ella war das ganz schön viel auf einmal.

„Bist du dann … ein Engel oder so?“, fragte Ella schließlich. Sie konnte ihre Augen gar nicht von den wunderschön glitzernden Flügeln abwenden. Das Mädchen kicherte und klang dabei wie das Glühwürmchen zuvor.

„Nein. Ich bin eine Fee!“, sagte sie stolz und grinste breit.

„Oh, wie cool!“, rief Ella und klatschte die Hände begeistert zusammen. In den Büchern ihrer Oma hatte sie schon unzählige Geschichten zu diesen Fabelwesen gelesen. Zumindest dachte sie, sie seien Fabelwesen. Nun stellte sich heraus, dass ihre Großmutter Recht behalten hatte. Dabei passte das Mädchen vor ihr genau in die Beschreibungen, welche Ellas Oma in den Büchern gegeben hatte: Kleidung in Erdtönen, gebräunte Haut, nackte Füße, lange bis zu den Kniebeugen reichendes Haar und leicht spitze Ohren. Dabei trug die Fee vor ihr auch noch eine Art Blumenkranz im Haar. Ella fragte sich, woher ihre Oma so genau wusste, wie die Feen aussahen.

„Ich heiße übrigens Cataleya“, stellte sich das Mädchen endlich vor.

Ella lächelte freundlich und streckte die Hand aus. „Ich bin Ella. Ein ganz gewöhnlicher Mensch“, sagte sie, als Cataleya ihre Hand ergriff und sie schüttelte. Die Fee kicherte.

„Ich weiß, wer du bist. Und wir werden noch sehen, wie gewöhnlich du bist“, sagte sie und zwinkerte Ella zu.

„Wie meinst du das?“, fragte Ella, bekam aber keine Antwort.

Stattdessen deutete Cataleya gen Himmel. „Das ist das Zuhause der Krillos. Sie haben gerne ihre Ruhe, deshalb haben sie die Phantasiemeister gebeten, ihr Gebiet in den Himmel zu verlegen“, erklärte Cataleya gelassen. Krillos? Phantasiemeister? Ella hatte keine Ahnung, wovon die Fee redete. Cataleya musste den verwirrten Gesichtsausdruck des Mädchens bemerkt haben, denn sie setzte gleich zur Erklärung an.

„Die Krillos sind witzige Wesen. Sie sehen aus wie eine Mischung aus Gorilla und Ziege in deiner Welt. Vielleicht begegnen wir ja einem, dann kannst du es selber sehen. Allerdings sind das ganz schön faule Wesen, die nur sehr selten überhaupt das Haus verlassen wollen.“

Ella wusste nicht so recht, wie sie sich eine Mischung aus Gorilla und Ziege vorstellen sollte. Körper eines Affen und Kopf einer Ziege? Oder umgekehrt? In ihrem Kopf schwirrten nun jede Menge komischer Bilder. Doch sie hatte eine dringlichere Frage: „Was sind Phantasiemeister?“

Für einen kurzen Moment schien Cataleyas Lächeln zu schwinden. Vielleicht bildete Ella sich das aber auch nur ein, denn die Fee erklärte mit fröhlicher Stimme: „Phantasiemeister sind die mächtigsten Wesen im Phantasium. Ihnen haben wir das alles hier zu verdanken“, sagte sie und zeigte auf die Landschaft vor ihnen.

„Ist das so eine Art König, dann?“, fragte Ella neugierig. Cataleya schüttelte den Kopf.

„Phantasium ist ein freies Land. Wir haben weder Könige noch Königinnen“, antwortete die Fee, diesmal mit einem scharfen Unterton in der Stimme.

„Was machen die Phantasiemeister dann, wenn sie nicht herrschen?“, fragte Ella verwirrt.

Cataleyas Gesicht erhellte sich wieder mit einem Lächeln. „Sie verfügen über magische Kräfte. Diese erlauben es ihnen, alles zu kreieren, was sie sich vorstellen können.“

Ella blickte erneut gen Himmel, zu dem Wolkenschloss. „So wie magische Wolken zum Beispiel, die ein ganzes Schloss tragen können?“, fragte Ella. Cataleya nickte. „Genau. Oder Bäume, die ihre Farben wechseln“, ergänzte die Fee und deutete auf den Wald vor ihnen.

„Verstehe …“, meinte Ella, war sich aber nicht sicher, ob sie es auch tat. „Wie sehen diese Phantasiemeister denn aus?“, fragte sie schließlich. Vielleicht waren die ja eine Mischung aus Mensch und Vogel. Das stellte sie sich ein wenig gruselig vor, aber möglich war es im Phantasium durchaus.

„Hmm … sie sehen aus wie du. Wie ein Mensch. Nur uralt, denn sie sind schon mehrere tausend Jahre hier“, meinte Cataleya.

„Mehrere tausend Jahre?“, rief Ella überrascht. Das konnte sie sich gar nicht vorstellen. „Wie alt bist du denn?“, frage Ella. Cataleya legte den Kopf schief und schien nachzudenken.

„Darüber habe ich noch gar nie nachgedacht“, meinte sie und zuckte dann die Achseln.

„Warte … du weißt nicht, wie alt du bist?“, fragte Ella perplex. Cataleya zuckte erneut mit den Schultern. „Zeit ist im Phantasium nicht so wichtig, weißt du. Eigentlich existiert sie hier auch gar nicht“, sagte Cataleya.

„Wie meinst du das? Wie kann Zeit nicht existieren?“, fragte Ella. Je mehr Fragen sie stellte, desto verwirrter war sie. Einmal hätte sie gerne eine Antwort, die ihr beim Verstehen helfen würde.

„Na, wir verändern uns über die Zeit hinweg zum Beispiel nicht. In der Menschenwelt altert man. Hier bleiben wir immer gleich. Wenn du zurück in deine Welt gehst, wirst du zudem merken, dass bloß wenige Minuten vergangen sind. Auch wenn du wochenlang hier bleibst.“ Ella starrte die Fee sprachlos an. Keine Zeit? Dieses Phantasium wurde immer merkwürdiger. Aber Ella hatte nichts dagegen. Es erinnerte sie an die phantastischen Welten, die ihre Oma immer in ihren Büchern beschrieben hatte.

„Sag mal … bist du die einzige Fee in ganzem Phantasium?“, fragte Ella.

Cataleya schüttelte den Kopf. „Meine Familie lebt im Wald.“

„Oh, wie schön! Am liebsten würde ich auch im Wald leben“, meinte Ella begeistert.

Cataleya grinste. „Willst du mein Zuhause sehen? Ich glaube, es wird dir gefallen.“

„Oh, unbedingt!“, antwortete Ella sofort.

„Na dann“, sagte Cataleya und rieb sich die Hände, „lass uns losgehen. Es gibt viel zu sehen.“

***

Bis zum Wald sollte es eigentlich nicht lange dauern. Aber Ella musste alle zwei Minuten anhalten, um eine andere wundersame Kreation der Phantasiemeister zu bewundern. Vor allem die Pflanzen hatten es ihr angetan. Das saftige Gras verlangte nahezu, dass man es sich darauf mit einem Buch gemütlich machte. Aber zum ersten Mal in ihrem Leben war sich Ella sicher, dass sie die reale Welt der Bücherwelt vorzog. Hier gab es einfach viel zu viel zu entdecken. Die kichernden Büsche zum Beispiel.

„Das sind die Kicherflummis, die sich in den Büschen verstecken“, erklärte Cataleya amüsiert.

„Was sind denn – oh!“ Ein faustgroßes Insekt war gerade aus dem Busch vor Ella gesprungen und vor ihren Füßen gelandet. Es sah aus wie ein Grashüpfer, nur ein wenig größer. Ella ging in die Knie, um es näher betrachten zu können. Das Tier schien seinen Kopf schief zu legen und sie ebenfalls zu studieren. „Sind die gefährlich?“, fragte Ella leise.

„Nein, ganz und gar nicht! Viele Feen halten die Kicherflummis sogar als Haustiere. Sie verbreiten immer eine super Stimmung“, sagte Cataleya.

Einen Grashüpfer als Haustier? Ellas Mutter würde das nie erlauben. Ermutigt durch Cataleyas Worte streckte Ella vorsichtig die Hand aus. Der Kicherflummi zögerte einen Moment, hüpfte dann aber auf Ellas leere Handfläche. Seine zahlreichen Füßchen kitzelten auf Ellas Haut und entlockten ihr ein Kichern. Das Tier schien aufzuhorchen und wenige Sekunden später hörte Ella ein Echo ihres eigenen Kicherns. Zuerst kam es bloß von dem Tier auf ihrer Handfläche, doch schon bald stimmten die Büsche um sie herum mit ein. „Aber das ist doch mein Kichern!“, rief Ella verblüfft.

„Wenn die Kicherflummis ein besonders schönes Kichern hören, dann übernehmen sie es auch gleich“, erklärte Cataleya.

„Klingen jetzt alle Kicherflummis so wie ich?“, fragte Ella.

„Ja. Zumindest bis sie ein neues Kichern entdecken, das ihnen besser gefällt.“

Ella wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte. Auf eine Art fühlte sie sich geehrt. Sie hatte nie wirklich über ihr Kichern nachgedacht. Aber es war schon ein wenig merkwürdig, seine eigene Stimme im Echo zu hören. Sie näherte sich langsam dem Busch vor ihr und streckte die Hand mit dem Kicherflummi aus. Es verstand und hüpfte leichtfüßig von ihrer Hand. „Hast du auch einen Kicherflummis als Haustier?“, fragte Ella, als sie sich wieder in Bewegung setzten.

„Nein, aber meine Schwestern“, antwortete Cataleya. Ella nickte nur und verlor sich schnell wieder in der phantastischen Umgebung. Das Kichern der Büsche wurde immer leiser. Vor ihnen erstreckte sich nun eine riesige Blumenwiese. „Woohaa“, hauchte Ella. Das waren mit Abstand die schönsten Blumen, die sie je gesehen hatte. Und sie hatte viele gesehen. Wie hypnotisiert ging Ella auf die Blumenwiese zu. Während manche von ihnen nur bis Ellas Knie reichten, waren die meisten über einen Kopf größer als sie. Sie leuchteten in den unglaublichsten Farben. Ella war sich sicher, dass es manche Farben in ihrer Welt gar nicht gab. Zumindest hatte Ella sie noch nie gesehen und konnte sie auch nicht benennen. Sie ließ ihre Hand über den Blumenstiel einer Riesenblume gleiten. Er fühlte sich genauso flauschig an, wie er aussah. „Du bist wunderschön“, murmelte Ella und blickte zu den leuchtend orangen Blüten hinauf.

„Oh, vielen Dank!“ Ella zuckte erschrocken zurück. Hatte die Blume ihr etwa gerade geantwortet? Mit großen Augen starrte sie auf die Pflanze vor ihr.

„Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken!“ Das war tatsächlich die Blume.

„Nein, nein, du hast mich nicht erschreckt! Ich war nur … überrascht“, sagte Ella verlegen. Der Blumenstil vor ihr beugte sich nach vorne, bis der Blumenkopf auf Augenhöhe mit Ella war. Ella konnte keinen Mund oder ähnliches entdecken, hörte die Stimme der Blume aber deutlich.

„Du bist nicht von hier, was?“, fragte die Blume.

Ella schüttelte den Kopf, war dann aber nicht sicher, ob die Blume sie sehen konnte. „Nein, ich bin gerade erst hier angekommen.“

Eine weitere Blume beugte sich zu ihr herab. Diese war leuchtend pink. „Ist das dein erster Besuch im Phantasium?“, fragte sie.

„Ja“, bestätigte Ella. Die beiden Blumen schienen sich einen Blick zuzuwerfen. Zumindest drehten sie ihre Köpfe kurz zueinander und dann wieder zu Ella.

„Du kommst mir irgendwie bekannt vor“, sagte die orange Blume nachdenklich.

„Oh … ähm … ich weiß nicht. Ich war wirklich noch nie zuvor hier“, erklärte Ella.

„Wie heißt du denn, Mädchen?“, fragte die pinke Blume.

„Ella.“

Ein Wispern ging durch die gesamte Blumenwiese und Ella hörte ihren Namen immer und immer wieder. Zahlreiche weitere Blumen neigten ihre Köpfe in ihre Richtung. „Ella? Etwa DIE Ella?“, hörte sie jemanden sagen.

„Die Geschichtenerzählerin?“, fragte eine andere.

Geschichtenerzählerin? Was sie wohl damit meinten.

„Bist du die Ella, die in der Menschenwelt den Blumen vorliest?“, fragte schließlich eine goldfarbene Blume.

Ellas Augen weiteten sich. „Woher … woher wisst ihr das?“, fragte sie.

„Unsere Blumenfreunde aus deiner Welt haben uns von dir erzählt!“, erklärte die Blume.

„Aber … die Blumen in meiner Welt können doch gar nicht sprechen!“, meinte Ella verwirrt.

„Nur weil du sie nicht hören kannst, heißt das noch lange nicht, dass sie nicht sprechen können.“ Na, da hatte die Blume nicht unrecht.

„Heißt das, die Blumen haben diese ganze Zeit über tatsächlich meinen Geschichten gelauscht?“, fragte Ella erfreut. Die Blumen schienen alle zu nicken.

„Sie lieben deine Geschichten! Wir alle lieben sie. Jedes Mal, wenn du ihnen eine neue vorliest, verbreitet sie sich hier im Phantasium wie ein Lauffeuer“, bestätigte die orange Blume.

Ella war sprachlos. Sie hatte immer gehofft, dass die Blumen ihr auch wirklich zuhören würden. Immerhin hatte ihre Oma daran geglaubt.

„Oh, kannst du uns eine Geschichte vorlesen, liebe Ella?“, rief eine Blume und die anderen murmelten alle zustimmend.

„Oh. Ich … ich habe gar kein Buch dabei …“, sagte Ella und blickte sich hilfesuchend nach Cataleya um. Die Fee stand hinter ihr und betrachtete den Austausch mit einem amüsierten Gesichtsausdruck. Als Ella ihr einen weiteren hilfesuchenden Blick zuwarf, trat Cataleya näher und legte ihr einen Arm um die Schulter.

„Ella würde euch liebend gerne ein wenig vorlesen, aber leider haben wir eine Verabredung im Feenhaus“, sagte Cataleya mit einem bedauernden Tonfall. Ein enttäuschtes Murmeln ging durch das Blumenbeet.

„Sobald ich kann, komme ich zurück und lese euch vor!“, versprach Ella.

„Wir freuen uns schon darauf. Es ist immer wieder schön, wenn du deine Phantasie mit uns teilst, liebe Ella. Vielen Dank dafür“, sagte die pinke Blume und schien sich zu verneigen. Ella schenkte ihr ein verlegenes Lächeln. Sie war es nicht gewöhnt, dass ihre Phantasie so sehr geschätzt wird. Bei ihren Schulfreunden zum Beispiel, entlockte dies meist eher ein Augenrollen.

„Wir müssen los. Tschüss!“, sagte Cataleya und winkte den Blumen zum Abschied zu. Ella tat es ihr gleich und sie machten sich wieder auf den Weg Richtung Wald.

„Du hast ganz schön viele Fans hier“, meinte Cataleya. Ella spürte, wie ihre Wangen erröteten.

„Ich hatte keine Ahnung, dass die Blumen mich tatsächlich hören konnten“, gab Ella zu.

„Wieso hast du ihnen dann überhaupt vorgelesen?“, fragte die Fee neugierig nach.

Ella zuckte die Achseln. „Es reichte mir, dass sie mir in meiner Vorstellung zuhörten“, erklärte Ella ein wenig verlegen. Cataleya schenkte ihr ein verständnisvolles Lächeln. „Du hast eine wunderbare Phantasie, Ella. Wir sind dir dafür sehr dankbar“, sagte Cataleya.

Ella runzelte verwirrt die Stirn. „Wieso denn dankbar?“, fragte sie, doch Cataleya bedeutete ihr zu schweigen. Sie legte einen Finger auf ihren Mund und zeigt mit dem anderen Finger auf eine glitzernde Wolke vor ihnen. Ella blieb sofort stehen und drückte die Lippen fest aufeinander, um ja keinen Ton von sich zu geben. Die Wolke vor ihr bestand aus zahlreichen kleinen, bunt leuchtenden … Sternen? Anders konnte Ella das Wesen vor ihr nicht beschreiben. Obwohl es auf den ersten Blick wie eine unförmige Wolke ausgesehen hatte, konnte Ella das Tier nun erkennen. Es sah aus wie eine riesige Katze. Doch der Körper bestand nicht aus Fleisch und Knochen, sondern aus regenbogenfarbenen Sternen. Ella hatte in ihrem Leben noch nie etwas Schöneres gesehen. „Woaahhh …“, hauchte sie.

„Sternentiger“, flüsterte Cataleya, „Sie leben im Himmel und sind sehr schüchtern. Es kommt sehr selten vor, dass sie sich nach hier unten begeben.“ Ella wollte wissen, wie sich die Sterne wohl anfühlen würden. Ob sie genauso kalt waren wie die Nachtluft? Sie trat einen Schritt näher, aber Cataleya hielt sie am Ellbogen fest.

„Du wirst ihn nur erschrecken und zur Flucht bewegen. Wenn du ihn bewundern willst, dann bleibst du am besten hier“, meinte die Fee.

Ella ließ enttäuscht die Schultern hängen. „Aber ich wollte ihn doch nur sanft streicheln …“, murmelte sie und sah den Sternentiger sehnsüchtig an. Als ob er ihren Blick auf sich gespürt hätte, hob er den Kopf und sah sie aus merkwürdig leeren Augen an. Ella hielt den Atem an. Das Tier schnupperte in der Luft nach etwas, legte den Kopf schief und kam dann langsam, aber bestimmt auf Ella zu. Sie hörte wie Cataleya hinter ihr scharf den Atem einsog.

„Sind … sind Sternentiger gefährlich?“, hauchte Ella, plötzlich nervös. Sie spürte, wie Cataleya hinter ihr den Kopf schüttelte. „Aber ich habe noch nie gesehen, wie einer freiwillig auf einen Mensch zugegangen ist“, ergänzte die Fee.

Obwohl Ella liebend gern gefragt hätte, wie viele Menschen denn schon vor ihr hier gewesen waren, entschied sie sich dafür, dieses Gespräch auf später zu verschieben. Sie hatte immerhin alle Hände voll mit dem riesigen Sternentiger vor ihrer Nase zu tun. Der hatte nun nämlich wenige Zentimeter vor ihr Halt gemacht und betrachtete sie weiterhin mit schräg gelegtem Kopf. Dann nickte er ihr zu. Ella blinzelte verwirrt. Er nickte erneut.

„Wa-was bedeutet das?“, fragte Ella leise. Cataleya zuckte die Schultern. Ella schluckte nervös. „Ok. Ähm … ich … darf ich dich streicheln?“, fragte Ella den Sternentiger direkt. Er nickte wieder. In der Hoffnung, dass ein Nicken auch für die Sternentiger so viel wie ‚Ja‘ bedeuten würde, streckte sie ihre Hand aus. Wie zur Bestätigung kam der Tiger mit dem Kopf näher und sie legte ihre Handfläche auf seinen Kopf. „Oh!“, rief sie überrascht. Der Sternentiger war ganz warm! Sie spürte, wie sich die Sterne unter ihrer Hand weiterhin wild umherbewegten und sie kitzelten. Kichernd zog sie ihre Hand zurück.

„Du bist das wunderschönste Tier, das ich je gesehen habe“, sagte Ella aufrichtig und sah den Sternentiger ehrfürchtig an. Er wedelte wild mit seinem bunt glitzernden Schwanz. Dann ging er tief in die Knie, drückte sich voller Kraft vom Boden ab und sprang hoch in die Lüfte bis in den Himmel. Dann war er verschwunden.

---ENDE DER LESEPROBE---