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Die Menschen streben nach Glück und Zufriedenheit. Manche glauben sogar, dass sie Wohlbefinden und Ausgeglichenheit kaufen können. Neben wirkungs- vollen Medikamenten werden unzählige unarzneiliche Mittelchen angepriesen, deren wundersame Wirkung der Hersteller mit schönen Worten beschreibt, um sie dann teuer zu verkaufen. Bereitwillig geben viele Menschen Unsummen für solche Mittelchen aus. Aber halten diese Produkte wirklich das, was sie versprechen? Gehört Hannelis Phenarborum zu diesen Wundermitteln?
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Seitenzahl: 118
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Der goldene Oktober ließ auf sich warten. Die ersten beiden Wochen des Monats waren nur kalt, regnerisch, trüb und grau.
Trüb und grau war auch meine seelische Verfassung.
Ich war noch nie so allein wie in diesem Herbst. Im März war mein Vater ganz überraschend gestorben, zwei Wochen später starb auch meine Mutter. Sie war eigentlich kerngesund, aber der plötzliche Tod meines Vaters hatte ihr wohl das Herz gebrochen. Den Verlust meiner Eltern habe ich bis heute nicht verkraftet.
Noch schlimmer war es, dass Peter, mein Mann, mich vor einer Woche verlassen hatte. Er ist wahrscheinlich geflohen, weil er mein Gejammer und meine trübsinnige Laune nicht mehr ertragen konnte.
Aber es war nicht nur meine Schuld. Seit einiger Zeit hatte auch er sein Verhalten geändert. Als ich ihn zur Rede stellte, gestand er mir, dass er wieder Kontakt zu einer Studienfreundin aufgenommen habe. Dann war er zu ihr nach München gezogen.
Ich hatte nur noch schlaflose Nächte, das ungute Gefühl verlassen worden zu sein, nagte an meinem Selbstbewusstsein.
Und das Alleinsein machte mich krank.
Ohne Medikamente konnte ich gar nicht mehr leben. Aber das war ein teurer Spaß.
Um die benötigten Pillen und Tropfen preiswerter als in der hiesigen Apotheke zu erstehen, suchte ich im Internet nach einem Online-Shop und geriet dabei auf eine Seite, die verblüffende Lebenshilfen anbot.
Engelglobuli, unarzneiliche Globuli, die mit feinstofflichen Frequenzen von Erzengeln, Symbolen, Heilpflanzen, Edelsteinen, Farben, kosmischen Frequenzen und Sternenklängen aufgeladen waren.
Energien von Engeln in Pillen?
Ich glaube an die Existenz von Engeln. Schon als Kind hatten mich die Himmelsboten fasziniert. In meiner Kinderbibel waren so schöne Bilder von Begegnungen mit Engeln: Aus dem alten Testament hatten mich viele Berichte beeindruckt. Gruselig empfand ich die Geschichte, in der Gott Abrahams Gehorsam prüfte. Wie kann der liebe Gott verlangen, dass ein Vater sein Kind verbrenne! Aber dann hatte Gott es sich wohl anders überlegt und einen Engel geschickt, der ein Opferlamm brachte und Isaac vor dem Feuertod rettete.
Wie gut, dass es Engel gibt.
Die Geschichte von Jacob und der Himmelsleiter habe ich auch gern gelesen. Auf einer Reise übernachtete Jacob und träumte in der Nacht von Engeln, die auf einer Leiter vom Himmel auf- und abstiegen.
Im neuen Testament kündeten die Engel immer frohe Ereignisse an, zum Beispiel die Geburt Jesu. Oder sie warnten vor und halfen in Gefahren. Am liebsten habe ich die Ostergeschichte gelesen, in der Engel den trauernden Frauen am leeren Grab verkündeten: Jesus ist auferstanden.
Ich habe auch schon mal einen Engel gesehen, als ich zehn Jahre alt war. Er kam in der Nacht in mein Zimmer, nicht durch die Tür, nein, er war einfach da. Er war ganz weiß und hatte keine Flügel, das habe ich genau gesehen. Gesprochen hat er nicht. Er hat nur meine Bettdecke glatt gestrichen und meinen Kopf gestreichelt. In der Nacht habe ich besonders gut geschlafen.
Am nächsten Morgen habe ich meine Mutter gefragt, ob sie in der Nacht noch einmal in mein Zimmer gekommen sei. Sie verneinte das und als ich ihr von dem himmlischen Besuch erzählte, meinte sie nur.
„Kind, das hast du geträumt.“
Ich habe das aber nicht geträumt, da bin ich mir ganz sicher.
Ich wäre glücklich, wenn auch heute ein Engel zu mir käme und ich endlich wieder schlafen könnte.
Vielleicht können die mit Engelenergie geladenen
Pillen die Himmelsboten ersetzen. Aber ob die Engel wirklich ihre Energie in Zuckerkügelchen fließen lassen und sie dort einsperren, bis jemand sie für teures Geld kauft und schluckt? Das wollte und konnte ich nicht glauben.
So verhalten sich Engel nicht, dachte ich. Ihre Hilfe bringen sie den Menschen kostenlos. Sie verkaufen ihren Beistand nicht und lassen ihn auch nicht verkaufen. Pure Geldmacherei. Ich vertraute lieber weiter auf meine Baldrian-Hopfen-Kombination.
Es klingelte an der Haustür.
Meine Freundin Lotte hatte Feierabend. Sie arbeitete drei Tage in der Woche als Verkäuferin in einem Modegeschäft für Damenkleidung in Übergrößen und war die ideale Mitarbeiterin, denn sie selbst hatte die Kleidergröße 56 und kleidete sich immer so vorteilhaft, dass sie schick und attraktiv aussah und schlanker wirkte, als sie wirklich war. So motivierte sie allein durch ihr gutes Aussehen viele Kundinnen zum Kauf der Mode ihres Hauses. Darüber hinaus war sie ein Verkaufstalent, denn sie konnte ihre Kundinnen in Stil- und Farbfragen so gut beraten und Accessoires empfehlen, sodass die meisten Frauen viel mehr kauften als sie ursprünglich geplant hatten. Wenn Röcke, Blusen, Jacken und Hosen nicht richtig saßen, bot sie gleich die preiswerte Änderung an.
Die zu ändernden Stücke brachte sie mir.
Als ich noch unverheiratet war und in Köln wohnte, habe ich als Schneiderin bei einem Modedesigner gearbeitet. Mit meinem Mann bin ich nach Kirchheim gezogen und habe dort leider keine passende Arbeitsstelle gefunden, daher war ich froh darüber, dass ich in Heimarbeit schneidern konnte. Lotte brachte mir nach Feierabend die Änderungsstücke und wir klönten dann immer noch ein wenig, bis mein Mann von der Arbeit kam. Seitdem er mich verlassen hatte, kam Lotte jeden Tag zu mir. Das war so lieb von ihr.
Jetzt hatte sie keine Änderungsklamotten mitgebracht, sondern nur Berliner. Wir brühten einen Cappuccino für Lotte und für mich einen Espresso auf. Ich wusste, dass Lotte ihren Cappuccino mit einem zusätzlichen Klacks Schlagsahne liebte und holte Sprühsahne aus dem Kühlschrank.
„Vorhin habe ich eine verrückte Anzeige gefunden“, erzählte ich ihr, als wir unsere Getränke ins Wohnzimmer brachten. „Du glaubst nicht, was den Leuten alles aufgeschwatzt wird. “
„Da bin ich aber gespannt“, lachte sie.
Wir verputzten unsere Berliner und rieben uns den klebrigen Zucker von den Händen, bevor ich mein Laptop wieder anstellte und auf der Angel-Power-Seite die Engelglobuli aufrief.
„Ach, du meine Güte“, rief Lotte, „ich wusste gar nicht, dass es so viele Erzengel gibt.“
„Such dir einen aus“, bat ich sie.
„Raphael ist mir bekannt, den nehmen wir.“
Ich klickte also auf „Erzengel Raphael Energie + Globuli“ und wir lasen erstaunliche Dinge.
„Die himmlischen Energien des Erzengels Raphael und anderer Engel, die heilsamen Frequenzen der Sonne, wohltuende kosmische Schwingungen und gute Gedanken haben wir in unseren Globuli eingefangen.
Der Zusammenklang der fein aufeinander abgestimmten Schwingungen ergibt einen fraktalen Vokal, der dich rufen lässt „AAAA, ich war noch nie so glücklich und werde es dank der wunderbaren Tropfen immer bleiben!“
Also zögere nicht länger und gönne Dir dieses Geschenk des Himmels für Dein energetisches System. Die positiven Kräfte von Licht und Wärme werden Deine Lebensenergie wieder frei fließen lassen.“
„Das hört sich ja toll an“, meinte ich.
„Schau mal, es gibt auch personalisierte Globuli, die sind sehr teuer. 59,95 Euro. Die anderen kosten nur 17,95 Euro.
„Wie viel bekommt man für das Geld?“
Das Gewicht wurde nur in ganz kleiner Schrift angegeben. 5 Gramm 17,95 Euro (359,00 Euro für 100 Gramm).
„Stolzer Preis“, wunderte sich Lotte. „Schade, dass WIR dieses Produkt nicht erfunden haben, damit könnten wir reich werden, Hanneli, sehr reich. Wir müssten etwas Ähnliches erfinden. Glaubst du, dass der Raphael der richtige Engel für mich ist?“
„Es gibt ja noch so viele andere. Du musst dir nur den passenden aussuchen.“
„Und wie finde ich den, der zu mir passt?“
„Probieren, immer wieder aufs Neue probieren.“
„Wie dumm, dass wir zu geizig sind und uns solche Wohltaten nicht gönnen. Aber schauen wir doch mal, was Käufer über das Wundermittel schreiben.“
„Sieh mal, hier schreibt eine Frau: Schon als ich die Globulis in der Hand hielt, spürte ich sofort, wie die Lichtenergie in meinem feinstofflichen System ankam. Es war ein tolles Gefühl! Mein ganzer Energiekörper begann zu schwingen und wurde sehr warm. Mit der Einnahme der Globulis kehrte immer mehr Gelassenheit ein. Ich fühlte mich in meiner Mitte, und war in tiefer Liebe mit mir selbst verbunden. Ich wünsche mir, dass noch viele Menschen von den wunderbaren Globulis profitieren können.“
„Wenn ich den Namen und die Adresse dieser Frau hätte, würde ich ihr gerne schreiben, dass Globuli Singular und Plural ist und kein „s“ mehr braucht. Und ich würde gerne noch mehr über ihre wundersamen Erfahrungen mit den Erzengel Raphael+ Globuli hören.“
Wir grinsten uns gegenseitig an.
„Eigentlich dürften wir uns gar nicht über diese Dinge lustig machen, weil wir nichts davon verstehen.“
„Glaubst du etwa an diesen Hokuspokus?“ wunderte sich Lotte.
„Jein“
„Was heißt hier Jein? Ja oder nein?“
„Ja“, erklärte ich vorsichtig, „weil ich glaube, dass es Dinge oder auch Kräfte und Energien gibt, die wir beide nicht verstehen und die ohne unser Wissen wirksam sind. Und nein, weil ich davon überzeugt bin, dass diese Energien nicht in uns wirken können, wenn wir sie als Pillen kaufen und lutschen. So etwas kann man nicht kaufen, Energie, oder was auch immer, bekommt man geschenkt. Man kann es nur geistig verinnerlichen und wirken lassen.“
Lotte sah mich mit großen Augen an.
„Wenn du meinst… Komm, wir machen uns noch einen Cappuccino und überlegen, ob wir nicht ein Mittel erfinden können, mit dem wir auch so viel Geld machen können wie die Globulimacher. Die Menschen heutzutage kaufen ja alles, wenn man es ihnen nur richtig anpreist.“
Wir brühten uns einen weiteren Cappuccino und Espresso auf und machten es uns auf dem Sofa bequem. Ich fand auch noch ein paar Ingwerkekse, die wir uns schmecken ließen. Lotte überlegte.
„Also, Essbares und Cremes oder Wässerchen scheiden aus, denn die Bedingungen, die das Lebensmittelgesetz und die Verordnung für Kosmetika stellen, können wir nicht erfüllen. Es muss etwas vollkommen Neutrales sein, was wir herstellen.“
„Das wird schwierig, welche Substanz bietet sich dann überhaupt noch an?“
Draußen regnete es leicht. Mein Blick fiel auf die kleine Weymouthkiefer, die auf der Wiese in dem handtuchgroßen Gärtchen hinter unserem Haus vor sich hinkümmerte. Das Regenwasser lief an den langen Nadeln entlang und sammelte sich an den Spitzen zu Tropfen, die, wenn sie eine gewisse Größe erreicht hatten, auf den Rasen fielen und zerplatzten. Das Tropfenspiel beobachtete ich eine Weile fasziniert und dabei kam mir eine Idee:
„Was hältst du davon, wenn wir uns die Kraft der Bäume zu Nutze machen?“ fragte ich Lotte.
„Ach, das ist doch nichts Neues, Hanneli. Blüten, Früchte und Rinden wurden doch schon im Altertum als Medizin genutzt, sei es als Tee oder Räucherwerk. Nee, die Idee ist nicht gut.“
„Ich habe nicht die körperlichen Beschwerden im Visier, sondern geistige und seelische Störungen, denn ich habe gelesen, dass Bäume großen Einfluss auf unsere Psyche nehmen können. Betrachten und berühren soll schon eine beruhigende Wirkung haben, diese Energie müssten wir einfangen können. Ich weiß nur noch nicht, wie.“
Lotte sah mich zweifelnd an.
„Du bist ja auf nem richtigen Esoteriktrip! Aber du hast Recht, das kommt bestimmt gut bei den Menschen an, die gerne neue Wundermittel ausprobieren wollen. Und woher willst du das Holz nehmen? Du kannst ja nicht die kleine Kiefer hier zerrupfen oder im Park Äste von den Bäumen schneiden. Die Stadtgartengärtner werden dich wegen Baumfrevels anzeigen.“
„Mein Onkel Willi in der Eifel hat ein paar Parzellen Wald, dort könnten wir unser Material holen.“
Lotte nickte zustimmend. Draußen regnete es nicht mehr, dafür wurde der Wind heftiger und schüttelte die kleine Kiefer hin und her. Lotte betrachtete sie nachdenklich.
„Wir könnten aus Rinden und Blättern ein Pulver herstellen, das man sich unter die Nase reibt oder hinter die Ohren tupft. Denke heute Nacht mal darüber nach. Oh, es ist schon halb fünf. Ich muss mich jetzt langsam auf den Heimweg machen. Heiner wird gleich Feierabend haben. Lass dir was Gutes einfallen.“
„Ich gebe mir Mühe. Tschüss.“
Onkel Willi hatte sich sehr gefreut, als ich ihm meinen Besuch ankündigte. Seit dem Tod seiner Frau, Tante Käthe, vor 5 Jahren hatten wir uns nicht mehr gesehen, sondern nur noch zum Geburtstag und zu Weihnachten angerufen.
Tante Käthe war die älteste Schwester meiner Mutter und meine Lieblingstante. Sie war eine fröhliche, kluge und künstlerisch aktive Frau. Im Obergeschoss ihres Hauses hatte sie sich ein kleines Atelier eingerichtet, wo sie ungestört malen konnte. Ihren Garten liebte sie über alles. Außerdem war sie eine hervorragende Köchin. Nirgendwo anders gab es so leckeren, zarten Sauerbraten, wie bei ihr. Mit selbst gemachtem Apfelmus. Mit Vanillepudding und Brombeersaft krönte sie immer ihr leckeres Essen.
Zu Onkel Willi hatte ich nicht so ein herzliches Verhältnis. Er war Forstbeamter im gehobenen Dienst, Oberforstrat nannte er sich. Oder so ähnlich. Während seiner Dienstzeit wohnte Onkel Willi im staatlichen Forstamt, nach der Pensionierung zog er in sein Elternhaus zurück, das am Ortsausgang von Lichtental lag, direkt am Wald. Mittlerweile war Onkel Willi 85 Jahre alt und sah in seiner Försteruniform immer noch so fesch aus wie in jungen Jahren. Seine grauen Haare trug er voller Stolz und mit seiner galanten und höflichen Art becircte er immer noch die Frauen. Deswegen war er mir nicht ganz geheuer.
Vielleicht lag es auch daran: Als ich noch ein Kind war, habe ich unfreiwillig eine Unterhaltung meiner Mutter mit Tante Käthe belauscht.
Tante Käthe war sehr traurig und hatte geweint, weil Onkel Willi ein Verhältnis mit einer anderen Frau hatte. Damals habe ich das noch nicht verstanden, heute weiß ich, was das bedeutet. Ich fand es gemein von ihm, dass er mit meiner geliebten Tante so herzlos umgegangen war.
Ich backe gerne und viel, aber an den Nusskuchen nach dem Rezept meiner Mutter habe ich noch nie herangewagt. Weil Onkel Willi den Kuchen immer so gern gegessen hatte, suchte ich das Rezept heraus, um den Onkel bei meinem Besuch mit dem saftigen Kuchen mit dem knackigen Schokoladenguss zu überraschen. Die Torte gelang mir auch einigermaßen gut, sie war nur etwas weich, um nicht zu sagen „tätschig“, wie der Onkel zu sagen pflegte. Aber so hatte er den Kuchen besonders gern.
Für meinen Besuch hatte ich den Mittwoch ausgesucht. Das war eine gute Wahl, denn dieser Tag wurde der erste trockene und warme Tag im Oktober.
Die Sonne weckte alle Lebensgeister und ich machte mich erwartungsvoll auf den Weg nach Lichtental.