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Angels Leben ist von Gewalt und Verlust gezeichnet. Bis sie Phönix begegnet – ein Mann, der ihr Herz im Sturm erobert und Mauern einreißt, die sie längst für unüberwindbar hielt. Zum ersten Mal seit langer Zeit öffnet sie sich, und Phönix ist bereit für sie zu kämpfen. Umso mehr spürt Angel den Wunsch, ebenfalls für ihn zu kämpfen. Nach all den Jahren in Dunkelheit findet sie ausgerechnet bei jenen Schutz und Geborgenheit, die von der Welt verachtet und als Monster gefürchtet werden. Doch für Angel sind sie längst mehr: Sie sind ihr Zuhause, ihre Familie. Und sie setzt alles daran, der Welt zu beweisen, dass wahre Menschlichkeit oft dort beginnt, wo andere nur Schatten sehen. Nun muss sie nicht nur lernen, sich selbst anzunehmen, sondern auch die Wahrheit hinter Phönix’ Geheimnissen zu ergründen – denn er verbirgt mehr, als es zunächst scheint.
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Seitenzahl: 645
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Johanna Pohl
Phönix
Descendant of Dracula
Dieses Buch enthält Inhalte, die für manche Leser:innen belastend oder retraumatisierend sein können. Es werden unter anderem Themen wie [z. B. psychische Erkrankungen, Suizidgedanken, Missbrauch, Gewalt, Verlust oder Traumatisierung] behandelt.
Bitte lesen Sie achtsam und holen Sie sich gegebenenfalls Unterstützung, wenn Sie merken, dass bestimmte Passagen negative Emotionen in Ihnen auslösen.
Für Mama und für alle, die jemanden
wie Phönix in ihrem Leben brauchen.
Johanna Pohl liebt alles mit Romance und Fantasy. Schon in frühen Jahren konnte sie sich für die Vielfältigkeit von Geschichten aller Art begeistern und verfasste bereits in der Schulzeit gern Aufsätze. Mit Phönix Descendant of Dracula, hat sie sich ihren Kindheitstraum vom eigenen Buch erfüllt. Sie ist ein Fan von Happy Ends, was sich auch in ihren Werken widerspiegelt und liebt Geschichten die unter die Haut und direkt ins Herz gehen.
Blut spritzte, als meine Faust den Vampir ins Gesicht traf. Ich vernahm das befriedigende Knacken, als sein Nasenbein brach.
Der Mann vor mir jaulte auf und ich rollte mit den Augen. Weichei.
Ein Windhauch verriet mir, dass sich jemand von rechts näherte und mit einem gezielten Seitwärtstritt beförderte ich den rothaarigen Angreifer zu Boden.
Er fiel um wie ein Dominostein und riss einen weiteren Vampir mit sich. Taumelnd versuchten sie sich aufzurichten, doch mein Feuerstrahl verhinderte dies. Nichts als Asche blieb übrig. Der Mann mit der gebrochenen Nase und seine drei lebenden Begleiter zogen sich mit erhobenen Händen zurück. Mit schief gelegtem Kopf beobachtete ich die vier.
Soll ich sie am Leben lassen? Oder ein Exempel statuieren?
Immerhin hatte der Silence-Clan drei meiner Männer schwer verletzt. Ohne ersichtlichen Grund. Sie waren ein paar Meter in unser Revier eingedrungen und hatten die armen Schweine kalt erwischt. Das konnte ich nicht so stehen lassen.
Also hatte ich dem Silence-Clan einen Besuch abgestattet. Diese sechs Männer fingen mich ab, bevor ich ihren Clanführer erreichen konnte.
Ich sollte sie am Leben lassen, um jedem Mitglied des Clans deutlich zu machen, dass sie sich mit uns nicht anlegen sollten.
Gerade als ich ihnen dies mitteilen wollte, öffnete sich ein Portal und fünf weitere Soldaten kletterten hinaus. Mit gezückten Waffen gingen sie auf mich los.
Bastarde. In Vampirgeschwindigkeit wich ich dem Kugelhagel aus und schleuderte ihnen einige Feuerkugeln entgegen.
»Genug jetzt! Ihr wollt sterben? Den Gefallen tu ich euch gerne«, knurrte ich wütend. Ich spürte das Kribbeln der Magie in mir, fühlte den Sog der Macht, der mir sagte, ich könne sie alle mit einem Fingerschnipsen töten.
Doch stattdessen entschied ich mich, ihnen zu zeigen, von welcher Familie ich abstammte. Niemand, der sich mit uns anlegte, hatte bisher überlebt. Das würde auch so bleiben.
Ich ließ los, ließ der Magie in mir freien Lauf und ein flammendes Inferno entstand. Breitete sich aus. Sie versuchten wegzurennen, krochen davon wie die Feiglinge, die sie in Wirklichkeit waren.
Doch es würde nicht helfen. Ohne mich vom Fleck zu rühren, schickte ich meine Flammen. Sie töteten die Männer innerhalb von Sekunden.
Vielleicht sollte ich auch den Anführer umbringen. Oder die ganze Stadt.
»Phönix, das reicht jetzt. Du hast sie getötet. Der Silence-Clan legt sich nicht nochmal mit uns an. Lass gut sein.« Knurrend fuhr ich herum und blickte Grandpa an, der es sich mitten auf dem Boden bequem gemacht hatte.
»Ich soll sie gehen lassen? Sie waren in unserem Revier.«
Dämliches Pack. Ich war es leid. Die ständigen Angriffe alle paar Jahrzehnte. Die dummen Leute, die versuchten unsere Macht an sich zu reißen. Es nervte. Es nervte mich dermaßen, dass ich in letzter Zeit schnell aus der Haut fuhr.
Er nickte nur. Als ich schwieg, seufzte er tief.
»Wir haben genug Feinde Junge. Lass uns verschwinden.«
Grandpa hatte recht. Ich fuhr mir durchs Haar und nickte.
»Also schön. Solange sie mich nicht dazu zwingen, werde ich den Silence-Clan nicht töten. Zufrieden?«
Er nickte. »Lass uns gehen.«
Doch ich schüttelte den Kopf. »Ich werde noch ein bisschen bleiben. Aber du kannst ruhig gehen.«
Nach einem kurzen Blick in meine Richtung setzte er sich in Bewegung.
Bevor er endgültig verschwand, drehte Grandpa sich noch einmal zu mir um.
»Eines Tages wird jemand in dein Leben treten, der dir wichtiger ist als deine Wut. Dieser wird alles für dich sein und dein Leben komplett in andere Bahnen lenken.«
Innerhalb von Sekunden verschwand er in den Schatten.
»Bei Luzifer! Drück dich mal richtig aus, alter Mann!«, rief ich ihm nach, doch alles blieb still. Typisch für ihn. Was wollte er damit sagen?
Endlich allein schlenderte ich durch die Gegend und machte mich auf die Suche nach einem ruhigen Fleckchen in der Natur.
Ein Sprichwort besagt – man trifft sich immer zweimal im Leben.
Und ein anderes, dass man aus einem bestimmten Grund an gewisse Orte zurückkommt.
Irgendwas in der Richtung hatte ich schon mal gehört. Vor so langer Zeit, dass ich mich nicht mehr daran erinnern konnte, wo genau das gewesen war und ob ich es gelesen oder gehört hatte.
In den letzten Jahrhunderten war ich viel unterwegs und schon überall gewesen. Leider nicht nur auf der Erde, sondern auch in anderen Dimensionen.
Nicht, dass ich Wert daraufgelegt hätte. Aber wenn man in meine Familie hineingeboren wird, dann gibt es Dinge, vor denen man sich schwer drücken kann. Deshalb hatte ich einige Zeit in der Hölle verbringen müssen. Nicht in der sprichwörtlichen Hölle, sondern in der tatsächlichen. Vor Jahrhunderten zwang mein Vater mich dazu, mich dort zu behaupten, und das hatte ich getan. Selbstverständlich – ich war der Sohn meines Vaters.
Vor sechs Jahren war ich schon einmal hier gewesen. Damals hatte ich ein etwa zwölfjähriges Mädchen gerettet, welches auf einen Baum geklettert war und dort nicht mehr herunterkam. Ihre Familie befand sich etwas entfernt auf einer Wiese beim Picknick.
Es war ein Leichtes, ihr herunterzuhelfen, und sie hatte sich vertrauensvoll in meine Arme fallen lassen.
Mit einem dicken Schmatzer auf die Wange bedankte sie sich bei mir und war wieder zu ihren Eltern gelaufen. Im Rennen rief sie mir noch zu, dass ich von nun an ihr Schutzengel sei.
Dieses Vertrauen der Kleinen und ihre Worte versetzten mir einen Stich. Ausgerechnet ich sollte ein Engel sein? Ich, ein Dämon – der Fürst der Finsternis. Man hatte mir schon viele Namen gegeben. Einer verletzender als der andere. Bastard, Monster und Teufel waren noch die harmloseren davon. Aber niemals hatte mich jemand als Engel bezeichnet.
Heute, sechs Jahre später, war ich wieder an diesem Ort. Ich sah den Baum und die Wiese, die heute menschenleer war. Ich fragte mich wieder einmal, was aus der Kleinen geworden war. Ich ging weiter, entfernte mich von diesen Erinnerungen und lief den Pfad hinauf, bis ich das Brausen des Wassers hörte, welches an die Felsen schlug. Ich schmeckte das Salz auf meiner Zunge und roch das Meer. Und Blut. Nicht viel, aber es roch unglaublich gut.
Unschuldig, rein, süßlich und vertraut. Warum kommt es mir so vertraut vor? Neugierig pirschte ich mich weiter heran.
Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, doch meine Augen sahen – selbst in tiefschwarzer Nacht – perfekt.
Dann sah ich sie. Sie hing an einem Ast oder einer Wurzel direkt über den Fluten. Wenn sie jetzt loslassen und runterstürzen würde, wäre sie tot. Ein Mensch konnte einen Fall aus dieser Höhe unmöglich überleben, sie würde vom Wasser an den Felsen zerschmettert werden und untergehen.
Mit einem einzigen Satz überbrückte ich die wenigen Meter zwischen uns und kniete am Felshang nieder. Ich sah zu ihr hinunter.
»Brauchst du vielleicht Hilfe?«, fragte ich. Ich konnte nicht anders, als über diese Ironie zu schmunzeln. Offensichtlich konnte sie sich nicht allein aus dieser Situation befreien.
Als sie zu mir aufblickte, zog sie eine Augenbraue hoch.
»Ob du es glaubst oder nicht, aber ich hänge nicht zum Spaß hier. Ich habe auch nicht beim Klettern das Seil verloren. Also ja, es wäre sehr freundlich, wenn du mir helfen könntest. Und wenn möglich, bald, weil der Ast hier rutschig ist und ich nicht weiß, wie lange ich mich noch halten kann. Ich hatte nicht vorgehabt, zu ertrinken oder zermatscht zu werden. Ist kein cooler Tod.«
Ich konnte nicht anders und lachte. Wow, was für eine Frau. Wenn sie in der Lage war, in solch einer Situation Scherze zu reißen, musste ich sie definitiv besser kennenlernen.
Und so flog ich einfach zu ihr und hielt schwebend neben ihr an.
Perplex sah sie mich an.
»Also das habe ich nun nicht erwartet. Aber so geht es natürlich auch und man spart sich das Geld für ein Seil.«
Ich grinste, doch dann bemerkte ich ihre Verletzungen. Es war ihr Blut, welches ich gerochen hatte. Ich sah aufgeschürfte Knöchel, Knie und Hände, was durchaus zu dieser Situation passte. Aber ich bemerkte auch andere, ältere Wunden. Schnittwunden und Blutergüsse.
Auffordernd hielt ich ihr die Hände hin.
»Halt dich fest, ich werde dich nach oben bringen. Keine Angst, ich lass dich nicht fallen. Versprochen.«
Sie zögerte eine Sekunde, dann nahm sie all ihren Mut zusammen und streckte die Hand nach mir aus. Behutsam nahm ich sie in die Arme, flog mit ihr zusammen zurück und setzte sie auf festem Boden ab. Ich hielt sie kurz fest, weil sie leicht schwankte. Ihr Gewicht spürte ich kaum. Ihre wunderschönen, blauen Augen trafen mich wie ein Schlag in den Magen. Für einen Moment vergaß ich das Atmen.
Ich kannte diese junge Frau, denn sie war das Mädchen von damals.
Die Augen, die langen blonden Haare und ihr Gesicht hatte ich niemals vergessen können.
Damals war in ihrem Gesicht ein anderer Ausdruck gewesen, – diese typische kindliche Unschuld, die Sorglosigkeit, – und ich wünschte mir, sie hätte zumindest einen Teil davon behalten können.
Ich wusste in diesem Moment, dass sie nie wieder so sein würde wie damals. Was auch immer in den letzten sechs Jahren passiert war, hatte sie geprägt. Irgendjemand oder irgendetwas hatte ihr schreckliche Dinge angetan und ich schwor mir, denjenigen zu töten. Ganz langsam.
Aber sie war definitiv das Mädchen von damals und sie erkannte mich.
Ich konnte nicht anders und hob die Hand, um sie zu berühren, strich sanft über ihre Wange und sie schloss die Augen, ließ den Kopf in meine Hand sinken. Sie lehnte sich in diese Berührung hinein, als wäre es die erste seit geraumer Zeit.
Das Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen, war stark, sodass ich nicht widerstehen konnte. Ich zog sie an mich. Einen kleinen Moment versteifte sie sich, doch dann sank sie gegen mich und ich hörte, wie sie tief einatmete.
»Danke, jetzt hast du mich schon zum zweiten Mal gerettet. Ich werde mich irgendwann vielleicht mal revanchieren können.« Ihre Stimme war leise und sanft, melodisch, genauso, wie ich mir die Stimme eines Engels vorstellte.
»Wie ist dein Name?«, fragte ich, während ich sie noch immer festhielt und sie stieß ein trauriges Lachen aus.
»Such dir was aus. Ich wurde jahrelang nicht mehr bei meinem Geburtsnamen genannt.«
Beim letzten Satz klang ein Hauch von Schmerz in ihrer Stimme mit und mein Blut brodelte vor Zorn. Oh ja, ich war definitiv bereit für sie zu töten.
Sie hob den Kopf und sah mich an. Ihre ausdrucksvollen, großen Augen waren von dichten dunklen Wimpern umrahmt. Sie trug kein Make-up und ihr Haar war leicht zerzaust, aber ich hatte noch nie etwas Schöneres gesehen – als diese junge Frau.
»Angel. Dieser Name fällt mir ein, wenn ich dich ansehe.«
Sie lächelte. »Dann werde ich von heute an so heißen. Und wie heißt du?«
Gandpa sagte einmal zu mir: »Namen haben Macht, Junge. Ich habe dir deinen nicht aus Jux und Tollerei gegeben, sondern damit du dich – wie der Phönix aus der Asche- emporhebst. Damit du aufstehst, wenn alle glauben das du am Boden bist. Um dich stark zu machen.« Als ob er damals bereits wusste wie mein Leben ablaufen würde.
»Phönix.«
Dann brach die Hölle los. Ich hörte ungefähr fünfzig Dämonen und Vampire auf uns zukommen. Als ich ihren Blick sah, wusste ich: Sie waren hinter ihr her.
»Lauf. Ich werde sie aufhalten.«
Sie zögerte. Sie wollte mich nicht allein lassen, aber ich wusste, dass ich diesem Kampf gewachsen war.
»Nun lauf schon. Ich werde dich finden, Angel. Ich verspreche es.«
Sie warf mir noch einen letzten, verzweifelten Blick zu, dann rannte sie davon.
Ich machte mich bereit. Bereit, jeden zu töten, der auf mich zukam. Bereit, um zu verhindern, dass ihr jemand folgte. Sie mussten erst an mir vorbei.
Ich war stundenlang gerannt. Es war früher Nachmittag, als ich die Chance zur Flucht ergriff. Vermutlich die einzige Chance, die ich jemals haben würde. Also rannte ich, bis die Dämmerung einsetzte.
Ich hatte es gerade geschafft, diesen Psychopathen, an die meine Pflegeeltern mich vor ein paar Wochen verkauft hatten, zu entkommen, und war direkt in diesen Abgrund gestürzt. Ein Glück war dieser Ast ein Stück unter mir. Ich konnte gerade noch danach greifen, bevor ich in den sicheren Tod gestürzt wäre.
Bravo, so etwas kann auch nur mir passieren. Erst musste ich mich jahrelang gegen die Annäherungsversuche meines Pflegebruders wehren, dann wurde ich verkauft und halbnackt irgendwelchen Kerlen vorgeführt. Die geilten sich an meinem Anblick auf. Nun landete ich hier. Zusätzlich fanden sie es besonders toll, mein Blut zu trinken und mich völlig entkräftet zurückzulassen. Scheiß Vampire.
Es war vermutlich nur eine Frage der Zeit, bevor die Typen mich herumgereicht hätten.
Aber jetzt war ich kurz davor, zu ertrinken oder mir alle Knochen zu brechen und niemand war in der Nähe. Ich konnte aber natürlich auch nicht laut um Hilfe rufen, diese Blutsauger folgten mir mit Sicherheit. Immerhin hatten sie Geld für mich bezahlt und hielten mich nun für ihr Eigentum.
Als es mir immer schwerer fiel, mich festzuhalten, tauchte er auf. Er kniete dort oben, direkt über mir und fragte mich doch ernsthaft, ob ich seine Hilfe benötigte. Scherzkeks. Als ob ich hier zum Spaß hängen würde.
Dann war er neben mir und ich starrte ihn an. Er kann fliegen?
Wie zur Hölle war das denn möglich?
Er streckte beide Hände nach mir aus und bat mich, ihm zu vertrauen.
Er würde uns sicher nach oben bringen. Ich zögerte kurz, ob er es schaffen würde, mit mir gemeinsam zu fliegen. Doch was blieb mir schon anderes übrig? Entweder ich vertraute darauf, dass er mir erneut helfen würde, oder ich war tot. Also griff ich nach seinen Händen und ließ mich von ihm in seine starken Arme ziehen. Wir schwebten nach oben – nur Sekunden später spürte ich festen Boden unter den Füßen. Einen Moment fühlten sich meine Beine wie Gummi an und er hielt mich fest.
Vor Erleichterung, endlich in Sicherheit zu sein, fiel mir ein Stein vom Herzen.
Als ich aufblickte und direkt in seine wundervollen grünen Augen sah, war ich einen Augenblick wie gelähmt. Mein ganzer Körper kribbelte, das Herz schlug mir bis zum Hals. Ich konnte nichts sagen, obwohl ich ihm eigentlich danken wollte.
Als er die Hand hob und sie auf meine Wange legte, schloss ich unbewusst die Augen und schmiegte mein Gesicht hinein.
Seine große Hand berührte mich nur leicht, dennoch stand ich in Flammen.
Seine Haut war weich und warm.
Es war lange her, dass mich jemand berührt hatte, ohne mich zu verletzen.
Viel zu lange. Ich wünschte, dieser Moment würde ewig dauern.
Er zog mich an sich. Ich atmete tief ein. Er roch wunderbar. Warm, intensiv und nach Sicherheit. Auch wenn ich ihm bisher nur einmal begegnet war, fühlte er sich seltsam vertraut an.
Vor ein paar Jahren hatte er mich von einem Baum gerettet, indem ich mich in seine Arme hatte fallen lassen. Damals waren meine Eltern noch am Leben. Ich hatte diesen wunderschönen Mann seitdem nicht vergessen können.
Früher zeichnete ich ihn andauernd. Als ich ihn jetzt ansah, bemerkte ich, dass er noch viel besser aussah als in meiner Erinnerung. Er war groß, ungefähr 1,85 m, vielleicht etwas größer. Seine grünen Augen waren einmalig. Wie Smaragde, nur viel schöner.
Er war muskulös, vermutlich hatte er kein Gramm Fett an seinem Körper.
Aber am auffälligsten war sein Haar. Es war von oben bis unten komplett durchgestuft und fast schulterlang.
Die Farbe war ungewöhnlich und wirkte dennoch absolut natürlich. Seine Haare schimmerten in den unterschiedlichsten Rot – und Brauntönen. Er sah unglaublich gut aus, wie ein Gott. Dieses Gesicht, engelsgleich und doch nicht unschuldig, nicht kindlich. Seine Stimme war samtig – melodisch, nicht von dieser Welt.
Ich verlor mich in diesem Moment und vergaß alles um mich herum, doch nachdem er mir seinen Namen nannte, holte mich die Gegenwart ein.
Ich hörte sie. Die Vampire hatten mich gefunden und würden mich töten.
Mein Herz raste, einen Moment lang war ich wie gelähmt.
Phönix schaltete schnell. »Lauf. Ich werde sie aufhalten.«
Wie sollte er das schaffen? Auch wenn ich nun wusste, dass er kein Mensch war – schließlich konnte er fliegen –, kam gerade eine Horde blutrünstiger Vampire auf uns zu.
Ich konnte ihn doch nicht mit ihnen allein lassen.
Doch er sah mich selbstbewusst und zuversichtlich an.
»Nun lauf schon. Ich werde dich finden, Angel. Versprochen.«
Hoffentlich würde er sein Versprechen halten und selbst am Leben bleiben. Ich warf ihm einen kurzen, verzweifelten Blick zu, drehte mich um und rannte los. Ich wäre ihm auch keine große Hilfe.
Ich rannte um mein Leben, steckte alles an Kraft in meine Beine, was ich konnte. Selbst als diese vor Schmerz und Anstrengung brannten, ich kaum noch atmen konnte, rannte ich weiter.
Hoffentlich ging es Phönix gut, ich würde es mir nie verzeihen, wenn ich für seinen Tod verantwortlich sein sollte, immerhin waren die hinter mir her.
Es musste ihm einfach gut gehen. Wenn es wirklich einen Gott gab, würde er dafür sorgen, dass wir uns wiedersahen. Irgendwann.
Aus irgendeinem Grund schmerzte mein Herz bei dem Gedanken an Phönix, doch ich konnte mich jetzt nicht damit beschäftigen. Hier ging es ums blanke Überleben.
Ich rannte weiter, doch dann stolperte ich über meine tauben Füße und fiel der Länge nach hin.
Ich wusste, ich war kilometerweit gerannt, und mein Körper war am Ende seiner Kräfte.
»Sieh mal einer an, wen haben wir denn da? Das Abendessen kommt heute zu uns Leute.« Ich erstarrte nicht schon wieder – mein Herz raste, meine schweißnassen Hände zitterten. Dann wurde alles schwarz.
Als ich erwachte, dauerte es volle fünf Sekunden, in denen ich orientierungslos war. Dann hörte ich den Atem der anderen Mädchen und Frauen. Mein Herz wurde schwer und meine Kehle war wie zugeschnürt. Jedes Mal nach dem Erwachen hatte ich die Hoffnung, es sei alles nur ein Traum gewesen, und ich würde in einem bequemen Bett liegen.
Diese fünf Sekunden jeden Tag hielten mich am Leben.
Der kleine Hoffnungsschimmer – Phönix würde sein Versprechen halten und mich finden – war der einzige Grund für mich, weiterzukämpfen.
Doch erneut wurde ich enttäuscht und weigerte mich noch einen kleinen Moment, die Augen zu öffnen. So lange, bis mein leerer Magen mich daran erinnerte, dass ich wieder einmal seit Tagen nichts gegessen hatte, und ich feststellte, dass ich auf kaltem Steinfußboden lag und mir alles wehtat.
»Hey, geht es dir besser?«, hörte ich die leise Stimme von Sina, einer meiner Mitgefangenen. Ich öffnete die Augen und sah sie in dem spärlichen Licht an – so gut ich es mit einem zugeschwollenen Auge eben konnte. Sina war um die fünfzig Jahre alt und kümmerte sich seit meiner unfreiwilligen Ankunft vor zwei Jahren um mich.
Ihr dunkles Haar war strähnig und dünn. Aber ihr Lächeln war wie immer freundlich.
Vorsichtig richtete ich mich auf, spürte das dunkle Pochen des Schmerzes.
»Es geht schon, ich habe mich schon schlechter gefühlt.«
Schweigend hielt mir ein Stück Brot hin.
»Hier, nimm das, Kleines. Es ist nicht viel, aber hilft dir bei Kräften zu bleiben. Du bist einer ihrer Lieblinge und dementsprechend siehst du auch aus.«
Ich wollte das Brot nicht annehmen, weil wir alle Hunger hatten – doch ich wusste aus Erfahrung, es hatte keinen Sinn mit ihr zu diskutieren.
Also nahm ich es und biss zaghaft hinein. Das Brot war hart, trocken und schmeckte nach Pappe, es war mit Sicherheit schon ein paar Tage alt, aber es füllte meinen leeren Magen.
Ich ließ mir Zeit, damit die wenigen Nährstoffe möglichst lange in meinem Körper blieben.
»Danke«, flüsterte ich leise und sie nickte.
Es war still heute, die meisten der Blutsauger hatten sich gestern bereits ausgetobt und wir hatten endlich für ein paar Tage unsere Ruhe. Viele der Mädchen waren schon wesentlich länger hier als ich, doch im Gegensatz zu ihnen wurde ich oft viermal die Woche geholt – statt ein- bis zweimal.
Die letzten drei Wochen ging es mir immer schlechter.
Ich hatte keine Kraft mehr, war so erschöpft wie nie. Mein Körper hatte keine Zeit mehr sich zu erholen.
Ich wusste genau, was das bedeutete, hatte es schon viel zu oft bei den anderen gesehen. Jedes Mal, wenn unsere Körper nach und nach den Kampf verloren und versagten, dauerte es nicht lange, bis man nicht mehr aufwachte. Zu viele von uns hatten vor lauter Entkräftung schon den Tod gefunden. Wenn nicht bald ein Wunder passierte, war ich die Nächste.
Dieser Kerker, diese Zelle, war der einzige Ort, an dem wir unter uns waren. Wo wir einen Moment der Ruhe genießen konnten.
Ich sah mich um. Die kahlen, kalten Steinwände, die Gitter im vorderen Bereich, vor dem sich ein langer Gang erstreckte, der kaputte Boden mit den getrockneten Blutflecken. In einer Ecke war ein Loch in den Boden gelassen und diente uns als Toilette. Keiner von uns hatte irgendwelche Decken oder Kissen und wir waren alle spärlich bekleidet.
Nachdem ich mich gestern wieder einmal gewehrt und dafür Prügel bezogen hatte, hatten sie sich an mir genährt.
Während zwei mein Blut tranken, machte sich ein anderer über meinen Körper her. Diese Demütigungen und die Schmerzen waren in den letzten Jahren mein ständiger Begleiter. Ich versuchte mich währenddessen in eine Fantasiewelt zu flüchten, aber das gelang mir leider nicht immer.
Gestern hatte ich zum Glück Erfolg gehabt. Auch wenn ich im Nachhinein bemerkte, was sie mir angetan hatten, war alles hinter einem dicken Nebel verschwunden.
Ich verlor das Bewusstsein und war erst jetzt zu mir gekommen.
Mein Körper pochte überall. Ich war an allen möglichen Stellen wund und mit Sicherheit grün und blau. Am schlimmsten schmerzten die Bisswunden.
Ich konzentrierte mich lieber schnell auf etwas Anderes und sah die Mädchen an.
Die jüngsten der Mädchen waren gerade einmal dreizehn oder vierzehn, die ältesten in den Fünfzigern.
Vor ein paar Tagen hatten sie ein neues Mädchen hergebracht, deshalb wusste ich, welches Datum wir hatten. In sechs Tagen war mein zwanzigster Geburtstag, und ich war hier gefangen, anstatt irgendwo zu feiern.
Ich hörte das leise Schluchzen des neuen Mädchens und zwei andere setzen sich zu ihr. Abgesehen davon vernahm ich nur gelegentliches Husten oder schweres Atmen.
»Erzählst du uns noch mal von ihm?«, sprach Sina mich an.
»Da gibt es nichts zu erzählen. Wir sind uns doch nur zweimal begegnet. Ihr kennt die Geschichte doch schon.«
»Ja. Nicht viele haben das Glück, die Liebe auf den ersten Blick zu spüren. Diese Geschichte tut den Mädchen immer gut. Also bitte.«
Als ich die gespannten und erwartungsvollen Blicke der anderen sah, ergab ich mich. Wenn es dadurch jemandem besser ging, warum sollte ich dann nicht über die beiden kurzen Treffen mit Phönix sprechen?
Als ich geendet hatte, seufzten die Mädels und Sina lachte.
Eines der Mädchen, ihr Name war Lilly, sprach als Erstes.
»Wie hat sich das angefühlt? Als du ihn gesehen hast?«
Ich suchte nach den passenden Worten. »Das ist nicht so einfach zu erklären. Es fühlte sich an, als würde die Welt aufhören sich zu drehen, ich vergaß zu atmen und mein Herz schlug wie verrückt. Meine Knie waren wie Wackelpudding und ich habe alles um mich herum vergessen. Nichts war mehr wichtig, nichts war noch von Bedeutung, außer dieser Moment.«
»Meinst du, er ist am Leben? Denkst du, er sucht wirklich nach dir?«, fragte Maja und ich zuckte mit den Schultern.
»Ja, ich denke, er ist am Leben. Keine Ahnung, woher ich das weiß. Aber ich spüre es irgendwie. Ich weiß nicht, ob er noch nach mir sucht. Zu Anfang bestimmt, aber nach so langer Zeit? Es sind immerhin schon zwei Jahre vergangen. Allerdings ist es genau dieser Gedanke, der mich am Leben hält. Mich dazu bringt zu kämpfen. Ich halte ihn für jemanden, der sein Versprechen hält. Wir müssen nur so lange durchhalten.«
Christina sah mich an. »Ja, wir wissen alle, dass du für ihn kämpfst. Aber wir wissen ebenfalls, dass du es auch für uns tust. Du hast so oft die Aufmerksamkeit der Wärter auf dich gelenkt, damit sie von uns ablassen und dich mitnehmen. Und kamst immer in einem noch schlechteren Zustand zurück. Denk nicht, wir wüssten das nicht – oder wir wären dir dafür nicht ewig dankbar. Aber wenn du so weitermachst, bringen sie dich um.«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich habe die letzten Jahre eine Menge ausgehalten, auch, bevor ich hier gelandet bin. Ich kann nicht einfach danebensitzen und zusehen, wie sie euch wehtun.«
Auch wenn ich jedes Mal starr vor Angst war, wenn sie mich mitnahmen. So viele junge Mädchen waren schon gestorben und aus irgendeinem Grund war mein Körper bisher stärker gewesen. Aber auch ich wusste, wenn nicht bald etwas passierte, würden sie mich ebenfalls irgendwo verscharren müssen.
Ich konnte nur weiterhin hoffen, dass Phönix uns vorher fand.
Dass er noch nach mir suchte. Ich musste weiterkämpfen.
Weiteratmen.
Weiterleben.
Für ihn.
Um ihn wiederzusehen.
Phönix.
Meinen Engel.
Ich legte mich erneut auf den kalten, harten Boden und schloss die Augen. Wenn ich das hier wirklich überleben wollte, und trotz all der Schmerzen wollte ich das, dann musste ich mich ausruhen. Ich musste mir selbst Zeit geben, mich etwas zu erholen und zu Kräften zu kommen. Da wir nur ein- bis zweimal die Woche ein wenig Essen und Wasser bekamen, waren wir alle erschöpft und rund um die Uhr müde.
Es reichte gerade, um zu überleben. Für viele von ihnen schon viele Jahre.
Aber wie Sina sagte, hatte es bisher noch keine so hart getroffen wie mich. Zumindest keine, die diese Behandlung überlebte. Mein Blut war wohl besonders lecker und es bereitete ihnen eine diebische Freude mich zu foltern, weil ich ihnen dabei noch ins Gesicht spuckte.
Auch wenn sie sich immer wieder über meinen Körper hermachten und mir all das antaten, was ein Mann einer Frau antun konnte – mein Wille war stark.
So stark, dass sie es noch nicht geschafft hatten, mich zu brechen.
Irgendwann würden Phönix und ich uns wiedersehen und ich konnte nur hoffen, dass er mich dann noch wollte. Die letzten Jahre hatten ihre Spuren hinterlassen.
Auf meinem Körper und meiner Seele.
Ich war längst nicht mehr so stark, wie ich es die Mädchen glauben ließ. An manchen Tagen war ich ganz starr vor Angst. Oft lähmte mich die Angst und erst das Adrenalin half mir, mich aufzurichten und zu kämpfen. Nicht dass ich jemals eine Chance gehabt hätte. Allein bei dem Gedanken daran rutschte mir das Herz in die Hose und meine kalten Hände zitterten.
Ich verdrängte diese entsetzlichen Gedanken und konzentrierte mich stattdessen auf meine Atmung. Innerhalb kürzester Zeit fiel ich in einen unruhigen Schlaf.
Als wir die nächste Frauenleiche fanden, spürte ich erneut dieses beklemmende Gefühl und die Enge in meiner Brust. Als ich jedoch ihr Gesicht erblickte, wurde das Atmen auf einmal wieder leichter. Es war nicht sie. Im selben Moment schalt ich mich selbst, denn dieses arme Geschöpf zu meinen Füßen war noch ein Kind. Vielleicht vierzehn, auf keinen Fall älter.
Es war eine Sünde, ein so junges Ding zu töten und dann auch noch auf diese Art.
Sie war blutleer und entsetzlich entstellt. Dennoch wusste ich sofort, dass dies nicht Angel war und irgendwas in meinem Inneren sagte mir, dass sie noch immer am Leben war.
Allerdings suchte ich inzwischen seit zwei Jahren nach ihr. Ich hatte ihre Spur verloren, als andere Vampire sie gefunden und weggetragen hatten. Autos und Flugzeuge hinterließen eine Spur, der nur schwer zu folgen war. Selbst ich hatte da meine Schwierigkeiten.
Ich tötete damals jeden Einzelnen der zweiundfünfzig Unsterblichen.
Viele von ihnen hatten sich nicht mal getraut, gegen mich anzutreten, nachdem ihnen klarwurde, wer ich bin. Die Vampire fürchteten mich, ebenso die Dämonen, dennoch gab es immer ein paar Dumme, die es versuchten. Sie waren gescheitert, aber es hatte zu lange gedauert, da ich allein – und durch Angel – viel zu abgelenkt gewesen war.
Auch wenn ich nicht einen Kratzer davongetragen hatte, verfluchte ich mich für meine eigene Dummheit. Wenn ich mich besser konzentriert hätte, wären diese Bastarde niemals mit ihr entkommen.
»Boss, hier sind noch zwei!«, rief Charly, einer meiner Gefährten, und innerhalb eines Sekundenbruchteils war ich bei ihm, obwohl er sich mehrere Hundert Meter entfernt befand.
Ich bin, wer ich bin. Phönix Dracul Ţepeș. Allein mein Name versetzte die Leute oft in Angst und Schrecken.
Vladimir Ţepeș, oder auch Vlad, der Pfähler, oder Dracula genannt, war mein Großvater.
Also der echte Dracula, jener Vampir, der um 1430 so bekannt wurde.
Obwohl die Welt ihn unter vielen scheußlichen Namen kannte – Schlächter, Teufel – oder Ähnliches, war er der Einzige, der mir jemals das Gefühl gab, geliebt zu werden.
Mein Vater war Mihnea, der erste Sohn Draculas aus dessen erster Ehe. Meine Mutter ließ mich direkt nach der Geburt bei meinem Vater zurück, sie wollte auf keinen Fall das Kind der Ţepeș-Familie großziehen. Ich habe sie niemals zu Gesicht bekommen und sie interessierte mich auch nicht. Sie wollte mich nicht, also warum sollte ich ihre Nähe suchen?
Als ich die beiden jungen Frauen betrachtete, die Charly gefunden hatte, geriet mein Blut in Wallung und einen Moment lang loderten meine Hände wie ein Kaminfeuer. Meine Männer gingen schweigend einige Schritte zurück, einzig Charly blieb an Ort und Stelle.
Er kannte mich nun schon über hundert Jahre und wusste, dass es anders aussah, wenn ich die Kontrolle verlor. In den letzten Jahrhunderten hatte ich ebenfalls getötet, gefoltert und regelrecht abgeschlachtet. Aber keine Kinder und die wenigen Frauen, die ich hatte töten müssen, fanden ein schnelles Ende.
Meine Mutter brachte mich vor zweihundertfünfzig Jahren auf die Welt und ich wurde nicht ohne Grund gefürchtet. Wenn die Leute mir richtig auf den Sack gingen, kopierte ich auch mal meinen Großvater. Aber all diese Männer, die ich so zugerichtet habe, waren Mörder, Vergewaltiger oder andere Scheusale.
Diese Kinder hier waren unschuldig und das durfte ich nicht länger zulassen.
»Ich habe ja schon viel gesehen Charly, aber all diese toten Mädchen und Frauen machen mich wirklich wütend. Sieh sie dir an. Verstümmelt, gefoltert, missbraucht und blutleer. Das haben sie nicht verdient. Wie viele haben wir in den letzten 18 Monaten gefunden? Vierundzwanzig, wenn ich mich nicht irre. Die meisten von ihnen sind doch noch Kinder. Wir haben immer noch keine Spur von den Psychopathen, die ihnen das antun. Verdammt noch mal.« Ein dunkles Knurren entrang sich meiner Kehle.
Charly legte seine Hand auf meine Schulter.
»Ich weiß Phönix. Aber wir werden sie finden. Rechtzeitig. Wir müssen uns nur eine neue Strategie überlegen.« Charly sprach nicht von diesen Mädchen, sondern von ihr.
Er wusste, warum wir seit zwei Jahren unablässig auf der Suche waren. Angel. Ich würde weitersuchen, bis ich sie gefunden hatte. Aber all diese toten Mädchen …
Ich nickte, dann seufzte ich. Es gab nur noch einen Weg und dieser gefiel mir gar nicht. Dennoch verdienten die Mädchen wenigstens Gerechtigkeit, auch wenn wir ihnen nicht mehr helfen konnten.
»Wir werden mit Victoria und Lucas reden müssen. Wenn sie bisher noch nichts über all die toten Menschen erfahren haben, sollten sie es nun wissen. Immerhin ist es ihre Aufgabe, die Menschen vor unseresgleichen und allen anderen mythischen Wesen zu beschützen.«
Charly nickte, sagte aber nichts weiter. Er wusste genau, wie sehr ich es hasste, die beiden zu sehen, aber hier ging es nicht um mich. Der Gedanke daran, dass Angel vermutlich von denselben Monstern gefangen gehalten wurde wie diese Mädchen, war so viel schlimmer.
Ich wusste vom ersten Moment an, dass sie etwas Besonderes war. Einzigartig.
Als ich ihr in die Augen sah, hatte ich das Gefühl, einem Engel gegenüberzustehen. Deshalb hatte ich diesen Namen für sie gewählt. Sie war so wunderschön und strahlte so viel Wärme und Liebe aus.
Ich musste sie finden, so schnell wie möglich.
Also setzte ich mich in einen meiner Privatjets und flog, gemeinsam mit Charly und zwei anderen meiner loyalsten Verbündeten, nach Minnesota, um dort in die Kommandozentrale der Agency hereinzuschneien. Ich machte mir nicht die Mühe, vorher anzurufen, am Telefon konnte man leicht abgewimmelt werden. Roman und Dimitri waren zwei schweigsame Genossen, aber ich wusste, die beiden standen immer hinter mir und in den meisten Fällen schalteten sie erst das Gehirn ein, bevor sie eingriffen. Ich brauchte jetzt keine gehirnlosen Maschinen, die jeden umbrachten, der mich nur komisch ansah.
Ich war definitiv in der Lage, selbst auf mich aufzupassen. Viel wichtiger war, sie machten genug Eindruck, um die Leute daran zu hindern, es überhaupt zu versuchen.
Die beiden sahen furchteinflößend aus. Obwohl ich ebenfalls recht muskulös war, sahen Dimitri und Roman optisch zumindest aus wie Bodybuilder. Ihre Gesichtszüge waren grob und grimmig, obwohl sie Letzteres definitiv nicht waren.
Charly wirkte neben den beiden schlank. Er war dafür äußert präzise in seinen Handlungen und war durchaus in der Lage, die Drecksarbeit zu erledigen, wenn ich ihn darum bat. Er musste sich nicht übergeben, wenn wir aus Dämonen herausquetschen mussten, was sie wussten.
Charly und ich hatten uns vor einhundertzwanzig Jahren kennengelernt, als er eine Frau verteidigte, die von mehreren Männern angegriffen wurde. Sie hatten von ihr abgelassen und sich stattdessen an Charly gewandt. Als ich von seinem Blut angelockt wurde, hatten sie ihn fast umgebracht. Also tötete ich die Männer, natürlich trank ich vorher ihr Blut, und machte Charly das Angebot, ihn in einen Vampir zu verwandeln.
Seitdem war er an meiner Seite.
Er stand mir bei, als Lucas sich meine damalige Freundin schnappte, obwohl er mein bester Freund war.
Charly war einer der wenigen, der nicht vor Angst erstarrte, als er meinen Namen erfuhr.
Er widersprach mir, wenn ich falschlag, und geigte mir offen seine Meinung, ob ich sie hören wollte oder nicht.
All diese Dinge hatten ihn zu meinem Vertrauten, meinem Freund gemacht.
Ich wusste, dass Victoria und Lucas mich nicht sehen wollten und vermutlich versuchen würden mich schnell abzuspeisen. Eher würde ich ein Blutbad anrichten, statt das zuzulassen. Ich brauchte ihre Hilfe, um diese Bastarde zu töten und Angel zu finden. Nichts anderes war wichtig.
Wir hatten ganze drei Tage Zeit, um uns zu erholen und gestern hatten sie etwas Essen und Wasser gebracht. Diese drei Tage waren wie Urlaub für unsere müden Körper.
Wir waren dreißig Frauen und Mädchen, dennoch reichten fünf Wärter, um uns in den kalten Raum zu scheuchen, den wir Duschraum nannten. Wir mussten uns vor ihnen ausziehen, und obwohl die Männer schon ganz andere Dinge mit uns getan hatten, war ich nicht die Einzige, der dabei unwohl war.
Die gaffenden Blicke und die deutlichen Beulen in ihren Hosen verrieten genau, wie es sie anmachte, uns so zu sehen. Ich fühlte mich verletzlich und entblößt.
Ein unangenehmes Gefühl.
Sie warfen Schwämme in den Raum und schlossen die Tür.
Im nächsten Moment sprudelte kaltes Wasser aus den Rohren über uns und ich zuckte zusammen. Mein geschundener Körper war nicht begeistert von dieser Behandlung, und als ich mit dem Schwamm über meine Arme rieb, brannte meine Haut. Aber es nützte nichts, sie sahen uns mit ihren Kameras zu und würden eingreifen, wenn wir uns weigerten.
Ganz abgesehen davon, war es ein schönes Gefühl, wenn man sich erstmal an die Kälte gewöhnt hatte und die Schmerzen ignorierte. Es kam selten genug vor, dass wir uns waschen durften.
Anschließend pustete der Lüfter Luft in den Raum, um uns zu trocknen.
Wir zitterten vor Kälte und Scham. Anschließend brachten sie uns zurück.
Die dünnen Hemdchen, die wir trugen, gaben keinerlei Wärme. Keiner von uns hatte Unterwäsche und unsere Kleidung wurde monatelang getragen, ohne gewaschen zu werden. Irgendwann hatte sie sich allerdings so mit unserem Blut vollgesogen, dass es neue gab. Dies war, ebenso wie das Duschen, eines der wenigen Highlights.
Als sie am dritten Tag drei der jungen Mädels und zwei der älteren Frauen abholten, konnte ich nichts dagegen tun. Als ich heute Morgen erwachte, fühlte ich mich schlecht.
Ich war aus einem komaähnlichen Zustand erwacht und fühlte mich zu schwach, um aufzustehen. Es gelang mir kaum die Augen zu öffnen.
Mir war heiß und kalt zugleich, ich zitterte unkontrolliert. Schweiß hatte sich auf meiner Stirn gebildet und mein ganzer Körper brannte wie glühende Lava.
Mein Atem ging flach und abgehackt. Ich konnte mich nicht bewegen, mein Körper gehorchte mir nicht. Ich stöhnte vor Schmerz. Sina hielt meine Hand, sie machte sich sichtlich Sorgen, und die anderen Mädchen rutschten näher, um mich etwas zu wärmen.
Verdammt, ich habe mir vermutlich gestern eine heftige Grippe eingefangen.
Mein Körper war zu geschwächt, um irgendeine Art von Immunsystem zu entwickeln. Ich hatte dem also nichts entgegenzusetzen.
Ich hustete, mein Hals schmerzte, als hätte ich tagelang geschrien.
Vielleicht eine Lungenentzündung. Das ist nicht gut. Gar nicht gut.
Wurde man in dieser Zelle krank, war man so gut wie tot. Ich wusste das. Alle anderen wussten es ebenfalls.
Die Zeit verging und ich driftete immer wieder ab. Irgendwo in meinem Kopf hörte ich den wundervollen Klang von Phönix’ Stimme, welche mir versicherte, er würde mich finden.
Einige Zeit später, es hätten Stunden sein können oder Minuten, ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren, brachten unsere Peiniger die Mädchen wieder.
Einige von ihnen weinten und ich hatte sie, am Rande meiner Ohnmacht, manchmal schreien hören. Ich hasste es, ihnen nicht helfen zu können.
»Hey ihr da! Was ist da los? Ist schon wieder eine abgekratzt?«, hörte ich die Stimme von einem der Männer.
»Ist doch egal, lass sie da liegen«, sagte ein anderer. Der Erste kam herein und schubste die Frauen beiseite, die noch immer versuchten, mich warmzuhalten.
»Ach, sieh mal einer an, das ist ja interessant. Du kommst mit mir.«
Er packte mich und zerrte mich hoch. Ich hörte Sina und die anderen protestieren. »Lasst sie hier, ihr geht es viel zu schlecht.« Davon wollte er jedoch nichts wissen.
Ich hörte es klatschen, als er ihr Ohrfeigen verpasste. Er zerrte mich hinter sich her, wobei er mich einfach über den Boden schleifte.
»Alter, was willst du denn mit der? Die ist so gut wie tot, sieh sie dir doch mal an«, erklang die Stimme eines weiteren Mannes.
Die Antwort konnte ich nicht hören, da ich erneut das Bewusstsein verlor.
Als ich erwachte, fand ich mich an die Wand gekettet wieder. Ich konnte nicht mal die Augen öffnen. Die Kerle fummelten an meinem Hals herum und betatschten meine Brüste. Warum konnte ich nicht flach wie ein Brett sein? Dann wäre ich mit Sicherheit weniger spannend für sie.
Ich hörte fünf unterschiedliche Stimmen. Eine davon gehörte dem Wärter von vorhin. Dann erkannte ich den Anführer und seinen Bruder. Die anderen Stimmen kannte ich nicht.
»Gib ihr ein bisschen Wasser, damit sie das hier überlebt«, hörte ich den Anführer sagen. Einer der Unbekannten antwortete, er klang deutlich jünger.
»Warum? Das wäre doch nur Verschwendung.«
»Du hast keine Ahnung, du Idiot. Die hier bringt uns eine Menge Kohle ein, glaub mir.« Wieder sprach der Anführer und als ich die Augen öffnete, sah ich seinen Bruder zustimmend nicken.
Die beiden waren bei ihrer Wandlung in einen Vampir wahrscheinlich Ende dreißig bis Mitte vierzig gewesen, und obwohl sie eigentlich nicht hässlich waren, fand ich sie absolut abstoßend. Sie hatten so einen ekelerregenden Gesichtsausdruck.
Sie rochen nach Tabak, diesen Geruch würde ich mit Sicherheit niemals vergessen.
Einer hielt mir eine Wasserflasche an die Lippen und so ausgetrocknet wie ich war, trank ich sie innerhalb kürzester Zeit leer. Dennoch fühlte ich mich nicht besser.
Das Fieber breitete sich aus und ich bekam erneut Schüttelfrost.
Es fühlte sich an, als würde ich innerlich verbrennen.
Doch obwohl es offensichtlich war, dass ich krank war, nahmen sie keine Rücksicht. Der Anführer war der Erste, der seine Zähne in die Innenseite meiner Oberschenkel schlug und der Schmerz ließ mich wimmern. Sein Bruder begnügte sich mit meiner Schulter. Es pochte und brannte, die Prozedur war alles andere als angenehm. Obwohl ich es eigentlich gewöhnt sein musste, tat es höllisch weh. Der Wärter kniff mich in die Brust und ich zuckte zusammen, wimmerte leise, während er lachte. Keiner von ihnen hatte jemals Blut aus meinem Hals genommen, es würde dann zu schnell gehen, laut ihrer Aussage.
Als die beiden ihren Blutdurst gestillt hatten, ließen sie von mir ab und holten ihre Hilfsmittel hervor. Anscheinend stand heute Folter auf dem Plan statt Missbrauch. Ich zitterte, mein Herzschlag dröhnte in meinen Ohren. Ich versuchte mich zu befreien, doch es hatte keinen Sinn. Das Adrenalin wurde verstärkt durch meinen Körper gepumpt und ich spuckte einem der Unbekannten mitten ins Gesicht, was mir direkt eine Backpfeife einbrachte.
Als ich sah, wie der Anführer einen Lappen in Wasser tränkte, entbrannte in mir blanke Panik. Ich wusste, was jetzt kam, Waterboarding war eines ihrer liebsten Foltermittel.
Ich war schweißnass und mir wurde schwindelig, weil mein Atem sich so sehr beschleunigte. Wäre ich nicht senkrecht an die Wand gekettet gewesen, wäre ich gestürzt, als die Kraft meinen Körper verließ und ich in mich zusammensackte.
Es war einfach ausweglos, ich konnte nicht entkommen.
Während ich verzweifelt versuchte dem nassen Lappen zu entkommen, brannte in meinem Inneren ein Feuer.
Warum konnte ich nicht einfach sterben? Die Schmerzen waren so stark wie nie zuvor. Meine Innereien brannten lichterloh. Immer wieder verschluckte ich mich, bekam keine Luft, weil Wasser in meine Lunge lief.
Ich schrie, konnte es einfach nicht verhindern. Erneut wurde ich gebissen und ausgesaugt. Als nach einer gefühlten Ewigkeit das letzte bisschen Kraft meinen Körper verließ und ich das Bewusstsein verlor, hoffte ich, dass es nun endlich vorbei war. Bitte Gott, lass mich nun gehen. Ich kann nicht mehr. Dies war der letzte Gedanke, an den ich mich erinnerte.
Es dauerte einige Zeit, bis ich die Agency und Victoria überzeugt hatte, mir zu helfen. Erst als Charly ihnen Bilder der Leichen zeigte und ihnen mitteilte, um wie viele Tote es sich handelte, wurden sie aktiv.
»Es ist eure verdammte Aufgabe, die Menschen zu schützen. Bei der Anzahl an Leichen hättet ihr schon längst aktiv werden müssen«, hielt ich ihnen grollend vor.
»Die Leichen sind über drei verschiedene Kontinente verteilt. Wie hätten wir das sehen sollen? Und wir haben auch noch andere Aufgaben, als durch die Welt zu fliegen und Angst zu verbreiten.« Lucas’ Argument war so schwachsinnig, dass ich schnaubte und mit den Augen rollte.
Na klar doch. »Die verdammten Länder liegen alle nebeneinander, Lucas. Sei nicht so dumm.« Das Feuer brannte in mir, ich spürte das Summen der Magie. Sie wollte raus, doch ich hielt sie zurück, wie ich es immer tat.
Wie hatte ich jemals mit Lucas befreundet sein können?
Als ich meine Ex betrachtete, stellte ich nur fest, wie unterschiedlich sie und Angel aussahen. Die beiden waren so gegensätzlich, wie sie nur sein konnten.
Victoria war groß, ca. 1,75 m. Sie war drahtig, wenig kurvenreich und hatte markante Gesichtszüge. Ihr Kinn lief spitz zu. Sie war definitiv nicht hässlich, aber überhaupt kein Vergleich zu Angel. Ihr Haar war zu einem Bob geschnitten und schwarz.
Nichts an ihr erinnerte mich an einen Engel, wie es bei ihr der Fall war.
Angel hatte sanfte, perfekte Gesichtszüge und eine Porzellanhaut. Sie wirkte warm und weich mit ihrem zarten Gesicht, trotz der Stärke in ihren Augen. Ihre blauen Iriden erinnerten mich an den Ozean und ihr kleiner Körper war wunderbar weich und kurvig, wobei sie trotz allem schlank war. Das war zumindest so, wie ich sie in Erinnerung hatte und ich hoffte, sie auch so wieder vorzufinden.
Während wir mit einer Weltkarte darüber diskutierten, wie wir die verschiedenen Gebiete aufteilen wollten, erfasste mich auf einmal ein stechender Schmerz in der Brust, so stark, dass ich taumelte und Charly mich stützen musste.
Er legte mir die Hand auf die Schulter und sah mir in die Augen.
»Was ist los Phönix?«
»Ich weiß es nicht. Etwas stimmt nicht. Ganz und gar nicht. Da sind so viel Dunkelheit und Schmerz. Viele Menschen. Hungrig, krank, frierend.«
Ich versuchte zu begreifen, was hier passierte, aber es dauerte ein paar Sekunden, bis ich es verstand.
Das waren nicht meine Gefühle, nicht meine Schmerzen. Es waren ihre. Warum zum Teufel konnte ich all das auf einmal spüren? Warum jetzt? Warum nicht schon vor Monaten oder Jahren? Doch die Fragen musste ich erst einmal hintanstellen.
Ich fluchte und versuchte, die Verbindung aufrechtzuerhalten, um herauszufinden, wo sie sich befand. Doch noch war unser Band zu schwach und sie war es auch.
Ich sah Charly an, dann warf ich einen kurzen Blick auf meine anderen beiden Begleiter, ehe ich meinen Freund wieder ansah. »Wir müssen uns beeilen. Trommel unsere Leute zusammen, haltet euch bereit. Sie sind in den USA oder im direkten Umkreis.« Charly reagierte, ohne Fragen zu stellen – oder zu widersprechen.
Er verließ den Raum, um zu telefonieren.
Einige Leute aus der Agency, neben Victoria, Lucas und Paul, hatten natürlich kein Vertrauen in mich und stellten Fragen.
Paul sah mich misstrauisch an.
»Wenn du mit der ganzen Sache nichts zu tun hast, was du ja behauptest, woher weißt du das dann?«
Doch Elisa und Andy, die beiden Leiter der Organisation, hatten nach der letzten Schlacht verstanden, dass ich stärker war, als sie bis dato annahmen. Auf jeden Fall wussten sie, dass ich nicht ihr Feind war. Solange sie mich nicht dazu zwangen.
»Wenn du dir so sicher bist Phönix, dann werden wir ebenfalls in der Umgebung der USA verstärkt die Augen aufhalten.«
»Danke Andy.« Der leitende Agent und Gründer der Agency war ein kleiner Mann in den Vierzigern. Er war ein wenig untersetzt und wirkte nicht, als wäre er in der Lage, solch eine Organisation zu leiten. Doch das täuschte. Ich hatte Andy bereits kämpfen sehen und wusste, dass er nicht so harmlos war, wie er aussah. Sein dunkles Haar war kurz, die braunen Augen stets wachsam – ihnen entging nichts.
Victoria ließ sich nicht so leicht überzeugen. Warum war mir bisher nie aufgefallen, wie misstrauisch sie war? Gerade in dem Moment, als Rick und Taylor, ebenfalls zwei hochrangige Krieger aus der Agency, eintraten, sprach sie mich direkt an.
»Woher sollen wir wissen, dass du uns die Wahrheit sagst und uns nicht direkt in eine Falle lockst? Warum interessiert dich das alles überhaupt? Es wäre ja nicht das erste Mal, dass du uns für deine Zwecke missbrauchst. Du hast dich bisher für niemanden außer für dich selbst interessiert.« Ihre dunklen Augen waren nur wenige Nuancen heller als ihr schwarzes Haar. Früher hatte ich das attraktiv gefunden.
Ich konnte verstehen, dass sie verletzt war, ich hatte damals eine Menge Fehler gemacht, aber es nervte.
»Ist das dein Ernst, du willst ausgerechnet jetzt darüber reden? Seit fünf Jahrzehnten haben wir kein Wort mehr miteinander gesprochen, und du kommst jetzt damit an? Du weißt, dass das nicht stimmt. Denn auch wenn du es im Augenblick nicht wahrhaben willst, habe ich dich eine Zeitlang mal sehr gemocht und fast alles für dich getan. Ja, ich habe dir verheimlicht, wer ich wirklich bin, aber deshalb musst du noch lange nicht alles in Frage stellen. Ich habe dir nie auch nur ein Haar gekrümmt, das weißt du genau. Wir reden hier von Mädchen, von Kindern. Sie sind unschuldig, verdammt noch mal!« Bei den letzten Worten fuhr ich die Fangzähne aus und knurrte. Sie schluckte und die anderen Agenten traten nervös einen Schritt zurück. Feiglinge.
»Du hast sie nicht gesehen, du kennst nur die Bilder. Ich bin in dieser Geschichte nicht das Monster, auch wenn du das gerne behauptest. Diese Bastarde haben diese armen Mädchen vollkommen zerstört! Ihre eigenen Eltern würden sie nicht wiedererkennen.«
»Du hast schon genauso abscheuliche Dinge getan, das wissen wir alle. Du bist ein Ţepeș«, spuckte Lucas mir entgegen. Doch mir entging sein rasendes Herz nicht.
Meine Lippen kräuselten sich zu einem grausamen Lächeln, als ich mich vorbeugte und meinem ehemaligen Freund direkt in die Augen sah.
»Und Letzteres solltest du niemals vergessen. Wenn ihr mich weiter aufhaltet, werde ich euch töten. Dir mag es vielleicht egal sein, wenn wehrlose Kinder abgeschlachtet und gefoltert werden. Mir nicht. Also entweder du hilfst mir oder du gehst mir aus dem Weg.« Meine Drohung wirkte, denn Lucas erstarrte. Der beißende Geruch nach Angst strömte aus jeder seiner Poren.
»Lucas, halt dich zurück. Phönix hat recht, Vicky. Das hier ist weder der richtige Ort noch die passende Zeit für so ein Gespräch. Phönix hat in den letzten Jahrzehnten etliche Male bewiesen, dass wir ihm vertrauen können und er auf unserer Seite steht. Also sollten wir uns einfach auf ihn verlassen«, mischte Rick sich nun ein und ich nickte ihm zu.
Victoria gab sich geschlagen, wirkte aber alles andere als begeistert.
Taylor brummte zustimmend. »Wir müssen diese Kerle schnappen, bevor sie noch mehr Mädchen töten.«
Wir verplempern viel zu viel Zeit mit Rumstehen und Diskutieren. Allmählich reißt mein Geduldsfaden.
Die nächsten zwei Tage verbrachten wir damit, uns zu sammeln und Schlachtpläne zu entwickeln.
Dieses Gebäude war die Kommandozentrale der Agency und sie hatten genug freie Zimmer, um uns hier unterzubringen. Das Gelände der Agency, samt ihren Gebäuden, war innerhalb eines stillgelegten Industriegebiets entstanden. Mit ausreichend Platz für eine große Armee. Die Agency beherbergte nicht nur Soldaten, sondern auch Vampire und Menschen mit unterschiedlichen Aufgaben. Es gab IT-Spezialisten, Lehrer für die Auszubildenden und Kampfkunsttrainer. Außerdem noch einige Vampire, deren Aufgaben ich nicht kannte. Es interessierte mich aber auch nicht.
Obwohl wir von morgens bis abends Pläne schmiedeten, wurde ich langsam ungeduldig und zappelig, denn es dauerte viel zu lange. Es waren zwei volle Tage vergangen, bis ich wieder eine Verbindung zu Angel aufbauen konnte und ich bemerkte sofort, wie schlecht es ihr ging. Lange würde sie nicht mehr durchhalten.
Wir befanden uns gerade im Kern der Zentrale. Der Raum war belegt mit haufenweise Technik und einer Menge Agenten. Die meisten von ihnen waren Vampire, aber es gab auch Menschen, denn wir Vampire waren tagsüber lange nicht so stark und vermieden das Tageslicht.
Meine Jungs standen sofort an meiner Seite, als ich Angel erreichte, damit ich mich vollkommen auf meinen inneren Monolog konzentrieren konnte.
Ich spürte ihre höllischen Schmerzen. Da leider auch meine Fähigkeiten ihre Grenzen hatten, war ich nicht in der Lage, ihre Qualen zu lindern. Ich konnte nur versuchen, ihr etwas Trost, Wärme und Sicherheit durch unser Band zu schicken.
Ich wusste, dass sie lächelte, sie konnte mich also ebenfalls spüren.
»Angel, wo bist du?« Ihre Antwort waren mehr Bilder als klare Worte und sehr abgehackt.
Es ging ihr von Sekunde zu Sekunde schlechter. Wir mussten sie finden. Behutsam drang ich weiter in ihren Kopf vor, schob mich durch die Mauer, welche ihren Geist umgab, ohne ihr dabei wehzutun. Ich spürte ihre Unsicherheit und schickte ihr Vertrauen.
»Lass mich rein, Süße. Nur so kann ich dich finden.«
Während ich die Verbindung aufrechterhielt, so gut ich konnte, legte Charly eine Weltkarte auf den Tisch und ich konzentrierte mich voll und ganz auf Angel.
Ich war kurz davor, den anderen in den Arsch zu treten, weil sie noch immer diskutierten. Aber ich hielt mich zurück. Angel zu finden, verlangte meine ganze Konzentration, für etwas anderes hatte ich jetzt keine Zeit.
Es war nicht leicht sie zu finden, da die Verbindung immer wieder abbrach. Sie war so unglaublich schwach, es war nur noch eine Frage der Zeit, bis ihr Körper dem Druck nicht mehr standhielt.
Nach und nach konnte ich den Umkreis immer weiter verkleinern, währen Charly mir immer eine passende Karte vorlegte, sodass ich mit dem Finger darauf zeigen konnte.
Es war, als würde man sich die Weltkugel ansehen, einen Punkt fixieren und dann nach und nach immer weiter heranzoomen. Ich durfte sie nur nicht wieder komplett verlieren. Je länger ich es schaffte, mit ihr verbunden zu bleiben, desto größer war die Chance, sie auf hundert Meter genau zu finden.
Ich erwachte nur langsam aus meinem Dämmerzustand und bemerkte sofort, dass ich auf kaltem, hartem Boden lag. Keine zwei Sekunden Ruhe. Keine fünf Sekunden Hoffnung.
Alles tat weh. Mein Körper brannte von innen und außen, ich schwitzte, obwohl ich fror. Mir war so kalt wie nie zuvor in meinem Leben.
Meine Arme und Beine waren schwer wie Blei und fühlten sich ebenso wund an wie der Rest meines Körpers. Ich wimmerte leise und spürte, wie sehr ich zitterte.
Jemand flüsterte meinen Namen. Jenen Namen, den Phönix mir gegeben hatte.
»Angel. Komm schon Kleines. Du musst aufwachen, sonst stirbst du. Bitte mach die Augen auf und sieh mich an.«
Sinas Stimme war flehentlich und ich öffnete ihr zuliebe die Augen, dennoch wusste ich, wenn nicht bald etwas passierte, würde ich es nicht schaffen. Ich war einfach zu schwach. Es war so unglaublich kalt. So kalt …
Trotz der Nähe der anderen Mädchen, die versuchten, mich warmzuhalten.
»Ich bin so müde. Und es ist so kalt«, flüsterte ich leise und hatte Mühe, die Augen offen zu halten.
»Ich weiß Kleines, aber du musst wach bleiben. Hast du verstanden?«
Ich nickte schwach und hörte die Stimmen von Christina und Maja.
»Die Schweine haben sie fast ausgeblutet, und sieh dir mal all diese Verletzungen an.«
»Ja, du hast recht Christina, es ist echt ein Wunder, dass sie noch lebt. Ich wünschte, wir könnten ihr helfen.«
»Es gibt leider nichts, was wir tun können, außer sie so warm wie möglich zu halten und darauf zu hoffen, dass sie weiterkämpft.« Letzteres kam wieder von Sina.
Ich spürte auf einmal etwas tief in mir, eine vertraute Präsenz. Phönix.
Es konnte nur er sein, denn niemand anderes löste solche Gefühle in mir aus.
Diese innere Wärme, die meinen Herzschlag beschleunigte und mir das Gefühl von Sicherheit und innerer Ruhe gab.
Ich flüsterte leise seinen Namen und seine Entschlossenheit durchströmte meinen Geist und meinen Körper, machte mich stärker.
Er wollte wissen, wo ich war, doch ich wusste es selbst nicht. Irgendwo unter der Erde, in einem Keller oder Verlies. Aber wo genau? Keine Ahnung. Die Vampire hier sprachen zum Großteil Englisch, aber einige von ihnen auch Spanisch und Arabisch.
Inzwischen beherrschte ich einige Sprachen, denn meine Mitgefangenen kamen fast überall aus der Welt. Ich sprach fließend Rumänisch, Russisch und Spanisch. Was sollte man sonst auch in Gefangenschaft großartig tun, als sich weiterzubilden?
Ein wenig Japanisch, Französisch, Deutsch und Portugiesisch konnte ich inzwischen auch. Gut genug, um mich zu verständigen. Wenn man meine Muttersprache Englisch dazuzählte, konnte ich mich nun fast überall auf der Welt aufhalten.
Phönix kam nur abgehackt in meinem Kopf an und ich sträubte mich gegen den Gedanken, es könnte Einbildung oder Wunschdenken sein.
Er sprach irgendwas von einer Mauer um meinen Geist, aber ich konnte ihm nicht ganz folgen. Als er sanft, aber bestimmt seine Gedanken in meinen Kopf drückte, ließ ich ihn passieren. Ich stellte mir bildlich eine Tür in der Mauer vor, welche ich ihm einen Spalt öffnete, damit auch wirklich nur er hineingelangen konnte.
Sofort wurde ich von seiner Präsenz und Gegenwart übermannt und keuchte, aber nicht vor Schmerz. All die Kraft und die Emotionen, die unterdrückte Wut, der blutrote Zorn, verbunden mit einem kleinen Hauch von Angst und Sorge. Aber ebenso wie ich all dieses spürte, vernahm ich auch seine Ruhe, seine Stärke, Wärme, Vertrauen und Liebe. Ich sog all das auf wie ein Schwamm das Wasser und speicherte es tief in meinem Herzen ab. Ich wusste, dass er nicht weit weg war, ich konnte ihn spüren. Hin und wieder sagte er etwas, aber ich konnte ihn kaum verstehen.
Ich zitterte vor Anstrengung, ihm weiterhin die Tür offen zu lassen. Es war schwerer als gedacht. Doch ich wollte ihn nicht wieder rausschmeißen, er sollte hier bei mir bleiben.
Dann erstarrte ich auf einmal, als ich seinen Triumph spürte.
»Ich hab dich Angel. Ich weiß, wo du bist. Halte durch, wir holen dich da raus.«
Dann war er verschwunden und ließ mich frierend und zitternd zurück.
Dennoch hatte ich Hoffnung gefasst.
Ich drückte die Hände von Sina und Christina.
»Wenn ich das nicht geträumt habe, dann sind wir vielleicht bald frei«, flüsterte ich leise und die beiden sahen mich neugierig an. Trotz der Unsicherheit konnte ich in ihren Augen nun einen Hauch von vorsichtiger Hoffnung wahrnehmen und ich wusste, sie würden nun kämpfen.
Ebenso wie ich.
Nachdem ich nun wusste, Angel befand sich nur zweihundert Kilometer von hier entfernt, und ich sie so weit aufgespürt hatte, dass ich den abzusuchenden Umkreis auf hundert Meter eingrenzen konnte, war ich nicht mehr zu bremsen.
Ich machte mir nicht die Mühe, mich mit mehr als meinen beiden Dolchen und der Glock zu bewaffnen. Eine kurze Überprüfung sagte mir, dass die Klingen tödlich scharf waren und sich in der Pistole ein volles Magazin befand. Es hatte zwei volle Stunden gebraucht, Angels Aufenthaltsort zu finden. Es würde eine weitere Stunde dauern, bis ich sie erreicht hatte. Die Anderen hatten sich die letzten zwei Stunden vorbereitet und waren von oben bis unten bewaffnet. Denn obwohl ich mich allein schnell genug bewegen konnte, um innerhalb von dreißig Minuten bei Angel zu sein, war ich nicht dumm genug, ohne Verstärkung hinzugehen.
Ich hatte vorhin einen kleinen Einblick erhalten und festgestellt, dass sich eine Menge Menschen bei ihr befanden, die unsere Hilfe benötigten.
Ganz abgesehen davon, könnte Angel verletzt werden. Denn obwohl ich stark genug war, mit hundert Vampiren und Dämonen alleine fertig zu werden, hatte die Situation vor zwei Jahren gezeigt, dass es viel Zeit in Anspruch nahm, da ich nicht alle gleichzeitig ausschalten konnte. Die Brut, wie ich die Dämonen gerne nannte, war nicht schlau genug, um strategisch zu denken. In Kombination mit Vampiren aber durchaus gefährlich.
Ich hatte meinen Clan, mit vielen mächtigen Vampiren, bereits auf den Weg geschickt und sie sollten zeitgleich mit uns dort ankommen.
Aber die Krieger aus der Agency und auch meine drei Begleiter würde ich mitnehmen müssen, damit sie mir helfen konnten.
Niemand wusste, was uns dort erwarten würde, deshalb war so viel Verstärkung wie möglich nötig.
Abgesehen von Victoria, Lucas, Andy, Elisa, Paul und Rick begleitete uns noch ungefähr ein Dutzend ihrer Soldaten.
Als sie vor mir standen, befahl ich ihnen, sich an den Händen zu halten und auf keinen Fall loszulassen. Falls jemand dennoch losließ, wäre er für immer verloren. Ich legte Charly meine Hand auf die Schulter, während er Dimitri und Roman festhielt, mit der anderen Hand berührte ich Andy. So bildeten wir einen Kreis.
Dimitri, Roman und Charly flogen nicht zum ersten Mal mit mir, aber für die anderen war es neu und beängstigend. Ich konnte nur hoffen, sie befolgten meine Anweisungen.
Andererseits, falls sie dumm oder feige genug waren, um sich dennoch zu lösen, hatten sie selbst Schuld.
Elisa informierte schnell die Anderen, dass der Flieger abheben konnte und sie sich bei den Koordinaten treffen wollten, dann sausten wir davon. Ich nahm sie mit in meine Dunkelheit und wie eine schwarze Wolke rasten wir von einem Ort zum anderen.
Ich wurde von Charly nach unserem Kennenlernen mal gefragt, ob ich mit der Wolke fliegen würde, und hatte dies verneint, denn dies hier war anders als Fliegen. Und wesentlich schneller.
»Und was ist es dann?«, hatte er mich gefragt.
»Ich würde es eher als eine Art Teleportation bezeichnen. Eine Möglichkeit, sich fortzubewegen, ohne sich dabei körperlich anstrengen zu müssen. Beim Teleportieren bist du allerdings innerhalb eines Wimpernschlags an einem anderen Ort. Meine Wolke ist anders. Wir bewegen uns schneller als beim Fliegen, aber langsamer als bei einer Teleportation. Ich weiß nicht, wie man es nennt, ich kenne niemanden außer mir, der es kann.« Achselzuckend hatte ich ihn angesehen und Charly brach in lautes Gelächter aus.
»Du bist echt seltsam, Phönix. Niemals langweilig mit dir.«
Damit hatte sich das Thema für Charly erledigt.
So war es schon immer zwischen uns gewesen. Er akzeptierte, dass ich anders war, und mochte mich dennoch.
Wenn ich mit maximal drei Personen unterwegs war, war es unmöglich, mich zu sehen, ich bewegte mich dann selbst für Vampiraugen zu schnell. Mit so vielen Vampiren wie jetzt an meiner Seite sah man eine schwarze Wolke herumflitzen, was ein wenig das Überraschungsmoment versaute. Aber wir waren genug, um großen Schaden anzurichten.
