Pierre-Jean - Jules Verne - E-Book

Pierre-Jean E-Book

Jules Verne.

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Beschreibung

Pierre-Jean, der Strafgefangene Nr. 2224, erhält unerwarteten Besuch. Ein Herr Bernadon, der ihm vollkommen unbekannt ist, möchte ihm zur Flucht verhelfen. Doch warum tut er dies? Warum will er ihm helfen? Will er ihn etwa an seiner Seite haben, um ein Verbrechen zu verüben? Trotz aller Zweifel nimmt Pierre-Jean das Angebot an. Erst einmal raus aus dem Gefangenenlager, dann würde er schon einen Weg finden, das Land zu verlassen und ein ehrliches Leben zu führen. Damit beginnt eine gefahrvolle Flucht aus der Gefangenschaft, die außerhalb des Straflagers noch lange nicht vorbei ist.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

KAPITEL 1

Schon seit einigen Monaten hatte die Alarmkanone den Hafen von Toulon nicht mehr in Angst versetzt. Die strengstens überwachten Sträflinge scheiterten bereits bei den ersten Ausbruchsversuchen, und selbst die Kühnsten unter ihnen wichen vor unüberwindbaren Hindernissen zurück.

Es war nicht so, dass die ausgeprägte Freiheitsliebe in den Herzen der Strafgefangenen erloschen gewesen wäre, doch eine unbeschreibliche Verzagtheit schien ihre Ketten nur noch schwerer gemacht zu haben. Außerdem hatte man einige Wachen, von deren Nachlässigkeit oder Untreue man überzeugt war, aus dem Bagno1 entlassen und die neuen Wachen, die bei ihrer Aufsicht und ihren Untersuchungen viel strenger vorgingen, zeichneten sich durch eine Art »Ehrbegriff« aus.

Der Bagno-Kommissar beglückwünschte sich sehr zu diesem Ergebnis, ohne sich in nachlässiger Sicherheit zu wiegen, denn Gefängnisausbrüche sind in Toulon häufiger und einfacher möglich als in jedem anderen Hafen. Man musste daher befürchten, dass sich hinter der vorgetäuschten Ruhe irgendeine geheime Absicht verbarg.

Dies ist ein Charakterzug, der für die Vertreter des Strafvollzugs typisch ist, beim Fehlen eines Verbrechens stets an seine Möglichkeit zu denken. Wenn sie niemanden verfolgen, müssen sie wachsam sein, und falls die Tatsachen keine strafrechtliche Verfolgung rechtfertigen, glauben sie dazu verpflichtet zu sein, selbst im Schweigen kriminelle Absichten zu vermuten.

Im Monat September hielt vor der Residenz des Vizeadmirals eine prunkvolle Equipage2; ihr entstieg ein Mann von fünfunddreißig Jahren. Dies war Herr Bernardon, ein reicher Geschäftsmann, der seit Kurzem in Marseille wohnte.

Das Gesicht dieses Mannes war ernst; er wirkte älter als in seiner Geburtsurkunde angegeben. Die Leidenszeit früherer Jahre zeigte sich noch immer auf seiner vorzeitig gefurchten Stirn. Sein Mut hatte einst das Schicksal besiegt, sein Geist verachtete die Vorurteile der Welt. Egal ob Groß oder Klein, er reichte jedem mit gleicher Offenheit die Hand, falls diese Hände nur ehrlich genug waren.

Herr Bernardon hatte sich sein Vermögen allein geschaffen; von unten war er nach oben gekommen; von hohem Ansehen in Marseille, brachten ihn seine Beziehungen oft mit bedeutenden Persönlichkeiten in Kontakt. Dennoch hatten die Kämpfe gegen das Unglück seiner Jugend ein kühles Misstrauen gegen die Menschen in ihm hinterlassen.

Er suchte die Einsamkeit, in der seine Familie und er sich gern abseits hielten, sodass seine Geschäftsbeziehungen niemals zu weltweiten Kontakten führten. Seine Abreise war ohne Aufsehen und in aller Ruhe erfolgt; eine einfache Familienangelegenheit vorschützend, war er nach Toulon gekommen.

Ein dringlicher Brief hatte ihn bald darauf zum Vizeadmiral geführt. Dieser empfing ihn zuvorkommend und bat ihn, den Grund für seinen Besuch zu nennen.

»Mein Herr«, antwortete der Marseiller, »es ist eine ganz einfache Bitte, die ich an Sie habe.«

»Welche denn, mein Herr?«

»Ich möchte das Bagno von Toulon bis ins kleinste Detail besichtigen.«

»Mein Herr«, erwiderte der Vizeadmiral, »die Empfehlung des Präfekten war überflüssig; ein Mann Ihres Ansehens benötigt hierfür nur den Ausweis der Höflichkeit.«

Indem er dem Vizeadmiral für dessen Liebenswürdigkeit dankte, verbeugte sich Herr Bernardon und fragte nach den notwendigen Formalitäten.

»Nichts ist einfacher als das, mein Herr! Bitte suchen Sie den Generalmajor der Marine auf, der wird Ihnen Ihre Wünsche erfüllen.«

Herr Bernardon verabschiedete sich, ließ sich zum Major bringen und erhielt sofort die Erlaubnis, das Arsenal zu betreten. Sofort wollte er seinen Besuch nutzen; eine Ordonnanz begleitete ihn zum Bagno-Kommissar, der sich ihm freundlich zur Verfügung stellte. Der Marseiller bedankte sich bei ihm, äußerte aber den Wunsch, allein zu bleiben.

»Ganz wie es Ihnen beliebt, mein Herr«, antwortete der Kommissar.

»Könnte ich mit den Verurteilten sprechen?«

»Natürlich, mein Herr, die Adjutanten sind benachrichtigt worden. Es sind zweifellos menschenfreundliche Absichten, die Sie hierhergeführt haben?«

»Ja, mein Herr«, antwortete Herr Bernardon ohne zu zögern.

»Wir sind an solche Besuche gewöhnt«, entgegnete der Kommissar. »Die Regierung hat zu Recht nach Verbesserungsmöglichkeiten für den Betrieb der Bagnos gesucht. Sie können mir glauben, dass sich die aktuelle Lage der Verurteilten bereits erheblich von der früheren unterscheidet.«

Der Marseiller verbeugte sich.

»Unter solchen Umständen ist es sehr schwer, an harter Bestrafung festzuhalten, und wenn wir die Strenge des Gesetzes nicht zunichtemachen wollen, müssen wir vor diesen übermäßigen Menschenfreunden sogar warnen, die das Verbrechen angesichts der Strafen vergessen! Außerdem wissen wir, dass die neutrale Justiz zur Mäßigung neigt.«

»Solche Gefühle ehren Sie«, erwiderte Herr Bernardon, »und falls meine Ansichten Sie interessieren, mein Herr, so wird es mir ein Vergnügen bereiten, mich mit Ihnen zu unterhalten.«

Daraufhin trennten sich die beiden Männer und der Marseiller näherte sich dem Bagno.

Der Militärhafen von Toulon besteht hauptsächlich aus zwei riesigen Polygonen, welche am Kai ihre nördliche Seite abstützen; einer davon heißt »Neues Dock« und liegt westlich des zweiten, der »Altes Dock« genannt wird. Die Seiten der Anlagen, regelrechte Verlängerungen der Stadtbefestigungen, sind bollwerkartig angelegt und breit genug, um langgestreckte Gebäude wie Maschinenhallen, Kasernen und besondere Magazine der Marine zu tragen.

Jedes dieser beiden Docks verfügt im südlichen Teil über eine Öffnung, welche genügt, um größeren Kriegsschiffen die Durchfahrt zu ermöglichen. Diese schönen Anlagen könnten leicht auch »schwimmende Becken« bilden, wenn der konstante Pegel des Mittelmeeres, der unter keinen nennenswerten Gezeiten leidet, ihre Absperrung nicht überflüssig machen würde.

Das »Neue Dock« wird im Westen von den Magazinen und dem Artilleriepark begrenzt und im Süden, auf der rechten Seite des Eingangs, der zu der kleinen Hafenbucht führt, von den Bagnos.

Es gibt zwei Gebäude, die rechtwinkelig miteinander verbunden sind; das erste liegt vor der Halle mit den Dampfmaschinen und ist nach Süden zu offen; das zweite blickt auf das »Alte Dock« und wird durch die Kasernen und das Spital fortgesetzt. Neben den drei Sälen, welche sich in diesen Bauwerken befinden, gibt es drei schwimmende Bagnos. In diesen letzteren sind die auf begrenzte Zeit verurteilten Gefangenen untergebracht, während die lebenslänglichen Sträflinge in den Sälen eingeschlossen sind.

Wenn es irgendwo keine Gleichheit gibt, dann ist das im Bagno der Fall. Das Strafmaß sollte sich nämlich am Grad der geistigen Perversion orientieren und je nach Klasse und Rang unterschiedlich festgesetzt werden. Alle Gefangenen, ungeachtet ihres Alters und des gegen sie verhängten Urteils, sind hier jedoch auf schändliche Art und Weise zusammen untergebracht, und in einer solchen Ballung kann nichts weiter entstehen als eine hässliche Korruption: Die Infektion des Verbrechens verursacht unter diesen verderbten Massen gefährliche Schäden, und die Mittel zur Abhilfe sind gleich Null, wenn das Böse einmal in Blut und Verstand Eingang gefunden hat.

Wie man sieht, wurden die Gefängnisse an das äußerste Ende des Arsenals verbannt und liegen so weit wie möglich von der Stadt entfernt.