Pik-Ass - Faridah Àbíké-Íyímídé - E-Book

Beschreibung

Mitreißende Geschichte voller Intrigen und Dramatik In der Niveus Private Academy sind die Gänge mit Geld gepflastert und die Schüler*innen immer perfekt. Bis jetzt. Denn der anonyme Texter Pik-Ass enthüllt die dunkelsten Geheimnisse eines Schülers und einer Schülerin: So kann sich der talentierte Musiker Devon dem Rampenlicht nicht entziehen, als seine privaten Fotos öffentlich werden. Und Schulsprecherin Chiamaka hat bisher keine Angst, sich zu nehmen, was sie will, aber bald werden alle wissen, welchen Preis sie für ihre Macht bezahlt hat. Jemand hat es auf die beiden abgesehen. Jemand, der alle Asse in der Hand hält. Und auf seiner Agenda steht viel mehr als nur ein harmloses Highschool-Spiel ... Zeitgemäße Themen einer jungen Generation: TikTok-Trend Dark Academia Der Young-Adult-Thriller zieht jede*n Leser*in in den Bann und überzeugt durch relevante Themen wie Rassismus, Queerness, Rivalität, Eifersucht und die Auswirkungen von Mobbing an Schulen. Diverse Auszeichnungen Der New York Times-Bestseller und Amazon-Nr.-1-Bestseller boomt auch auf dem deutschen Buchmarkt. Der packende Jugendbuch-Roman wurde vom internationalen Literaturfestival Berlin als "Das außergewöhnliche Buch 2023" ausgezeichnet.

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FARIDAH ÀBÍKÉ - ÍYÍMÍDÉ

PIKASS

FARIDAH ÀBÍKÉ - ÍYÍMÍDÉ

PIKASS

LAGO

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Originalausgabe

1. Auflage 2022

© 2022 by LAGO Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Wichtiger Hinweis:Die gewählte männliche Form bezieht sich immer zugleich auf weibliche, männliche und diverse Personen. Auf konsequente Mehrfachbezeichnung wurde aufgrund besserer Lesbarkeit verzichtet.

Die englische Originalausgabe erschien 2021 bei Feiwel and Friends Book, an imprint of Macmillan Publishing Group, LLC. unter dem Titel Ace of Spades. © 2021 by Faridah Àbíké- Íyímídé. All rights reserved.

Published by arrangement with Faridah Àbíké-Íyímídé.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Tanja Ohlsen

Redaktion: Larissa Rabe

Umschlaggestaltung: Catharina Aydemir, dem Original nachempfunden

Umschlagabbildung: Elizabeth H. Clark

Satz: Satzwerk Huber, Germering

Druck: CPI

eBook by tool-e-byte

ISBN Print 978-3-95761-217-5

ISBN E-Book (PDF) 978-3-95762-322-5

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95762-323-2

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.lago-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Für all die schwarzen Kids, die unterzugehen drohen und verzweifelt nach einem Ausweg suchen: Dieses Buch ist für euch.

Und für meine Mutter, die als Erste an mich geglaubt hat und mir die Liebe zu Geschichten vermittelt hat.

»Es heißt, das Leben stecke voller Überraschungen und dass unsere Träume wahr werden können. Allerdings auch unsere Albträume …«

Gossip Girl

»Ich weiß nur, dass ich manchmal nervös werde, wenn zu viele Weiße um mich herum sind …«

Get Out

INHALT

STUNDENPLÄNE

TEIL I: ELFENBEINTURM

1. DEVON

2. CHIAMAKA

3. DEVON

4. CHIAMAKA

5. DEVON

6. CHIAMAKA

7. DEVON

8. CHIAMAKA

9. DEVON

10. CHIAMAKA

11. DEVON

12. CHIAMAKA

13. DEVON

14. CHIAMAKA

15. DEVON

TEIL II: ZIELSCHEIBE

16. CHIAMAKA

17. DEVON

18. CHIAMAKA

19. DEVON

20. CHIAMAKA

21. DEVON

22. CHIAMAKA

23. DEVON

24. CHIAMAKA

25. DEVON

26. CHIAMAKA

27. DEVON

TEIL III: WAHL DER WAFFEN

28. CHIAMAKA

29. DEVON

30. CHIAMAKA

31. DEVON

32. CHIAMAKA

33. DEVON

34. CHIAMAKA

35. DEVON

36. CHIAMAKA

37. DEVON

38. CHIAMAKA

39. DEVON

40. CHIAMAKA

41. DEVON

42. CHIAMAKA

43. DEVON

44. CHIAMAKA

45. DEVON

46. CHIAMAKA

47. DEVON

Epilog: DAS NÄCHSTE FEUER

DEVON

CHIAMAKA

SCHLUSSWORT DER AUTORIN

DANKSAGUNG

STUNDENPLÄNE

Chiamaka Adebayo

Devon Richards

TEIL IELFENBEINTURM

1DEVON

Montag

Die Versammlungen am ersten Tag nach den Ferien sind so nutzlos wie nur was.

Und das will was heißen bei der Niveus-Akademie, deren Grundprinzip die Nutzlosigkeit ist.

Wir sitzen im Lion-Saal – benannt nach einem der Sponsoren, die Privatschulen Geld schenken, auch wenn sie keins brauchen, und warten auf den Schulleiter, damit er seine Rede in der üblichen Reihenfolge runterbetet:

Herzlich willkommen zu einem weiteren Jahr – wie schön, dass ihr den Sommer überlebt habtVorstellung der vier Senior Prefects und des Head PrefectDie Werte unserer SchuleEnde

Versteht mich nicht falsch, ich bin total für Struktur, da könnt ihr alle meine Freunde fragen. Oder besser gesagt: meinen Freund. Ich bin sicher, sonst weiß niemand, dass ich überhaupt existiere, obwohl ich schon drei Jahre hier bin. Nur Jack, der sich normalerweise so verhält, als wäre etwas grundlegend falsch an mir. Ich bezeichne ihn trotzdem als Freund, weil wir uns schon ewig kennen und weil der Gedanke, ganz allein zu sein, noch schlimmer ist.

Aber zurück zu den Strukturen: Ich bin ein Fan davon. Jack kennt die vielen Rituale, die ich erledigen muss, bevor ich mich ans Klavier setze. Ohne sie kann ich nicht vernünftig spielen. Und das ist der Unterschied zwischen meinen Ritualen und diesen Schulversammlungen: ohne die wäre das Leben an der Niveus-Akademie genau dieselbe endlose Plackerei aus Geschwätz, Geld und Lügen.

Das laute Kreischen des Mikrofons zwingt mich, aufzusehen. Hier werden zwanzig Minuten meines Lebens mit einer Versammlung vergeudet, deren Infos man ebenso gut als E-Mail hätte verschicken können.

Ich lehne mich auf meinem Stuhl zurück, als sich ein großer, blasser Kerl mit stumpfen schwarzen Augen ans Podium stellt. Er hat ölig schwarzes Haar, das bestimmt mit einem ganzen Topf Pomade zurückgegelt ist, trägt einen langen dunklen Mantel, der fast auf dem Boden schleift, und sieht uns alle an, als wären wir Ungeziefer und er eine Katze.

»Mein Name ist Mr Ward, aber ihr müsst mich alle mit Rektor Ward ansprechen«, sagt die Katze mit schmierig-schlüpfriger Stimme. Ich blinzle ihn an. Was zur Hölle ist aus Rektor Collins geworden?

Um mich herum nehme ich verwundertes Flüstern und unbeeindruckte Gesichter wahr.

»Ich bin sicher, einige von euch wissen, dass Rektor Collins kurz vor den Sommerferien gekündigt hat, und ich bin hier, um euch alle durch euer letztes Jahr an der Niveus-Akademie zu begleiten«, fährt die Katze fort und schürzt die Lippen.

»Dann sind die Gerüchte also wahr«, flüstert jemand in meiner Nähe.

»Sieht ganz so aus ... Ich hab ja gehört, dass die Reha heutzutage erstklassig ist, aber ...«

Ich hatte nicht mitbekommen, dass Rektor Collins krank war, vor den Sommerferien schien es ihm gut zu gehen. Manchmal habe ich das Gefühl, ich bin so sehr in meiner eigenen Welt gefangen, dass ich Dinge nicht mitbekomme, die für andere offensichtlich sind.

»Deshalb«, erhebt sich Rektor Wards Stimme laut über die aller anderen, »behalten wir die Tradition von Niveus bei und beginnen die heutige Versammlung mit der Verkündung der vier Senior Prefects und des Head Prefect.«

Erwartungsvoll dreht er sich um, während ein Lehrer, im Anzug und mit steifer Haltung, nach vorne eilt und ihm einen cremefarbenen Umschlag reicht. Schweigend öffnet Rektor Ward ihn. Die Lautsprecher verstärken das Knistern des Papiers zu lautem Gekreisch. Ward nimmt eine kleine Karte aus dem Umschlag und legt ihn dann vor sich aufs Podium. Ich beginne das Interesse zu verlieren.

»Unsere vier Senior Prefects sind ...« Er hält inne und seine Pupillen flitzen hin und her wie schwarze Fliegen in einem Glas. »... Miss Cecilia Wright, Mr Maxwell Jacobson, Miss Ruby Ainsworth und Mr Devon Richards.«

Zuerst denke ich, er hat einen Fehler gemacht. Mein Name wird nie bei formellen Anlässen aufgerufen. Die Versammlungen sind üblicherweise auf die Leute ausgerichtet, die die anderen Schüler kennen und mögen. Wenn Niveus ein Filmset wäre, wäre ich wahrscheinlich ein namenloser Statist.

Jack stupst mich mit dem Ellbogen an und holt mich aus meiner Schockstarre, damit ich aufstehen kann. Auf knarrenden Stühlen drehen sich die Leute um und starren mich an, als ich versuche, mich durch die Reihen zu schieben. Ich murmle »Sorry«, als ich einem Kerl auf die Designerschuhe trete, die wahrscheinlich mehr kosten als meine Mutter an Miete zahlt. Schließlich bin ich vorne, wo die Lehrer stehen. Meine Schuhe quietschen auf dem schwarzen Holzboden, mein Herz schlägt heftig und der spärliche Applaus erstirbt.

Die anderen drei hier oben kenne ich, auch wenn ich noch nie mit ihnen gesprochen habe. Max, Ruby und Cecilia sind blasse, blonde Klone, neben denen ich mit meiner kleinen Gestalt und der dunklen Hautfarbe hervorsteche wie ein Geschwür. Sie sind die Hauptdarsteller.

Ich stehe neben Rektor Ward, der aus der Nähe noch beunruhigender wirkt. Er ist unnatürlich groß. Seine Beine enden buchstäblich auf Höhe meiner Brust. Seine Pupillen wenden sich mir zu und er starrt mich an, auch wenn sein Gesicht noch nach vorne gerichtet ist.

Ich sehe weg.

»Nun zum Head Prefect: Von unserer neuen Schülersprecherin für dieses Schuljahr habe ich schon einiges gehört«, erklärt Ward mit schleppender Stimme, die einen sicher positiv gemeinten, lebendigen Satz so leblos klingen lässt wie eine Grabrede. »Daher sollte es keine Überraschung sein, dass die Schülersprecherin niemand anderes ist als Chiamaka Adebayo.«

Laute Jubelrufe erklingen im dunkel getäfelten Saal, als Chiamaka nach vorne geht. Ich sehe die Mitglieder ihrer Klon-Armee in den ersten Reihen, die mit unheimlicher Präzision im Gleichtakt klatschen und allesamt so puppenhaft hübsch sind wie ihre Anführerin. Auf ihrem Gesicht liegt ein selbstzufriedener Ausdruck, als sie sich zu uns gesellt. Beinahe verdrehe ich die Augen, aber sie ist das beliebteste Mädchen an der Schule und ich habe keine Todessehnsucht.

Verlegen trete ich von einem Fuß auf den anderen und fühle mich immer stärker fehl am Platze. Wenn Max, Ruby und Cecilia die Hauptdarsteller des Films sind, dann ist Chiamaka die Protagonistin. Alle hier oben passen zueinander. Und ich? Ich warte jeden Augenblick auf die Leute mit der Kamera, die mir sagen, dass das alles nur ein Scherz war. Das würde mehr Sinn ergeben.

Ich weiß, dass solche Sachen wie die mit den Senior Prefects ein Beliebtheitswettbewerb sind. Die Lehrer stimmen jedes Jahr für ihre Lieblinge und das ist immer der gleiche Typus. Es ist jemand, der beliebt ist – und das bin ich nicht. Vielleicht hat ja mein Musiklehrer ein gutes Wort für mich eingelegt? Wer weiß.

»Wie ihr alle wisst, solltet ihr euer Amt ernst nehmen. Mit großer Macht geht auch große Verantwortung einher. Es geht nicht nur darum, an den Beratungsgesprächen mit mir teilzunehmen, große Events zu organisieren oder einen Kollegen zu beeindrucken. Man muss auch das gesamte Schuljahr lang ein Musterschüler sein, was diese fünf Schüler hier während ihrer Zeit bei Niveus stets gewesen sind und was sie hoffentlich auch bleiben werden, wenn sie Niveus schon lange hinter sich gelassen haben.« Hier ringt sich Rektor Ward ein dünnes Lächeln ab. »Ich bitte noch einmal um Applaus für unsere Amtsinhaber dieses Jahr«, sagt Ward und entlockt dem Meer aus blassen Gesichtern vor uns lautes Klatschen.

Ich spüre, wie mich ein paar Augen ansehen, und versuche, den Blicken auszuweichen und etwas Interessantes auf dem Fußboden zu entdecken, anstatt mich auf die Tatsache zu konzentrieren, dass mich da jede Menge Leute beobachten.

Ich hasse es, beobachtet zu werden.

»Und jetzt zu den Werten der Schule.«

Wie immer wenden wir uns dem großen Bildschirm hinter uns zu und warten darauf, dass die Werte der Schule wie der Abspann eines Films darüberlaufen, während im Hintergrund die Nationalhymne ertönt. Bei normalen Versammlungen schwören wir Treue auf die Fahne, doch da heute die erste Versammlung des Jahres ist, macht die Niveus-Akademie das, was sie am besten kann: die Dramatik erhöhen.

Der Bildschirm ist riesig und schwarz und nimmt den größten Teil des großen, doppelt verglasten Fensters hinter der Bühne ein. Niveus ist eine Schule mit noblen dunklen Holzwänden, Marmorfußböden und riesigen Glasfenstern. Das Äußere ist alt und gleicht einem Spukschloss, das Innere ist neu und modern und stinkt geradezu nach Reichtum. Es ist, als wollte es die Außenwelt dazu verlocken, doch einmal hineinzuschauen.

Ein lautes Klicken ertönt und auf dem Bildschirm erscheint eine Spielkarte. In allen vier Ecken steht das Wort Ass und in der Mitte ist groß das Emblem für Pik abgebildet.

Das ist neu.

Ich drehe mich um, suche Jack im Publikum und will ihm unseren »Was soll das denn?«-Blick zuwerfen, doch er sieht auf den Bildschirm, als würde ihn das nicht im Geringsten überraschen. Und alle anderen im Publikum sehen ebenso unbeteiligt aus wie er. Das ist seltsam.

»Äh, da scheint es eine technische Störung zu geben ...«, verkündet Mrs Blackburn, meine alte Französischlehrerin, aus dem Hintergrund. Nach ein paar weiteren Klicks ist alles wieder normal. Aus den Lautsprechern plärrt die Nationalhymne und wir singen mit, während wir, die Hand auf der Brust, zusehen, wie die Werte unserer Schule an uns vorüberziehen: Großzügigkeit, Gnade, Demut, Integrität, Idealismus, Noblesse, Entschlossenheit, Respekt, Eloquenz.

Neun Werte, die den meisten an dieser Schule fehlen. Einschließlich mir.

»Und jetzt eine Rede unseres Head Prefect Chiamaka.« Bei der Nennung ihres Namens klatschen die Schüler noch wilder als zuvor und jubeln ihr zu wie einer Göttin – was sie nach den Maßstäben von Niveus praktisch auch ist.

»Danke, Rektor Ward«, sagt Chiamaka, als sie ans Rednerpult tritt. »Zunächst möchte ich den Lehrern dafür danken, dass sie mich zum Head Prefect gewählt haben – damit hätte ich nie gerechnet.«

Chiamaka ist jetzt zum dritten Mal hintereinander Head Prefect, sie war es in der 10. und in der 11. Klasse – an ihrer Wahl ist also wirklich nichts überraschend. Bei mir hingegen ...

Die Hand vom Singen der Nationalhymne noch immer auf dem Herzen, sieht sie die Lehrer an und tut wie jedes Jahr völlig überrascht.

Ich möchte wirklich nur zu gerne die Augen verdrehen.

»Als Schülersprecherin werde ich mich dafür einsetzen, dass unser letztes Jahr bei Niveus das beste wird! Es beginnt mit dem Senior Snowflake Charity Ball am Ende des Monats. Der Schülerrat dieses Jahres wird dafür sorgen, dass man noch lange von dieser Nacht sprechen wird.«

Die Leute beginnen zu klatschen, doch Chiamaka tritt nicht zurück. Stattdessen zieht sie das Mikrofon zu sich, denn sie ist mit ihrem Vortrag noch nicht fertig.

»Vor allem verspreche ich, dafür zu sorgen, dass der Großteil der Spendengelder, die wir bekommen, an den richtigen Stellen landet. Ich hasse es, wenn ich sehe, wie die Großzügigkeit unserer Sponsoren verschwendet wird. Als Head Prefect werde ich dafür sorgen, dass die richtigen Leute Vorrang bekommen – die Schüler, die die Mathe-Wettbewerbe gewinnen und bei den Wissenschaftstagen mitmachen, diejenigen, die tatsächlich etwas für diese Schule beitragen. Vielen Dank.«

Chiamaka ist fertig und grinst schelmisch, als der Saal erneut frenetisch applaudiert.

Dieses Mal verdrehe ich tatsächlich die Augen und bin mir ziemlich sicher, dass mich das Mädchen mit den roten Schleifen im Haar in der ersten Reihe dafür verächtlich ansieht.

Wir bleiben zurück, um unsere Abzeichen entgegenzunehmen, während die anderen zu ihren ersten Schulstunden gehen. Ich schaue ihnen nach in ihren glänzenden neuen Uniformen, mit ihren Taschen aus Krokodilleder und ihren Gesichtern aus Plastik. Wenn ich auf meine ausgetretenen Schuhe und den fadenscheinigen Blazer blicke, verspüre ich einen Stich.

Es gibt vieles an der Niveus, was ich hasse. Zum Beispiel, dass niemand (außer Jack) von meiner Seite der Stadt stammt und alle in großen Häusern mit Holzzaun wohnen, mit Köchinnen, die ihnen Frühstück machen, mit Fahrern, die sie zur Schule bringen, und mit Kreditkarten ohne Limit in ihren Designerrucksäcken. Manchmal habe ich in dieser Umgebung das Gefühl, als würde mein Inneres bersten. Ich weiß, es bringt nichts, das, was ich habe, und das, was sie haben, miteinander zu vergleichen, doch das ganze Geld und die Privilegien zu sehen und selbst keine zu haben, ist schmerzhaft. Ich versuche, mich davon zu überzeugen, dass es nichts ausmacht, ein Schüler mit einem Stipendium zu sein, und dass es für mich keine Rolle spielen sollte.

Manchmal klappt das.

Die Abzeichen haben verschiedene Farben. Meines ist rot und glänzend und unter dem Wort Senior Prefect ist Devon eingraviert. Die Senior Prefects des Abschlussjahrgangs, die von den Lehrern gewählt werden, haben grundsätzlich gute Noten und werden daher gleichzeitig als Topkandidaten für die Abschlussrede gehandelt. Wahrscheinlich fällt die Wahl dieses Mal auf Chiamaka, doch es gefällt mir, dass man mich dafür zumindest in Betracht gezogen hat. Wer weiß, wenn ich Senior Prefect werden kann, kann mir das Universum doch auch gleich noch einen Gefallen tun und mich zum Abschlussredner machen?

Normalerweise erlaube ich mir nicht so viele Träume – die Enttäuschung ist schmerzhaft und ich halte mich lieber an das, was realistischer ist. Aber ich bin noch nie auf dem Radar der Lehrer aufgetaucht – und auch bei niemand anderem. Ich bin ausgezeichnet darin, unbemerkt zu bleiben, nie werde ich zu Partys eingeladen oder so. Und jetzt, wo ich hier bin, wo mir tatsächlich mal so etwas passiert, kann ich nur glauben, dass das ein Zeichen ist, dass dieses Jahr gut laufen wird ... oder zumindest besser als die letzten drei. Ein Zeichen, dass ich es vielleicht auf die Uni schaffe – und meine Mutter stolz auf mich sein wird.

Endlich entlässt uns Ward und ich renne aus dem Saal, dränge mich zwischen den paar Schülern hindurch, die sich noch hier herumdrücken, und gelange in einen der leeren Marmorgänge mit einer Reihe von staubgrauen Spinden. Erst als eine Lehrerin um die Ecke kommt, werde ich langsamer. Sie sieht mich scharf an und wirkt mit ihrem glatten Bob ähnlich einschüchternd wie Edna Mode aus The Incredibles. Erst als sie an mir vorbei ist, kann ich wieder normal atmen.

Ich fahre herum, als die Tür eines Schließfachs zuschlägt. Ein dunkelhaariger Junge mit stark geschminkten Augen und einem »Verpiss dich«-Ausdruck starrt mich an. Josh? Jared? Ich kenne das Gesicht, aber an den Namen kann ich mich nicht erinnern.

Es ist der Junge, der letztes Jahr beim Abschlussball der 11. Klasse sein Coming-out hatte und händchenhaltend mit seinem Freund aufgetaucht ist. Es war keine große Sache. Die Leute freuten sich für ihn. Aber ich erinnere mich daran, weil ich ihn und seinen Freund ansah, wie sie so Hand in Hand dastanden, und weil ich unglaublich eifersüchtig war.

Der Abschlussball ist eines der vielen obligatorischen und bedeutungslosen Ereignisse an der Niveus-Akademie. Den ganzen Abend lang habe ich die beiden wie ein Masochist von einer der Seitenbänke des Saals aus beobachtet. Ich habe sie beim langsamen Tanzen beobachtet, wie sie die Arme umeinander gelegt hatten, als wären sie vollkommen in Sicherheit. Als könnte ihnen nichts Schlimmes passieren. Als würde sie keiner ihrer Freunde außerhalb der Schule verspotten oder verletzen. Als würden ihre Eltern nicht aufhören, sie zu lieben. Als würden ihre Eltern sie nicht im Stich lassen. Als würde alles gut werden.

Bei dem Gedanken schnürte sich mir das Herz zusammen. Ich sah verschwommen und die Lichter im Raum bekamen bunte Ränder.

Ich drängte die Tränen zurück und wischte sie schnell mit dem Ärmel meines geliehenen schwarzen Smokings von den Wangen und sah den beiden weiter beim Tanzen zu – wie ein Spanner. Erst als es zu schmerzhaft wurde, schaute ich weg.

»Was ist?«, schneidet eine tiefe Stimme durch meine Erinnerung. Blinzelnd merke ich, dass mich der Kerl am Schließfach immer noch anstarrt und noch genervter aussieht als zuvor.

Schnell drehe ich mich um und gehe in die Gegenrichtung davon, ohne mich noch mal umzudrehen. Denn erstens macht mir Jared? Jim? – der Kerl eben – eine Heidenangst und außerdem ... Wieder denke ich an den Abschlussball, an ihre ineinander verflochtenen Finger, ihr Lächeln ... Ich presse die Augen zusammen und zwinge mich, an etwas anderes zu denken. Zum Beispiel an den Musikunterricht.

Ich gehe die Treppe zum ersten Stock hoch, wo mein Musikraum ist, verbrenne die deprimierende Erinnerung und werfe die Asche aus meinem Schädel.

Mein Körper kribbelt, als ich die dunkle Eichentür mit dem gravierten Türschild Musikzimmer sehe, und die Traurigkeit schwindet. Es ist mein liebstes Klassenzimmer, der einzige Ort an dieser Schule, an dem ich mich je zu Hause gefühlt habe. Es gibt auch noch andere Musikzimmer, hauptsächlich für Aufnahmen oder Einzelübungen, aber diesen Raum mag ich am liebsten. Er ist offener und weniger einsam.

»Hallo, Devon! Willkommen zurück und Gratulation zu deiner Ernennung zum Senior Prefect«, begrüßt mich Mr Taylor beim Eintreten. Mr Taylor ist mein Lieblingslehrer. Seit ich hier angefangen habe, hat er mich in Musik unterrichtet, und er ist der einzige Lehrer, mit dem ich außerhalb des Unterrichts spreche. Sein Gesicht strahlt immer und er lächelt die ganze Zeit. »Du kannst mit dem Rest der Klasse mit deinem Jahresprojekt anfangen.«

Meine Klassenkameraden sind in ihre eigenen Musikwelten versunken, einige am Keyboard, andere schreiben mit fest umklammerten Stiften Melodien auf das frische weiße Notenpapier. Eigentlich hätten wir mit der Planung unseres Abschlussprojekts schon in den Ferien beginnen sollen, damit wir es vorstellen können, wenn wir zurückkommen. Aber ich war den größten Teil des Sommers mit meinem Bewerbungsstück für die Uni beschäftigt – und mit anderen, nicht ganz so akademischen Angelegenheiten.

Ich sehe meinen Platz hinten an einem der Fenster, wo ein Keyboard auf dem Tisch liegt und meine Initialen DR mit Goldbuchstaben ins Holz geprägt sind. Da nicht so viele Schüler Musikunterricht haben, haben wir alle feste Plätze. Ich mochte dieses Klassenzimmer immer schon, weil es mich an die Musiksäle aus den Klassikkonzerten erinnert, die online zu sehen sind. Es ist oval und hat braun getäfelte Wände. In diesem Raum habe ich das Gefühl, mehr zu sein als ein Schüler mit einem Stipendium. Es ist, als würde ich hierher gehören, in dieses Leben, zu diesen Leuten.

Auch wenn ich weiß, dass das nicht stimmt.

»Danke«, sage ich und gehe zu dem Keyboard, von dem ich den ganzen Sommer lang geträumt habe. Zu Hause habe ich keins, denn erstens haben wir keinen Platz und außerdem sind sie teurer, als sie aussehen. Ich bin sicher, Ma würde mir eins kaufen, wenn ich sie darum bitten würde, aber sie tut so schon so viel für mich, und ich habe das Gefühl, ich würde sie mehr belasten, als ich sollte. Außerhalb der Schule improvisiere ich also. Ich summe Melodien, schreibe Noten auf und höre und beobachte alles Mögliche. Bei der Musik geht es mir sowieso mehr um Komposition und Songwriting. Trotzdem tut es gut, wieder ein Instrument vor sich zu haben.

Ich schließe das Keyboard an und es erwacht zum Leben. Der kleine quadratische Monitor in der Ecke leuchtet auf. Ich setze die Kopfhörer auf, lasse meine Finger über die schwarzweißen Plastiktasten gleiten und entlocke dem Gerät eine wirre Melodie, dann setze ich mich zurecht, schließe die Augen und stelle mir den Ozean vor. Blaugrün mit Fischen und leuchtenden Meerespflanzen. Ich springe hinein und lasse mich ins Wasser sinken.

Das vertraute Gefühl von Frieden steigt in mir auf und meine Hände strecken sich nach den Tasten aus.

Und dann spiele ich.

2CHIAMAKA

Montag

Die Highschool ist wie ein Königreich, nur dass es statt launischer Adliger, goldener Throne und aus Europa importierter Designerklamotten in den Gängen laute postpubertäre Teenager gibt, Klassenzimmer mit hölzernen Tischen und Schüler in hässlichen Faltenröcken, marineblauen Hosen und steifen blauen Blazern.

In diesem Königreich erbt die Königin ihre Krone nicht. Um an die Spitze zu gelangen, muss sie jeden vernichten, der ihr im Weg steht. Hier ist jeder Augenblick entscheidend, es gibt keine zweite Chance. Ein einziger Fehler kann einen an das unterste Ende der Nahrungskette befördern, zu den Mädchen, die allen Ernstes Polyester tragen und sich ihre Freunde nur erfinden. Das klingt dramatisch, aber so ist es nun mal, und so wird es auch immer sein.

Die Leute ganz oben in der Highschool kommen an die besten Universitäten, sie bekommen die besten Jobs, sie werden irgendwann mal das Land regieren und Nobelpreise gewinnen. Der Rest endet mit Sackgassen-Jobs und Herzproblemen, und wenn sie in ihrem Leben etwas Aufregung wollen, müssen sie eine Affäre mit ihren Assistenten anfangen.

Und das nur, weil sie sich nicht darum bemühen, es an der Highschool zu etwas zu bringen.

Wenn man an einer Schule wie Niveus beliebt bleiben will, geht es nicht nur darum, wie viele Freunde man hat. Es geht darum, die Rolle auszufüllen, die besten Noten zu haben und mit den richtigen Leuten auszugehen. Jeder muss sich wünschen, du zu sein oder dein Leben zu leben. Für einen Außenseiter klingt das sicher schrecklich – man macht Leute verlegen oder neidisch und vernichtet jeden, der einem im Weg steht –, aber ich habe gelernt, dass es darum geht, zu töten oder getötet zu werden. Und wenn ich jedes Mal innehalten und ein schlechtes Gewissen haben müsste, wenn ich jemandem auf die Zehen getreten habe, um die Krone zu behalten, wäre mir sicher furchtbar langweilig.

Außerdem wird es völlig unabhängig von mir immer ein Königreich, einen Thron und eine Königin geben.

Ich betrachte das Abzeichen, auf dem Senior Head Prefect und Chiamaka in das goldglänzende Metall eingraviert ist. Es ist schon komisch, dass sich die ganzen drei Jahre, in denen ich mich die Leiter hochgekämpft habe, auf etwas so Kleines und scheinbar Unbedeutendes reduzieren lassen. Lächelnd streiche ich mit dem Daumen über die glatte Oberfläche. Obwohl es im Großen und Ganzen gesehen so winzig ist, ist es doch genau das, was ich seit der 9. Klasse wollte. Und jetzt habe ich es auch in diesem Schuljahr geschafft.

»Dein Abzeichen ist echt hübsch, Chi. Gratuliere«, sagt Ruby, als ich den Lion-Saal verlasse. Sie und Ava, das andere Mädchen, mit dem ich meist zusammen bin, warten vor der Tür auf mich. Im Gang stehen Schüler herum, unterhalten sich und vertreiben sich die Zeit, bis es zum Unterricht klingelt. Der neue Direktor hat mich noch ein wenig länger zurückgehalten als die anderen, um sich richtig vorzustellen.

Ich hoffe, ich habe bei ihm einen guten ersten Eindruck hinterlassen. Dieses erste Bild, das sich jemand von einem macht, bleibt für immer ins Gedächtnis eingebrannt. Aber der neue Rektor schien von mir nicht übermäßig begeistert. Er hat mich nur kühl angesehen, als hätte ich seinen schleimigen Anzug beleidigt oder ihm gesagt, dass seine Krawatte nicht zu seinen Schuhen passt. Aber das habe ich nicht getan, ich war sehr höflich. Und doch ...

Ich stecke das Abzeichen in meine Blazertasche und lasse mit einem Achselzucken das Lächeln aus meinem Gesicht verschwinden. Zu erpicht darauf will ich auch nicht wirken.

»Danke.« Ich sehe auf Rubys dunkelblaues Abzeichen, das stolz auf ihrer Brust prangt. »Ich gratulier dir auch.«

Sie schenkt mir ein breites, aber leeres Lächeln und reißt die grünen Augen weit auf. »Danke, Chi.«

Ich ziehe eine Braue hoch. Normalerweise kommt von Ruby mehr, ein kleiner Stich, der den meisten harmlos erscheint, doch ich weiß es besser.

»Ich meine, es ist schon dumm, dass sie gewisse Titel nicht immer den Leuten geben, die sie auch verdienen ... Aber auf dem Foto am Jahresende wirst du toll aussehen Chi.«

Da ist es ja.

Ich lächle wieder, während wir auf mein Schließfach zugehen. »Das weiß ich. Ich freue mich, dass du jetzt endlich mit mir zusammen auf dem Foto sein wirst. Das hat ja nur ... waren es drei Jahre? ... gedauert.«

Ruby strahlt noch immer, als sie nickt. »Genau. Drei Jahre.«

Ava räuspert sich. »Was haltet ihr denn von dem neuen Rektor?«, fragt sie. Offensichtlich will sie die Spannung lockern und das merkwürdige Machtgeplänkel beenden, das Ruby seit letztem Jahr mit mir ausficht.

An manchen Tagen macht es den Eindruck, als betete Ruby dafür, dass ich abstürze, an anderen scheint sie mit ihrer Position an der Schule ganz zufrieden zu sein. Andererseits: So ist Ruby eben. Die aalglatte, verzogene Senatorentochter. Ich kenne sie schon seit der 6. Klasse, aber erst seit der Highschool, als ich jemand wurde, mit dem es sich zu reden lohnt, sprechen wir miteinander. Jedenfalls war sie schon immer eine Bitch, aber vielleicht haben wir uns deshalb gegenseitig angezogen. Mädchen wie wir, die keine Angst haben, ihre Meinung zu verkünden, kommen für gewöhnlich gut miteinander aus.

Ava habe ich in der 10. Klasse kennengelernt, als sie aus einer schicken Privatschule in England an die Niveus-Akademie kam. Sie ist der Typ hübsche blonde Sexbombe und alle mögen sie sofort mit ihrem britischen Akzent und ihrer direkten Art. Anders als Ruby ist sie nett und ehrlich – zumindest meistens.

»Der neue Rektor? Der ist ein bisschen unheimlich. Wo kommt er eigentlich her?«, frage ich, stelle meine Tasche in den Spind und bin froh, dass ich dieses anstrengende Spiel mit Ruby so früh am Morgen nicht weiterspielen muss. Ich kann es kaum erwarten, zum Unterricht zu gehen und ihren schneidenden Bemerkungen zu entkommen.

Die meisten Leute halten uns drei für Freundinnen, weil sie uns immer zusammen sehen.

Aber das sind wir nicht.

Unsere Beziehung ist ein Geschäftsvorgang. Ich brauche einen kleinen, attraktiven Kreis um mich. Klein, denn je kleiner die Gruppe, desto weniger Leute wissen etwas über mich – und desto mehr wollen etwas wissen. Im Gegenzug genießen Ava und Ruby es, wie mächtig wir gemeinsam sind.

Ruby richtet sich auf, wie immer, wenn sie eine Information hat, die ich nicht habe. Ihre roten Locken leuchten, als sie sich strahlend vorneigt: »Wie ich gehört habe, kommt er aus England, wo er Direktor an einem strengen Privatinternat war.«

»Ich wusste gar nicht, dass Rektor Collins sich zurückziehen wollte«, sage ich. Es ärgert mich, dass drei Jahre Arbeit, die ich in ihn investiert habe, umsonst waren. Vor allem angesichts Rektor Wards abweisender, kühler Haltung. Ich nehme gerade einen Labello aus der Tasche, als mir jemand auf die Schulter tippt. Hinter mir steht eine strahlende Zehntklässlerin, einen Becherhalter mit zwei Getränken in der Hand.

»Guten Morgen, Chi! Ich habe dir auf dem Weg zur Schule einen Soja-Latte und einen Zimt-Latte gekauft. Ich wusste nicht, was du lieber magst ... Ich weiß nur noch vom letzten Jahr, dass du beides magst, aber wenn du deine Meinung geändert hast, kann ich dir morgen etwas anderes bringen«, plappert sie, immer roter werdend, und ist sichtlich erleichtert, als ich den Kaffee mit Zimt nehme.

»Danke, Rachel«, sage ich, nehme einen Schluck Kaffee und wende mich wieder an Ruby und Ava.

»Ehrlich gesagt, heiße ich Moll –«

»Vor den Sommerferien schien es ihm doch gut zu gehen«, fahre ich fort.

»Ich habe gehört, Collins hätte eine Art Nervenzusammenbruch gehabt«, erwähnt Ava. Ich werfe ihr einen Blick zu, bei dem sie ein wenig zurückzuckt. Ich kann ja noch verstehen, dass Ruby etwas mehr weiß als ich, sie steckt ihre Nase immer in die Angelegenheiten anderer Leute. Aber Ava? Ich bin wohl im Laufe des Sommers etwas nachlässig geworden.

Bevor ich nachhaken kann, sehe ich nur noch schwarz, weil mir jemand von hinten die Augen zuhält. Ich muss mich nicht erst umdrehen, um zu wissen, dass es Jamie ist.

»Wer bin ich?«, fragt er leise. Ich hoffe, dass die Leute im Gang das sehen. Ich kann ihre Gedanken fast hören: Sind Chiamaka und Jamie im Sommer zusammengekommen? Sie wären das perfekte Paar. Ich würde töten, um wie Chiamaka zu sein ... Sie sterben vor Neid. Bei dieser Vorstellung muss ich lächeln.

»Hmm, groß, dunkel, gutaussehend und mit ein paar Milliarden Gehirnzellen zu wenig?«, frage ich.

Die Hände verschwinden und ich sehe wieder etwas. Ruby ist nicht überrascht und Ava lächelt verschmitzt.

»Korrekt«, bestätigt Jamie, küsst mich auf den Kopf und zerzaust mir die Haare, als wäre ich sein Hund oder seine kleine Schwester. Ich hoffe, das hat niemand gesehen. Ich streiche mir übers Haar und weiche den Blicken von Ruby und Ava aus.

»Wir sollten zum Unterricht gehen«, schlägt Ruby vor und ich höre die Freude in ihrer Stimme. Sie liebt meine Momente von Schwäche und ich schätze, mein einziger schwacher Punkt ist, dass trotz all der harten Arbeit, die ich in meine eigene Perfektion investiere, Jamie immer noch nur mein bester Freund ist und nicht mein fester Freund.

Vorerst zumindest.

Ich ringe mir ein Lächeln ab. »Ruby hat recht. Wir wollen doch keinen schlechten Eindruck beim neuen Rektor hinterlassen, schon gar nicht jetzt, wo ich Head Prefect bin – nicht, dass das eine Überraschung wäre.«

Jamie schüttelt lachend den Kopf. »Du bist zu eingebildet. Wieso warst du so sicher, dass du das dieses Jahr wieder wirst?«

Ich zucke mit den Schultern, obwohl ich genau weiß, warum ich so sicher war. Ich war jedes Jahr Head Prefect– außer in der Neunten. Neuntklässler können das nicht werden. Das hat nichts mit Glück zu tun, das ist Wissenschaft. Egal, wer etwas anderes behauptet, ich habe es verdient.

Ich bekomme nur Einser, ich bin die Präsidentin des Debattierclubs, der Young Medics und Model UN, wo wir in Simulationen die Arbeit der Vereinten Nationen nachstellen. Ich spreche vier Sprachen, wenn man Englisch mitrechnet, sogar fünf, und werde an der Yale-Universität Medizin studieren. Das ist zumindest der Plan. Es gibt niemanden, der für den Posten des Senior Head Prefect besser geeignet ist als ich – und niemanden, der härter dafür gearbeitet hat.

Dieser Posten ist das Tüpfelchen auf dem i. Er zeigt Universitäten wie Yale, dass mir Niveus etwas bedeutet (was auch stimmt) und dass ich eine Führungspersönlichkeit bin (was ebenfalls stimmt). Ich bin geradezu überqualifiziert für den Posten als Senior Head Prefect. Obwohl ich weiß, dass es mir nichts ausmachen sollte, ärgert es mich, wenn man Mädchen als eingebildet bezeichnet, nur weil sie wissen, was sie wollen und wie sie es erreichen. Jungen, die wissen, was sie wollen, sind dagegen selbstbewusst oder stark. Der Grund, warum ich Senior Head Prefect sein sollte, ist der, dass ich es verdient habe. Gerade Jamie sollte das wissen.

Wahrscheinlich hat er es nicht so gemeint, daher verdränge ich seinen Kommentar, als wir durch den Flur gehen. Wie ich es seit drei Jahren gewohnt bin, teilt sich das Meer aus Blau, die Leute machen Platz, als wir vorbeigehen, saugen unsere Gesichter, unsere Kleidung und unsere Frisuren in sich auf. Ich bevorzuge einen schlichten Stil. Heute sind es schwarze Overknee-Strümpfe, eine Dolce&Gabbana-Jacke aus Samt und wildlederne Jimmy-Choo-Pumps. Je lässiger es aussieht, desto besser. Ich stecke die Hand in die Blazertasche und fühle nach dem Abzeichen, dem Einzigen, was ich für meine Bemühungen vorzeigen kann. Für all das, was ich bewältigt habe.

Ich spüre, wie mich Energie durchpulst und Aufregung in mir aufsteigt. Ich weiß nicht, woher es kommt, vielleicht ist es die Tatsache, endlich im letzten Schuljahr zu sein, vielleicht bin ich tatsächlich eingebildet. Aber irgendetwas sagt mir, dass dieses Jahr anders wird als die vorigen.

Dieses Jahr wird das Jahr, in dem sich endlich alles zusammenfügt und in dem sich Blut, Schweiß und Tränen endlich auszahlen.

3DEVON

Montag

Einer der wenigen Lichtstreifen am Horizont von Niveus liegt darin, dass ich ein paar Unterrichtsstunden auslassen kann, um an meinem Bewerbungsstück für die Juilliard zu arbeiten.

Seit ich die Möglichkeit erwähnt habe, mich dort am Konservatorium zu bewerben, hat mir Mr Taylor geholfen, das Problem meiner Anwesenheit im Unterricht zu »beheben«. Da es für die Schüler von Niveus Priorität hat, an die besten Colleges zu kommen, ist es nicht unüblich, dass die höheren Jahrgänge gelegentlich ein paar Unterrichtsstunden auslassen, um Extrastunden in ihren Wahlfächern zu nehmen.

So wie jetzt. Nach der ersten Stunde hat mich Mr Taylor in einen der kleineren Übungsräume gehen lassen. Eigentlich sollte ich in der vierten Stunde Mathematik haben, aber stattdessen klimpere ich hier auf dem Keyboard herum. Dann drehe ich mich um und suche im Schrank hinter mir nach leeren Notenblättern, doch als ich an der Schublade ziehe, geht sie nicht auf. Seufzend erhebe ich mich. In meinem Schließfach habe ich immer einen großen Stapel Notenpapier für den Fall, dass ich ein paar Ideen zu neuen Melodien aufschreiben will.

Ich laufe die Treppe hinunter, biege in den Gang ein, in dem mein Schließfach ist, und halte inne, als die Schüler dort stehen bleiben und mich anstarren. Alle. Manche grinsen breit, andere werfen mir berechnende Blicke zu. Als ob sie mich kennen würden. Normalerweise sehen die Leute durch mich hindurch, als hätte ich eine Art Tarnumhang an. Komisch, dass sie nicht im Unterricht sind. Nicht, dass ich da etwas sagen könnte, ich bin es ja auch nicht.

Ich schiebe mich zu meinem Schließfach durch und fühle mich ein wenig verwirrt und orientierungslos.

»Ist das der Typ?«, flüstert jemand. Noch immer sehen mich einige Leute an.

Ich versuche, mich auf meine Kombination zu konzentrieren und nicht darauf, dass jemand nach Luft schnappt oder dass sich missbilligende Blicke in meinen Rücken bohren.

1 ... 8 ... 6, beginne ich, werde aber durch ein Schultertippen unterbrochen und lasse die Hand sinken. Hinter mir steht Mindy Lion, ein Mädchen aus meiner Musikklasse, mit dem ich ab und zu spreche. Ihr langes lila Haar und der knallrote Lippenstift sind schwer zu übersehen, egal, wie sehr man sich bemüht.

»Hi, Devon ... alles in Ordnung?«, erkundigt sie sich voller Mitleid, was echt seltsam ist, denn zum einen leide ich nicht unter einem Resting Bitch Face, gehe also davon aus, dass ich normal aussehe, und zum anderen sind Mindy und ich höchstens Bekannte.

»Ja, und bei dir?«, erkundige ich mich, denn offensichtlich kümmern wir uns jetzt umeinander.

»Ja, natürlich. Ich wollte nur kurz rüberkommen, weil ich weiß, wie schwer das für dich sein muss, wo doch dieses Bild kursiert und so.«

»Was für ein Bild?«

Mindy klappt der Unterkiefer herunter.

»Du hast es nicht gesehen?«

Ich schüttle den Kopf und versuche, unbeteiligt auszusehen. Dann sehe ich auf. Jetzt gaffen die Schüler hinter Mindy ganz offen.

»Was für ein Bild?«, wiederhole ich mit etwas brüchiger Stimme. Es ist, als wüsste mein Körper bereits vor meinem Gehirn, dass das, wovon sie redet, nichts Gutes sein kann.

Mindy kramt ihr Telefon aus der knallroten Designertasche, tippt darauf herum und zeigt mir das Display.

Ich starre auf ihr Telefon. Es zeigt das Bild zweier Jungen. Ich sehe sie wieder an, denn was hat das mit mir zu tun? Doch dann lässt mich ein ungutes Gefühl noch einmal genauer hinsehen. Es sind nicht irgendwelche Jungs, es sind zwei bekannte Gestalten – einer mit blauen Flecken am Hals und der andere mit einem Gesicht, das ich nur zu gut kenne. Ich sehe es jeden Tag im Spiegel. Sie sind in einem Zimmer und küssen sich.

Mein Magen macht einen Purzelbaum und will sich aus meinem Körper verabschieden und mein Herz hört auf zu schlagen.

Oh, verdammt.

4CHIAMAKA

Montag

Ich habe Schmerzen.

Keine schlimmen Schmerzen, die einem durch den Körper schießen – sondern ich muss so sehr lachen, dass mir alles wehtut.

Ich versuche, nicht zu Jamie hinüberzuschauen, denn er ist der Grund dafür. Der einzige Nachteil, meinen besten Freund als Laborpartner zu haben, ist dieses schmerzhafte Lachen und die Ablenkung von der eigentlichen Aufgabe.

Er reißt eine Seite aus seinem Heft, rollt sie zusammen und hält das eine Ende in die Flamme des Bunsenbrenners. Dann führt er es an die Lippen und tut so, als nähme er einen Zug.

»Ich leide ja so. Ich höre The 1975. Ich habe mir die Haare pink gefärbt, aus Ironie, denn weißt du, meine Seele ist schwarz und mein Vorname ist Peter, aber mein Clan nennt mich Tortured Stone – weil ich so offensichtlich leide, aber auch weil ich ein Bad Boy bin.«

»Ich will einen anderen Laborpartner«, verlange ich und wische mir mit dem Ärmel meines weißen Laborkittels die Lachtränen aus den Augen.

Jamie schiebt meine Hand weg.

»Dann sieh dir mal die Auswahl an, Chi«, fordert er mich auf und deutet auf die Tische um uns herum. »Du könntest neben Lance sitzen, der jedes Instrument, das er anfasst, kaputt macht. Neben Clara, die das Material frisst, oder neben mir, der Perfektion an sich.«

Ich verdrehe die Augen. Nichts davon stimmt. Na ja, bis auf das Letzte vielleicht.

Jamie sieht mich mit hochgezogener Braue an, als forderte er mich heraus, ihn und sein aufgeblasenes Ego infrage zu stellen. Und da hat er die Frechheit, mich eingebildet zu nennen. Die goldenen Sommersprossen tanzen auf seinen Wangen, als sein Grinsen breiter wird.

»Wahrscheinlich hast du recht«, gebe ich zu.

Triumphierend sieht er mich an. »Gute Wahl, Chi, gute Wahl!«

Er stellt die Flamme von orange auf blau um, wie es in den Anweisungen steht. An seinen Handgelenken baumeln die bunten Armbändchen, die seine Mutter ihm von ihrer Reise nach Indien mitgebracht hat.

Ich lege die Hand auf den Bauch, der mir vom Lachen immer noch wehtut.

»Fangt an, einzupacken, in fünf Minuten ist Schluss!«, verkündet Mr Peterson.

Jamie stöhnt und zieht einen Flunsch in Richtung Bunsenbrenner.

Ich drehe das Gas ab und stelle unsere Geräte auf das weiße Tablett, auf dem wir sie bekommen haben – sehr zu Jamies Ärger. Er liebt die feuertechnischen Elemente in unseren Experimenten. Ich glaube, seine Pyromanie begann in der 10. Klasse nach einem langen Sommer in dem Ferienlager, in das jedes Jahr ein paar auserwählte Niveus-Schüler eingeladen werden. Nicht, dass mir das etwas ausmachen würde. Jeder weiß, dass nur Legatenkinder zu diesen Events eingeladen werden.

Legatenkinder sind Schüler mit supermächtigen Eltern, und Schüler, deren Familien seit Generationen ihre Kinder auf die Niveus schicken.

Wie Jamies gesamte Familie seit Anbeginn der Zeiten. Meine Eltern sind keine Amerikaner und daher kein alter amerikanischer Geldadel, nur italienischer Geldadel, daher genieße ich nicht die gleichen Privilegien wie die Legatenkinder. Ehrlich gesagt wäre vieles leichter für mich, wenn ich auch so ein Kind wäre. Meine Zukunft wäre sicherer und ich müsste nicht so hart dafür arbeiten.

Als Jamie noch in den Windeln lag, wusste er schon, dass er an die Elitehochschule gehen kann, die er sich aussucht, dass er das milliardenschwere Unternehmen seines Vaters erben wird, Verbindungen zu allen wichtigen Organisationen in Amerika hat und in seinem Leben eigentlich nicht einen Tag zu arbeiten braucht. Ich hätte gerne eine ebenso perfekte Zukunft, in der alles nahtlos zusammenpasst. Mit Geld allein kommt man nicht weit, man braucht auch Macht und Einfluss – und die Fitzjohns, Jamies Familie, hat alles drei.

»Ich muss dir in der Mittagspause was erzählen«, flüstert Jamie. Die Dringlichkeit in seiner Stimme lässt mich ein wenig zusammenzucken. Ich nicke und seine Schulter streift meine. Jamie liebt Aufmerksamkeit. Jede Bewegung – eine Berührung mit der Hand, ein Stoß mit dem Ellbogen – ist voller Bedeutung. Er weiß, wie er es anstellen muss, um der Einzige zu sein, auf den man sich konzentriert. Das und sein gewinnendes Lächeln machen ihn unwiderstehlich. Ich habe gesehen, wie er sich so von Hausaufgaben und Strafzetteln befreit hat. Ich bin mir sicher, er würde sogar mit dem Tod selbst flirten, wenn nicht die Möglichkeit bestünde, dass er stirbt und nicht mehr im Mittelpunkt stehen kann.

»Okay. Bei Lola?«, frage ich und bemühe mich, beiläufig zu klingen.

Lola haben wir erfunden. In der 9. Klasse fanden wir, es klingt wie ein kleines Café in einer altmodischen Stadt, wo sich die Hausfrauen treffen, um zu ratschen und zu rauchen. Als wir älter wurden, stellten wir fest, dass der Name wohl eher zu einem billigen Strip-Club passt.

Wir benutzen ihn trotzdem noch. Es ist unser Code für »Wir reden unter vier Augen«.

Lola kann irgendein Ort sein, an dem wir allein sind. In der 9. Klasse, als wir uns kennenlernten, machte uns ein Lehrer zum Team und Jamie stellte sich vor als der Kerl, der mein Leben ruinieren würde. Ich erwiderte, er habe eine zu hohe Meinung von sich selbst. Damals war Lola in einer Ecke eines leeren Klassenzimmers. Dort saßen wir in der Mittagspause und lästerten über die Leute in unserem Jahrgang oder redeten darüber, wie wir sein wollten, wenn wir in der 12. Klasse seien. Ich wollte die Beste sein. Beste Noten, am besten aussehend, beste Frisur, bester Freund ... in allen Bereichen die Beste, ein Mädchen, das alle beneiden. Jamie sagte, er wolle jemand sein, den seine Eltern respektieren.

In der 10. Klasse war Lola, wenn wir nicht in der Schule waren, in seinem Schlafzimmer und in seinem Bett, unter der Bettdecke ...

»Ja«, lächelt er und zwinkert mir zu. »Bei Lola.«

Plötzlich erklingen überall die Geräusche von empfangenen Nachrichten. Auch mein Telefon summt in der Tasche. Ich nehme es heraus.

[1 neue Nachricht von unbekannt]

Hallo, Niveus Highschool. Ich bin es. Wer ich bin? Tut nichts zur Sache. Ihr braucht nur eines zu wissen: Ich bin hier, um zu teilen und zu herrschen. Wie alle großen Tyrannen. Aces

Teilen und herrschen? Wer redet denn so? Und wer zum Teufel ist Aces? Was soll das bedeuten – Asse? Wie das Ass auf einer Spielkarte?

Wieder summt mein Telefon.

Diesmal gibt es ein Bild zur Nachricht: Zwei Jungen, die sich küssen. Einer mit sehr dunklen Flecken am Hals. Überall wird Gekicher laut. Ich verdrehe die Augen. Leute, wir leben im 21. Jahrhundert. Muss man bei so was wirklich noch anfangen zu kichern? Doch dann lese ich die Bildunterschrift.

Das Bild sagt alles. Theater und Musik scheinen ja wirklich gut zusammenzupassen. Aces

Ist das ... Scotty? Mit ... Devon Richards?

Lautes Lachen lässt mich von meinem Telefon aufblicken. Alle anderen starren auf ihre Handys.

»Ist das Scotty?«, fragt Jamie. Ich nicke.

Scotty ist einer meiner Exfreunde. Deshalb fragt Jamie wohl, obwohl ich nicht Scotty anstarre, sondern Devon. Er ist eigentlich niemand, für den ich etwas übrighabe oder mit dem ich rede, aber es ist schwer, den einzigen anderen Schwarzen an dieser Schule nicht zu bemerken. Noch merkwürdiger als dieses Bild ist die Tatsache, dass ich Devon noch nie ein einziges Wort habe sprechen hören. Heute ist er aus heiterem Himmel zum Senior Prefect ernannt worden ... und jetzt das hier?

Ist mir da was entgangen?

»Also ... Scotty ist gay? Können Footballspieler überhaupt gay sein? Na ja, er hat auch Theater als Wahlfach, also ...«

»Jamie, es gibt schwule Footballspieler und Heteros unter den Theaterschauspielern. Spiel jetzt nicht den aufrechten weißen Jungen, der voll ins Fettnäpfchen tritt. Außerdem könnte Scotty auch bi sein«, füge ich hinzu.

»Es überrascht mich nur«, meint er. Das kann ich verstehen. Ich bin auch überrascht. Ich komme mir verlogen vor, wenn ich Jamie sage, er solle nicht in Stereotypen denken, während ich mich frage, ob ich nur deshalb so schockiert bin, weil Devon schwarz ist und Scotty küsst.

Die Leute packen ein, sehen aber immer noch auf ihre Handys. Ich bin in diesem Schuljahr auch Wissenschaftsassistentin, also helfe ich dabei, alle Geräte wieder sicher zu verstauen. Das ist zwar kein sonderlich glanzvoller Job, aber ich tue alles, damit meine Bewerbung für Yale möglichst gut aussieht. Allerdings heißt das, ich kann nicht mit Jamie zusammen gehen.

»Wir sehen uns heute Mittag?«, frage ich.

Er nickt und küsst mich auf die Stirn. »Bei Lola.«

Sein Kuss ist sehr bewusst.

Jamie tritt einen Schritt zurück und sieht auf mich hinunter. Einen Moment lang schauen wir uns in die Augen, dann lächle ich und wende den Blick als Erste ab.

»Wir sehen uns«, sagt er.

»Bis dann«, antworte ich.

Ich sehe ihm nach, als er das Zimmer verlässt. Die Stelle, die sein Mund berührt hat, ist noch ganz warm und mein Herz schlägt wild. Sein Blick hat mir alles verraten, was ich wissen will.

Ich habe Jamie genau da, wo ich ihn haben will.

Dieses Spiel spielen wir schon seit Jahren, aber ich glaube, heute gibt Jamie endgültig nach.

Es ist die Stunde vor Lola und ich habe Englisch. Aber ich kann mich auf nichts anderes konzentrieren als auf die Aussicht, endlich Jamie Fitzjohns echte Freundin zu sein.

Ich habe lange darauf gewartet – genau gesagt drei Jahre –, dass Jamie mehr in mir sieht als seine beste Freundin. Ich habe gesehen, wie die Mädchen ihn anhimmeln, habe zugehört, wie er über seine hypothetische perfekte Freundin schwadroniert hat, und habe darauf gewartet, dass er sich umsieht und feststellt, dass ich das perfekte Mädchen sein könnte. Das ist frustrierend. Normalerweise habe ich keine Scheu, den ersten Schritt zu tun, wenn es um ein Date mit einem Jungen geht, aber bei Jamie ist das irgendwie anders.

Die meisten Jungen sind berechenbar. Ich durchschaue, was sie wollen, was sie begehren, wie sie ticken. Mein erster Freund war ein Junge namens Georgie Westerfield. Er war der übliche Frauenschwarm: groß, blond, der Ur-ur-urenkel des Gründers von Westerfield Socks – kurz gesagt, er war milliardenschwer. Für mich als Neuntklässlerin war es allerdings am wichtigsten, dass er zwei Klassen über mir war und alle Mädchen ihn wollten. Als Georgies Freundin wurde ich beachtet und es erlöste mich von dem Dasein als unsichtbares, unbedeutendes, unglückliches Mädchen, das ich in der Mittelschule gewesen war. Als ich an die Niveus kam, wusste ich, dass ich alles werden wollte, was ich zuvor nicht gewesen war. Und als Georgies Freundin war ich nicht nur jemand, den die Leute kennen wollten, sondern jemand, der sie sein wollten.

Es war damals nicht schwer, an Georgie heranzukommen. Zum einen war Jamie durch das Football-Team mit ihm befreundet und zum anderen gefiel es Georgie, dass ich »anders« war – genauer gesagt, dass ich schwarz bin, das ließ ihn cool aussehen. Ich wusste damals schon, dass ich nicht unbegrenzt lange vorgeben konnte, an jemandem wie Georgie interessiert zu sein. So wurde ich Chiamaka, das Mädchen, das den beliebtesten Jungen bekam, und die Erste, die ihm das Herz brach, bevor sie mit dem nächsten Goldjungen von Niveus ausging.

Ich studiere sie immer, bevor ich zuschlage. Ihren gesellschaftlichen Wert. Jeder Junge bringt etwas Neues mit sich. Durch Georgie wurde man auf mich aufmerksam und Scotty, der typische Junge von nebenan mit seinem Zugang zu so vielen gesellschaftlichen Kreisen, machte mich beliebter. Jamie ist der Einzige, an dessen Freundschaft mir etwas liegt und den ich nicht insgeheim hasse. Er ist der Einzige, bei dem die Freundschaft länger hält. Aber es ist oft schwer, jemanden wie Jamie und sein Verhalten richtig zu interpretieren. Wir sind zwar beste Freunde, aber ich schwöre, meistens habe ich keine Ahnung, was er denkt. Deshalb habe ich beschlossen, abzuwarten und ihn den ersten Schritt tun zu lassen.

Und wie immer ist meine Rechnung aufgegangen.

Zu Beginn des letzten Schuljahres, als ich mich immer noch mit Scotty traf, mir aber verzweifelt wünschte, dass Jamie endlich die Augen aufgehen würden, geschah es. Er schmiss die Party des Jahres. Wir haben uns beide total betrunken, so sehr, dass ich mich an nicht viel von dieser Nacht erinnern kann. Aber ich erinnere mich daran, dass Jamie mich endlich angeschaut und mehr als nur platonische Freundschaft gesehen hat. Er hat mich angelächelt, mir eine Haarsträhne hinters Ohr geschoben und mich gefragt, ob ich nach oben gehen wolle.

Und ich habe Ja gesagt. Er bat mich, ihn in seinem Schlafzimmer zu treffen, und auch wenn wir in dieser Nacht nur ein bisschen herumgeknutscht haben, war es doch der Auslöser für das, was das restliche Schuljahr geschah: Jamie küsste mich verstohlen, flüsterte mir ins Ohr, lud mich zu sich ein ...

Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass mich jemand mag, nur weil er sich mit mir einlässt. Aber bei mir und Jamie ist es irgendwie anders. Gelegentlich ertappe ich ihn dabei, wie er mich ansieht, wie er versucht, mich absichtlich zu ärgern, und breit grinst, wenn es ihm gelingt. Er bringt mich zum Lachen ... und sieht mich an, als wäre ich etwas Besonderes.

In den letzten drei Jahren habe ich alles dafür getan, das beliebteste Mädchen der Schule zu sein, das Mädchen, das alles hat, und mir das perfekte Ende für meine Zeit an der Niveus zu sichern. Und jetzt, wo ich Senior Head Prefect bin, fehlen mir nur noch die letzten Details: die Ballkrone, die Zulassung für Yale und Jamie.

Ava, die mit mir zusammen Englisch hat, stupst mich an. Manchmal machen wir uns über die Verschwörungstheorien unserer Lehrerin Mrs Hawthorne lustig. Einmal hat sie behauptet, F. Scott Fitzgerald sei die Reinkarnation von William Shakespeare. Woraufhin Ava meinte: »Und ich bin die Reinkarnation von Jane Austens Arschloch.« Ich musste so lachen, dass Mrs Hawthorne uns androhte, uns auseinander zu setzen. Ich muss zugeben, dass der Unterricht mit Ava zusammen mehr Spaß macht.

Wenn die Hierarchien nicht so wichtig wären und die Leute nicht ständig versuchen würden, mich zu stürzen, könnte ich allen mehr Vertrauen entgegenbringen und Ava und ich wären mehr als nur zwei Mädchen, die sich gegenseitig ausnutzen, um die Highschool zu überleben. Aber Niveus ist und bleibt Niveus. Außerdem habe ich dieses perverse Spiel nicht erfunden, das uns gegeneinander aufhetzt und uns für unseren Status fiese Dinge tun lässt – ich weiß nur, wie man es spielt.

Außerdem habe ich Jamie. Mehr Freunde brauche ich hier nicht.

»Du versuchst nicht mal, so auszusehen, als würdest du zuhören«, flüstert Ava.

»Ich glaube, heute Mittag wird Jamie mich bitten, mit ihm auszugehen«, erkläre ich. Ava reißt die Augen auf.

»Oh, wow! Das ist ja mal was. Ich habe immer geglaubt, dass ihr beide sowieso schon heimlich miteinander geht.«

Ich muss innerlich lächeln. Es ist eine Sache, Jamie davon zu überzeugen, dass wir füreinander geschaffen sind, und eine andere, das die anderen glauben zu lassen.

»Nun, das wird bald offiziell – hoffentlich.«

Jamie redet immer davon, dass er »die Eine« sucht. Er hatte noch nie ein Date, weil er sagt, er habe »sie« noch nicht gefunden. Man hat schon vermutet, dass er gar keine Mädchen mag, doch dann ist er dem Footballteam beigetreten – was wohl die Bestätigung dafür war, dass er hetero ist.

Ich glaube ja auch irgendwie an dieses Konzept, an den einen Menschen, der einen erstrahlen lässt und einem das Gefühl gibt, die Kontrolle zu verlieren, aber nicht so wie Jamie. Jamie tut so, als wäre ihm »die Eine« seit seiner Geburt vorherbestimmt.

Ich dagegen glaube, wir bestimmen unser Schicksal selbst. Wir suchen uns aus, mit wem wir befreundet sind, wen wir küssen und mit wem wir ausgehen. Und ich habe wohl Jamie gewählt.

Als es klingelt, stehe ich auf, werfe meine Sachen in die Tasche und renne aus dem Klassenzimmer, ohne Zeit damit zu verschwenden, mich von Ava zu verabschieden. Ich sehe sie eh später in der Cafeteria.

Jamie hat Geschichte, also warte ich vor seinem Klassenzimmer. Gleich darauf kommt er heraus, ein breites Grinsen auf seinem perfekt sommersprossigen Gesicht. Seine braunen Locken sehen aus, als könnten sie mal wieder geschnitten werden, aber mir gefällt es. Er sieht aus wie das Mitglied einer Boygroup, die ich angeblich nicht leiden kann.

»Zu den Bänken?«, fragt er und hakt sich bei mir ein. Ich nicke und versuche, mich zu beruhigen, als wir zu den Bänken im Hof gehen.

Jamie hat mir erzählt, wie er die Eine um ein Date bitten will. Er sagte, es würde romantisch werden, mit Schokolade und vielleicht mit einem Gedicht, falls er den Nerv dazu hat. Das finde ich zwar ziemlich klischeehaft, aber ... ich würde es trotzdem gerne sehen.

Wir gehen an den anderen Schülern vorbei, die aus dem Klassenzimmer kommen. Manche von ihnen sehen uns wissend an. Erst Senior Head Prefect und jetzt das? Der erste Schultag ist erst halb vorbei und schon kann ich sagen, dass das das beste Jahr der Highschool wird.

Wir setzen uns an einem der Holztische einander gegenüber. Ich lege das Kinn in die Hände und er tut das Gleiche. Egal, wo Lola ist, egal, wie öffentlich der Ort ist, es fühlt sich immer intim an.

»Also«, beginnt er.

»Also«, erwidere ich.

»Ich glaube, ich habe die Eine gefunden.«

»Tatsächlich?«, frage ich und klinge viel zu offensichtlich.

»Tatsächlich. Sie ist klug, umwerfend, bringt mich zum Lachen ...«

»Klingt großartig«, unterbreche ich. Mein Herz klopft, als würde es zerspringen.

»Du könntest sie kennen.«

Der große Augenblick ist da.

»Sie heißt Belle Robinson ...«

Moment mal ... was?

»Ich habe sie schon seit Jahren in der Schule gesehen und immer gedacht, sie wäre völlig unerreichbar für mich ...« Er grinst mich verlegen an und wird ein bisschen rot. »Aber dann haben wir uns unterhalten und ich wusste sofort, dass sie etwas Besonderes ist.«

Seine Worte verklingen und ich höre nicht mehr zu. So sollte das nicht laufen. Ich spüre, wie etwas in mir zerbricht, wie sich meine Brust schmerzhaft verkrampft. Ich blinzle und Tränen der Wut fallen, die ich schnell wegwische, weil ich mir nicht das Make-up ruinieren will.

»Ich wusste ja, dass du dich für mich freust, aber so sehr ...«, versucht Jamie zu scherzen, doch er sieht besorgt aus.

»Ich dachte, du wolltest mir etwas anderes sagen«, bringe ich wider Willen hervor.

Er runzelt die Brauen. »Was denn?«

Ich komme mir dumm vor und sage leise: »Dass du mich magst.«

Ein paar Augenblicke lang herrscht vollkommenes Schweigen, nur der Wind und Gesprächsfetzen aus dem Gebäude sind zu hören.

Jamie verzieht das Gesicht, als wäre der Gedanke an uns beide als Paar unmöglich.

»Du bist meine beste Freundin, Chi. Du weißt, dass ich dich so und nicht anders sehe.«

Mir stehen Bilder vor Augen: der Abend zu Beginn der 11. Klasse, als er mich in sein Schlafzimmer einlud, und die vielen Nächte, die folgten, die Verbindung, die ich zu ihm zu haben schien. Er und ich an der Spitze der Schule, so hätte es sein sollen. Wir hätten gemeinsam an die Uni gehen sollen, heiraten, furchtbar erfolgreich sein, zwei furchtbar erfolgreiche Kinder bekommen und sterben sollen.

»Ich gehe mit Belle aus. Ich dachte, du würdest dich für mich freuen.«

Belle. Blonde, blauäugige, blöde Belle Robinson.

Ich kenne sie aus einigen Kursen im letzten Schuljahr, außerdem spielt sie im Lacrosse-Team der Mädchen. Sie ist halbwegs beliebt, nicht weil sie etwas dafür tut, sondern weil sie hübsch ist. Die Leute belohnen gerne konventionell attraktive Menschen.

Jamie nimmt meine Hand.

»Du bist unglaublich«, beginnt er. Aber ich bin nicht Belle, beende ich den Satz im Stillen für ihn. »Ich glaube nicht, dass du wirklich mich liebst, Chi. Ich glaube, du liebst deine Vorstellung von mir.«

Wieder gleiten seine Worte an mir vorbei und werden zu Hintergrundgeräuschen. Diesen Satz hat er schon so vielen Mädchen gesagt. Er bringt es ihnen schonend bei und sagt ihnen, dass die Idee, mit ihm zusammen zu sein, reine Fantasie ist. Ich kann nicht glauben, dass ich darauf hereingefallen bin. Ich bin ja so dumm. Ich habe es geschafft, mich selbst davon zu überzeugen, dass ich darüberstehe. Dass ich besser bin als Mädchen wie Belle. Aber anscheinend bin ich das nicht.

Ich habe immer geglaubt, Jamie hätte die Mädchen abgelehnt, weil er eigentlich mit mir zusammen sein wollte. Da habe ich mich wohl getäuscht.

Jamie ist sehr gut darin, Leute dazu zu bringen, ihm zu glauben. Er ist der Beste darin, mich zu etwas zu überreden. Und er ist der Beste darin, so zu tun, als wäre nichts geschehen, wenn alles den Bach runtergeht. Und mir das Aufräumen zu überlassen.

Plötzlich steigen ungewollt Erinnerungen in mir auf, Erinnerungen an die Winterferien in der 11. Klasse. An den Abend, den ich seither zu vergessen versuche ... Quietschende Reifen, lauter als unsere Stimmen, die kurz zuvor noch Livin‘ on a Prayer gegrölt hatten. An den Klang eines schrillen Schreis, bei dem Jamie das Steuer herumriss, sodass wir gegen einen Baum krachten und nach vorne geschleudert wurden. An meinen Kopf, der auf dem Armaturenbrett aufschlägt ...

»Scheiße!«, schreit Jamie. »Scheiße, Scheiße, Scheiße ... Ich glaube wir haben etwas getroffen.«

Ich zittere am ganzen Körper, meine Brust ist so eng, dass ich kaum atmen kann. Eine Welle von Übelkeit läuft durch meinen Körper, als Jamie die Wagentür öffnet und auf die Straße taumelt.

»Scheiße!«, schreit er, torkelt zurück und rauft sich die Haare. Der Lärm aus dem Radio übertönt ihn, ich schlage verzweifelt auf den Aus-Knopf.

»Chiamaka, wir haben ein Scheiß-Mädchen angefahren!«

In meinem Kopf kann ich wieder ihren Schrei hören und mir wird schlecht.

Jamie sieht ins Auto. Seine Haare sind nass vom Regen, der in Strömen fällt, und kleben ihm in der blassen Stirn. Er atmet so schnell, als wäre er gerade einen Marathon gelaufen. Der Geruch der Ledersitze, gemischt mit Jamies schwerem Eau de Cologne, ist überwältigend und macht meinen Kopf ganz träge.

»Chiamaka, wir müssen was tun! Mein Dad darf nichts davon erfahren!«, fleht er. Der Regen prasselt auf die Straße und ich sehe aus dem Fenster auf den Körper – ihren Körper. Durch die Regenrinnsale kann ich ihr Gesicht sehen. Blonde Locken, blasse Haut, eine dunkle Pfütze, die sich wie ein Heiligenschein um ihren Kopf herum ausbreitet. Ich muss würgen, halte mich am kalten, harten Armaturenbrett fest und schließe die Augen.

Mir ist ja so schlecht.

Ich sollte aussteigen und nachsehen, ob sie noch atmet. Aber ich kann mich nicht bewegen, meine Glieder scheinen wie festgeklebt.

»Wir ... wir sollten nachsehen, ob sie noch atmet. Und wir müssen einen Rettungswagen rufen und die Polizei ...«, sage ich und nehme mit zitternden Fingern mein Telefon aus der Manteltasche.

Jamie blickt mich verzweifelt an, reißt mir das Telefon aus der Hand und steckt es weg.

»Das können wir nicht machen, mein Dad bringt mich um!« Seine Stimme wird schrill. Ich zucke zusammen, als er heftig gegen den Wagen tritt. »Der bringt mich echt um!«

Er beugt sich vor und stützt die Hände auf die Knie. Der Regen läuft ihm übers Gesicht und er atmet noch schwerer als zuvor.

Ich schüttle den Kopf. Jamies Gestalt verschwimmt, weil mir die Tränen kommen.

»Wir müssen, sie scheint echt verletzt zu sein«, stoße ich unsicher hervor. Ich muss hier raus.

»Es wird schon gut gehen – keine Polizei und alles wird gut«, sagt Jamie mit bebender Stimme. »Wir dürfen nicht ins Gefängnis kommen, also keine Polizei. Wir müssen was tun. Mein Dad ... Er darf auf keinen Fall davon erfahren.«

Gefängnis? Daran hatte ich nicht gedacht.

Die Worte treffen mich wie ein Stich in die Brust, sie hindern meine Lungen daran, so zu arbeiten, wie sie es sollten. Jedes Mal, wenn ich versuche, Luft zu holen, ist nicht genug Luft da, und wenn ich versuche zu schlucken, scheint etwas in meiner Kehle festzustecken.

Ich höre, wie ich weine, aber es scheint fast, als wäre das jemand anderes. Ich spüre die Tränen nicht, aber ich weiß, dass ich es bin. Das puppenhafte Gesicht des Mädchens ist verzerrt in mein Gedächtnis eingebrannt.