Pin ins Herz - Katrin Wiedmaier - E-Book

Pin ins Herz E-Book

Katrin Wiedmaier

3,0

Beschreibung

Verliere nie den Glauben an die Liebe. Sie ist die stärkste Kraft und lässt uns so einiges ertragen. Vom Freund verlassen, den Job verloren und mit den Folgen kämpfend muss Emmi sich endlich mal wieder um sich selbst kümmern. Sie nimmt allen Mut zusammen und verwirklicht ihren Traum. Ein Jahr im Ausland. Zusammen mit Freundin Lizzie bricht sie auf in ein Abenteuer, das so ganz anders verläuft als geplant. Gelingt es Emmi, zwischen all den Gefühlen aus Lebensmut, großer Liebe und unfassbaren Ereignissen, sich selbst zu finden?

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Katrin Wiedmaier

Pin ins Herz

Roman

Über die Autorin

Schreiben ist für Katrin Wiedmaier eine Leidenschaft, der sie seit ihrer Jugend verfallen ist. Kein Wunder also, dass sie diese Leidenschaft mit der Gründung einer Agentur auch zu ihrem Beruf gemach hat. «Pin ins Herz» ist ihr Debüt-Roman - und die Verwirklichung eines Jugendtraums. Die gebürtige Schwarzwälderin lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Rottenburg am Neckar.

PROLOG

Wie konnte es nur soweit kommen? Ich stecke definitiv in einer mittelschweren Lebenskrise. Und alles nur wegen einem Mann, zumindest hat es mit ihm angefangen. Es wird Zeit, endlich aktiv etwas gegen diese lähmenden Gefühle zu unternehmen. Ich gehe mir selbst auf die Nerven und muss mich endlich zusammenreißen und aus diesem anhaltenden Tief klettern, das unsägliche Verlustgefühl und meinen verletzten Stolz hinter mir lassen. So kann es einfach nicht weitergehen. Ich möchte wieder die lebensfrohe, unternehmungslustige Frau werden, die ich mal war. In den letzten Monaten quälte ich mich durch Liebeskummer und vernachlässigte dabei soziale Kontakte und die Menschen, die mir nahestehen. Wenn ich nur im Ansatz geahnt hätte, wie schnell es gehen kann, dass jemand mein Leben auf den Kopf stellt und ich gezwungen bin, eine völlig neue Richtung einzuschlagen ....

TEIL 1

Kapitel 1

Freitagmorgen. Shit, ich komme schon wieder zu spät zur Arbeit. Der Wecker zeigt 8.30 Uhr, oh man, ich habe das Klingeln einfach nicht gehört. Auch wenn das Büro nur fünf Minuten von meinem Zuhause entfernt liegt, gönne ich mir meist den Luxus, diese Strecke mit dem Auto zurückzulegen. Zu allem Überfluss rauche ich auch noch hastig die erste Zigarette des Tages und schnipse die Kippe, während ich auf dem Firmenparkplatz zu meinem bezahlten Stellplatz fahre, wenig elegant aus dem Fensterspalt. Ich hasse solchen Stress am Morgen. Der Duft von frischgebrühtem Kaffee steigt mir beim Betreten der Küche in die Nase. Diesen glückseligen Umstand verdanke ich einem Timer an meiner alten Filtermaschine, den ich unter der Woche auf 7.15 Uhr programmiert habe. So marschiere ich eilig mit der übervollen Tasse des schwarzen Gebräus ins Bad und kann wenigstens ein paar Schlucke genießen, während ich in Windeseile die Morgenwäsche vollziehe. Ohne dieses herrlich duftende, meine Lebensgeister weckende Getränk, bin ich zu allem fähig, aber zu nichts zu gebrauchen. Unter Stress funktioniere ich immer perfekt, da bleibt mir nämlich keine Zeit, lange nachzudenken. Auf dem Weg zur Garderobe bleibt mein Blick an meinem Spiegelbild hängen. Ich sehe jeden Morgen das Gleiche - traurige, glanzlose Augen, die mein sonst recht attraktives Gesicht fade erscheinen lassen. Meine braunen Augen sind eigentlich mein großer Pluspunkt, denn wenn ich nicht gerade deprimiert bin, leuchten diese, von geschwungenen Wimpern eingerahmten Seelenfenster, nämlich unheimlich schön. Sie sind recht groß und rund, was mir in meiner Jugend mal den Spitzname Teddy eingebracht hat. Dieser Gedanke bringt mich immerhin zum Schmunzeln. Doch momentan kann man schon sagen, dass mein zerrissenes Inneres auch in äußerlichen Ausmaßen sichtbar ist. Kein Glanz, kein Ausdruck, nicht einmal meine Lachfältchen um die Augen sind momentan sichtbar. Selbst meine sonst so glänzenden hellen Haare hängen, als wären sie gelangweilt von mir, an meinem Kopf. Genervt und noch deprimierter raffe ich meine Handtasche vom Board, steck den Schlüssel achtlos in die Hosentasche und sprinte die Treppe nach unten.

Als hinge mein Leben davon ab, stecke ich meine Karte in die Stempeluhr, 9:01 Uhr, yeah, das ist gerade noch einmal gut gegangen. Die Kernarbeitszeit beginnt um 9.00 Uhr, so kann ich endlich einen Gang zurückschalten. Während ich gemächlich durch den schmalen weißen Flur den Weg ins Büro schlendere, geben die Sohlen meiner Schuhe auf dem hellgrauen Linoleumboden quietschende und schmatzende Geräusche von sich. Dabei fällt mir eine alte Weisheit ein, die ich mal irgendwo gehört habe. Sie besagt, dass Schuhe, deren Sohlen quietschen, nicht bezahlt sind. Dabei habe ich sie bezahlt, ehrlich. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend hüpfe ich die Treppe in den ersten Stock, schnell noch einen Bleistift aus der Tasche gefischt, um meine langen Haare zu einem improvisierten Knoten hochzustecken. Ich schwinge die Handtasche unter den Schreibtisch, schalte den PC ein, lasse mich auf den schwarzen Drehstuhl plumpsen und schaue gedankenverloren aus dem Fenster, während sich mein Rechner betriebsbereit macht. Ich mag diesen Anblick. Die Shet-Dächer der Versandabteilung ragen empor, in dem Gebäudeteil gegenüber sehe ich die Kollegen aus der EDV hinter den Scheiben vorbeihuschen. Der Himmel ist übersät mit hellgrauen Wolken, die der Sonne keine Chance lassen, sich irgendwo durchzumogeln. Wer weiß, mittags schafft sie es bestimmt, wenigstens zwischen den Wolken hervor zu blitzen.

Der Vormittag läuft gut, ich gebe ein paar Korrekturabzüge der neu übersetzten Prospekte frei, telefoniere mit der Druckerei und mit der Werbeagentur bespreche ich ein laufendes Projekt. In der kurzen Mittagspause setze ich mich zum Essen auf eine Bank hinter dem Gebäude. Ich kann doch noch ein paar Sonnenstrahlen genießen, die sich zwischen den Wolken hindurchschieben können und sauge sie auf, als wären sie wertvolle Energie, die mich den Nachmittag überstehen lässt. Hm, vermutlich sind sie für mich heute genau das. Ich schaffe es gerade noch, die aktuellen Unterlagen von meinem Schreibtisch zu klauben, und falle in letzter Minute im Meetingraum der Vertriebsabteilung ein. Wie immer mit einem aufgesetzten Lächeln in die Runde. Es geht um neue Werbemittel für die anstehende Messe und ich weiß schon jetzt, worauf das hinausläuft. Wie immer wollen sie Dinge haben, bei denen mir bereits klar ist, dass sie im Endeffekt zu teuer sein werden. Und ich könnte mir die ganze Mühe und Zeit sparen, überzeugen lässt sich jedoch im Vorfeld niemand. Sie müssen jedes Mal erst schwarz auf weiß sehen, was sie sich mit ihrem ohnehin mageren Budget doch nicht leisten können. Und auch dieses Mal behalte ich recht. Statt vernünftiger Ergebnisse, weil realistisch, gibt es jede Menge Arbeit für mich. Ich stecke gerade im Lektorat eines Textes, als um 16.30 Uhr das Telefon klingelt. «Emmi, kommen Sie doch mal bitte in mein Büro, ich möchte etwas mit Ihnen besprechen», höre ich die Stimme meines Chefs. Arglos nehme ich Block und Stift in die Hand und hüpfe fröhlich eine Etage tiefer. Immerhin wird das eine der letzten Amtshandlungen heute für mich sein, denn das das Wochenende ist zum Greifen nah.

Kapitel 2

«Emmi, unsere Entscheidung hat nichts mit Ihnen persönlich zu tun. Es tut mir wirklich sehr leid, weil ich mit Ihnen eine fleißige, kompetente Mitarbeiterin verliere, aber Sie wissen doch, wie das läuft.» Mir wird heiß und kalt zugleich, ich will das nicht hören. «Zuerst wird immer an der Werbung gespart, und Sie sind nun einmal, wie es der Sozialplan vorgibt, die Einzige, die unverheiratet ist und keine Kinder hat.»

Obwohl ich in dem Moment weiß, dass er es ehrlich meint und seine Miene auch echtes Bedauern ausdrückt, tut es weh, was ich da gerade höre.

«Ok, ich nehme an, es ist egal, was ich jetzt sage oder tue, dies ist eine bereits gefällte Entscheidung, oder?» Der letzte Funken Hoffnung, an dem ich mich gerade kurz vor einer Panikattacke festhalte, schwingt in diesem Satz mit, vielleicht gibt es einen kleinen Spalt irgendwo. Doch der Funke fliegt davon, noch bevor ich mir richtig Gedanken darum machen kann. «Ja Emmi, diese Entscheidung steht fest und ich persönlich finde es wirklich bedauerlich. Ich wünschte, ich könnte Ihnen etwas anderes sagen.» Er zieht die Schultern nach oben und hebt die Hände in die Luft, um sein Bedauern auszudrücken. Ein Gedanke formt sich in meinem Gehirn wie lästiges Ohrensausen. Ich vernehme eine Stimme, kann sie aber erst lokalisieren, als ich dieses fiese Flüstern höre, das vor Schadenfreude nur so trieft. Es ist mein innerer Schweinehund, dem vermutlich grad einer abgeht. «So liebe Emmi, jetzt hast du keine Ausrede mehr, jetzt wird sich etwas in deinem Leben verändern, ätsch. Selbst schuld, du hättest einfach mal eher deinen Arsch hochkriegen sollen. Blöd, dass du es nicht leiden kannst, wenn andere über dich bestimmen. Tja, sag nicht, ich wäre dir damit nicht ständig in den Ohren gelegen.»

Mir ist, als würde ich Selbstgespräche führen. Dieser Gedanke fühlte sich so real an, dass ich für einen Moment echt verwirrt bin. Ich höre dem Chef gar nicht mehr zu, der irgendwas von Abschlussprojekten und Messe erzählt, stattdessen schweife ich meilenweit ab. Die letzten Monate hat sich ein ansehnlicher Batzen auf meinem Konto angehäuft, da ich aufgrund meines Liebeskummers jegliches Sozialleben außerhalb meiner vier Wände und auch die meisten Vorschläge meiner Freundin kategorisch abgelehnt habe. Die Lust daran ist mir wirklich gründlich vergangen und dazu gehören leider auch die monatlichen Shopping-Touren. Ich könnte doch meinen Traum verwirklichen. Ich könnte jetzt endlich tun, was ich schon immer wollte, ins Ausland gehen und Lebenserfahrung sammeln. Ich bin frei, schießt es mir durch den Kopf, und noch bevor ich vor Erleichterung dümmlich vor mich hin grinse, was überaus peinlich und schwer erklärbar wäre, macht mir dieser Gedanke angst. Ich will das ja, ich will ja, dass sich etwas ändert, aber ich hätte schon gerne selbst entschieden, was, wann und wie. Ich mag es grundsätzlich nicht, wenn jemand über mich bestimmt, hier kann ich jedoch nichts dagegen tun. Das lähmt mich. In angespannter Atmosphäre wünschen wir uns ein schönes Wochenende, ha der war gut, und ich schleiche zurück an meinen Platz. Geistesabwesend ziehe ich den Bleistift aus meinen Haaren und schiebe sie mir so dicht an die Augen, dass ich wenigstens das Gefühl bekomme, unsichtbar zu sein. Bei kleinen Kindern funktionierte das doch auch, dass sie sich vor den Augen der Erwachsenen verstecken und sich dann ernsthaft wundern, dass man sie findet. An diesem Abend bin ich nicht wie gewohnt die Letzte im Büro, sondern die Erste, die geht. Ohne auf die mitleidigen Blicke meiner Kollegen einzugehen, straffe ich meine Schultern, blicke sie direkt an und verabschiede mich betont fröhlich von Ihnen. Ich würde hier und jetzt nicht in Tränen ausbrechen, darauf habe ich einfach keine Lust. Und es würde rein gar nichts an der Situation ändern. Ich lief hier in der Vergangenheit schon viel zu oft mit vom Heulen verquollenen Augen rum, damit muss jetzt endlich Schluss sein. Wenn mir die Entscheidung über Änderungen meiner Zukunft schon nicht selbst überlassen wird, dann mach ich das jetzt richtig. Liebes Schicksal, das kannst du haben!

Ein entscheidendes Plus für meinen Chef ist die Tatsache, denke ich, während ich den Flur entlanglaufe, dass er mir wenigstens an einem Freitagnachmittag eröffnet hat, dass ich den Einsparmaßnahmen unserer Firma zum Opfer gefallen bin. Ich strecke kurz den Kopf in die Tür der Personalabteilung und verabschiede mich von meiner Kollegin, die bis vor Kurzem noch in meiner Marketingabteilung tätig war.

«Er hat es dir also doch noch heute erzählt.» Sie klingt zufrieden. Das wiederum macht mich stutzig. «Warum sagst du das in so zufriedenem Tonfall?» «Emmi, ich habe ihn gebeten, es dir möglichst heute noch zu sagen, weil du dann das ganze Wochenende hast, um diese Information sacken zu lassen.» Sie legt mir die Hand auf die Schulter.

«Sieh mal, wenn er es am Montag verkündet hätte, müsstest du die ganze Woche gute Miene zum bösen Spiel machen. Und das wollte ich dir einfach ersparen. Es ist doch echt tragisch genug, dass du bald nicht mehr hier bist.» Sie klingt wehmütig. «Ja, vermutlich hast du recht, danke dafür. Dann geh ich jetzt mal nach Hause und lass sacken», gebe ich kleinlaut zu. Sie muss mir nichts weiter erklären, das würden wir nächste Woche in Ruhe tun, sie meint nur, ich kann mir den Resturlaub auch ausbezahlen lassen, denn wenn ich all meinen Urlaub nehmen würde, wäre ich nicht mehr lange da. Zudem ist die Abfindung, die mir nach 12-jähriger Betriebszugehörigkeit zusteht, nicht zu verachten und kann wohl erst mal als Trostpflaster herhalten. Ich danke ihr und wünsche auch ihr ein schönes Wochenende. Ob es Absicht war oder nicht, es verschafft mir persönlich tatsächlich zwei Tage, in denen ich in meinen vier Wänden alleine meine Wunden lecken und über die weitere Zukunft nachdenken kann. Hoch die Hände – Wochenende.

Auf dem Heimweg lege ich im Supermarkt meines Dorfes einen Stopp ein und kaufe noch genau die Dinge, von denen ich der Meinung bin, sie könnten mich beim Wunden lecken und beim Pläne für die Zukunft schmieden, unterstützen. Tiefkühlpizza, Cola, Zigaretten und eine Flasche meines Lieblingsweines, ein relativ teurer spanischer Crianza. Und mit teuer meine ich alles, was über fünf Euro geht. Ziemlich beerig und schwer, aber genau das, was ich heute Abend brauchen würde. Ich fühle mich unwohl und ausgerechnet heute sitzt meine ehemalige Nachbarin an der Kasse, die mich schon von klein auf kennt. Erfreut wie immer, wenn sie mich sieht, lächelt sie mich an. Zu meiner Überraschung sagt sie aber heute nichts zu den Einkäufen, die vor ihr auf dem Band liegen. Und das will was heißen, denn das tut sie sonst immer. Manchmal hasse ich sie auch dafür, denn ihre gut gemeinten Kommentare hinterlassen nicht selten ein schlechtes Gewissen bei mir. Da kommen dann solche Bemerkungen wie «na Emmi, bekommst du heute Abend Besuch? Diese Pizza habe ich auch schon mal mitgenommen, als es schnell gehen musste.»

Und ich stelle mir immer vor, was ich dann antworten würde: «Nein Frau Singer, ich bekomme heute keinen Besuch, ich habe heut Mädelsabend mit mir selbst, und ich bin einfach zu faul zum Kochen.» Aber natürlich schaffe ich das nie. Alles, was ich spontan zustande bekomme, ist ein aufgesetztes Lächeln. Aber dann, sobald sich die Schiebetüren des Ladens hinter mir geschlossen haben, dann liefert mir mein unzuverlässiges Hirn unzählige schlagfertige Möglichkeiten. Immer das Gleiche. Ich habe mir auch schon oft überlegt, ob ich einfach mal nur absolut gesunde Dinge aufs Band lege, nur um dann ihren Kommentar darauf zu hören. Leider kommt mir dieser Gedanke immer erst, nachdem mein Einkaufskorb mit typischen Single-Produkten beladen ist. Ich bin schon an der Tür, da höre ich ihre Stimme, vermutlich wie alle anderen Leute auch, die sich momentan im Laden befinden.

«Ich wünsch dir ein tolles Wochenende Emmi.» Bestimmt nett und ohne Hintergedanken gemeint, interpretiere ich in diesem Moment eine Spur von Mitleid in ihre Stimme. Hat sich mein Schicksal denn so schnell bis zu ihr rumgesprochen? Wundern würde es mich nicht, in diesem Dorf kann man einfach keine Geheimnisse haben. Ich werde paranoid, vermutlich merkt sie einfach, dass ich heute nicht so fröhlich und ausgelassen bin wie sonst immer. Und gesprächig bin ich schon gar nicht. Sesam, schließ dich heute bitte etwas schneller. «Danke, Ihnen auch, tschüss», ist dann aber auch alles, was ich zustande kriege, bevor die Schiebetür sich hinter mir schließt.

Ich steige also mit meinen unglaublich gesunden Einkäufen die Stufen bis zu meiner Maisonette-Wohnung hoch und ausgerechnet jetzt gerade drückt sich mein mitteilungsbedürftiger Vermieter im Flur rum. Bleibt mir denn heute gar nichts erspart? Es ist zu spät, um zu flüchten, er hat mich bereits gesehen.

«Hallo Herr Schnell, Sie, ich bin heut sehr in Eile, schon viel zu spät dran.» Schon die ersten Stufen hinter mir, höre ich gerade noch den vorwurfsvollen Einwand des älteren Mannes.

«Ja ja, ihr jungen Leute, immer in Eile. Dann will ich mal nicht schuld sein, wenn Sie was auch immer verpassen», sprachs und macht seine Haustür eine Spur lauter zu als üblich. Herrje, jetzt ist er auch noch eingeschnappt. Als hätte ich sonst keine Sorgen gerade. Die Erleichterung, seinen Inquisitionsfragen für heute entkommen zu sein, überwiegt aber bei Weitem. Ich habe sowieso den Eindruck, dass er ab einer gewissen Uhrzeit am Fenster hängt und nur darauf wartet, bis ich nach Hause komme, um mich dann vollzuquatschen. Gut, er ist Rentner, aber ist das mein Problem? Meinen Gedanken nachhängend finde ich an der Wohnungstür zu allem Überfluss noch das Schild «Kehrwoche.» Wie ich das hasse. Ich verstehe ja, wieso man ab und an putzen muss und meist macht mir das auch Spaß, weil ich dabei laute Musik höre. Aber erstens mach ich nun wirklich keinen Schmutz, wenn ich die paar Stufen im Treppenhaus hochlaufe und zweitens doch nicht alle zwei Wochen. Genervt nehme ich das Schild ab und lege es auf meinen schwarzen Schuhschrank, der links neben der Türe an der Wand steht. Ok, bei genauerer Betrachtung ist er wirklich etwas staubig, räume ich resigniert ein und stecke den Schlüssel in das Schloss der Wohnungstür. Mechanisch streife ich mir die Schuhe von den Füßen, lege den Schlüssel achtlos auf den Glastisch unter meinem Garderobenspiegel und betrachte mein Gesicht im Spiegel. Kein Wunder hatte die Kassiererin vorhin Mitleid mit mir. Traurige Augen starren mir entgegen, ich sehe aus wie das personifizierte Elend. Die Tüte mit den Einkäufen stelle ich auf dem Küchentisch ab, dann knall ich mich erst mal der Länge nach auf die Couch. Wenn ich mich auf meiner kuscheligen schwarzen Ledercouch ausstrecke und meinen Kopf in das Sammelsurium bunter Kissen bette, die ich alle als meine Lieblingskissen betrachte, stellt sich normalerweise immer recht schnell ein Entspannungszustand bei mir ein. Doch ich warte vergeblich drauf, heute funktioniert das nicht. Ich fühle mich klein, mir ist irgendwie übel und bin total durcheinander. Ich würde jetzt gerne weinen. Ich habe mal gelesen, dass weinen in solchen emotional angespannten Situationen unheimlich befreiend sein soll, ähnlich wie ein Gewitter nach einem schwülen Tag. Aber es kommen keine Tränen. Stattdessen fängt mein Kopfkino an, die Gedanken in einer irren Geschwindigkeit in meinem Hirn durcheinanderzuwirbeln, dass mir fast schwindelig wird. Arbeit verloren – arbeitslos – kein Geld – Freiheit – ich kann endlich tun, was ich möchte – morgens nicht mehr auf den Wecker angewiesen sein, der mich sowieso immer im Stich lässt – in Ruhe einen Kaffee auf meinem Balkon genießen und dabei erst einmal überlegen, was ich so mit dem Tag anfangen kann. Das Karussell dreht sich immer schneller – sozialer Abstieg – Isoliertheit – Mitleid – Einsamkeit – Strand – Meer – ja ich will zuerst ans Meer – Strandspaziergänge – lange Nächte unter Palmen – Abschied – meine persönlichen Dinge packen – das Karussell wird zur Achterbahn. Und wenn das auch nichts gänzlich Neues für mich ist, geht es mir heute definitiv zu schnell. Ich presse die Fingerspitzen an meine Schläfen und versuche es mit bewussten Atemübungen. Nichts passiert, die erhoffte Linderung bleibt aus, der Druck lässt nicht nach. Hat sich denn heute alles gegen mich verschworen?

Soll ich meine Mutter anrufen? Meine Schwester? Meine beste Freundin Lizzie? Sie würde wahrscheinlich alles stehen und liegen lassen und mit einer Flasche Wein und Chips vor der Tür stehen und versuchen, mich abzulenken, was normalerweise auch immer funktioniert. Liz ist eine richtig gute Freundin und nach allem, was wir schon zusammen erlebt haben, muss sie mich wirklich lieben, denn sonst hätte sie schon längst die Flucht ergriffen. Sie ist eine Freundin der Sorte «mich kann nichts mehr erschüttern bei Dir.» Wenn es mir so richtig mies geht und ich am Boden liege, legt sie sich erst mal dazu, weint mit mir, flucht wie ein Bauer und schimpft, dass selbst die Rohrspatzen blass vor Neid werden. Dann gehen wir irgendwann ins Sitzen über, das erste Lächeln, und irgendwann kugeln wir uns vor Lachen. Der Grund ist meist nicht auszumachen. Ich kann sie dann nur ansehen und sagen «Danke, dass es dich gibt.» Wir ergänzen uns sehr gut, denn Liz bügelt meine Schwächen aus und ich ihre. Sie redet gerne und viel, ich eher weniger. Sie ist immer gut gelaunt, egal was geschieht, ich bin schon mal mies drauf und kann das dann auch nicht überspielen. Ich verabscheue Heuchelei. Dafür hat sie absolut kein Gespür für die Menschen um sich rum, ihre Antennen scheinen völlig immun gegen jegliche Schwingungen und Stimmungen, zumindest während sie spricht. Wenn es etwas zu organisieren gibt, verbreitet sie schneller Chaos, als man gucken kann und von Ordnung hält sie auch nichts. Dann komm ich ins Spiel, denn das sind meine Stärken.

Meine Entscheidung ist gefallen. Ich möchte heute nicht lachen, nicht reden, ich möchte mich heute in meinem Unglück suhlen und alleine Pizza essen und eine Flasche Wein trinken. Um dann betrunken die Treppen zu meinem Schlafzimmer hochzuwanken und mich erschöpft und alleine in mein Bett zu legen und irgendwann einzuschlafen. Idealerweise träume ich dann, dass alles gut ist, dass alles gut wird. Das muss ich heute erst einmal mit mir alleine ausmachen. Auch die gut gemeinten Ratschläge meiner Mutter und die hilflosen Aufmunterungsversuche meiner Schwester möchte ich heute nicht hören. Allein der Gedanke an Sätze wie «Es wird alles gut» verschlechtern meine eh schon miese Laune noch einmal erheblich. Denn in meiner kleinen Welt ist heute nicht wirklich alles gut, und das möchte ich zelebrieren.

Kapitel 3

Das Klingeln meines Festnetztelefons dringt langsam aber unaufhörlich in mein Bewusstsein. Mein Versuch, dieses lästige, aufdringliche Geräusch auszublenden, scheitert kläglich. Langsam öffne ich die Augen, hebe vorsichtig den Kopf und schiele zum Wecker. 9.30 Uhr, Shit, ich habe schon wieder verschlafen, und dieses Mal aber richtig. Als ich hektisch aus dem Bett springen will, macht sich ein schwaches Klopfen im hinteren Teil meines Kopfes bemerkbar. Gleichzeitig holt mich der gestrige Tag wieder ein. Das Positive daran: Heute ist Samstag, also nicht ins Büro. Das Negative daran: Ich werde bald überhaupt nicht mehr ins Büro gehen, nicht mehr dürfen. Niedergeschlagen lasse ich mich zurück aufs Kissen sinken und ziehe mir die Decke über den Kopf. So ein Mist, warum ausgerechnet ich? Ja klar, Sozialplan und so, aber das ist doch ungerecht. Für mich persönlich jedenfalls. Ich bin eine gute Texterin, mein Job macht mir Spaß, ich kenne die Leute seit Jahren und sie sind mir alle mehr oder weniger ans Herz gewachsen. Das Telefon ist endlich still, welch Erleichterung, ich fühle mich gerade auch noch nicht in der Lage, aufzustehen und nachzusehen, wer mich da geweckt hat. Genauer gesagt ist mir das sowas von egal, so wichtig kann es ja wohl nicht sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass mein Chef anruft und sagt, es war alles ein großer Irrtum, denn das wäre der einzige Anruf, der mir heute nicht egal wäre. Und allen anderen kann ich ja sagen, dass ich einkaufen war, in der Stadt oder so. Doch so einfach soll es heute wohl nicht sein, erneutes schrillen des Telefons unterbricht jäh meine Gedanken. Herrje, war dieser Klingelton schon immer so unangenehm penetrant? Ok, ist ja gut. Schicksalsergeben quäle ich mich aus dem Bett, streife mir im Laufen das nächst liegende Shirt über und schleiche die Holzwendeltreppe nach unten. Was wäre ich heute froh über ein richtiges Geländer, an dem ich mich abstützen könnte. Die dicken Seile schwingen hin und her und sind nicht gerade förderlich für meinen ohnehin labilen Kreislauf. Auf dem Weg in die Küche schnappe ich mir das blöde Ding, spreche ein genervtes «Ja» in den Hörer und steuere zielstrebig die Kaffeemaschine an. Blöderweise ist der Timer am Wochenende nicht aktiviert, weil ich immer zu unterschiedlichen Zeiten aufstehe. Während ich also den Telefonhöher zwischen Schulter und Ohr geklemmt habe und umständlich die Kaffeemaschine auf ihren Job vorbereite, vernehme ich die Stimme meiner Mutter.

«Hallo meine Kleine, wie geht’s dir? Wo bist du denn? Ich habe mir schon Sorgen gemacht.»

Das Einzige, was ich mit meinem vernebelten Hirn an Gedanken hinbekomme, ist 1. Was ist das für eine blöde Frage, wo soll ich denn sein? Ich bin doch jetzt am Telefon, oder nicht? Und 2. Sie weiß es, na toll! Da hatte sie jetzt mindestens schon zwei Stunden Zeit, sich eine Rede zu überlegen, wie sie mich aufmuntern kann. Heute scheint mein Glückstag zu werden. Ich füge mich meinem Schicksal, immerhin mit dem ersten Kaffee des Tages, an dem ich mir prompt die Zunge verbrenne.

«Hallo Mama, mir geht’s gut, ich habe nur lange geschlafen, weil es gestern spät geworden ist. Da kam so eine Schnulze im Fernsehen, genau das richtige, um mich abzulenken.»

Meine Mutter wettert los und ich verstehe Wortfetzen wie «ungerecht», «immer das Gleiche», «ausnutzen» und dann «es wird sich was Neues ergeben. Du wirst sehen, du bist doch noch jung und in deinem Job bist du auch richtig gut. Steck den Kopf nicht in den Sand und komm doch mal vorbei, dann reden wir und überlegen gemeinsam, wie es weitergeht.»

«Ja klar», höre ich mich selbst in den Hörer nuscheln, «ich muss jetzt erst einmal unter die Dusche, bis später.» Und schon lege ich den Hörer auf. Erschöpft und niedergeschlagen schleiche ich mit meinem Kaffee in der Hand zur Couch, setze mich hin und lege die Füße auf den Tisch. Ich habe nicht wirklich vor, meine Mutter heute zu besuchen.

Ich fühle, ja was fühle ich eigentlich? Langsam kriecht alles wieder in mein Bewusstsein wie eine listige Schlange. War das erst gestern? Kommt mir schon viel länger vor. Ich würde bald arbeitslos sein. Gekündigt aufgrund von Sparmaßnahmen. Wie und wo sollte ich bitte in vier Wochen einen neuen Job herbekommen? Doch mich überkommt nicht etwa Panik oder Existenzängste oder Angst vor der Zukunft. So etwas fühle ich heute komischerweise nicht. Klar, mich beschleicht ein ungutes Gefühl und ich kann nicht sagen, dass es mir gut geht, ein bisschen kratzt das Ganze schon an meinem Ego. Bisher war ich immer ganz froh, die normale Kündigungsfrist in meinem Vertrag zu haben, und nicht etwa drei Monate wie viele meiner Kollegen. Jetzt weiß ich aber gerade nicht, wie ich die verbleibenden vier Wochen überstehen soll! Ironie des Schicksals. Ich kann mir nicht vorstellen, so zu tun, als wäre alles normal. Mir fallen die Optionen ein, die meine Kollegin erwähnt hat. Ich kann ja entweder meinen Resturlaub nehmen, was die vier verbleibenden Wochen erheblich verkürzt. Oder aber ich lasse ihn mir ausbezahlen. Je länger ich darüber nachdenke, desto stärker tendiert mein Bauchgefühl zur zweiten Option. Geld ist immer gut und die vier Wochen schaffe ich es auch noch irgendwie, den Kopf nicht in den Sand zu stecken. Ich überlege hin und her, hoch und runter, und ohne äußeren Einfluss, den ich seit gestern konsequent vermeide, reift in mir ein Gedanke. Was, wenn ich die unfreiwillige Auszeit nutze und einfach das tue, wovon ich schon so lange träume? Ich muss nur meine Sachen packen und dann geht es los. Ins Ausland. Als Aussteiger quasi, ein Jahr lang. Wohin ich am liebsten wollte, war für mich keine lange Überlegung. Spanien. Ich kenne dieses Land von unzähligen Urlauben mit der Familie, und da wir immer im Sommer dort waren, habe ich vermutlich nur schöne Erinnerungen daran. Stundenlang haben wir die kunstvollsten Sandburgen gebaut, mit Muscheln verziert und was wir sonst noch so im Sand gefunden hatten. Der Spaß im Wasser, Wellenreiten auf der Luftmatratze, schnorcheln nach den schönsten Muscheln. Die Palmen sind mir noch besonders in Erinnerung, kleine, unscheinbare mit hellgrünen Wedeln, große, majestätisch in den blauen Himmel ragende Palmen mit dunkelgrünen Palmwedeln und einem verdorrten Stamm, der aussieht, als wäre er kaputt, aber lediglich eine natürliche Laune der Natur darstellt. Ja, das sollte es sein, die Sonne scheint bei Tag und Nacht ... Leise vor mich hin summend schenke ich mir noch einen Kaffee ein, bevor ich meiner Freundin die längst überfällige SMS schreibe.

«Hey Süße, ruf mich doch mal bitte an, wenn du Zeit hast. Gibt Neues! Drück dich, Emmi.»

Es dauert zwei weitere Kaffee Latte, bis endlich mein Telefon klingelt. Ich werde von einer Vorfreude erfasst, denn die Kündigung ist momentan weit im Hintergrund. Ich kann es kaum erwarten, ihr von meinen Plänen zu erzählen. Was gäbe ich jetzt für die gute alte Telefonschnur, die den Hörer mit dem Apparat verbindet! Zur Beruhigung könnte ich mir diese nämlich um meine Finger wickeln.

«Hey Sweety, was los? Ist es wegen heut Abend? Du, ich habe heute Morgen beim Einkaufen zufällig Liv getroffen und sie möchte sich uns anschließen und heut Abend mit auf Kneipentour gehen. Ich hoffe, du hast nichts dagegen.»

Oh, das habe ich in all der Aufregung total vergessen, wir sind ja für den Abend verabredet. Es passt mir ganz gut, dass Liv mitgehen will, dann kann ich einen weiteren Abend alleine zu Hause verbringen. Mir ist immer noch nicht nach Gesellschaft und schwächt etwas mein schlechtes Gewissen ab, dass ich mal wieder absage.

Dann wieder Lizzie: »Oder ist etwas anderes? Süße, du sagst ja gar nichts, was ist los? Ist etwas passiert?» Ich muss wirklich vor mich hin schmunzeln, denn das ist so typisch für Lizzie. Sie quatscht jeden gegen die Wand, ohne Punkt und Komma und ohne das Gespür für die Situation und Stimmung der Menschen. Und dann ist sie endlich ruhig und ich kann ihr erzählen, was gestern passiert ist und von meinen Plänen mit Spanien. Dann passierte es. Der dicke Klos im Hals platzt, ich heule los wie ein Schlosshund. Ich kann mich nicht mehr verständlich artikulieren und höre nur noch, wie Lizzie sagt, ich solle mich doch bitte beruhigen, sie wäre gleich da.

Und eine halbe Stunde später ist sie dann da. Allein Ihr Anblick veranlasst mich erneut zu einem oscarreifen Tränenausbruch und wir stehen geschlagene fünf Minuten da und umarmen uns, oder vielmehr klammere ich mich an sie wie eine Ertrinkende. Wie ich diese Frau liebe, als Mensch, als Freundin, ihre bloße Anwesenheit reicht aus, damit ich mich weniger schlecht fühle. Plötzlich kommt mir meine Idee mit der Auslandsreise so absurd vor. Was soll ich ohne Lizzie in der Ferne tun? Ich würde sie lange nicht sehen, könnte nicht mal so eben eine SMS schreiben, wie wir es täglich mehrfach tun. Wir könnten nicht abends miteinander quatschen, auf meinem Balkon bei einer Flasche Rotwein über Gott und die Welt philosophieren. Nein, was immer ich mir durch diese Reise erhofft habe, der Preis dafür war zu hoch. Das, was ich zurücklassen würde, zu kostbar. Wie erwartet beschimpft Lizzie meine Situation erst mal ausgiebig, danach sprudelt sie jedoch Alternativen aus und am Ende kommt sie zu dem Schluss, den ich soeben verworfen habe.

«Das ist deine Chance, du musst nach Spanien. Natürlich können wir uns dann erst mal nicht mehr jeden Tag sehen, aber ich kann dich doch im Sommer besuchen kommen und im Herbst. Weihnachten kommst du dann her. Ostern besuche ich dich wieder und schon ist das Jahr vorbei. Das sollte dann auch genügen, oder?»

Sie findet ihre Idee scheinbar genial, denn sie setzt ein zufriedenes Lächeln auf. Ich meine, wie sie das so an den jährlichen Ereignissen festmacht, hört es sich irgendwie an, als wäre das Jahr gar nichts und ich im Nu wieder zu Hause. Aber ich merke, wie Ärger in mir hochsteigt. Ich starre sie ungläubig an, will sie anschreien, ob sie mich loswerden will. Gut, das letzte halbe Jahr war ich wohl wirklich keine gute Gesellschaft, aber jetzt so? Das Einzige, was erneut aus mir rauskommt, ist ein Tränenausbruch.

Mit erstickter Stimme und vorwurfsvollem Blick sehe ich sie fragend an. «Willst du mich loswerden?»

Ihr Blick genügt mir schon. «Du dummes Huhn, davon kann jetzt wirklich keine Rede sein, aber ich denke einfach, es wird dir guttun, den ganzen Mist hinter dir zu lassen, um dann neu zu starten.»

Der grenzenlose Optimismus meiner Freundin lässt die Tränen schließlich versiegen und ich sage das Einzige, was ich in dem Moment zu denken in der Lage bin. «Du hast recht, ich lebe jetzt meinen Traum, was habe ich schon zu verlieren?»

Allerdings klingt meine Stimme überzeugter, als ich es wirklich bin.

«Ich habe etwas Geld auf der Seite, und es ist wirklich ein Traum von mir.» Zaghaft frage ich sie: «Hilfst du mir bei den Vorbereitungen?»

Sie lacht mich mit ihrem offenen Lachen an und ihre Stimme klingt euphorisch. «Aber klar, wir sorgen dafür, dass du eine richtig tolle Zeit hast, the time of your life.» Ihre Stimme klingt plötzlich sehr ernst. «Und wehe, du hast danach noch Liebeskummer, dann kriegen wir richtig Ärger», dabei pikst sie mir mit ihrem Zeigefinger mehrmals in die Brust.

Ich verdreh die Augen und streck ihr die Zunge raus. «Hey, ich habe es ja kapiert, jetzt nimm mal bitte deinen Finger da weg, sonst tust du dir noch weh.» Ich bekomme ein schiefes Grinsen zustande. Sie lässt an ihrer Feststellung jedoch nicht den geringsten Zweifel aufkommen und hebt zur Bestätigung erneut ihren Zeigefinger. «Ich nehme an, du möchtest heute Abend nicht mit uns weg?»

Erleichtert schüttel ich den Kopf. Ich bin ihr so dankbar, dass sie mich nicht, wie in letzter Zeit so oft, bittet, doch mitzugehen und über meinen Schatten zu springen und diese ganzen Einwände. Nachdem sie mir das Versprechen abgenommen hat, dass ich mir einen schönen Film anschauen und nicht mehr weinen würde, geht sie dann auch.

Am Nachmittag fahre ich meinen Rechner hoch und gebe in der Suchmaschine «Nordspanien, ein schöner Ort, um günstig zu leben» ein. Ich erhalte einige Vorschläge, bleibe jedoch an einem gleich hängen. Ein kleines Dörfchen ca. 60 km hinter der spanischen Grenze namens Cadaqués. Auf dem Foto im Internet ragen hinter einer halbrunden Bucht weiße Häuser empor. Besonders beeindruckt mich jedoch die Geschichte dieses Ortes. Künstlern wie Salvator Dali diente diese malerische Kulisse immerhin als Inspirationsquelle für ihre Künste, gar nicht weit gab es sogar ein Theater-Museum Dali. Über eine recht schmale Straße in den Bergen erreichte man dieses Dörfchen und hatte einen tollen Blick, bei dem sich die komplette Größe ermessen ließ.

Ich träume mich in die kleine Bucht. Und schon geht’s mir etwas besser.

Kapitel 4

Der kommende Montag ist echt ätzend. Bis alle ihr Mitleid bekundet haben, blablabla, ich verstehe es ja irgendwie, aber ich will das nicht hören. Als ich allerdings erfahre, wie hoch meine Abfindung plus der Betrag für den restlichen Urlaub ist, kann es mir nicht schnell genug gehen. Mit dieser Einstellung vergehen die letzten Wochen dann wirklich wie im Flug und eh ich mich versehe, ist er da: der letzte Tag. Da ich seit Wochen fast jeden Abend zu Hause recherchiert und gelesen, mich informiert und auch einige Filme über Spanien angeschaut habe, bin ich mental schon so weit vom Büroalltag entfernt und freue mich sogar auf meine neue Freiheit. Irgendwie geht der Tag vorbei. Ich packe die letzten persönlichen Sachen in meine Tasche, verabschiede mich und gehe, doch mit einem dicken Kloß im Hals, aus dem Gebäude. Ich winke dem Pförtner zum Abschied zu und murmle ein leises «Tschüss.»

Der Weg zu meinem Auto erscheint mir heute extrem lange. Ich weiß, wenn ich jetzt noch jemanden treffe, kann ich die Tränen nicht mehr aufhalten. Erleichtert lasse ich mich in den Sitz sinken und atme erst mal tief durch. Und nun? Ich habe keine Lust und keine Kraft, mich heute oder das bevorstehende Wochenende mit meiner Zukunftsplanung zu beschäftigen. Allein sein? Ja, aber nicht jetzt. Was ich jetzt brauche, ist eine spontane Shoppingtour, das lenkt mich etwas ab. Und auch, wenn ich nicht fündig werde, einfach nur zu schauen, was es Neues gibt, mich inspirieren zu lassen und zu träumen, darauf habe ich jetzt Lust. Und tatsächlich, nachdem ich anfangs ziellos durch die Straßen laufe, entdecke ich eine kleine Boutique, in deren Schaufenster Vintage-Klamotten ausliegen, die mich irgendwie magisch anziehen. Und warum habe ich diese Boutique bisher nie gesehen? Vielleicht ist sie neu, denke ich mir und betrete den Laden, dieses typische Klingeln des Glöckchens über der Tür kündigt mein Eintreten an. Ich kann nicht sagen, wie viel Zeit ich in diesem Laden verbringe, auf der Heimfahrt steht auf dem Rücksitz meines Wagens jedoch eine Einkaufstasche mit ansehnlichem Inhalt. Als ich den A-Linien-förmigen, bodenlangen weißen Rock mit großem Blüten-Print in einem leuchtenden Blau entdeckt hatte, schlug mein Herz einen Takt höher, er lässt mich von Meer und Strand träumen. Das schlichte weiße Oberteil mit einem lockeren Schnitt an den Schultern und schmalerer Silhouette in der Hüfte verleiht dieser legeren Kombination einen Hauch von Eleganz und schreit geradezu nach Sand und Palmen, finde ich jedenfalls. Meine innere Unruhe vorerst gestillt, beschließe ich, das vor mir liegende Wochenende dafür zu nutzen, mal wieder so richtig auszumisten.

Sich von Altem zu befreien, das reinigt doch auch die Seele, habe ich zumindest mal in einer Zeitschrift gelesen. Zu meinem Kleiderschrank führt eine Holzwendeltreppe direkt unters Dach, dahinter ist ein einziger großer Raum mit Fenstern an der Giebelseite meiner Maisonette-Wohnung. Mein Kleiderschrank ist wirklich groß und zum Bersten vollgestopft mit Kleidung, Bettwäsche, Handtüchern, selbst meine Handtaschen finden darin ihren Platz. Zu beiden Seiten des Treppenaustritts sind Regale in die Dachschräge eingebaut, die Höhe ist zwar nicht berauschend, jedoch die Tiefe dieser Regale. Das wäre im Übrigen ein geniales Versteck, sollte ich mich mal verstecken müssen. Ich glaube, ich dreh langsam durch.