Pink Christmas 6 - Christia - E-Book

Pink Christmas 6 E-Book

Christia

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Beschreibung

Pink Christmas erscheint nun schon im 6. Jahr! Den Erfolg der letzten Jahre setzen wir fort, und auch in diesem Jahr haben wieder Autoren des Himmelstürmer Verlags ihre ganz persönlichen Weihnachtsgeschichten geschrieben. Herausgekommen ist eine bunte Mischung, voller Romantik, Erotik, und auch mit durchaus kritischen Betrachtungen. Spannend, mitfühlend oder auch erotisch! Das ideale Weihnachtsgeschenk für Leser des Besonderen.

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Seitenzahl: 320

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Martin M. Falken

Marc Förster

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Berron Greenwood

Christian Kurz

Hagen Ulrich

Paul Senftenberg

Kai Steiner

Uwe Strauß

PINK CHRISTMAS 6

Etwas andere Weihnachtsgeschichten

Bisher erschienen im Himmelstürmer Verlag:

Pink Christmas

ISBN print 978-3-86361-076-0 Herbst 2011

Pink Christmas 2

ISBN print 978-3-86361-184-2 Herbst 2012

Pink Christmas 3

ISBN print 978-3-86361-343-3 Herbst 2013

Pink Christmas 4

ISBN print 978-3-86361-421-8 Herbst 2014

Pink Christmas 5

ISBN print 978-3-86361-497-3 Herbst 2015

Alle Bücher auch als E-book

Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,

Himmelstürmer is part of Production House GmbH

www.himmelstuermer.de

E-mail: [email protected]

Originalausgabe, Oktober 2016

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage.

Coverfoto: fotolia.de

Das Model auf dem Coverfoto steht in keinen Zusammenhang mit dem Inhalt des Buches und der Inhalt des Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Models aus.

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de

E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

ISBN print 978-3-86361-588-8

ISBN epub 978-3-86361-589-5

ISBN pdf: 978-3-86361-590-1

Uwe Strauß   Der Platz neben dir

Im Grunde genommen war bislang jedes Weihnachtsfest doch irgendwie enttäuschend gewesen, dachte André, und strich sich unbewusst durch die kurzen, lockigen Haare, während er gleichzeitig die vorwinterliche, braune und wenig abwechslungsreiche Landschaft an seinem verschmutzten Zugfenster vorbeiziehen sah. Gut, man musste vielleicht die ersten Feste bis zum Ende der Grundschulzeit ausklammern, auf die er sich wegen reichlicher Geschenke nicht vollkommen zu Unrecht gefreut hatte. Damals hatte seine Mutter ihm und seinen Geschwistern zwar auch die Auflagen gemacht, die sie jedes Jahr machte: das Zimmer aufzuräumen, in die Badewanne zu steigen und vor allem für den weiteren Tagesverlauf diese fürchterlich gestärkten, weißen Hemden zu tragen, die alle irgendwie am Hals kratzten, bevor es nachmittags in die Dorfkirche zum Gottesdienst ging. Doch dann gab es die Bescherung, und die Mühe wurde damit belohnt.

Eigenartig, dass er sich ausgerechnet an diese unangenehme Empfindung am Hals erinnerte, befand er, denn es gab kaum etwas, was er inzwischen so sehr mochte, wie eine Berührung dort. Er hatte es Sven, mit dem er immerhin ganze vier Monate zusammen gewesen war, erst erklären müssen, wie er dort angefasst werden wollte. Von allein wäre der nie darauf gekommen, dachte er, und ein wenig Wehmut an den wundervollen Sommer mit seinem ersten Freund klang in seinen Gedanken nach. Doch Sven hatte ihn nach einem Streit um eine Belanglosigkeit verlassen, glücklicherweise bevor sie zusammengezogen waren. Wenn er sich vorstellte, dass er – wie es ja immerhin geplant gewesen war – bereits bei ihm eingezogen gewesen wäre, hätte er seine persönlichen Dinge wahrscheinlich in einem oder zwei blauen Müllsäcken vor dessen Wohnungstür wiedergefunden. Es war also gut so.

Seither war André wieder solo, und das war zumindest nicht falsch. So konnte er sich auf sein Studium konzentrieren, und wenn er mal richtig Party machen wollte, stieg er einfach in den Zug nach Köln. Zurückgefahren war er in keiner der bislang fünf Nächte mehr. Es gab genügend junge Männer, die einen schlanken, dunkelblonden und beinahe von Natur aus haarlosen Studenten gerne für den Rest der Nacht zu sich einluden, selbst wenn vermutlich beiden Seiten im Vorfeld klar war, dass André sich noch vor einem gemeinsamen Frühstück unter irgendeinem Vorwand entschuldigen und in den Zug zurück nach Wuppertal steigen würde.

Obwohl er doch an die Statistikaufgaben auf seinem Schoß denken sollte, drifteten seine Gedanken erneut in die Vergangenheit. Die Kirche war an diesen Heiligabenden immer so voll gewesen, dass er einmal sogar auf den Treppenstufen hatte sitzen müssen. Da, so glaubte er sich zu erinnern, war er aber schon zwölf oder dreizehn gewesen und hatte das ganze Getue nur noch mitgemacht, weil Max, sein glücklicherweise nur zweieiiger Zwillingsbruder, ihm Prügel angedroht hatte, wenn er dessen Weihnachtsfest verdarb. Dass Max inzwischen in Aachen Maschinenbau studierte, hielt André eher für einen schlechten Scherz. Der würde das nie durchhalten. Max hatte nach seiner Einschätzung zwar genügend Hirn, war aber eher der impulsive und schnelllebige Typ. Das zeigte auch, dass es kein Mädchen lange mit ihm aushielt, erklärte er sich selbst den, wie er fand, schlüssigen Beweis für seine These.

Er zog einen Schokoriegel aus seinem Rucksack und biss hungrig hinein. Sofort meldete sich sein Zahn mit einem durchdringenden Stechen. Oh nein. Er hatte ihn vergessen, weil der ihn in den letzten Tagen zwar oft schmerzhaft geärgert hatte, aber das war immer mit anderthalb Tabletten Ibuprofen so weit weggegangen, dass der Zahn und damit auch André seine Ruhe zurückerhalten hatte. Er würde nachher, wenn er im Haus seiner Eltern angekommen sein würde, auch dort auf sein Hausmittelchen zurückgreifen. Doch bis dahin würde er nun leiden müssen.

Ein Arztbesuch kam für ihn erst nach den Feiertagen infrage, und er wollte es auch lieber in Wuppertal, wo er an der Universität eingeschrieben war, erledigt wissen. Wenn Komplikationen auftraten, sollte derselbe Arzt weiterhelfen, der auch exakt wusste, was zuvor gemacht worden war. Er war bei einer Ärztin gewesen, die ihre kleine Praxis quasi um die Ecke seiner Dreier-WG hatte. Doch seit der ersten Konsultation hatte er sie ein paarmal auf der Straße getroffen, und das hatte ihn eher unangenehm berührt, und so beabsichtigte er zu wechseln.

Die Bachelorprüfungen standen an, und André lernte lieber dort, wo er alle Bücher am Platz hatte. Deshalb war er erst am heutigen Heiligabend in Barmen in den Regionalexpress gestiegen, hatte in Köln-Deutz den Zug gewechselt und fuhr nun mit der S13 weiter Richtung Westerwald. Zwanzig Minuten noch, dann würde er seinen Heimatort erreichen.

Er sicherte die Datei, an der er arbeitete, auf dem Laptop, den er auf dem Schoß liegen hatte. Dennoch wurde ihm mehr und mehr bewusst, dass er durch die immer wieder durchdringenden und dann alles beherrschenden Schmerzen den Kopf nicht mehr für seine Aufgaben frei haben würde. Fest presste er die Zähne aufeinander, weil die Stiche dann etwas abnahmen. Sobald er sie allerdings löste, fand er heraus, dass die Schmerzreaktion umso schlimmer war. Er klappte den Rechner zu und packte ihn weg. Ausgerechnet heute musste das mit dem Zahn passieren. So viel Pech, fuhr es ihm durch den Kopf, konnte man an einem solchen Tag doch gar nicht verdienen.

Eine Stunde und 800 Milligramm seines bevorzugten Schmerzmittels später musste sich André eingestehen, dass die Tabletten heute aus irgendeinem verfluchten Grund nicht wirkten. Er lag auf dem Bett in seinem alten und noch immer mit Postern zugepflasterten Jugendzimmer und hielt sich den Kiefer. Inzwischen zog der Schmerz bis an sein Auge hoch, und das beunruhigte ihn. Seine ganze Familie, die schon vor Ort gewesen war, als er ankam, hatte ihm sofort angesehen, dass etwas nicht stimmte. Bemitleidet werden wollte André allerdings ebenso wenig wie den anderen die Feierlaune zu verderben. Er brauchte eine Lösung, und falscher Stolz half nicht wirklich. Er musste sich behandeln lassen.

Doch wer würde an einem solchen Tag Notdienst haben? Würde überhaupt irgendjemand über die Feiertage einen Notdienst besetzen, oder würde er möglicherweise zwanzig, dreißig Kilometer bis nach Eitorf oder gar nach Siegen fahren müssen, um Hilfe zu erhalten? An einem solchen Tag mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren konnte er gleich vergessen. Hier in der tiefsten Provinz, wo Busse oder Züge nur alle Jubeljahre kamen, war man auf das Auto angewiesen.

Würde sein Vater ihn bringen? Wahrscheinlich würde er ihm nur die Autoschlüssel in die Hand drücken. Doch das reichte im Fall der Fälle. Max wollte er nicht fragen, weil es Schwäche ausdrücken würde. Judith, ihre gemeinsame ältere Schwester, würde gewiss helfen, aber die hatte mit dem kleinem Oscar genug zu tun. Der musste schließlich noch alle Nase lang gestillt werden.

„Hauptsache, du hast dir von dem Spinner ein Kind andrehen lassen”, hatte er ohne großartig nachzudenken verlauten lassen, als sie am Telefon erzählt hatte, dass ihr Partner, dessen Namen André zwischenzeitlich sogar vergessen hatte, sie verlassen habe. Er hatte ihn gedanklich immer nur Kevin genannt, weil er in seinen Augen eine Hohlbirne war. Die Bösartigkeit in seinen Worten hatte ihn selbst verletzt, und er hatte sich später sogar schriftlich bei ihr entschuldigt, doch der Stachel saß tief, bei ihm vielleicht sogar tiefer als bei ihr. Er würde sie nur im Notfall fragen.

Er zog sein Smartphone heraus und gab ‚zahnärztlicher Notdienst’ und die Postleitzahl seiner Eltern ein. Sofort erschien eine Übersicht, nach der am Heiligabend ein Dr. S. Jungbluth im Nachbarort den Notdienst versah. Also gab es tatsächlich jemanden, der den armen Schweinen half. Das war gut. Er fragte sich kurz, ob es ein Arzt oder eine Ärztin sein würde, aber das war in diesem Moment doch wirklich egal.

Er wählte die Nummer an und wartete auf ein Freizeichen. Eine junge, weibliche Stimme meldete sich lachend, und André hörte zwischen den wenigen Silben des Namens noch mindestens zwei andere Stimmen im Hintergrund, eine weiblich, eine männlich.

„Entschuldigen Sie bitte, aber ist dort der zahnärztliche Notdienst? Ich habe die Nummer so im Internet gefunden.“

Die Stimme rief nach hinten aus: „Och nein.“ Dann ging es leise und mit traurigem Ton weiter: „Ja, das ist korrekt. Simon, für dich.“

André überlief ein Schauder. Er würde jemandem das Weihnachtsfest verderben. Das stand fest. Sie schien das Telefon zu übergeben, und nun meldete sich eine ebenfalls noch recht junge, aber nun männliche Stimme.

„Ich bin André Buschmann”, begann er. „Es tut mir leid, Sie am Heiligabend zu stören.“ Kurz erklärte er sein Schmerzproblem.

Der Mann am anderen Ende der Leitung atmete tief durch. „Nun, dafür versehen wir wohl den Notdienst. Haben Sie es weit?“

„Nein, gut fünf Minuten, wenn ich jemanden finde, der mich fährt”, antwortete er.

„Und wenn nicht?”, fragte der Arzt nach.

„Dann laufe ich. Aber auch dann kann ich in einer Viertelstunde an Ihrer Praxis sein.“

„Dann verbleiben wir so. Seien Sie in einer Viertelstunde dort.“ Er legte auf, und André schloss kurz die Augen. Endlich würde ihm geholfen werden.

Er wartete noch zwei Minuten im geliehenen Auto seiner Eltern auf dem Praxisparkplatz, bevor er ausstieg, um die Ecke ging, die drei Stufen zum Eingang hinauf nahm und läutete. Zu früh zu klingeln hätte er als unhöflich empfunden, und wenn er dem anderen schon den Heiligabend verdarb, musste er ihn nicht auch noch auf andere Art gegen sich aufbringen. Der Türdrücker ließ ihn herein.

Eine sehr junge Frau, die kaum älter sein konnte als er, empfing ihn in Jeans und unpassend rotem Pullover. „Herr Buschmann?“ Noch bevor er auch nur genickt hatte, bat sie ihn um seine Versichertenkarte und wies ihn in den einzig beleuchteten Behandlungsraum. André nahm Platz und versuchte sich zu entspannen. Jetzt gleich würde er diese fürchterlichen Schmerzen loswerden.

Nach zwei Minuten tauchte die junge Frau im Behandlungsraum auf, gab ihm die Karte zurück und legte ihm ein weißes Tuch um den Hals. Sie stellte sich ein wenig ungeschickt an, fand er. Doch bevor er weiter darüber nachdenken konnte, erschien ein mittelgroßer, dunkelhaariger Mann, den André mit Kennerblick irgendwo zwischen Mitte zwanzig und dreißig Jahren einordnete. Der Arzt war gutaussehend und trug einen weißen Kittel über einem schwarzen Rollkragenpullover, dazu eine gute Jeans und rote Turnschuhe. Ein Großteil seines Gesichts war durch einen Mundschutz verdeckt, doch grünbraune Augen sahen André freundlich an. Es schien ihm, als lächelte der Arzt bei seinem Anblick.

„Simon Jungbluth”, stellte er sich unerwartet mit Vornamen und Handschlag vor.

„Es tut mir leid, dass ich Sie und Ihre Frau vom Weihnachtsfest weggeholt habe.“ Es war André ein Bedürfnis, das auszudrücken.

„Sie ist meine Schwester”, wehrte er ab. „Sie wird zwar Erzieherin, doch brauche ich jemanden, der mir assistiert. Ich hoffe, das ist für dich in Ordnung.“

„Natürlich.“ Er duzte ihn vom ersten Moment an, fiel André auf.

„So, links oben? Dann lass mal sehen.“

Gehorsam öffnete André den Mund. Während der Zahnarzt seiner Schwester kurze und präzise Befehle gab, sprach er gleichzeitig mit seinem Patienten, erklärte sein Vorgehen und gab ihm eine Betäubungsspritze. Innerhalb weniger Sekunden nahm der Schmerz ab, und André geriet in den angenehm entspannenden Rausch, diese entsetzlichen Stiche nicht mehr zu empfinden. Dr. Jungbluth begann mit dem so nötigen Eingriff, und als André seinen Kopf nach einiger Zeit nicht mehr in der idealen Behandlungsposition halten konnte, griff der Arzt ihn sanft am Hals und drehte ihn stärker zu sich. Es war derart unerwartet, eine solch starke Empfindung zu erhalten, dass sich André an seiner Spucke verschluckte. Wow, dachte er hustend, dass das selbst bei Handschuhen passiert, hätte ich nicht erwartet. Die nächste halbe Stunde verging wie im Flug, und seine Erleichterung musste sich wohl auch auf seinem Gesicht widerspiegeln, denn der junge Arzt nickte beruhigt.

„Das war’s. Wenn du die Gans auf der anderen Seite kaust, solltest du ohne schlimmere Schmerzen durch die Feiertage kommen.“

„Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll”, sagte André leise.

„Ich habe gern geholfen”, sagte der junge Mann und nahm den Mundschutz ab. André erkannte ein glattrasiertes Gesicht. Das gab es seit einiger Zeit nicht mehr allzu häufig. Doch er mochte es mehr als die stacheligen und häufig fettigen Bärte. Zudem, fand er, strahlte es mehr Jugendlichkeit aus.

„Geh du ruhig schon hoch”, sagte der Arzt nun ruhig zu seiner Schwester. „Ich kümmere mich um das Saubermachen.“

Sie verabschiedete sich, und André wünschte ihr noch ein schönes Fest. Als sie die Praxis verlassen und André tief durchgeatmet hatte, überkam es ihn. Im Aufstehen fragte er: „Kann ich irgendwie helfen?“

Der Mediziner lächelte nun zum zweiten Mal. „Das ist sehr nett von dir. Doch im Grunde bin ich so gut wie fertig. Ich hoffe, es geht dir jetzt besser.“

„Viel besser”, antwortete André, und er schloss dankbar die Augen.

„Ruf mich an, wenn es noch einmal schlimmer werden sollte.“ Er kramte eine Visitenkarte aus einer Schublade hervor, schrieb aber von Hand eine Nummer dazu. „Sobald die Betäubung aufgehört hat zu wirken, werden die Schmerzen der Wunde durchkommen. Ich gebe dir gleich noch Schmerztabletten mit.“

„Danke”, sagte André und blickte auf das Kärtchen. Es war eine Handynummer, und er lächelte, doch aufgrund der Betäubung musste es für den jungen Arzt beinahe grotesk aussehen.

„Die bekommt nicht jeder”, überging dieser die unvollkommene Mimik mit einem Scherz.

„Warum geben Sie sie ausgerechnet mir?”, fragte André misstrauischer als er es ursprünglich hatte klingen lassen wollen.

„Grund eins ist”, begann der Arzt, „dass ich dir wirklich die Sicherheit geben möchte, dass du mich erreichen kannst, wenn es dir schlecht geht.“ Doch dann sprach er nicht weiter.

„Und Grund zwei?”, hakte André deshalb nach, jetzt jedoch freundlicher.

„Noch gibt es keinen zweiten Grund”, antwortete der Angesprochene, und André fiel sofort die besondere Betonung des Wortes ‚noch’ auf. Was hatte das zu bedeuten? Wie konnte man eine private Telefonnummer denn sonst noch interpretieren als – und er überlegte kurz – als durch den Wunsch, den anderen besser kennenlernen zu wollen? Diese Erkenntnis überfiel ihn wie es der Schmerz zuvor getan hatte. Er schluckte, als ihm bewusst wurde, dass dieser Dr. Jungbluth gerade symbolisch gesprochen einen derart großen Schritt auf ihn zu gemacht hatte, dass er ihm schon beinahe auf den Füßen stehen musste. Etwas verlegen verabschiedete er sich mit Handschlag, steckte die vier Tabletten ein, die er erhalten hatte und setzte sich ins Auto zurück. Dieses ungewöhnliche Gespräch würde ihn noch eine ganze Weile beschäftigen.

Über der Vorsuppe und einem Sauerbraten mit Rotkohl und Knödeln, die sich Judith für den Heiligabend gewünscht hatte, sowie dem einen oder anderen Witz, den sich sein Vater heute gestattete, vergaß André die Beeinträchtigung. Erst als die Betäubung nachließ, kam der Schmerz der frischen Wunde durch, und André nahm schnell eine der Tabletten mit dem Wein ein, den er ohnehin trank. Nach der Hauptspeise wechselten sie ins Wohnzimmer an einen ein bisschen dürftiger aussehenden Weihnachtsbaum, als er erwartet hatte. Hatten Christbäume früher nur deshalb pompöser gewirkt, weil sie als Kinder einfach kleiner gewesen waren, fragte er sich.

Die Bescherung und die Beschäftigung mit den ausgepackten Geschenken nahm weit über eine Stunde in Anspruch. André hatte Fachliteratur bekommen, über die er sich zwar nicht freute, die er sich aber sonst nicht leisten konnte, ohne mit seinen persönlichen Bedürfnissen zurück zu stehen, eine externe Festplatte, die er nötig brauchte, zudem zwei CDs und eine DVD. Er las gerade einen Songtext aus dem booklet durch, als sich sein Handy meldete. Der Ton einer eingehenden Nachricht riss André aus seinen Gedanken. Als er in seiner Hosentasche nach dem Ursprung auf seinem Mobiltelefon sah, zog er eher unabsichtlich die Visitenkarte mit heraus, die ihm der junge Zahnarzt mitgegeben hatte. Die Nachricht war jedoch von Jacqueline, einer Kommilitonin, mit der er eine Lerngruppe bildete, und sie lautete nur:

„Frohe Weihnachten.“

Kopfschüttelnd über so wenig Einfühlungsvermögen, schrieb er zurück: „Dir auch schöne Feiertage, liebe Jacky.“

Er war schon im Begriff, sein Handy zurück in die Hosentasche zu verfrachten, als er ohne genaue Absicht und beinahe ohne nachzudenken die Nummer auf der Karte in seine Kontaktdatei eingab. Lange überlegte er daraufhin aber, inwieweit er diesen offen ausgesprochenen zweiten Grund wirklich als Wunsch des Arztes zur Kontaktaufnahme interpretieren dürfe. Doch dann und sicherlich auch unter dem Einfluss inzwischen einiger Gläser Wein entschloss er sich. Hier hatte er nichts zu verlieren, eventuell aber einiges zu gewinnen. Beim weiteren Überlegen kam ihm die Idee, wie er einen Kontaktversuch starten konnte.

Er schrieb: „Lieber Herr Jungbluth, nachdem ich so ungeplant in Ihre Weihnachtsfeierlichkeiten geplatzt bin, wollte ich mich auch noch einmal schriftlich entschuldigen, dass ich Sie um Ihre Hilfe bitten musste. Ich hoffe, Sie können nun ungestört den Heiligabend begehen. Frohe Weihnachten wünscht André.“

Den Nachnamen ließ er absichtlich weg. Was er hier sagen wollte, war weniger formell, als es sich sonst lesen ließe, fand er. Auch deshalb hatte er den Titel des Arztes weggelassen und ‚lieber’ anstelle von ‚sehr geehrter’ geschrieben.

Es hatte ihn einige Überwindung gekostet, doch egal wie durchdringend er nun auf sein Display schielte, es erschien keine Information, dass der Angeschriebene die Nachricht auch nur las. Enttäuscht legte André sein Handy nach fünf Minuten zur Seite und beteiligte sich wieder mit größerem Einsatz an den Gesprächen innerhalb der Familie.

Zwanzig Minuten später erklang erneut der vertraute Ton einer eingehenden Nachricht. Sofort nahm André sein Mobiltelefon zur Hand. Ohne Anrede stand dort: „Simon, und ich würde mich freuen, wenn du mich nicht länger siezt. Ich bin nur sechs Jahre älter als du.“

Ja, ballte er innerlich die Fäuste. Er hat geantwortet. „Dann störe ich jetzt nicht?”, schrieb er, während ihm klar wurde, dass Simons Antwort auch beinhaltete, dass die Distanz, die zuvor durch die Anrede und das Arzt-Patientenverhältnis natürlich bestanden hatte, nun von seinem Gegenüber auf Null gesetzt worden war.

„Höchstens beim dritten Glas Merlot”, erschien sofort als Antwort.

„Wir hatten Weißwein”, schrieb er zurück, und ihm wurde klar, dass der junge Arzt seine Weihnachtsfeier zu Andrés Gunsten wenn nicht unterbrach, so doch zumindest gedanklich immer wieder kurz verlassen würde, wenn sie einander weiterhin schrieben.

„Dann trinke ich auf deine Gesundheit.“ Er antwortete mit dem Symbol zweier anstoßender Gläser.

„Geht es dir denn jetzt besser?”, fragte Simon.

„Ja. Danke nochmal.“

„Das freut mich.“

„Ich wünschte, ich hätte mich vorhin schon richtig bedankt.“ Erst als er den Sendebutton betätigt hatte, wurde ihm klar, dass er die nächste logische Frage quasi herausgefordert hatte. Sie ließ tatsächlich nur wenige Sekunden auf sich warten.

„Was verstehst du unter richtig?“

André schluckte kurz. Wenn er jetzt wirklich eintippte, was er in diesem Moment fühlte, kam auch er dem Arzt einen Riesenschritt entgegen. Doch irgendwie erschien es ihm auch richtig zu sein. „Mit einer Umarmung.“

Kaum war seine Bemerkung rausgegangen, ertönte bereits das Signal der eingehenden Reaktion. „Danke.“

Lächelnd schrieb er: „Noch habe ich dich nicht umarmt.“

„Und schon sind wir wieder bei dem Wörtchen ‚noch’.“

„DU hast es zuerst verwendet.“

„Ja”, und ein Smiley erschien. „Darf ich dich denn dazu einladen, dir diesen Wunsch nachträglich erfüllen zu können?“

André schluckte innerlich erneut. Wenn er jetzt bejahte, hieß das, dass er einem richtigen Date zustimmte; hier in der Provinz des tiefsten Westerwaldes. Ein heißer Schwall Blut schoss ihm in den Kopf, und er sah auf zu seiner Schwester. Hatte sie gesehen, wie rot er soeben geworden war? Bekam überhaupt jemand aus seiner Familie mit, dass er nicht nur mit irgendjemandem kurz mal chattete, sondern dass er flirtete, und dass es um etwas ganz anderes als um Weihnachtswünsche ging? Bewusst blickte er von Judith zu seinem Vater, von ihm zu Max, der sich gerade nachschenkte, von ihm zu seiner Mutter, die dem Monolog ihrer Tochter zu folgen versuchte, die ihrerseits mit großen Gesten einen Sachverhalt unterstrich. Er musste zu lang gezögert haben, denn nach zwei Minuten erschienen die Worte:

„Es tut mir leid, lieber André. Ich bin anscheinend zu weit gegangen.“

Und dann wusste er, was er tun wollte. Er schrieb: „Nein, nein; ich war nur überrascht von der Konsequenz, die nach deinen letzten Worten vor meinen Augen aufgetaucht ist. Ich wollte dich nicht hängen lassen. JA”, und er schrieb es absichtlich mit Großbuchstaben, „du darfst mich einladen. Ich würde mich sehr freuen.“

„Dann wird es ja vielleicht doch noch ein viel besseres Weihnachtsfest als sonst die ganzen Jahre.“

„Das habe ich auch gerade gedacht”, tippte er ein.

Nach einer kleinen Gedankenpause schrieb Simon: „Meine Schwester begleitet meine Mutter in die Mitternachtsmesse.“

Himmel, dachte André, jetzt wird es noch eindeutiger. Wieso musste ich Depp auch zu gleich vier Gläsern Wein ja sagen? „Ich hab schon zu viel getrunken”, schrieb er. „Ich darf definitiv nicht mehr fahren.“ Er setzte einen weinenden Emoji dahinter.

„Dann werde ich eben nur an dich denken. Morgen nach dem Frühstück?“

Ja, das war eine gute und machbare Idee. „Ich bin um halb zwölf bei dir, okay?“

„Texte mich an. Klingele bitte nicht!“

André wusste genau, warum. „Versprochen! Gute Nacht.“

„Danke, dir auch. Vielleicht begleite ich meine Mutter noch in die Kirche. Ich habe genug getrunken, um es auszuhalten.“

André lachte in sich hinein, doch er legte sein Handy zur Seite. Diese Kommunikation hatte weit mehr erbracht, als er sich zuvor erhofft gehabt hatte.

„War einer von euch schon mal in der Mitternachtsmesse?”, fragte er in die Runde.

„Was ist denn mit dir los?”, fragte Max misstrauisch. „Du und Kirche?“

„Meinst du die in Eitorf?”, kam die Gegenfrage seiner Mutter.

„Ist das die nächste?”, fragte er zurück, und sie nickte.

„Keine Sorge, Maxi”, entgegnete er nun seinem Bruder, „noch falle ich nicht von meinem Unglauben ab. Mich interessiert nur, wie sowas aufgezogen wird.“

„Ich wollte mir die Mitternachtsmesse immer mal ansehen”, gab seine Mutter zu Protokoll. „Sie soll sehr gut sein, nicht so kindorientiert und mit mehr Chorgesang.“

André nickte nur. Doch in Gedanken baute sich eine Idee auf, eine verrückte zwar, doch mit etwas Glück würde der Tag sogar noch besser enden. „Wenn du magst, würde ich dich begleiten. Ich darf nur nicht mehr fahren.“

Eine gute Stunde später stieg er vom Beifahrersitz aus und begleitete seine Mutter, die sich einen schweren Wintermantel übergeworfen hatte, in die evangelische Kirche der Kleinstadt. Es kam André überhaupt nicht in den Sinn, dass sein Plan allein schon dann scheitern musste, wenn sie sich in unterschiedlichen Kirchen befanden, Simon seine Mutter nun doch nicht begleitete oder er die Kirche auch nur vor Simon betrat. Kurz schweifte sein Blick forschend durch die Besuchermenge. Als er den jungen Arzt tatsächlich nach kurzer Suche auf der linken Seite in der vierten Reihe entdeckte, lief ihm ein wohliger Schauder über den Rücken. Vielleicht war heute ja doch sein Glückstag, und das Schicksal hatte es mit diesen Zahnschmerzen nur gut mit ihm gemeint. Simon saß links neben einer Frau, die dann wohl seine Mutter sein musste. Auf der rechten Seite hatte sie ihrerseits ihre Tochter und dann noch drei ältere Personen, die wohl kaum zu ihnen gehören konnten, sitzen.

André übernahm die Führung und ging gedanklich einfach links an den Sitzbänken vorbei. Er wollte von außen in die Reihe, in der noch vier Plätze frei waren, einbrechen. Dazu musste er zwar so unhöflich sein, seiner Mutter die Reihe vorzugeben und dann auch noch als erstes hineingehen, doch den Ausdruck auf Simons Gesicht war dies gewiss wert. Noch bevor er sich zur Seite wandte, zog er sein Handy hervor und sandte nur ein Wort an ihn: „Überraschung.“

Dann ging er langsam zur auserkorenen Reihe und durch die Bank auf Simon zu. Gleichzeitig bemühte er sich aber, sich so weit hinten zu halten, dass dessen Schwester ihn nicht würde sehen können, wenn sie zufällig oder auch absichtlich herübersah. Sie war aber ohnehin gerade damit beschäftigt, sich die Orgel anzuschauen, die in ihrem Rücken auf einer Empore stand. Er lächelte innerlich, als er dem schwarzhaarigen Mann in der Reihe immer näherkam, der soeben auf seinem Mobiltelefon die Nachricht erhielt und sein Handy fragend anstarrte.

„Ich hoffe, der Platz neben dir ist noch frei”, sagte André fast ein wenig zu leise. Simon blickte ihn an und erschrak zunächst, brach dann aber fast prustend in ein Lachen aus. Soeben noch konnte er sich beherrschen. Dann nickte er grinsend, und André setzte sich zu ihm, gab sich aber die größte Mühe, seine Mutter nicht spüren zu lassen, dass dies ein gewolltes und von ihm selbst initiiertes Treffen war. Er zog seine Winterjacke etwas umständlich aus und legte sie sich über die Beine. Es war zwar wie üblich ziemlich kühl in der Kirche, doch nahm er an, seine Gedanken würden ihn mehr als nur warmhalten. Seine schwarze Jacke reichte bis zu Simons Hose, und niemand würde nun mehr erkennen können, wenn er ihn sogar heimlich berührte.

Er wandte sich zu seiner Mutter um, deutete mit der linken Hand auf den Stuck an der Decke, sagte etwas Belangloses, wie hübsch er die Arbeiten fände, und griff gleichzeitig zögerlich und dennoch entschlossen unter seiner Jacke nach rechts. Dass er bislang alle Andeutungen richtig interpretiert hatte, zeigte ihm Simons erwartungsvoll geöffnete Hand, die sofort in seine griff. Noch im gleichen Moment entspannte er sich. Jetzt wusste er, dass er die bestmögliche Entscheidung getroffen hatte, und nun konnte der Pfarrer, der soeben die Kanzel betrat, sagen, was er wollte. Dieser Heiligabend war gerettet.

André registrierte, dass auch Simon bei den Liedern nicht mitsang, auch wenn er, wie alle anderen, das Gesangbuch aufgeschlagen hatte. Doch löste er vor allem den Griff nicht. Es schien ihm viel zu bedeuten, diesen Handkontakt aufrecht zu erhalten. Das war beruhigend. André fiel auf, dass auch Simon sich alle Mühe gab, seine Familie nicht merken zu lassen, dass er nun jemanden neben sich hatte, dem er anstelle des Gottesdienstes seine volle Aufmerksamkeit schenkte.

Als sie nach einer Andacht, zu der sie sich hatten erheben müssen, wieder auf die kalte Bank zurücksetzten, zog nun auch Simon seinen Mantel aus und legte ihn sich so über die Beine, wie André es zu Beginn getan hatte. Dann ergriff er von sich aus Andrés Hand erneut und legte sie sich auf den Oberschenkel. André hatte zuvor schon mehrere Minuten überlegt, wie weit er würde gehen dürfen, doch diesen Freibrief hatte er kaum zu erträumen gewagt. Sanft begann er, den Jeansstoff unter sich zu streicheln. Eine Gänsehaut legte sich kurzzeitig auf seine Arme und den Rücken, und es erregte ihn merklich. So wagte er sich deshalb gedanklich noch einen ganzen Schritt weiter vor.

Als seine Hand nun etwas fordernder wurde, um an die Innenseite von Simons Oberschenkel zu gelangen, spürte er auch dessen Hand an seiner Jeans. Er vergewisserte sich mit einem kurzen Blick nach links, dass seine Mutter nicht mitbekam, was nur einen halben Meter neben ihr geschah, und öffnete seine Beine ein wenig mehr. Simon reagierte wie erhofft und berührte nun auch die Innenseite seines Oberschenkels, wo er ähnlich empfindlich war wie am Hals.

André beschäftigte diese Berührung im Moment mehr als das, was seine eigenen Hände tun wollten. Die streichelten nun eher mechanisch weiter. Doch er erwartete gleichzeitig mit immer weiter steigender Sehnsucht, dass Simons Hand zum Kern seiner eigenen Erregung vordrang. Endlich fand sie sie, strich zunächst leicht darüber, bevor sie fester zugriff. André musste sich dessen, was er verbarg, gewiss nicht schämen, und so blickte er erwartungsvoll nach rechts. Ein Lächeln huschte über Simons Gesicht, und André widmete sich nun mit gleichem Engagement dessen ausgebeulter Hose.

Nach nur wenigen Minuten, die ihm jedoch eine anklagende Feuchtigkeit in der Unterhose hinterließen, erhoben sich die Gottesdienstbesucher unisono, und auch die beiden ließen voneinander ab. André sah kurz auf Simons Jeans und erblickte mit Genugtuung eine Beule, die vielleicht sogar noch ein wenig größer war als seine eigene. Der versuchte sie nur gerade vor seiner Mutter zu verbergen, indem er sich noch deutlicher zu André wandte, der auf die gleiche Idee gekommen war.

Die restliche sitzende Zeit des mitternächtlichen Gottesdienstes hielten sie die Hand des anderen. Sie waren sich nun einig, dass sie sich auch auf sexueller Ebene wollten, und da brauchten sie kein weiteres Entdeckungsrisiko mehr in der Öffentlichkeit und – nicht zu vernachlässigen – in unmittelbarer Nähe ihrer eigenen Mütter einzugehen. André verabschiedete sich während des Auszugslieds mit einem sehr kurzen angedeuteten Kuss in die Luft, und Simon nickte fast unmerklich zwinkernd, als André seine Mutter aus der Kirche geleitete.

Er hatte kaum im Auto Platz genommen, als er eine Nachricht erhielt. Er zog sein Mobiltelefon hervor, hielt es aber so, dass seine Mutter unmöglich erkennen konnte, wer was schrieb. Wie erwartet las er Simons Worte: „Überraschung mehr als gelungen, danke.“

Schnell tippte er: „Das freut mich.“

„Jetzt kann ich es noch schlechter abwarten bis du in 11 Stunden wieder bei mir sein wirst.“

Er lächelte, und wollte schon zu einer Antwort ansetzen, als seine Mutter, die gerade vor der Kirche drehte, fragte: „Wer schreibt dir denn um diese Uhrzeit noch?“

„Ein Studienkollege”, log er kalt. „Nachtmensch. Wollte nur schöne Weihnachten wünschen.“

„Dann darfst du mein persönliches Geschenk endlich ganz auspacken”, schrieb er gleichzeitig und lächelte innerlich.

„Scheiße”, las er nur wenige Sekunden später. „Wie soll ich bei dem Gedanken denn überhaupt einschlafen können?“

André versandte drei Smileys und dachte, dass es ihm selbst wahrscheinlich nicht anders gehen werde, und so schickte er noch „Freue dich einfach drauf. Dicker Kuss und gute Nacht“ hinterher.

Frisch geduscht, jedoch unter erneuter Schmerzmedikation machte sich André am nächsten Vormittag auf den Weg in den Nachbarort. Er hatte sich das Auto nicht noch einmal auserbeten, denn es waren sieben Grad Außentemperatur, und bei flottem Schritt wurde einem auch da warm. Da er unterwegs jedoch mit seiner Oma telefonierte, die in Brandenburg lebte und die sie in diesem Jahr nicht würden sehen können, wurde ihm doch kälter als er beabsichtigt hatte. Kurz bevor er die Praxis erreichte, textete er Simon an: „Bereit für”, dann gab er einen Kussmund ein und versah das Ganze mit Fragezeichen.

„Nicht nur dafür”, kam zurück. „Bin gleich bei dir.“

Nicht einmal zwei Minuten später ging die Tür auf, und Simon trat die Stufen herunter auf den Asphalt. Er lächelte breit und nickte André zu. Doch schon auf die Entfernung von vielleicht zehn Metern bedeutete Simon ihm, dass er ihm in den Hof folgen solle. Er ging voraus zu einem schwarzen Honda, der sportlich wirkte und stieg ein. André folgte ihm und setzte sich auf den Beifahrersitz.

„Lass uns erstmal ein paar Meter fahren.“

„Du hast noch deine Familie da, die uns sehen könnte?”, fragte André behutsam. Simon nickte nur und bog nach links ab. „Der Wagen ist toll”, versuchte sich André im Smalltalk.

„Danke. Ich habe ihn erst seit Sommer. Er braucht aber ein paar Minuten, bis er so warm ist, dass du nicht mehr frierst.“

„Ist nicht so schlimm”, wehrte André ab.

„Doch, denn schließlich möchte ich ja auch, dass du mich berührst.“

André grinste. Jetzt war es ausgesprochen. Zehn Minuten Austausch über das bisherige Fest später, fuhr Simon auf einen Waldparkplatz. „Ich lasse den Wagen laufen, wenn das für dich ökologisch vertretbar ist.“

„Machen wir ja nicht jedes Mal”, beschwichtigte André sein Gewissen.

Simon begann zu lachen. „Das impliziert, dass wir uns häufiger sehen werden. Dieser Gedanke würde mich sehr freuen.“ Umsorgend blickte er ihm in die Augen. „Frierst du noch?“

„Ein wenig”, antwortete André nun etwas zaghaft. Jetzt, da sie angehalten hatten und in dieser ungewöhnlichen Situation steckten, kam eine Scheu durch, die André sonst gar nicht von sich kannte. Lag das daran, dass er Simon mehr mochte als die Jungs, mit denen er in letzter Zeit sonst das Bett geteilt hatte?

„Meine Hände sind noch kalt.“

„Am besten hilft Körperwärme”, sagte Simon ernst und zog seinen Pullover hoch. Ein nur hauchzart schwarz behaarter, schlanker Bauch wurde sichtbar.

„Leg sie hierhin.“

André gehorchte und drehte sich zum Fahrersitz um, und mit der Berührung des warmen Bauchs zogen sich Simons Muskeln so ruckartig zusammen, als wären sie erschreckt worden. Klare Abgrenzungen eines Sixpacks wurden sichtbar. Sanft begann er den Bauch zu streicheln. Simon ergriff Andrés Hände mit seinen und wärmte sie nun auch von oben. Zudem, so fiel André auf, steuerte Simon gleichzeitig die Bewegungen ihrer Hände.

„Darf ich dich küssen”, fragte André, „oder ist …?“

„Ich wünsche es mir ebenso sehr wie du”, unterbrach ihn Simon, nahm seine rechte Hand weg, griff André sanft am Kinn und zog dessen Kopf zu sich.

André schloss die Augen und hielt für einen langen Moment die Luft an. Dieser nun gewollte Griff direkt an seinem Hals bedeutete ihm, dass er sich würde fallen lassen können. Genau dieses Gefühl war es, was er sich doch immer schon gewünscht hatte, und Simon gab es ihm aus einer natürlichen Selbstverständlichkeit heraus. André öffnete den Mund ein wenig, und Simons warmer, minziger Atem kam ihm ganz nahe. Dann spürte er weiche Lippen auf den seinen und erwiderte den Kuss.

Längst hatte er Simons Bauch losgelassen und nun seinerseits sanft in dessen dichtes Haar gegriffen. Doch die Augen öffnete André für ganze zehn Minuten nicht mehr, bis Simon den Kuss von sich aus unterbrach.

Lächelnd flüsterte er: „Das war das beste Weihnachtsgeschenk, das ich je bekommen habe.“

Simon zwinkerte ihm zu. „Ich habe noch ein paar Geschenke mehr für dich.“

„Und ich für dich”, entgegnete André und deutete mit der Hand auf seine Jeans.

„Was hast du eigentlich den ganzen Vormittag gemacht?”, wollte seine Mutter beim Mittagessen wissen.

„Was denkst du, was ich gemacht habe”, fragte er herausfordernd. Er war nach diesem ereignisreichen Treffen gut gelaunt, doch fühlte er sich nun unberechtigterweise angegriffen. Er wusste, dass er automatisch wieder in einen Familienmodus gelangt war, in dem er sich seit Jahren für allerlei Dinge rechtfertigen musste, die er tat.

„Es ist der Morgen des ersten Weihnachtsfeiertags. Ist doch klar, was ich da tue, oder? Ich habe einen fremden Mann gedatet, und wir haben eine ganze Stunde in seinem Auto rumgemacht.“

Er blickte in ihre erschrockenen Augen und schüttelte dann überlegen lächelnd den Kopf. „Ich war spa-zie-ren”, beschwichtigte er und betonte dabei jede einzelne Silbe. „Ich muss mir über ein paar Dinge an der Uni klarwerden, und frische Luft tut einfach gut. Du hast nicht wirklich geglaubt, dass ich mich mit jemandem treffe, oder?“

Er grinste in die Runde. Seit er sich im Sommer geoutet hatte, konnte er mit der Situation für sich selbst zwar besser klarkommen. Für seine Eltern würde es aber sicherlich noch etwas dauern, bis auch sie die Selbstverständlichkeit verstanden, mit der er seiner Neigung endlich begegnen konnte. Er schmunzelte. Keiner am Tisch schien zu verstehen, dass er mit der ersten Antwort nicht gelogen hatte. Nur Max sah ihn noch immer aus halb geschlossenen Augen beinahe ein wenig misstrauisch an. Doch vielleicht spürten Zwillingsbrüder mehr voneinander, selbst wenn nur einer das Hirn genetisch weitergegeben bekommen hatte, dachte André ein wenig bösartig.

Tatsächlich zog Max ihn nach dem Dessert beiseite und fragte ihn direkt: „Wie heißt er?“

„Simon”, antwortete André ohne zu zögern.

„Ich wusste es”, zischte Max leise und schüttelte den Kopf. „Du bist einfach so dreist, es jedem auf die Nase zu binden, weil du darauf baust, dass alle annehmen, dass du bei so etwas ohnehin niemals die Wahrheit ausplaudern würdest.“

„Bist du jetzt in einen Kessel voll Lebensweisheit gefallen?”, fragte André hintergründig lächelnd.

Max schnaubte. Dann sagte er leise: „Ich hoffe, er war es wert.“

André nickte. „Nicht nur ‚war’.“

Er zog die Brauen fragend hoch. „Dann seid ihr fest zusammen?“

„Nein”, antwortete André beherrscht, „wir kennen uns erst seit gestern, aber momentan wollen wir beide mehr.“

„Mit ‚mehr’ meinst du ein Bett anstelle eines Autos?“

„Nein, mit ‚mehr’ meine ich Nähe, ein viel besseres Kennenlernen, häufigere Treffen.“ Er stoppte die Aufzählung für einen Moment. Dann fügte er bedacht hinzu: „Und, ja, auch Sex, aber eigenartigerweise suche ich gerade viel eher jemanden zum Anlehnen. Muss an Weihnachten liegen.“

Max lächelte, und es wirkte für André irgendwie gezwungen. Er sagte auch nichts mehr und wandte sich dann ab, wie André auffiel ohne gute Wünsche. Doch das war vielleicht einfach auch noch zu viel verlangt.

Nach dem Kaffee erhielt André eine kurze Nachricht: „Können wir reden, oder störe ich, wenn ich dich anrufe?“

Er saß gerade im Schneidersitz auf dem Teppich und versuchte die Aufmerksamkeit seines kleinen Neffen auf einen knallbunten Greifball zu richten. Er ließ vom winzigen Oscar ab, der ihn auf dem Rücken liegend aus weit geöffneten Augen anstierte.

„Gib mir zwei Minuten, um mich zurückzuziehen”, textete er zurück. Gemächlich stand er auf, tätschelte dem winzigen Blondschopf noch einmal die so unglaublich weichen Haare und zog sich dann ohne Abmeldung in sein Zimmer zurück. Er registrierte, dass Max ihm nachblickte, und er nickte ihm leicht verlegen zu. Es war ein eigenartiges Gefühl, dass sein Bruder wusste, dass Andrés volle Aufmerksamkeit nun einem ihm fremden Mann gelten würde.

Sein Zimmer war bei Weitem nicht so stark beheizt wie das Wohnzimmer, und André spürte es sofort. Schnell nahm er sich eine Wolldecke aus dem Schrank, setzte sich auf sein Bett und hüllte sich ein. Schon klingelte sein Handy.

„Ich weiß, dass es sich verrückt anhört”, begann Simon ohne Anrede, „aber ich kann mich auf rein gar nichts mehr konzentrieren.“

Als André nichts entgegnete, fuhr Simons Stimme fort:

„Das macht mich wahnsinnig. Mein Junge”, und André schien es, als wählte er diese Ansprache unbewusst, „du hast insbesondere mit der verrückten Aktion gestern Nacht etwas in mir in Gang gesetzt, dass …“ Doch er stockte hier.

André dachte einen winzigen Moment über das ungewohnte, aber durchaus willkommene ‚mein Junge’ nach und übernahm dann. „… dass du nicht mehr stoppen kannst.“

„Dass ich auch irgendwie nicht mehr stoppen will”, fuhr Simon fort. „Verstehst du? Ich will aus dem Zug, in den ich mit dir eingestiegen bin, einfach nicht mehr aussteigen.“

André schluckte. „Nicht mehr heißt nie mehr?“

Es kam keine Antwort. Dann hörte er ein kurzes Schluchzen auf der Gegenseite. „Ja, nie mehr.“