Piratenkönigin wider Willen - Richard M. Reiter - E-Book

Piratenkönigin wider Willen E-Book

Richard M. Reiter

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Beschreibung

Carlotta, die von allen nur Charly genannt wird, freute sich schon auf ihren lang ersehnten Urlaub in Singapur. Ihr Plan war es, die Stadt und die fremde Kultur zu erkunden. Nur wird diese Reise anders kommen, als sie es sich in ihren kühnsten Träumen ausgemalt hatte. Charly landet stattdessen auf einem Piratenschiff als Sklave an den Rudern. Ab da beginnt für Charly ihr größtes Abenteuer - zwischen Magie, Kampf, Liebe und Verrat.

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Seitenzahl: 824

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Piratenkönigin wider Willen

Von Richard M. Reiter

1. Auflage

© Richard M. Reiter – alle Rechte vorbehalten

Wer würde meine Geschichte glauben, wenn man sie nicht selbst erlebt hat?

Ich würde mal behaupten, niemand. Nicht einmal ich würde solch einem Märchen Glauben schenken. Doch ich habe sie erlebt, und da mir die Zuhörer keinen Glauben schenken würden, schreibe ich sie auf. So kann der Leser selbst entscheiden, ob sie wahr ist, oder ob der Autor einfach zu viel Fantasie besaß.

Prolog

2017

»Endlich Urlaub«, kam es müde über ihre Lippen. Die letzten Monate hatten viel zu sehr an ihren Nerven und ihrer Kraft gezehrt.

»Ich liebe meinen Job, er ist abwechslungsreich und die Arbeitszeit variabel. Heutzutage gibt es wenige Firmen, in denen eine flexible Arbeitszeit noch möglich ist. Im Normalfall ist die Arbeit nicht anstrengend, aber einer der Großkunden wollte anscheinend, dass wir uns nicht zu sehr langweilen. Daher bescherte er uns einen großen Auftrag, den wir in einer bestimmten Zeit abarbeiten mussten. Schafften wir es nicht, müsste die Firma, für die ich arbeite, eine hohe Strafe zahlen. Doch welcher Chef zahlt schon gerne etwas, sie sehen lieber schwarze Zahlen. Zudem bekamen wir noch ein großes Problem wegen unserer Lieferanten. Die externen Lieferanten kamen mit der Lieferung des Materials, das wir so dringend benötigten, nicht nach. Leider waren die Produkte, die nach langer Verspätung endlich bei uns ankamen, oft mangelhaft gearbeitet. Wir mussten entweder Zeit für die Reparatur investieren oder gleich alles verschrotten. So dauerte es weitere Wochen, bis die nächste Ware eintraf. Es war zum Haare raufen. Daher standen wir monatelang unter Druck, um den Auftrag rechtzeitig zu schaffen. Nur mit Mehrarbeit und Überstunden konnten wir das Ganze auffangen, trotz der vielen Fehlteile. Ich weiß, es klingt komisch; kein Material bedeutet normalerweise weniger Arbeit. Nur, bei uns war es verrückterweise anders. Keine Ahnung, wie unsere Chefs es jeden Tag geschafft hatten, die Lücken zu schließen. Gemeinsam haben wir die Aufträge geschafft. Der Kunde war mit unserer Arbeit zufrieden. Und jetzt stand endlich mein lang ersehnter Urlaub bevor. Morgen geht es mit dem Flieger vier Wochen nach Singapur. Sommer, Sonne, ein gutes Buch, die Stadt ansehen und Land und Leute kennenlernen, einfach nichts tun. Was will man mehr?

Jetzt wird es langsam Zeit, mich vorzustellen. Ich heiße Carlotta Hope, aber alle sagen Charly zu mir. Ich bin einen Meter fünfundsiebzig groß, habe dunkelblaue Augen und dunkelblonde Haare. Meinen Namen habe ich von meiner spanischen Mutter bekommen. Aber die helle Haut und Haarfarbe von meinem Vater, der aus Amerika, genauer gesagt, aus Miami kommt. Beide hatte der Beruf nach Memmingen geführt, wo sie sesshaft geworden sind. Ein Jahr später vervollständigte ich ihr gemeinsames Glück. Auch ich arbeite in Memmingen, und zwar bei einem der größten Arbeitgeber der Stadt, bei ›Weiß-Blau‹. Wir produzieren Geräte für die Autoindustrie und die Raumfahrt. In den nächsten vier Wochen werden mich meine lieben Kollegen allerdings nicht mehr sehen. Der Koffer für den Flug ist längst gepackt, er steht abflugbereit im Flur meiner kleinen Wohnung.«

Ein letztes Mal überprüfte sie ihr Handgepäck mit Auslandskrankenschein, Reisepass und was man sonst noch für einen vierzehnstündigen Flug benötigte. Morgen, am 13. September 2017, geht es mit dem Zug zum Münchner Flughafen. Von dort ab in den Flieger nach Singapur. In die angeblich sauberste und sicherste Stadt der Welt. Charly war schon richtig aufgeregt, was sie dort so alles erwarten würde. Sie hatte schon Wochen vorher eine Liste geschrieben, was sie sich alles ansehen wollte. Die Unterwasser-Welt, Chinatown, Little India, ein malaysisches Städtchen und den Zoo. Was natürlich auf keinen Fall fehlen durfte war das Hotel Marina Bay, das aussieht, als habe es ein Schiff auf dem Dach. Natürlich durfte auch der Flughafen nicht fehlen, selbst der musste einen Ausflug wert sein. Das hatte ihr zu mindestens das Internet verraten.

Wenn ihr jemand vor dem Abflug erzählt hätte, dass sie ein ganz anderes Ziel vorfinden würde, hätte sie ihn für verrückt erklärt.

Gut gerüstet ging es am nächsten Tag mit der Bahn zum Münchner Flughafen. Dort gab sie sofort ihr Gepäck am Schalter auf. Anschließend nutzte sie die restliche Zeit, um sich vor dem langen Flug die Beine zu vertreten, in dem sie durch die Duty-Free-Shops schlenderte.

Endlich im Flieger, freute sie sich schon auf die Landung. Charly konnte es kaum erwarten, ihre Sightseeingtour zu starten. Allmählich füllte sich das Flugzeug mit den restlichen Passagieren. Sie hoffte inständig, dass der Platz neben ihr frei bleiben würde, dann könnte sie es sich während des Fluges gemütlich machen und die Beine ausstrecken. Ihre Hoffnung blieb unerfüllt. Zu ihrem Verdruss nahm ein korpulenter Herr mit Vollbart, der Mühe mit seiner Atmung hatte, neben Charly Platz.

Entweder bekommt er wegen seines dicken Bauches keine Luft, oder er hat Flugangst. Oh je, das kann ja heiter werden, schoss es Charly durch den Kopf.

Später, als endlich auch der letzte seinen Platz gefunden hatte, schlossen die freundlichen Mädels von der Flugbegleitung die Ablagefächer, während eine andere die Regeln für den Notfall erklärte. Doch da hörte Charly schon nicht mehr zu, es war ja nicht ihr erster Flug. Bereits beim Einsteigen hatte sie nach allen Notausgängen Ausschau gehalten. Das hatte sie sich so angewöhnt, schließlich war sie Sicherheitsbeauftragte in ihrer Firma. Egal, wo sie sich befand, sei es im Hotel, im Flugzeug, im Zug oder im Bus, hielt sie nach dem Notausstieg Ausschau. Um in Notfall den Weg ins Freie zu finden. Darum steckten bereits die Ohrstöpsel ihres MP3-Players in den Ohren, und sie lauschte ihrer Lieblingsmusikvon Orden Ogan, »We are Pirates«. So beiläufig wie möglich warf Charly einen Blick auf den Fluggast neben ihr. Den großen, kräftigen Mann mit Vollbart hätte sie anfangs fast für einen Teddybär halten können, wenn er nicht so schwer atmen würde. So knuddelig sah er aus, seit er ruhig neben ihr seine Zeitung durchblätterte.

Er war wohl etwas spät dran, um den Flieger noch rechtzeitig zu erreichen. Denn von einer Flugangst kann man bei ihm nicht mehr reden, so ruhig wie er nun seine Zeitung liest. Ab da beachtete sie ihn kaum noch und war ganz in ihrer Musik versunken.

Der Flieger ruckte, nach einer kurzen Beschleunigung hoben sie ab, und unter ihr wurde die Stadt kleiner und kleiner. Auf der Anzeige, die über ihren Sitzen heruntergeklappt war, konnte Charly ihre Flugroute verfolgen und sah, über welchem Land sie sich gerade befanden. Ihr Blick fiel auf die Uhrzeit; innerlich stöhnte sie auf: Vierzehn Stunden,noch so lange. Wecken Sie mich einfach, wenn wir da sind, wollte sie dem Mann neben ihr sagen. Sie behielt es jedoch für sich.

Allmählich fing ihr Magen an zu knurren: Hoffentlich gibt es bald etwas zu Essen und hoffentlich auch etwas Richtiges. Kein so labbriges Schinkensandwich, wie auf den Vier-Stunden-Flügen.

Ihr Wunsch wurde erfüllt. Es gab gedünstetes Gemüse, Fleisch mit einem Klecks Soße, die man in der Schale allerdings suchen musste. Dazu lag in einem Extrafach ein Löffel voll weicher Nudeln, über die sich ihre Oma bestimmt gefreut hätte. Man konnte sie ohne zu kauen prima hinunterschlucken. Das Ganze wurde mit dem Dessert abgerundet.Charly überlegte immer noch, was es darstellen sollte. Für einen Pudding ist es zu flüssig, oder ist es etwa die Vorspeise gewesen? Eine süße Suppe? Hätte ich sie zuerst essen sollen? Woher sollte ich wissen, wie die Esskulturen in Singapur sind. Darüber habe ich mir bis heute keine Gedanken gemacht. Aber die, ähm, Suppe ... Pudding war wirklich das Beste am ganzen Menü. Zum Glück habe ich immer etwas zum Knabbern dabei, denn die Stunden bis zur Landung können noch recht lang werden.

So war es auch, die Zeit kroch langsamer dahin als eine Krabbe im Rückwärtsgang. Zumindest kam es ihr so vor. Irgendwann fielen Charly die Augen zu, und sie schlief eingerollt auf dem engen Sitz ein. Geraume Zeit später schreckte sie aus einem traumlosen Schlaf auf, weil sie kaum mehr Luft bekam.

»Was zum Henker ...?« Mit einem Ruck wollte sie sich aufsetzten, doch etwas Schweres hinderte sie daran. Erst da bemerkte sie, dass ihr Sitznachbar sie als Kissen benutzte. Schwerfällig und mit einer großen Kraftanstrengung konnte sich Charlie unter ihm hervorwinden.

Als sie sich endlich etwas Luft verschafft hatte, rutschte er nach und lag ein weiteres Mal auf ihrem Oberkörper. So blieb ihr nichts anderes übrig, als ihn zu wecken, damit er sich wieder auf seinen Platz setzte.

Dazu sollte es jedoch nicht mehr kommen ...

Das Flugzeug sackte urplötzlich ab, fing sich aber wieder. Als nächstes erzitterte die Kabine, und die Passagiere schrien vor Schreck laut auf. Sofort blinkten die Lämpchen für die Sicherheitsgurte. Gleich darauf fielen die Sauerstoffmasken von der Decke herunter. Der kräftige Mann mit Bart bekam von alldem jedoch nichts mit, er schlief seelenruhig weiter. Charly versuchte vergebens, ihren Sitznachbarn zu wecken, damit er endlich aufwachte und sich aufsetzte. Eilig kam eine Stewardess vorbei, um zu überprüfen, ob alle Tische hochgeklappt, die Rückenlehnen aufrecht waren und alle Passagiere sich angeschnallt hatten. Als sie bei Charly ankam, bemerkte sie sofort deren Dilemma und half ihr, den Mann von ihr herunterzuziehen. Erst dadurch wachte er auf. Total verschlafen blickte er um sich, brummte kurz etwas Unverständliches, bevor er wieder einschlief.

»Sie müssen sich anschnallen, Sir«, forderte die junge Frau ihn auf. Plötzlich durchfuhr das Flugzeug ein starker Ruck, und die Stewardess, die dem Mann behilflich sein wollte, stürzte den Gang entlang nach hinten. Die panischen Schreie der Passagiere hallten durch den gesamten Innenraum. Charly schaffte es selbst nicht, sich anzuschnallen. Durch den plötzlichen Ruck rutschte der Mann wieder auf sie. Schwer begrub er Charly unter sich und klemmte sie zwischen sich und dem Sitz ein. In ihr stieg Todesangst auf.

»Ich will noch nicht sterben, ich habe doch noch so viel vor«, jammerte sie atemlos.

Diesen Satz wiederholte sie wie ein Mantra. Tränen rannen ihr über die Wangen, während sie immer noch versuchte, den Mann von sich herunterzubekommen. »Entweder ich ersticke oder ich werde zerquetscht. Ich weiß nicht, welcher Tod mir besser gefällt. Am liebsten möchte ich natürlich leben. Ich habe doch noch nie richtig geliebt. Das Flugzeug stürzt ab, und ich beschwere mich, dass mir in meinen dreißig Jahren nie Mister Right über den Weg gelaufen ist? Ja, ich beschwere mich. Einmal im Leben wollte ich meinem Traummann begegnen. Einen großen kräftigen Mann mit schulterlangen schwarzen Haaren. Ich weiß nicht warum, aber ich stehe unheimlich auf grüne Augen, die finde ich faszinierend. Mich würde auch nicht stören, wenn er Narben im Gesicht oder am Körper hätte. Denn jede Narbe erzählt eine Geschichte, und die würde ich alle so gerne hören. Schön wäre außerdem, wenn ihm meine Kilos nichts ausmachen würde. Ich bin zwar nicht dick, nur eben sehr weiblich.«

All das murmelte sie vor sich hin, während um sie herum das Chaos ausbrach; schreiende Passagiere, das Jaulen der Triebwerke und der übergewichtige Mann, der ihr dem Atem nahm.

Ein weiteres starkes Zittern durchdrang die Bordwände, das alle Lichter erlöschen ließ.

Charly vergrub ihr Gesicht an der Schulter des Mannes, unter dem sie noch immer feststeckte. Sie hatte es aufgegeben, ihn von sich herunterschaffen zu wollen. Ihre Finger krallten sich nun in sein Hemd, seine Körperwärme spendete ihr Trost. So musste sie wenigstens nicht allein sterben ...

Tränen bahnten sich einen Weg über ihr Gesicht. Schließlich hörte sie nur noch ein ohrenbetäubendes Krachen, danach wurde alles um sie herum schwarz.

1 Die Insel der verlorenen Seelen

Das Jahr 2117

Blinzelnd erwachte Charly unter einem Berg von Eisenteilen. Irritiert von dem, was passiert war, stöhnte sie leise. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren und wusste nicht, wie lange sie schon so dalag. Mit verschwommenem Blick versuchte sie, etwas vor sich zu erkennen. Es dauerte einige Sekunden, bis Charlie ihre Umgebung klar erkennen konnte und das ganze Ausmaß der Verwüstung wahrnahm. Sachte wandte sie ihren Kopf, so gut es ging, um sich zu orientieren.

Die kleine Waldlichtung war zu einem Ort des Grauens, des Todes und der Verzweiflung geworden. Überall um sie herum lagen Koffer, Flugzeugteile und Menschen. Es sah aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Das Flugzeug war in unzählige Teile zerbrochen, aus denen immer noch Rauch hervorquoll. Durchtrennte Kabel hingen lose und funkensprühend aus sämtlichen Öffnungen heraus. Stöhnen oder gar Schreie der anderen Passagiere vernahm Charly aber nicht. Das Einzige, was sie hören konnte, war das Feuer, das sich an einigen Stellen durch die Wrackteile fraß.

Unweit von ihr lag ihr Sitznachbar. Seine Glieder waren unnatürlich verrenkt. Allmählich machten sich bei Charly die Schmerzen bemerkbar. Leise stöhnend wollte sie sich aufrappeln, um nach dem Mann zu sehen. Sie konnte sich jedoch kaum bewegen, denn es lag immer noch etwas Unförmiges auf ihr. Mühsam überprüfte sie ihre Glieder, ob sie sich nicht doch etwas gebrochen hatte.

Gebrochen hatte sie sich nichts, denn sie konnte alle Glieder bewegen. Auch wenn sie höllisch schmerzten. Sie kam sich vor, als hätte man sie durch den Fleischwolf gedreht. Als sie versuchte, ihre Beine zu heben, geriet sie in Panik. Charly schaffte es weder ihre Hüfte noch ihre Beine zu heben. In ihr kam die Befürchtung hoch, querschnittsgelähmt zu sein.

Ängstlich hob sie den Kopf, um ihre Vermutung im Keim zu ersticken. Denn hier in der Wildnis wäre es ihr Tod, wenn dies tatsächlich der Fall sein sollte. Entsetzt sah sie, was auf ihrer Hüfte und den Beinen lag. Bei dem Anblick kam in Charlie das pure Grauen hoch. Quer über ihr lag eine Frau, zumindest das, was von ihr noch übrig war. Charlie konnte sie nur anhand ihrer Kleidung identifizieren. Die Dame hatte in derselben Reihe wie sie gesessen, auf der gegenüberliegenden Seite. Das Gesicht schmerzverzerrt versuchte sie, den toten Körper der Frau von ihr herunter zuschieben. Es dauerte eine geraume Zeit, bis sie es endlich geschafft hatte. Leicht schwankend versuchte sie aufzustehen. Die Erleichterung, dass sie auf ihren eigenen Beinen stehen konnte, verflog sofort wieder. Der nächste Anblick, der sich ihr bot, war nichts für einen schwachen Magen. An Ort und Stelle erbrach sie ihr letztes Essen. Nach diesem Dilemma sah sie sich ein weiteres Mal um. Am liebsten wollte sie von dem Unglücksort weg. Trotz Angst und Panik suchte Charly die Absturzstelle nach weiteren Überlebenden ab. Alles, was sie fand, waren Flugzeugtrümmer, verstreutes Gepäck der Fluggäste, sowie die Passagiere. Diese lagen in einem größeren Umkreis der Absturzstelle kreuz und quer auf dem Boden. Bei einigen sah sie schon von weitem, dass sie nicht mehr lebten. Trotz ausgiebiger Suche fand sie leider keine Überlebenden mehr. Nachdem sie sich einen groben Überblick über die Unglücksstelle gemacht hatte, zog sie ihr Handy hervor, um Hilfe herbeizurufen.

Zum Glück hatte ich mein Telefon in meine Hosentasche geschoben, und es hat den Absturz überstanden.

Zitternd wählte sie die App mit dem Notruf. Geduldig wartete sie, dass es endlich am anderen Ende Läuten würde. Die Zeit schien stillzustehen, bis ihr Blick auf die Empfangsbalken im Display fiel. Kein einziger Balken ließ sich darauf blicken. Darum kletterte Charly auf einen der größeren Trümmerreste, um vielleicht von dort oben mehr Glück zu haben und einen Notruf abzusetzen zu können. Ihr Display blieb auch dort weiterhin tot. Sie bekam einfach kein Empfang, noch nicht einmal das Zeichen für den Notruf tauchte auf.

»Was soll der Mist? Selbst in den abgelegensten Gegenden kann man mit dem Notruf Hilfe herbeiholen. Aber hier findet mein Handy nichts. So eine tote Gegend kann es doch nicht mehr geben. Oder bin ich etwa in einem Funkloch?«

Verärgert fluchte sie laut vor sich hin. Danach sah sie sich in der Umgebung genauer um. Sie entdeckte nur Bäume, Büsche, Berge, und ganz weit in der Ferne schimmerte etwas Blaues in der Sonne.

»Ist da vorne das Meer? Wo bin ich eigentlich hier gelandet? Wie heißt dieses Land?«

Mit noch mehr Fragen im Kopf suchte sie weiter nach einem Funken der Zivilisation.

»Nichts! Ich muss also in diese Richtung, denn wo Wasser ist, ist meistens auch Leben.«

Die Angst und das Adrenalin ließen sie einfach nur funktionieren. Tief in ihr steckte der Drang, so schnell wie möglich Hilfe herbeizuholen. Zusammenklappen konnte sie anschließend. Sobald sie jemanden gefunden hatte, der hier die Aufgabe übernahm, den Menschen zu helfen. Hastig sammelte sie einige der Lebensmittel, die aus der Bordküche hinausgeschleudert worden waren, ein. Dabei fand sie zu ihrer Freude ihren Koffer unter einem der Tragflügelteile. Ohne noch einmal zu der Unglücksstelle zurückzusehen, folgte sie stolpernd einem steinigen Pfad den Berg hinunter. Immer wieder blieb sie mit ihrem Trolley an tiefhängenden Ästen oder den hochstehenden Wurzeln hängen. Als ihr Koffer sich zum x-ten Mal in einem Busch verhakte, als wollte er einfach nicht mit ihr kommen, reichte es ihr. Ärgerlich öffnete sie ihn, kramte das Nötigste heraus, je eine Jeans, ein Shirt, Unterwäsche und etwas aus ihrem Waschbeutel. Bevor sie ihn wieder verschloss, griff sie nach ihrem schwarzen Filzhut, den sie sich kurzerhand aufsetzte. Warum Charly den eigentlich zu Hause mit eingepackt hatte, war ihr ein Rätsel. Was hatte sie sich dabei gedacht? Als Sonnenschutz? Wohl kaum. Aber darüber machte sie sich jetzt keine Gedanken, sie hatte jetzt andere Sorgen.

Ihre Kleidung stopfte sie in den Rucksack zu den Lebensmitteln. Anschließend suchte sie für ihren verschlossenen Koffer nach einem geeigneten Versteck, fand jedoch nur ein paar dichte Büsche. Schulterzuckend schob sie das klobige Teil darunter, und versuchte sich die Stelle genau einzuprägen, um ihn später zu holen. Aber erst musste sie Hilfe herbeischaffen für die Menschen aus dem abgestürzten Flugzeug. Die Maschine wurde bestimmt schon vermisst. Es musste doch auffallen, wenn ein Flugzeug auf einmal vom Radar verschwand. Doch bis Hilfe hier auftauchte, konnte sie ja schon einmal etwas Nützliches tun.

Mit leichtem Gepäck machte sie sich weiter an den Abstieg. So lief es sich auch viel angenehmer, und Charly kam schneller vorwärts. Dennoch dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis sie endlich aus dem Dschungel kam und auf ein spärlich besiedeltes Dorf traf. Die Häuser sahen genauso aus wie die in der letzten Reportage, die Charly vor ein paar Tagen im Fernsehen gesehen hatte. Diese waren in einem rustikalen Stil erbaut. Mit ihren Strohdächern glaubte man fast, man befände sich hier in einem Museum aus dem 14. Jahrhundert. Staunend trat Charly an den Waldrand, sie wollte in dem mittelalterlichen Dorf fragen, ob sie kurz telefonieren dürfte. Denn auch nach mehrmaligen Versuchen schien ihr Handy keinen Empfang zu haben.

»Es zeigt sich immer noch kein einziger Balken. Auf was für einer verlassenen Insel bin ich denn hier gestrandet? Oder hat das Handy einen Schlag bekommen, und funktioniert deshalb nicht mehr?«

Laute Rufe ließen Charly zurück in den Wald stolpern. Und wie sollte es auch anders sein? Sie fiel über eine hochstehende Wurzel und landete in einem dichten Busch. Sie wollte sich schon lautstark beschweren, als einige Männer auf Pferden an ihr vorbeipreschten. Sie saß geschützt zwischen den Ästen, verborgen vor den Blicken der Reiter.

»Menschen, na endlich. Das ist meine Chance, hier kommt die Kavallerie.«

Bevor sie jedoch laut auf sich aufmerksam machen konnte, blieben ihr die Worte im Hals stecken.

»Was zum Henker ist das?«

Durch das Blättergewirr musste sie zweimal hinsehen. Die Männer riefen laut etwas in einer fremden Sprache und stürmten regelrecht in das kleine Dorf. Die Bewohner kamen langsam auf die Reiter zu, blieben aber einige Schritte vor ihnen stehen.

»Was ist das? Ein mittelalterliches Theater oder ein Freilichtbühnenspiel?«

Gespannt beobachtete Charly, was dort nun vor sich ging. Unfähig wegzusehen, starrte sie zu den Männern auf den Pferden. Besonders einer stach ihr ins Auge, es war ihr Rädelsführer. Von ihrer Unterhaltung verstand sie kein Wort, dafür war Charly zu weit weg.

»So viel dazu, und ich weiß immer noch nicht, in welchem Land ich mich befinde.«

Auf einmal kam Regung in die Reiter, und der Rädelsführer zog ein Mädchen auf sein Pferd, wobei der Vater des Mädchens dagegen protestieren wollte. Der Anführer der Reiter hob jedoch sein Schwert, Säbel oder ... Charly konnte es nicht genau erkennen, und der Kerl stach auf den Mann ein. Das Mädchen auf dem Pferd kreischte laut auf und versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien. Dies ließ der Mann nicht zu, und gleichzeitig zog er seine Waffe zurück. Anschließend sackte der alte Mann in sich zusammen. Wie eine Stoffpuppe landete er auf dem Boden. Beinahe hätte Charly ebenfalls einen lauten Schrei von sich gegeben, konnte sich aber gerade noch rechtzeitig mit der Hand vorm Mund zurückhalten.

»Das kann doch nicht wahr sein, der wird den Mann doch nicht umgebracht haben?«

Der Schrecken nach so einer grausamen Tat saß schwer in ihren Gliedern, Charly vergaß sogar zu atmen. Charly hoffte so sehr, dass es nur ein Theaterschauplatz war, kein Kriegsgebiet. Erleichtert atmete sie aus und tief wieder ein. Dabei sah sie sich weiter um, entdeckte aber außer den zehn Reiter sowie den Dorfbewohnern keine weitere Menschenseele. Nirgends gab es Ränge, auf denen Zuschauer oder sonstige Personen saßen.

Wird hier ein Film gedreht? Gut, dass ich nicht in das Dorf gegangen bin, da hätte ich bestimmt die Filmeinstellung ruiniert. Eisern verharrte sie in ihrem Versteck, und betrachtete neugierig ihre Umgebung. Müssten da nicht irgendwelche Lampen, Kameras und eine Filmcrew stehen?, überlegte sie angestrengt. Doch nirgends war auch nur das kleinste Anzeichen davon zu sehen.

Laute Rufe lenkten ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Dorf, wo die Reiter wendeten, und im Galopp davonjagten. Gespannt wartete Charly, ob aus einer Ecke, wo sie niemanden sehen konnte, doch noch jemand brüllte: »Cut, und baut die neue Szene auf.« Und dass der blutende Mann, der auf dem Boden lag, aufstand. Doch nichts davon passierte. Stattdessen fielen einige Frauen weinend auf die Knie, während vier Männer mit einer Trage herbeieilten. Diese legten den Mann darauf und gingen wie in einer Trauerprozession mit ihm davon. Wie erstarrt saß Charly noch eine ganze Weile unter dem Busch und traute sich nicht heraus. Irgendwann schliefen ihre Beine ein, daher zwang sie sich unsicher aus ihrem Versteck. Das Kribbeln in den Beinen ließ nur langsam nach, erst dann wagte sich Charly in den Schatten der untergehenden Sonne in Richtung des Dorfes. Aus der Ferne konnte sie einen Scheiterhaufen in der Mitte des Dorfplatzes erkennen. Darauf lag der Mann, den sie mit der Trage weggebracht hatten.

»Wo bin ich hier nur gelandet? Ist ja schlimmer als bei den Barbaren im Mittelalter.«

Von ihrem neuen Standpunkt aus konnte Charly das Dorf und die Umgebung besser erkennen. An den Häusern gab es keine extra Lichter oder Kameras. Das sieht hier keineswegs nach einem Filmset aus? Nur, was ist das hier dann?

In diesem Moment zündete einer der Männer den Scheiterhaufen an. Das trockene Holz fing sofort Feuer. Die Flammen schossen in Rot und Gelb weit hoch in den frühen Abendhimmel. Die Frauen weinten, schluchzten und klagten um den Toten. Die Männer, die sich um den Scheiterhaufen aufgereiht hatten, neigten nur ihre Köpfe.

Der muss wohl etwas ganz Wichtiges gewesen sein. Wenn die so eine Zeremonie aufführen. Oder ist das hier so üblich? Fragen, über Fragen, nur wer kann die mir beantworten?

Etwas in Charly sagte ihr, dass sie sich besser von dem Ort fernhalten sollte. Eigentlich wollte sie hier nur um Hilfe bitten. Da fiel ihr ein: Warum wird nicht nach dem Flugzeug gesucht? Bis jetzt habe ich noch keinen Hubschrauber gesehen, der die Gegend danach absucht. Im Fernsehen schicken sie immer, sobald eins vom Radar verschwindet, sofort einen Suchtrupp los. Aber hier? Nichts, keine Hubschrauber, noch nicht mal ein Auto. Die im Tower müssen doch längst mitbekommen haben, dass einer ihrer Maschinen abhandengekommen ist.

Das Wehklagen und Gejammer der Frauen lenkte Charlys Aufmerksamkeit wieder auf das Geschehen vor ihr. Dieser Anblick verursachte ihr ein eigenartiges Gefühl im Magen, und ihre Beine wollten nur noch weglaufen. So wich sie unsicher Schritt für Schritt zurück. Dabei trat sie auf einen dürren Zweig, der in ihren Ohren viel zu laut knackte.

Aufgeschreckt von dem Geräusch, sahen die Bewohner wachsam auf. Ihre Blicke verhießen nichts Gutes. Einige griffen hastig nach den Mistgabeln und Sensen. Langsam kamen sie auf Charly zu. Die Angst kroch unaufhörlich in ihr hoch. Ihre innere Stimme schrie laut: »Renn, renn um dein Leben.« Das tat sie dann auch. Die Bewohner rannten ihr hinterher, und schrien ihr in einer ihr unbekannten Sprache etwas zu, was nicht freundlich klang. Wie heißt es so schön? Angst verleiht Flügel. Wie wahr, in meiner Schulzeit war es dasselbe. Dort wollten mich die älteren Jungs immer verprügeln. Meistens schaffte ich es, ihnen zu entkommen. Leider nur meistens, nicht immer. Dafür hoffe ich, dem wütenden Pulk hinter mir zu entkommen. Auch wenn ich nicht weiß, warum sie hinter mir her sind. Ich kenne sie ja noch nicht einmal.

Voller Panik rannte Charly um ihr Leben. Sie dankte Gott, dass sie flache und feste Schuhe angezogen hatte statt halsbrecherischer High Heels. Ihr Atem wurde mit jedem Schritt hektischer, schon nach wenigen Metern bekam sie Seitenstechen. Im Laufen war sie noch nie gut gewesen, daher vermied sie es, wo es nur ging. Das rächte sich nun, denn schon nach kurzer Zeit verfluchte sie ihre schlechte Kondition. Dennoch rannte sie weiter, bis die Stimmen im Hintergrund leiser wurden. Charly wagte es nicht, nach hinten zu sehen, das würde sie nur ausbremsen. Bei ihrem momentanen Glück würde sie bestimmt über eine der blöden hochstehenden Wurzeln stolpern. Erst überquerte sie eine Wiese, die von dem Wald eingesäumt war, aus dem sie vorhin gekommen war. Sie wollte jedoch nicht zu lange in ihrer Sicht laufen, daher sprang Charly über einen kleinen Bach, der aussah, als sei er versiegt, in den Wald hinein. Dort rannte sie weiter bergabwärts, und bald wusste sie nicht mehr, wo sie sich befand. Charly wollte nur noch weg von hier, und das so schnell wie möglich. Von dem anstrengenden Laufen ging ihr allmählich die Puste aus. Immer häufiger stolperte sie auf dem unebenen Boden mit den vielen hochstehenden Wurzeln. Fast wäre sie gestrauchelt, konnte sich aber gerade noch an einem Baum abfangen. Keuchend und unsicher riskierte sie nun doch einen Blick nach hinten. Hinter ihr war weit und breit keine wütende Menschenmeute mehr zu sehen. Erleichtert darüber, ihre Verfolger abgehängt zu haben, sah sie nicht, was vor ihr lag. Wie sollte es auch anders sein? Wegen des Blickes nach hinten übersah sie etwas vor ihr, und stolperte darüber. Zu ihrem momentanen Pech kam ein Abhang, den sie hinunterkullerte. Schwer atmend blieb Charly erst einmal eine Weile auf dem Rücken liegen. Nebenbei lauschte sie angestrengt in die Ferne, ob sich ihr jemand näherte. Da schien sie endlich mal etwas Glück zu haben. Denn dies war nicht der Fall.

Zum wiederholten Mal fragte sie sich, wo sie hier gelandet war. Sobald sich ihr Herzrasen und die Atmung wieder normalisiert hatten, setzte sie sich auf. Wachsam betrachtete Charly ihre neue Umgebung.

»Ich kann mir nicht helfen, aber hier sieht es aus wie im Mittelalter. Ist das Jahr 2017 hier noch nicht angekommen?«

Vor ihr lag ein verschlafenes Fischerdörfchen mit einem Hafen, in dem kleinere Fischerkutter vor Anker lagen. Etwas weiter draußen machte sie größere Schiffe aus, aber keine, die sie erwartet hätte. Denn diese Art von Schiffen kannte Charly nur aus dem Museum oder aus alten Filmen über Kolumbus, Marco Polo oder Piraten. Die Szenerie wirkte so unheimlich und surreal auf sie.

»Ich bin doch nicht im berühmten Bermudadreieck gelandet? Wo alles und jeder verschwindet?«

Aus der Ferne beobachtete sie Menschen, die in dem Fischerdorf arbeiteten und lebten. Endlich einen Funken der Zivilisation, aber keine Zeichen, die ihr sagten, immer noch im 20. Jahrhundert zu sein. Verstohlen sah sie ihre Kleidung an. Für sie war es nichts Ungewöhnliches, eine Bluejeans, bequeme Stiefeletten, Shirt und eine Fleecejacke zu tragen. Dennoch fiel sie in ihrem Aufzug hier auf wie ein bunter Hund auf einer Black-and-White-Party. Zudem war ihre Kleidung total verschmutzt von dem geronnenen Blut der Leiche, die auf ihr gelegen hatte.

»So kann ich nicht weiter hier herumlaufen. Ich brauche dringend etwas anderes. Doch das was ich in meinem Rucksack habe, hilft mir hier auch nicht weiter. Ich hab keine Lust, noch einmal so gejagt zu werden.«

Zum wiederholten Mal sah sie auf ihr Handydisplay. Trotz der baumfreien Landschaft bekam sie kein einziges Signal. Frustriert schaltete sie es aus, um den Akku zu schonen. Ihr Handy hatte zwar noch zwei Akku-Balken, aber wer wusste schon, wann sie hier im Nirgendwo die Gelegenheit bekommen würde, es wieder aufzuladen. Nachdem die Schmerzen von der Flucht und dem Sturz etwas nachgelassen hatten, stand sie auf, und suchte eine Möglichkeit, ihre Kleidung in etwas Passenderes umzuändern. Denn so konnte sie hier nicht länger herumspazieren. Durch das Fischerdorf wollte sie nicht gehen. Ihr steckte der Schrecken von vorhin noch tief in den Knochen.

Auf Hilfe für die Toten des Flugzeugabsturzes brauche ich hier nicht hoffen. Die hätten das Unglück mitbekommen müssen, und schon in ihrer Gier auf Beute und aus Neugierde danach gesucht. Außer mir hat den leider keiner überlebt. Ich empfinde es immer noch als ein Wunder, dass mir außer ein paar Prellungen nichts passiert ist. Daran war der kräftige Mann nicht ganz unbeteiligt, dank ihm, der wie ein Schutzkissen für mich war, habe ich den Absturz überlebt. Nur kann ich mir immer noch nicht erklären, wie dann die Frau auf einmal auf mir liegen konnte. Nach dem ersten Aufprall muss das Flugzeug so herumgewirbelt sein, dass es den Mann fortgeschleudert hat und die kopflose Dame auf mir landete. Anders kann ich es mir nicht vorstellen. Wie auch immer es tatsächlich war, ich bin ich da heil herausgekommen. Jetzt geht es mir nur noch darum, von hier wegzukommen. In eine richtige Stadt mit mehr Zivilisation als diese einsame Insel mit den Neandertalern. Damit ich den Opfern helfen kann.

Langsam ging Charly am Dorfrand entlang, auf der Suche nach einem passenden Outfit, damit sie nicht weiter in ihrer blutverschmierten Kleidung auffiel. Ein leises Schnarchen lenkte ihre Aufmerksamkeit auf einen Baum, der von mehreren Hecken gesäumt war. Leise schlich sie darauf zu, und vorsichtig spähte sie durch das dichte Geäst. An den Stamm gelehnt schlief, nein schnarchte, ein großer kräftiger Mann. Seine Kleidung war schlicht und schmutzig. Er hatte seinen Mantel über einen der Äste gehängt, der vom Wind sachte hin und her geweht wurde.

Belustigt dachte sie: Oder kommt es von seinem Schnarchen? Dass den Baum leicht erzittern lässt und somit den Mantel in Bewegung versetzt? Aber der Mantel wäre zumindest ein kleiner Anfang. Mit dem Kleidungstück könnte ich mich ganz einhüllen und würde nicht mehr so auffallen.

Gesagt, getan. Vorsichtig näherte sich Charly dem übergroßen Stoffteil, fast hatte sie ihn zwischen den Fingern, da veränderte der Mann sein Schnarchkonzert. Vorher war es ein eintöniger Grunzlaut gewesen. Jetzt dagegen schmatzte er noch zusätzlich als würde er etwas leckeres essen. Charly verharrte wie angewurzelt in ihrer Haltung auf einem Fuß stehend, und den Arm nach dem Mantel ausgestreckt. Ihre Beinmuskulatur fing bereits vor Überanstrengung an zu zittern. Ihre Prellungen steuerten noch zusätzlich weitere Schmerzen bei. Sie betete inständig, dass er jetzt nicht aufwachen würde, weil er vielleicht Hunger hatte. Plötzlich ging sein Schnarchen wieder in das vorherige Grunzen und Pusten über. Rasch griff sie nach dem Kleidungsstück, vorsichtig zog sie es von dem Ast herunter. Gerade als sie dachte, sie hätte es, blieb der Mantel an einem kleineren Zweig hängen. Durch das Rascheln der Büsche gestört, drehte sich der Mann in ihre Richtung. Charly glaubte, nun habe ihr letztes Stündlein geschlagen. Doch dann drehte er sich ein weiteres Mal zur Seite und schlief weiter. Mit fahrigen Fingern zupfte sie den Stoff von dem gemeinen Ast, der sie fast verraten hätte, herunter. Mit zitternden Fingern schlang sie sich den Mantel um die Schultern. Mit dem Rucksack auf dem Rücken sah sie jetzt zwar wie der Glöckner von Notre-Dame aus, aber das war ihr egal.

In ihrem neuen Outfit machte sie sich nun im Moment keine großen Sorgen mehr um ihre Sicherheit, aber es waren immer noch einige Fragen offen.

Wo bin ich hier nur gestrandet? Wie komme ich wieder nach Hause? Auf ihren gebuchten und geplanten Urlaub, vier Wochen in Singapur, hatte Charly nun keine Lust mehr. Die Freude daran war ihr komplett vergangen.

In den schwarzen Mantel gehüllt, strich sie weiter um die schäbigen Häuser der kleinen Fischersiedlung. Dabei entdeckte sie auf einer Bank einen Hut. Ihren hatte sie leider irgendwann auf ihrer Flucht verloren. An einer Wäscheleine hingen ein paar Hosen, Hemden und ein schwarzes Tuch. Charly lieh sich eine Hose, ein Hemd sowie das Tuch für eine unbestimmte Zeit aus. Die Kleidung war zwar zerschlissen, aber sauber. Mit ihrer Beute zog sie sich in den Wald zurück, wo sie rasch die Kleidung wechselte. Ihre stopfte sie zu den anderen Sachen in den Rucksack.

Charly hatte langes dunkelblondes Haar, das ihr bis zum Po reichte, worauf sie sehr stolz war. So kam es nicht infrage, es abzuschneiden, auch wenn sie damit nur Aufmerksamkeit erregen würde. Daher versteckte sie es unter dem Tuch, das sie sich wie ein Biker um den Kopf schlang. Auf das Kopftuch setzte sie zu guter Letzt den Hut. In dieser Aufmachung sah sie fast wie einer der Seefahrer aus. Nur Charly kam sich so vor als würde sie auf einen Maskenball gehen. Als Mann verkleidet, schritt sie etwas sicherer durch das kleine Fischerstädtchen. Neugierig betrachtete sie ihre Umgebung und die Menschen, die hier lebten. Die Bewohner hingegen sahen sie recht eigenartig an.

Warum schauen die mich so komisch an? Sehe ich immer noch zu ausländisch aus? Stirnrunzelnd betrachte sie ihren Aufzug, konnte aber keinen Unterschied zwischen den Einwohnern und sich erkennen. Daher konnte sie die bösen Blicke der Bewohner keineswegs verstehen. Doch plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Die Menschen sahen sehr verarmt aus, im Gegensatz zu Charlys Mantel, der sauber und recht kostbar wirkte. Um nicht länger aufzufallen und wieder als Zielscheibe zu enden, huschte sie in eine schmale Gasse, in der es furchtbar stank. Nach was es hier roch wollte Charly gar nicht so genau wissen. Mit beiden Händen wühlte sie im Dreck, der sich einfach nur eklig anfühlte. Angeekelt verteilte sie den Schmutz auf dem Mantel. Gleichzeitig hoffte sie, dass die Erde nur vom Regen nass war, und nicht von anderen undefinierbaren Flüssigkeiten.

Mit dem neuen Parfüm auf der Kleidung betrat sie erneut die schlammige Straße, und beobachtete verstohlen die Menschen, die ihren Weg kreuzten. Sie schenkten ihr diesmal keine Beachtung mehr, und wenn doch, waren sie nicht mehr feindselig. Erleichtert ging sie weiter und schlug, ohne es zu wissen, den Weg zum Hafen ein. Auf der Suche nach Hilfe betrachtete sie die kleine Stadt und ihrer Bewohner. Auf ihrem Weg kam sie an unzähligen Häusern vorbei, die sich mehr oder weniger schäbig aneinanderreihten. Es waren einstöckige Holzhäuser mit Strohdächern, ihre Fenster waren alle schief und unterschiedlich groß. Es musste erst vor Kurzen geregnet haben, die Straßen waren recht schlammig. Hin und wieder musste Charly achtgeben, um nicht in eine größere Pfütze zu treten. Zudem hielten sich hier sehr viele Menschen auf. Einige Frauen standen vor ihren Haustüren und unterhielten sich, in der Nähe spielten ihre Kinder im Dreck. Ein paar Männer zogen ihren Karren mit Heu, Obst, Gemüse oder Fischfässern über die schlammigen Wege.

Wenn das keine mittelalterlichen Filmkulissen sind, was ist es dann? Neureiche, die einen Wildtour-Erlebnisurlaub machen wollen, und das freiwillig? Doch diesen Gedanken verwarf Charly sofort wieder. Etwas später kam sie an einer Schmiede vorbei, vor der sich zwei Männer lautstark stritten. Einer von ihnen musste der Kleidung nach der Schmied sein. In seinem Lederschurz fuchtelte er wild vor einem groß gewachsenen Mann herum. Sie konnte nur den Rücken des großen Mannes sehen und dass er um seinen schmalen Hüften ein Schwert geschnallt hatte. Er zeigte dem Schmied ein weiteres, das er in Händen hielt und das von Weiten etwas schmaler aussah. Kurz blieb Charly stehen, um die Szenerie genauer zu beobachten.

Hoffentlich sticht er den Schmied nicht nieder, so wie der Reiter heute Nachmittag in dem kleinen Bergdorf. Ist das alles erst heute passiert? Flugzeugabsturz, Flucht vor der wütenden Meute und jetzt das Fischerstädtchen? Kaum zu glauben, was alles an einem Tag passieren kann, wenn man in den Urlaub fährt. Dabei hatte ich mich auf ein paar ruhige Wochen gefreut.

Ihr Blick wanderte über den Mann, der ihr immer noch den Rücken zugewandt hatte. Er hatte rabenschwarzes, leicht gewelltes, schulterlanges Haar, das er offen trug. In der untergehenden Sonne hatte es einen faszinierenden Glanz. Seine Kleidung wirkte robust, und er trug den Stil, den Charly schon immer an Männern geliebt hatte. Wild, mit dem Hauch eines Piraten, einfach sexy.

Enge Lederhosen und hohe Schaftstiefel. Den Rest konnte sie von ihrem Standpunkt aus nicht erkennen, weil er ihr den Rücken zugewandt hatte. Wo bin ich hier gelandet? Wo sich Männer anziehen wie Piraten, die der rauen See trotzen. Zumindest kenne ich solche Kleidung aus den alten Piratenfilmen, die nichts mit der Realität zu tun haben. Die echten Piraten waren raue Burschen, keineswegs so weichgespült und freundlich, wie es die Filmindustrie uns weismachen möchte. Zumindest habe ich mal einen Bericht darüber gesehen.

Charly konnte sich von dem schwarzhaarigen Mann nicht abwenden, ihr Blick heftete sich noch immer bewundernd auf ihn. Bis der sich plötzlich zu ihr umwandte. Sein kalter Blick traf tief in ihre Seele. Seine grünen Augen funkelten sie zornig an. Ertappt senkte Charly rasch den Blick und verließ eilig den Platz.

Wahnsinn, was für Augen!, schwärmte Charly insgeheim. Aber so, wie er mich angesehen hat, könnte man meinen, er würde mich durchschauen und er weiß nun, dass ich nicht von hier bin. Es war echt unheimlich.

Ein kalter Schauer ließ sie am ganzen Körper frösteln, daher schlang sie sich den Mantel enger um den Körper. Die Kleidung, die ich mir von der Leine ... ähm, geliehen habe, ist nicht sehr warm und kratzt unangenehm auf der Haut. Ich hätte darunter wenigstens mein eigenes Shirt anlassen sollen. Vielleicht finde ich ein Plätzchen, wo ich das ändern kann. Auf dem Weg zum Hafen spürte sie stechende Blicke in ihrem Rücken. Ich weiß nicht, aber ich habe irgendwie einen siebten Sinn dafür. Für das Gefühl, beobachtet oder verfolgt zu werden. Genauso fühle ich mich gerade, und das gefällt mir keineswegs. Eigentlich bin ich nicht sehr ängstlich, aber im Moment kriecht die pure Angst meinen Rücken hinauf.

Charly wollte das Unbehagen so schnell wie möglich abschütteln. So schnell, wie es ihr schmerzender Körper zuließ, huschte sie zwischen der Menschenmenge und den Arbeitern mit ihren Karren hindurch. Einige Straßen weiter ließ das Gefühl nach, und sie atmete erleichtert aus. Das befreite Gefühl blieb jedoch nur für kurze Zeit. Beängstigt blickte sie sich nach allen Seiten nach dem Grund des Unbehagens um. Ein leichtes Ziehen zog sich durch ihren Magen. Werde ich schon wieder verfolgt?, war ihr erster Gedanke. Im selben Augenblick hörte sie ein lautes Knurren. Oh nein was war das? Mein Verfolger?Nein, das war nur mein Magen. Als der sich ein zweites Mal bemerkbar machte, musste sie sich ein erleichtertes Auflachen verkneifen. Erst jetzt fiel ihr wieder ein, dass sie heute kaum etwas gegessen hatte. Zum Glück steckte etwas Essbares aus der zerstörten Bordküche des Flugzeuges in ihrem Rucksack. Doch in der muffigen Gasse wollte sie nichts essen. Der Geruch vertrieb ihr eher den Appetit, darum sah sie sich ein weiteres Mal um, und als sich nichts Auffälliges entdeckte, betrat sie wieder die Straße. Dort stieß sie fast mit einem Ochsenkarren zusammen, der sie um ein Haar umgefahren hätte. Reflexartig sprang sie einen Schritt zurück, und knallte gegen etwas Hartes. Plötzlich strich ein heißer Atem über ihr Ohr. Leise flüsterte eine tiefe Stimme: »Nihow os gilie, egunj?« (Wohin so eilig, Junge?)

Charly erschrak bei der Stimme, von der sie kein Wort verstand. Am liebsten wollte sie wegrennen, doch zwei starke Hände hinderten sie daran. Diese packten sie und drehten sie zu sich um. Auf einmal blickte Charly geradewegs in zwei funkelnde grüne Augen.

Hilfe, wo kommt der so plötzlich her? Vor Staunen blieb ihr der Mund offen stehen. Auch wenn sie es nicht für möglich gehalten hätte, aber der Blick ihres Gegenübers wurde noch düsterer. Schließlich wiederholte er seine Worte ein weiteres Mal: »Nihow os gilie, egunj?«

Charly sah ihn nur fragend an, sie verstand kein einziges Wort von dem, was er zu ihr sagte. Ängstlich und vorsichtig wagte sie es, den Kopf sachte zu schütteln. Sie wollte ihm damit zu verstehen geben, dass sie ihn nicht verstanden hatte. Für einen Augenblick glaubte Charly, er wollte noch etwas sagen, er tat es jedoch nicht. Diesen Moment nutzte sie aus, um ihn genauer zu mustern. Sein markantes Gesicht war wie aus Marmor gemeißelt. Große Augen, eine schmale Nase und ein voller Mund, der zum Küssen einlud, wenn er nicht so grimmig verzogen wäre. Was seiner Schönheit keinen Abbruch tat, im Gegenteil, sein Aussehen verlieh ihm eine faszinierende kriegerische Schönheit. Besonders seine Augen hatten es Charly angetan. Genau von so einem Mann hatte sie immer geträumt. Nun stand er vor ihr, der Mann ihrer geheimsten Träume. Mit gemischten Gefühlen, die eher Trauer beinhalteten, versuchte sie ihn nicht zu genau anzusehen. Was ihr kläglich misslang. Am liebsten wollte Charly seine Lippen mit dem Finger nachfahren, unterließ es jedoch. Wer wusste schon, wer der Kerl war und warum er ihr gefolgt war. Er ließ sie urplötzlich los, aber seine Augen brannten sich in die ihren. Auf einmal lenkte eine Stimme hinter ihm seine Aufmerksamkeit auf den Neuankömmling. Diese Unachtsamkeit seinerseits nutzte Charly und verschwand in die herannahende Dämmerung.

Die Situation hatte sie so aufgewühlt, dass sie jede Vorsicht außer Acht ließ. Hakenschlagend wie ein verängstigtes Häschen rannte sie zwischen den Menschen und ihren Karren davon. Irgendwann hatte sie die Orientierung komplett verloren, und sie wusste nicht mehr, von wo sie gekommen war und wohin sie rannte. Da sah sie vor sich mehrere große Holzkisten, die zu einem Turm aufgestapelt waren. Schon fast außer Atem, sammelte sie ihre letzten Kraftreserven und steuerte darauf zu. Sie quetschte sich durch eine Lücke in eine leere Kiste, die gut verborgen vor neugierigen Augen dastand. Hier in ihrem kleinen Versteck versuchte sie, erst einmal ihr wildpochendes Herz zu beruhigen. Nach geraumer Zeit wagte sie es, einen Blick auf die still gewordene Straße zu werfen, auf der nur noch vereinzelt Menschen unterwegs waren. In der Dunkelheit und mit der spärlichen Straßenbeleuchtung sahen sie unheimlich und beängstigend aus. Rasch kroch sie tiefer in ihr Versteck hinein, mit der Stirn lehnte sie sich an das kühle Holz. Inständig hoffte sie, dass alles nur ein sehr schlechter Traum war, und sie morgen wieder in ihrem eigenen Bett aufwachte.

Im Moment fragte sie sich jedoch verzweifelt zum x-ten Mal: »Wo zu Henker bin ich hier gestrandet?« Erneut zog sie ihr Handy aus dem Rucksack und hoffte auf ein rettendes Signal. Obwohl sie sich nun in einer Kleinstadt befand, verweigerte es ihr Handy, den Balken der Erlösung zu zeigen. »Das gibt es doch nicht. So tief in der Provinz kann ich doch nicht gestrandet sein. Irgendwann muss ich ein Signal empfangen.« Um die Batterie zu schonen, schaltete sie das Gerät ganz aus.

Laute Stimmen drangen an ihr Ohr, und vorsichtig spähte Carlotta durch eine Ritze hindurch, wo sie mehrere Männer entdeckte, die zu einem Kahn unterwegs waren. Sie unterhielten sich in der ihr völlig unbekannten Sprache. Es war genau dieselbe, die auch der Mann mit den grünen Augen benutzt hatte. Zumindest klang sie wie diese. Ängstlich beobachtete sie weiterhin die Männer, wie sie in mehrere Boten stiegen, um damit auf das offene Meer zu paddeln.

»Das müssen die Fischer sein, die in der Nacht hinausfahren und ihre Netze einholen.« Dies redete sich Charly einfach mal ein, um sich selbst zu beruhigen. Sicher war sie sich nicht, aber was sollten sie sonst sein. Danach wurde es sehr still um sie herum. Langsam kam auch sie nun zur Ruhe, wodurch jedoch die Schmerzen der Verletzungen, die sie sich beim Flugzeugabsturz zugezogen hatte, wieder verstärkt in ihr Bewusstsein traten. Zusätzlich plagte sie auch ein ziemlicher Hunger. So kramte sie in ihrem Rucksack nach den Proviantpäckchen, und bei der Aussicht auf etwas Essbare knurrte ihr Magen laut auf. Trotz ihres großen Hungers zügelte sie sich, noch etwas für den nächsten Tag aufzuheben. Wer wusste schon, wann sie wieder an etwas Essbares herankommen würde. Mit leicht knurrenden Magen, rollte sie sich in ihrem Versteck zusammen und schlief bald darauf ein.

2 Eine Schiffsreise ins Ungewisse

Ein leichtes Ruckeln und Rauschen weckte Charly aus einem sehr tiefen Schlaf auf. Sie musste erst einige Male blinzeln, um zu erkennen, wo sie sich nun befand.

Mhm ...? Scheibenkleister, wo bin ich? Und was bedeutet das eigenartige Gerüttel hier?

Verwirrt versuchte Charly, sich in ihrem Versteck zu orientieren, bis endlich der Groschen gefallen war. Moment, da war doch der schreckliche Flugzeugabsturz, dann das gruselige Dorf, und am Schluss die Flucht vor den geheimnisvollen grünen Augen. Vor lauter Angst habe ich mich in einer Kiste versteckt. Lauschend verhielt sie sich ganz ruhig und versuchte, die Geräusche zu lokalisieren. Was zum Teufel ist da draußen los?

Erneut hörte sie die lauten Männerstimmen. Besonders eine war extrem laut. Diese schrie regelrecht, was ihre Furcht noch mehr schürte. Keine der Stimmen da draußen klangen freundlich. Daher wagte Charly es nicht, aus ihrem Versteck hervorzukommen. Sie hatte die Hoffnung, dass die Männer irgendwann wieder verschwinden würden, so wie die in der letzten Nacht. Leider taten sie ihr diesen Gefallen nicht. Stattdessen drang der Geruch des Meeres immer deutlicher in ihre Nase. Vorsichtig lugte sie wieder durch ihr Guckloch, diesmal sah sie allerdings nur jede Menge Holz.

Du meine Güte, wo bin ich jetzt schon wieder hineingeraten? Hört der Albtraum denn nie auf?

Eine andere männliche Stimme übertönte die der anderen. Was er brüllte, verstand Charly einfach nicht. Sie vermutete, dass es irgendwelche Befehle sein musste, dem Tonfall nach. Auf einmal wurde an der Kiste gerüttelt, in der Charly saß.

Oh nein, bitte nicht, flehte sie ängstlich.

Die nackte Angst kroch wie hundert Spinnen in ihr hoch. Sie rollte sich so klein wie möglich zusammen, damit sie keiner entdeckte. Nur, das ging nicht lange gut. Plötzlich kippte die Kiste, die daraufhin mit einem lauten Krachen auf dem Boden aufschlug. Dabei klappte der Deckel auf und Charly kullerte heraus. Sie landete genau vor einem schwarzen Stiefel und einem Holzbein, dessen Besitzer ein grimmiger Mann mit einer Glatze und einem vernarbtem Gesicht war. Missbilligend sah er auf sie herab, als wäre sie eine Kakerlake in seinem Rum, die ihr Schwimmabzeichen machte.

Laut brüllte er: » Rew tis sad? Rehow tmmok eseid ettardnal?« (»Wer ist das? Woher kommt diese Landratte?«)

Die Männer um sie herum sahen sich ratlos an. Bis ihr Anführer, dafür hielt ihn Charly, sagte: »Tfrew nhi rebü Drob.« (»Werft ihn über Bord.«)

Seine Männer jubelten, doch ihre Freude wurde jäh unterbrochen. Ein kräftiger, braun gebrannter Mann, der mit einer Peitsche spielte, trat vor den Anführer. Ein paar Mal hätte er Charly fast mit der Peitsche erwischt. Wie ein Häufchen Elend lag sie eingerollt vor ihnen und ließ die Männer nicht aus den Augen. Die Kerle jagten ihr eine panische Angst ein. Wie ein Mantra sagte sie sich immer wieder im Stillen: Das ist nur ein Traum. Bald wachst du auf. Dann liegst du zu Hause in deinem Bett. Die Männer sind nicht real. Leider sehen die noch schlimmer aus als Piraten. Ähm ... gibt es heutzutage eigentlich noch Sklavenhändler? Mal abgesehen von den Leiharbeitsfirmen. Die auch im 21. Jahrhundert sowas in der Art betreiben. Nur, die tragen ordentliche Kleidung, manche sogar Anzüge. Aber ich weiß von keiner Leiharbeitsfirma, die mit solchen Lumpen unterwegs ist. Ihre Hosen sind fleckig, und die Hemden gehören auch nicht zu der neuesten Mode, mit den ganzen Löchern. Oder ist das hier der letzte Schrei? Um nicht länger über die hiesige Modewelt nachgrübeln zu müssen, richtete sie ihre Aufmerksamkeit zurück auf die beiden Männer vor ihr.

Der mit der Peitsche unterhielt sich eine ganze Weile mit dem Glatzkopf. Besser gesagt, sie stritten sich, der Lautstärke nach. Charly wüsste zu gerne, um was es da ging. Wahrscheinlich um sie, nach ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen, wollte sie aber lieber nicht wissen. Auf einmal sah der Anführer wütend zu ihr hinunter, schließlich nickte er dem Kerl mit der Peitsche zu und ging. Der große Kräftige ließ seine Peitsche eine Haaresbreite vor ihrem Gesicht knallen und rief ihr etwas zu. Charly sah ängstlich zu ihm auf. Vor lauter Panik weigerte sich ihr Körper, sich zu rühren. Vor sich hin knurrend, beugte er sich zu ihr hinab und zog sie auf die Beine. Erst jetzt stellte sie fest, dass sie sich auf einem Schiff befand. Oben, über dem Krähennest flatterte eine Totenkopfflagge. Was sie daran am meisten erschreckte war, dass sie bereits über das offene Meer der Sonne entgegenschipperten.

Oh nein, das, das ist ei... ein Piratenschiff ... dachte sie bestürzt, ohne einen Ton über die Lippen zu bringen.

Bevor Charly an was anderes denken konnte, zog sie der Kerl in einem groben Griff mit sich in den Ruderraum. Dort stieß er sie auf eine Bank, und bedeutete ihr, wie die anderen Sklaven zu rudern. Zusätzlich wurden ihre Füße mit einer schweren Kette an einem Eisenring befestigt. Kurz überprüfte er, ob die Ketten hielten. Zufrieden gab er ein Zeichen und die anderen armen Geschöpfe nahmen ihre Ruder auf. Im hinteren Teil des Schiffes erklang ein lautes Klopfgeräusch, und die Ruderer bewegten sich genau in dessen Takt. Mit aller Kraft brachten sie das Schiff auf volle Fahrt.

Scheibenkleister, was soll das? Wo bin ich hier gelandet? Der Albtraum wird ja immer konfuser. Jetzt sitze ich hier, in einem Schiffsbauch, an einem Ruder festgekettet. Von Fensterlüften halten die hier wohl nicht sehr viel, so wie das hier ... ähm, müffelt. Mal gelinde ausgedrückt. Das wird doch nicht ein neues Fitnessboot sein? Dann sollten sie hier mal das Sportprogramm überarbeiten, ganz zu schweigen von der Hintergrundmusik. Die ist ja so was von nervig. Immer das gleiche ... bomm, bomm, bomm, bomm.

Plötzlich hielt der Musikus inne, und es wurde still. Bis auf ein lautes Röcheln und das Meer war nichts zu hören. Darum erklang der nächste Krach sehr laut in ihren Ohren.

Oh je, was war das? Mit großen Augen suchte sie nach dem Grund des Geräusches und fand auch sofort die Ursache. Zwei Reihen vor ihr war jemand von seiner Bank gekippt und auf den Boden geknallt. Entsetzt beobachtete sie, was nun geschehen würde. Ob ihm geholfen wurde und besonders wie. Sie rechnete jedoch nicht mit besonders herzlicher Hilfe, die der arme Mann bekommen würde. Charly sollte mit ihrer Befürchtung recht behalten.

Die Männer, die nicht mit dem Tempo mithalten konnten, bekamen auf ihrem ohnehin schon zerschundenen Rücken die Peitsche zu spüren. Sobald sie sich nicht mehr rührten, bekamen sie ein kostenloses Bad im Meer – ohne Rettungsring. Jedes Mal, wenn das eine oder andere geschah, machte sich Charly immer ganz klein, um ja nicht aufzufallen.

Zu ihrem Glück hatte Charly immer noch die Männerkleidung an. Nur der Mantel und der Hut sowie ihr Rucksack lagen vermutlich noch in der Kiste. Ihre Unaufmerksamkeit bereute sie sofort, weil der nächste Peitschenschlag über ihren Rücken zischte. Sie hatte mit dem rudern kurz innegehalten, um zu verschnaufen. Der Schmerz jagte wie ein Messer durch die Innereinen. Krampfhaft biss Charly die Zähne zusammen, um nicht laut aufzuschreien. Sonst hätte sie sich sofort als Frau enttarnt.

Das ist definitiv kein Traum. Scheiße, tut das weh!

Die Stimme des Dompteurs dröhnte durch den ganzen Raum: »Rudere schneller, oder du läufst über die Planken, du fauler Hund.«

Tief atmete Charly ein und aus. Der Geruch, der ihr in die Nase stieg, roch alles andere als nach einer frischen Meeresbrise. Schnell wandte sie ihren Kopf zu dem kleinen Loch in der Bordwand, in dem ihr Ruder steckte. Gierig sog sie von dort die frische Luft in ihre Lungen. Ohne Vorwarnung landete ein weiterer Schlag auf ihrem Rücken, und der Kerl knurrte sie wütend an. Mit Tränen in den Augen wandte sie den Kopf ab. Verbissen umklammerte sie das Holz und versuchte ihr Ruder im gleichen Takt durchs Wasser zu ziehen wie ihre Leidensgenossen. Mühsam unterdrückte sie die Schmerzensschreie.

Wer weiß, was die Kerle mit mir machen würden, wüssten sie, dass ich eine Frau bin. Nicht auszudenken! Also, Carlotta, halt bloß den Mund, egal was passiert. Dir darf kein einziger Laut über die Lippen kommen. So hast du vielleicht eine Chance, diese Folterkammer hier zu überleben, sprach sie sich selbst Mut zu.

Es dauerte nicht lange, da bekam sie schon die ersten Blasen an den Händen. Sie hoffte zwar immer noch, in einem Albtraum festzustecken, aber die Schmerzen fühlten sich einfach zu real an. Charly verlor jegliches Zeitgefühl, je länger sie im Ruderraum war. Viel zu selten bekamen die Sklaven etwas zu essen und zu trinken. Daher wunderte es keinen, wenn immer wieder einer von ihnen unter der Anstrengung zusammenbrach. Die Kranken und die Toten wurden ganz einfach im Meer entsorgt. Sie hörte nur das Aufplatschen, wenn der Körper auf dem Wasser auftraf. Erholung gab es, sobald ein starker Wind aufkam. Dann hatten die Ruderer eine Pause und konnten sich von der Anstrengung erholen. Zu ihrem Leidwesen mussten sie während der gesamten Zeit im Bauch des Schiffes bleiben. Es war ihnen unter Androhung der Todesstrafe verboten, nach oben zu gehen, um etwas frische Seeluft zu schnuppern. Was auch recht schwierig war mit den Fesseln an ihren Beinen. Daher blieb Charly auch lieber in dem Gestank, der nach Unrat, Schweiß und Moder roch, als tot zu sein.

Erschöpft, mit blutenden Händen und schmerzenden Gliedern, ruderte sie schon gefühlte Wochen, als endlich erneut der ersehnte Wind aufkam. Erschöpft zogen sie die Ruder ein. Charly lehnte sich müde darauf, mit der Nase zu dem kleinen Guckloch gerichtet. Über ihr Gesicht in der Armbeuge verborgen, rannen dicke Tränen. Einer der Sklaven hinter ihr tippte Charly sachte auf die Schulter. Rasch wischte sie die verräterischen Spuren weg, bevor sie sich zu ihm umdrehte. Hier durfte niemand erfahren, dass sie eine Frau an Bord hatten. Sie wäre ein gefundenes Fressen für eine Bande hungriger Piraten. Fragend sah sie nach hinten. Der Mann hinter ihr war dunkelhäutig und kräftig. Sie hatte ihn jedoch noch nie mit einem Lächeln gesehen. Auch jetzt verzog er keine Mine. Dafür reichte er ihr ein Stück trockenes Brot. Oder war es etwa Zwieback? Nickend dankte Charly ihm und wandte sich rasch wieder von ihm ab. Hungrig knabberte sie an dem trockenen Stück herum. Es war so trocken, dass sie es kaum schlucken konnte. Noch dazu schmeckte es grässlich, aber es stillte für einen Augenblick ihren Hunger. Die nächste Ration Wasser würde sie erst viel später bekommen, wenn überhaupt. Ihr brannten die Lippen, die bereits trocken und spröde waren. Selbst ihre Kehle war vor lauter Durst schon fast zu einer Dörrpflaume zusammengeschrumpelt.

Gedankenverloren sah sie durch die kleine Luke auf das Meer hinaus. Viel konnte sie von ihrem Standort aus nicht erkennen, dazu war das Loch zu klein. Dafür wehte etwas frische Luft herein, die sie in vollen Zügen genoss. Ihre Jacke hing nur noch in Fetzen an ihrem Leib. Die ständigen Peitschenhiebe rissen immer wieder ein weiteres Loch in den dünnen Stoff. Irgendwann rupfte sie ein Stück vom Saum ihres Oberteils ab und verband damit ihre blutenden Hände, die von dem vielen Rudern aufgesprungen waren. Hier in dem Dreck machte sich keiner Gedanken über irgendwelche Infektionen. Aber mit dem Stoff um ihre Handflächen konnte sie das raue Holz besser packen.

Grübelnd überlegte Charly: Wie lange bin ich schon hier? Tage? Wochen? Mein Urlaub ist mit Sicherheit schon längst vorbei. Ob sich meine Chefs fragen werden, wo ich so lange bleibe? Warum ich mich nicht melde und nicht erreichbar bin? Falls ich jemals wieder nach Hause komme: Habe ich dann noch meinen Job? Ich seh schon, hier habe ich viel zu viel Zeit, um darüber nachzudenken. Das ist nicht gut. Da sterbe ich eher an Verzweiflung, als an den ganzen Krankheitserregern, die hier so herumschwirren. Ich sollte mir eher Gedanken darüber machen, wie ich von diesem Schiff herunterkomme. Erst dann kann ich mir überlegen, wie es weitergeht.

Ihren Kampfgeist und ihren Überlebenswillen hatte Charly noch nicht gänzlich verloren, auch wenn sie keine Möglichkeit sah, wie sie von hier verschwinden könnte. Immer wieder betrachtete sie die schweren Ketten, die sie an das Schiff fesselten.

Soll ich mich totstellen? Dann würden sie mich ins offene Meer schmeißen, dann wäre ich nicht nur frei, sondern auch ein Leckerbissen für die Haie. Also ist das auch keine gute Option. Daher verwarf sie die Möglichkeit sofort wieder und hoffte, dass das Schiff irgendwann vor Anker ging, und sie heimlich von Bord flüchten könnte.

Die Zeit verging, der Tag wechselte zur Nacht, und die Nacht ging in einen neuen Tag über. Die einzige Abwechslung, die es auf dem Schiff gab, war das Wetter. Von Sonne über Regen und Flaute bis hin zum Sturm war alles dabei. Oft wurde es Charly übel, wenn das Schiff in den Wellen zu sehr schaukelte. Sie glaubte schon, sie würde sich nie an den rauen Seegang gewöhnen. Doch eines Tages musste sie sich nicht mehr übergeben. Wahrscheinlich, weil sich nichts mehr in ihrem Magen befand, was nach oben kommen konnte. Die Essensrationen wurden immer seltener. Dafür wurden ihre Arme und ihr Oberkörper durch das viele Rudern immer kräftiger. Wenn nur nicht ständig ihr Magen vor lauter Hunger so knurren würde. Eines schönen Tages ließ ihr Dompteur, so nannte sie den Mann mit der Peitsche insgeheim, die Ruder einziehen. Er ging dann wie immer mit der Peitsche knallend durch die Reihen, um ihre Fußfesseln zu überprüfen. Sobald er zufrieden war, dass sich keiner selbst befreien konnte, verließ er den Ruderraum. Es dauerte nicht lange, bis sie ein lautes Platschen hörte, und neben dem Schiff Rudergeräusche vernahm.

Was ist nun los? Kommt jemand oder geht jemand von Bord? Charly versuchte, durch das Guckloch etwas zu erkennen. Sie sah jedoch nichts weiter als Wasser. Sie überprüfte die Reihen, ob jemand fehlte. Da fiel ihr ein Platz auf, an dem vorhin noch jemand regungslos über dem Ruder gehangen hatte. Jetzt war er fort.

Den haben die anscheinend eiskalt über Bord entsorgt, spekulierte sie traurig.

Für diesen Tag war es die einzige Aktion, die an Bord geschah. Ab da vergingen wieder viele langweilige Stunden, und die nächste Nacht brach herein. Müde von den Anstrengungen der letzten Wochen, schlief sie mit dem Kopf in die Hände gestützt ein. Charly wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, bis sie plötzlich ein Gejohle und ein eigenartiger Singsang aufweckten. Kurz darauf polterte es auf dem Oberdeck und jemand stampfte zu ihnen die Stufen nach unten. Müde sah sie auf und erwartete schon, den Dompteur mit seiner Peitsche zu sehen. Doch diesmal kam jemand Fremdes herunter, der zwei große Eimer dabei hatte.

Sarkastisch dachte Charly: Kommt jetzt endlich die Putzfrau? Wurde auch Zeit, so wie es hier aussieht, kann man einfach nicht vom Fußboden essen.

Der Mann fing jedoch nicht an zu putzen, sondern teilte Schalen an die Männer aus, in die er etwas Flüssigkeit schüttete und jedem einen Brotlaib gab.

Na endlich, der Zimmerservice kommt vorbei. Ich hätte gerne eine Tasse Kaffee und ein Marmeladenbrötchen, scherzte sie mit schwarzem Humor. Auch bei ihr blieb er stehen. Stumm reichte er ihr ein Stück Brot und die Schale mit Wasser. Nur, das Getränk war kein Wasser, dazu roch es viel zu streng. Aber ihr Mund war so trocken, dass die Wüste Sahara die reinste Tropenlandschaft dagegen gewesen wäre. Angewidert nippte sie an dem Getränk.

Ist das Rum? Wein kann es nicht sein, und Essig auch nicht, auch wenn er so brannte. Egal, zumindest tötet der Alkohol, der hier sehr hoch sein muss, die ganzen Bakterien in mir ab.

Charly wollte sich nicht beschweren, denn zumindest hielt sie endlich mal wieder etwas zu essen in den Händen. Ihr großer Hunger wollte sie dazu zwingen, alles schnell auf einmal zu essen. Aber wegen ihres Überlebenswillens aß sie sehr langsam. Heimlich schob sie etwas von dem Brot in ihre Hosentasche.

Für später, man weiß ja nie, wann es wieder etwas zu essen gibt.