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Rose hat es geschafft: Sie ist Pirat auf der stolzen Little Luna, dem Schiff ihres Vaters. Und sie hat ihr Herz an Con verloren. Doch das Piratenglück hält nicht lange, denn die Gestaltwandlerin ist stärker denn je und die Gefährten haben keine andere Wahl, als sich mit ihrem ärgsten Rivalen zu verbünden: Edward, dem Piratenkaiser. Als sich aber die sagenumwobene Prophezeiung um das Amulett erfüllt, ändert sich für die rebellische Piratin alles. Hals über Kopf stürzt sie sich in ein neues Abenteuer und muss dabei nicht nur gegen ihr Feinde bestehen, sondern hat auch mit Verrat, Betrug und vor allem ihren Gefühlen für den jungen Elfenkrieger zu kämpfen …
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Seitenzahl: 1001
Veröffentlichungsjahr: 2017
Für meine bessere Hälfte.Weil es keine liebenswertere, geduldigere und treuere Freundin aufder Welt gibt, als Dich.
Danke für alles!
Julia Napp
Zwischen Himmel und Hölle
© 2017 Julia Napp
Autor: Julia Napp
Umschlaggestaltung, Illustration: Noah Bugalski
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN: 978-3-7439-1340-0 (Paperback)
ISBN: 978-3-7439-1342-4 (e-Book)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.deabrufbar.
Der Mensch und das Meer
(Charles Baudelaire)
Du freier Mensch, du liebst das Meer voll Kraft,
Dein Spiegel ist's. In seiner Wellen Mauer,
Die hoch sich türmt, wogt deiner Seele Schauer,
In dir und ihm der gleiche Abgrund klafft.
Du liebst es, zu versinken in dein Bild,
Mit Aug' und Armen willst du es umfassen,
Der eignen Seele Sturm verrinnen lassen
In seinem Klageschrei, unzähmbar wild.
Ihr beide seid von heimlich finstrer Art.
Wer taucht, o Mensch, in deine letzten Tiefen,
Wer kennt die Perlen, die verborgen schliefen,
Die Schätze, die das neidische Meer bewahrt?
Und doch bekämpft ihr euch ohn' Unterlass
Jahrtausende in mitleidlosem Streiten,
Denn ihr liebt Blut und Tod und Grausamkeiten,
O wilde Ringer, ewiger Bruderhass!
Die Gischt spritzte hoch auf und traf kühl auf mein Gesicht. Ich machte mir nicht die Mühe, sie wegzuwischen, spritzte doch immer wieder neue auf.
„Käpt'n, wir sind bald da.“ Ich drehte mich zu meinem ersten Maat um und brummte missmutig. Alle Raubzüge der vergangenen Monate waren umsonst gewesen. Es war nicht ein Segel am Horizont aufgetaucht. Was hatte das zu bedeuten? War Garreth mit seiner Little Luna erfolgreicher gewesen? Oder hatten die Händler sich neue Routen ausgesucht?
Mürrisch nahm ich einen letzten Zug aus meiner Flasche und schleuderte sie dann auf das Deck, wo sie in tausend Scherben zerschellte.
„Räum' das weg.“, herrschte ich einen meiner Männer an und stapfte wütend unter das Deck, wo ich mich in meiner Kajüte hinter meinen Schreibtisch fallen ließ.
Garreth braucht gar keine Schätze mehr. Er hat den schönsten bereits gefunden.
Sehnsüchtig dachte ich an die wunderschöne Rosalia, Käpt'n Garreth' Tochter. Aber wie sollte ich an sie herankommen? An Cornelius würde ich nie im Leben vorbei kommen. Und ich hatte gehört, dass er zurückgekehrt war.
Das Schicksal meint es mal wieder nicht gut mit mir. Oh, Garreth. Wenn wir uns das nächste Mal begegnen, werde ich mir deinen Schatz holen, Cornelius hin oder her. Ich bin nicht umsonst Piratenkaiser.
Grimmig spuckte ich aus und zerrte dann eine Seekarte zu mir heran, fuhr mit meinen Fingern über die Linien, die ich eingezeichnet hatte und blieb schließlich an einem Ort hängen. Dort in etwa musste der Heimathafen der Little Luna sein. Selbst wenn ich dort noch nie eine Insel gesehen hatte, geschweige denn einen Hafen, musste es dort sein.
Ein teuflisches Grinsen machte sich auf meinem Gesicht breit. Dort würde ich auf sie warten. Und dann würde ich mir meinen Schatz holen.
Land in Sicht!“ Ich drehte mich um und ließ meinen Säbel sinken. „Lass dich nicht ablenken.“, sagte eine ungeduldige aber sanfte Stimme hinter meinem Rücken und eine kühle Hand legte sich auf meine Schulter. Ich drehte mich um und sah Con in die eisblauen Augen.
„Ich bin einfach so aufgeregt.“, erwiderte ich und gab ihm einen Kuss. Lächelnd strich Con mir über die Wange und schob mich von sich weg.
„Los, weiter. Wir sind noch nicht fertig.“ Er hob abwartend sein Schwert und lächelte, aber ich ließ mich davon nicht beirren. Ich wusste, dass er tödlich war und mich mit einem Schlag in den Boden rammen könnte.
Wachsam hob ich ebenfalls meine Waffe und wartete darauf, dass er angreifen würde. Er tat es nicht, sondern wartete nur gelassen ab, sodass ich den ersten Schritt machen musste. Ich ließ meinen Säbel von schräg oben herab sausen, beschrieb dann einen Bogen und zielte auf seine Schulter. Con wich leichtfüßig aus und parierte meinen nächsten Schlag. Ich wich seinem Angriff aus, duckte mich unter dem nächsten hinweg und ließ meinen Arm vorschnellen, als ich noch gar nicht wieder richtig stand. Als Con mit einem geraden Streich versuchte, mir die Waffe aus der Hand zu schlagen, tänzelte ich zur Seite und drehte mich leicht. Keuchend griff ich erneut an und versuchte, ihn aus dem Takt zu bringen.
Es folgten noch einige Schläge, dann schwang Con sein Schwert gegen mein Knie und ich wusste, was jetzt kommen würde. So oft wir auch schon miteinander geübt hatten, all unsere Kämpfe hatten so geendet. Und ich konnte nichts dagegen tun. Egal wie sehr ich mich anstrengte, früher oder später besiegte Con mich auf diese Weise.
Ich sah die eisblaue Klinge auf mein Knie zu schnellen, wich nach hinten aus und blockte den darauf folgenden Schlag ab, der auf meine Hüfte zielte. Unter dem nächsten Schlag musste ich mich wegducken, da er mir sonst den Kopf abgeschlagen hätte. Noch während ich mich duckte, hob ich mein Schwert, um ihn wenigstens dieses Mal treffen zu können, aber Con umging meinen Angriff, wirbelte um mich herum und drückte mir die Arme an die Seiten, zwang mich, den Säbel loszulassen und gab mir einen Kuss auf den Nacken.
„Das war gut.“
„Nein, war es nicht. Du hast mich schon wieder besiegt.“ Con lachte leise und ich drehte mich zu ihm um.
„Wie machst du das immer? Egal was ich versuche, du schlägst mich immer auf diese Art.“
„Übung. Jahrhundertelange Übung. Crischan hat mich oft so besiegt und es hat lange gedauert, bis ich den Kniff heraus hatte. Du schaffst das schon.“ Ich schnaubte und schob meinen Säbel zurück in den Gürtel.
„Ich will ...“
„Rose! Rose schau hier.“, unterbrach mich mein jüngerer Bruder. Genervt drehte ich mich um und sah zu Filos, der an einem Want hing.
„Was is'?“
„Da drüben. Tortuga!“ Augenblicklich hatte er meine volle Aufmerksamkeit und ich folgte der Richtung seines ausgestreckten Fingers. Aufgeregt trat ich an die Reling der Little Luna und sah auf das Meer hinaus. Und tatsächlich, weit in der Ferne konnte ich eine Bucht ausmachen.
„Con, wir sind bald da.“
„Ich weiß. Ari wartet schon.“
„Kannst du dich bis hier mit ihr verständigen?“
„Ja. Schon seit gestern Morgen kann ich sie wieder hören. Sie ist ungeduldig.“
„Wirst du sie besuchen?“
„Natürlich.“ Con nahm meine Hand und sah auf die Insel.
Es dauerte noch eine ganze Weile, bis wir den großen Piratenhafen erkennen konnten, in dem hunderte von Piratenschiffen vor Anker lagen. Ich hörte das Rasseln der Schwerter, das Hämmern der Pistolenschüsse und das Brüllen der Piraten. Es war beinahe wie in Port Royal. Und Port Royal hatte auf Anhieb mein Herz erobert.
Als die Litte Luna am späten Nachmittag im Hafen einlief, versammelte sich eine Menschenmenge am Pier, um dem Spektakel zuzusehen. Nicht oft legten hier so große Schiffe an, wie meine geliebte Little Luna.
„Nehmt die Segel aus dem Wind, ihr faulen Hunde. Anker ablassen. Und vertäut mein Schiff. Schneller!“, brüllte Vater vom Poopdeck, und ich schwang mich gemeinsam mit Con und Luke in die Wanten, kletterte höher und höher bis zu einer Rah, wo wir mit weiteren Piraten das Segel zu reffen begannen. Nach und nach holten wir alle Segel ein, lösten Knoten, verknüpften Taue und bereiteten alles für einen mehrtägigen Aufenthalt auf Tortuga vor. Es dauerte lange, bis das Piratenschiff bereit zum Verlassen war. Mehrere Stunden arbeiteten wir, machten ein letztes Mal sauber, untersuchten das Schiff nach Lecks oder Dingen, die ersetzt werden mussten. Bevor schließlich die Planke herunter gelassen wurde, rief der Käpt'n uns noch einmal zu sich.
„Moses und Seco, ihr übernehmt mit euren Leuten die erste Wache. Harvey, ihr geht mit Lamorak und Pat und besorgt neue Vorräte, Pulver und was wir sonst noch brauchen. Der Rest von euch findet sich in genau 'ner Woche noch vor Sonnenuntergang wieder hier ein. Die, die Wachdienst haben, kommen gefälligst pünktlich. Is' das klar?“
„Aye, Käpt'n.“ Wenig später ließ er die Planke auf den Pier schieben und verließ hoch erhobenen Hauptes die Little Luna. Sage verschwand an seiner Seite in der Menge.
Neben mir verwandelte Con sich in einen Menschen. Während der ganzen Fahrt von Belize bis hier war er ein Elf gewesen und hatte es genossen. Jetzt schien an ihm etwas zu fehlen. Er war nicht mehr er selbst, ohne das geheimnisvolle Funkeln in seinen Augen und die eisige Aura, die ihn umgeben hatte. Jetzt war diese Aura nur noch kühl und das Glitzern in den eisblauen Augen war nahezu verschwunden.
„Bereit?“
„Immer. Los geht’s.“ Ich nahm seine ausgestreckte Hand und verließ neben ihm das Schiff.
Schon nach wenigen Schritten waren wir von Menschen umgeben und ich wunderte mich einmal mehr, wie ähnlich diese Stadt Port Royal war. Nur war es hier noch voller, die Piraten waren grimmiger und es war, wenn überhaupt möglich, noch dreckiger.
„Wo genau wartet Ari?“
„Irgendwo im hintersten Winkel einer eingestürzten Taverne. Dort gibt es einen Eingang zu einer alten Grabkammer.“ Ich nickte begeistert und folgte ihm dicht auf den Fersen durch die Menge. Im Laufen nahm ich mir von einem Stand ein frisches Brot und grinste mein hämisch-spöttisches Piratengrinsen, als der Besitzer mich entdeckte. Wütend brüllend kam er hinter seinem Stand hervor auf uns zugerannt.
„Bis dann, Con. Wir sehen uns auf der Little Luna. Und grüß Ari von mir.“, rief ich über die Schulter zu dem Winterprinzen und tauchte in der Menge ab. Sein leises Lachen verfolgte mich sanft wie ein Windhauch.
Ich bog in eine Seitengasse ein, sprang in einen Kellereingang und warf mich hinter ein leeres Weinfass. Dort blieb ich still liegen und wartete, bis der Händler vorbei war.
Vergnügt lachend rupfte ich ein Stück Brot ab und steckte es mir in den Mund. Es war wunderbar weich, süß und flauschig. Viel besser, als das harte Schiffszwieback, das ich schon lange nicht mehr sehen konnte. Und da unsere Vorräte vor zwei Tagen endgültig ausgegangen waren, war das Brot meine erste größere Mahlzeit seit längerer Zeit. Leider machte es ziemlichen Durst und ich beschloss schließlich, etwas trinken zu gehen.
Nach einigem ziellosen Herumschlendern setzte ich mich in der Taverne „Zum Rumkrug“ an einen Tisch, lehnte mich an die Wand und wartete, bis der Wirt kam.
„Was willste?“, knurrte er mürrisch und musterte mich aus zusammengekniffenen Augen.
„'n Bier.“, erwiderte ich und warf bedeutungsvoll eine Münze hoch, die ich dicht vor seiner Nase wieder auffing. Als er mich wütend ansah, grinste ich spöttisch.
Während der Wirt mein Bier holte, sah ich mich in der Taverne um. Es war ziemlich voll, laut und stickig, aber anders wollte ich es nicht haben. So fühlte ich mich wohl. Denn auch auf der Little Luna sah es nicht viel anders aus, hörte es sich nicht viel anders an und roch es vor allem nicht anders. Zumindest nicht auf dem Zwischendeck und erst recht nicht in der Bilge.
Der Abschaum der Welt. Und ich gehör' dazu.
Ich grinste, als ein Pirat seinem Nebenmann einen Becher Rum ins Gesicht schleuderte. Wenig später flogen die ersten Stühle durch die Gegend.
„Da!“ Der Wirt knallte vor mir einen Bierkrug auf den Tisch und ich warf ihm die Münze zu. Grunzend steckte er sie ein und warf anschließend die Streithähne raus.
Ich ließ mir Zeit beim Trinken, beobachtete weiter die Leute und kaute ab und an auf einem weiteren Stück Brot herum, das ich unter meiner Lederweste versteckt hatte. Seit unserer Flucht aus Belize trug ich wieder nur Pluderhose, Hemd, Weste und Stiefel. Natürlich auch meinen Waffengürtel und den Dreispitz, aber keine aufwändigen Kleider mehr. Das grüne Kleid hatte ich schon auf der Insel Porta bei meinen Großeltern weggeworfen, das Rote war bei unserer Flucht zerrissen und das Blaue hatte ich in Belize vergessen. Es lag vermutlich noch immer im Schrank und verrottete dort.
Als ein Bierkrug dicht an mir vorbei segelte und gegen eine Wand krachte, stand ich auf und verließ die Taverne. Eine ganze Weile wanderte ich ziellos durch die Gassen, wich mehreren Schlägereien aus und feuerte gemeinsam mit einer Gruppe Schaulustiger zwei Piraten an, die sich mit Enterhaken zu erstechen versuchten. Ich bewunderte die beiden dafür, mit den unhandlichen Waffen umgehen zu können.
Bei einem großen, halb verfallenen Lagerhaus traf ich auf Aaron, der gemeinsam mit Malcolm versuchte, die Hintertüre aufzubrechen.
„Na? Habt ihr Erfolg?“ Erschrocken wirbelten die beiden zu mir herum und grinsten dann.
„Du kannst uns helfen, wenn du willst.“
„Nein, danke. Ich hab' besseres zu tun. Ihr habt nicht zufällig Con gesehen?“ Beide schüttelten den Kopf.
„Da musst du wo anders suchen.“ Ich zuckte nur mit den Schultern und ging dann weiter, kehrte zurück ins Menschengedränge und ließ mich einfach treiben.
Es gab nichts aufregenderes, als eine Piratenstadt zu erkunden. Bis zum Abend streifte ich durch die Gassen, lauschte Gesprächen über Neuigkeiten und traf selbst einige Piraten und auch Piratinnen, mit denen ich mich unterhielt. Wie sich herausstellte, segelten nur wenige der Piratinnen auf Schiffen. Die meisten verbrachten ihre Zeit damit, hier auf Tortuga zu stehlen, plündern und zu rauben.
Als schließlich die Sonne am Himmel unterging, kehrte ich zur Little Luna zurück, wo ich Nachtschicht hatte.
„Rose, du bist spät dran.“, rief Vater ungeduldig vom Deck und ich lief eilig die Planke hoch.
„Tut mir leid, Käpt'n. Wurde aufgehalten.“ Er winkte ab und brummte etwas von der Unpünktlichkeit der Weiber. Aber das belustigte und liebevolle Funkeln in seinen Augen blieb mir dennoch nicht verborgen. Auch wenn er es nicht gerne zeigte, wusste ich doch genau, dass er mich liebte und gerne hatte. So wie ich ihn.
Früh am nächsten Morgen, Alains und Harveys Leute hatten uns um Mitternacht abgelöst und ich hatte in Ruhe schlafen können, machte ich mich wieder auf den Weg in die Piratenstadt. Con begleitete mich wie am Vortag ein Stück, trennte sich aber schließlich von mir und machte sich auf den Weg zu Ari. Lächelnd sah ich ihm nach, bis er in der Menge verschwand.
Stundenlang lief ich durch die Straßen, Gassen und Plätze, erforschte die Stadt bis in ihren kleinsten Winkel und traf ab und an auf einen von meinen Freunden von der Little Luna. Als ich mich gerade an einem Piraten vorbei zwängte, seinen Geldbeutel zwischen die Finger bekam und ge schickt mit einem Dolch vom Gürtel abtrennte, so wie Filos es mir beigebracht hatte, rief eine junge Frau von einem schiefen Balkon herab:
„Nicht schlecht.“ Sie sprang zu mir herunter und musterte mich aufmerksam aus grauen Augen.
„Wie heißt du? Dich hab' ich hier noch nie gesehen.“ Ich sah sie misstrauisch an. Sie trug eine dreckige Kniehose, ein weites Hemd, Stiefel und einen dünnen Waffengürtel.
„Was geht dich das an? Wer bist du denn?“ Sie streckte mir die Hand hin.
„Ich bin Joll. Und du?“ Noch immer misstrauisch ergriff ich ihre Hand.
„Nenn' mich Rose.“ Sie grinste und zeigte ihre braunen Zähne. Dann warf sie sich ihre blonden, strähnigen Haare über die Schulter.
„Also, bist du neu hier?“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust und warf ebenfalls meine Haare zurück.
„Das geht dich immer noch nichts an.“
„Also bist du neu hier. Mit welchem Schiff bist du denn gekommen? Heute sind nur die Wings of Angle, die Andrea Johanna, die Valley und die Gridex eingelaufen. Und keine von denen hat 'n Mädchen an Bord.“
„Woher willst du denn wissen, dass ich heute erst angekommen bin?“ Sie stutzte und rieb sich die Stirn.
„Weil meine Mädels mir sonst Bescheid gesagt hätten, wenn jemand wie du hier aufgetaucht wäre.“
„Jemand wie ich?“ Ich sah sie verwirrt an.
„Aye, wie du. Du hast keine Ahnung, wie viel Aufmerksamkeit du hier erregst, oder?“ Ich schnaubte.
„Warum sollte ich ...“ Sie hob eine Augenbraue.
„Weil dir alle Männer hinterher starren und dir auf den Busen glotzen. Is' dir eigentlich bewusst, wie schön du bist?“ Ich brach ich schallendes Gelächter aus.
„Beinahe hätte ich dir geglaubt.“ Ich lachte noch immer.
„Das meine ich ernst.“ Grinsend winkte ich ab.
„So 'n Blödsinn. Wer sind überhaupt deine Mädels ?“
„Du warst also wirklich noch nie hier?“ Sie schien ehrlich verblüfft.
„Nein.“ Verwundert schüttelte sie den Kopf.
„Dabei sah es so aus, als würdest du dich hier auskennen. Wie auch immer. Wir nennen uns die Jolly-Rogers. Jedes Mädchen und jede Frau, die nicht auf einem Schiff leben und keine Dirne sein wollen, finden bei uns Zuflucht. Wir sind eine verschworene Gemeinschaft.“ Ich sah sie in teressiert an.
„Und du bist die Anführerin?“ Sie nickte stolz.
„Aye, die bin ich. Und ich werde über jede Neuigkeit, jedes einlaufende Schiff und jedes fremde Mädchen unterrichtet, das hier ankommt.“ Ich wusste nicht genau, was ich von ihr halten sollte, wusste nicht einmal, ob ich ihr trauen konnte und ob sie die Wahrheit sagte. Aber interessant klang es allemal.
„Du scheinst 'n interessantes Leben zu führen. Vorausgesetzt es stimmt, was du da erzählst.“ Sie sah mich entrüstet an.
„Wir reden hier von Frau zu Frau und wir sind noch dazu beinahe gleich alt. Glaubst du wirklich, ich lüge?“
„Wer weiß? Ich lüge schließlich auch Frauen in meinem Alter an.“ Joll schien nicht recht zu wissen, was sie von mir hallten sollte.
„Wie auch immer. Willst du dich uns jetzt anschließen oder nicht?“
„Davon war nie die Rede.“ Sie warf die Hände in die Luft.
„Zur Hölle, du bist ja mindestens so anstrengend wie mein Bruder Jo es war. Und mit dem war es schon nicht einfach zu diskutieren.“
„Langsam machst du mich wirklich neugierig. Wenn du 'n Stück mit mir gehst, hör' ich mir zumindest an, warum du ausgerechnet mich bei euch aufnehmen willst. Und warum dein Bruder so anstrengend war!“ Ihr Lächeln verschwand und einen Moment lang glaubte ich, sie würde auf mich los gehen. Dann murmelte sie aber:
„Er is' vor einigen Jahren ermordet worden.“
„Oh.“ Mehr brachte ich nicht heraus. Ich wusste nur zu genau, wie es sich anfühlte, jemanden zu verlieren, den man gerne hatte. Ich hatte André verloren. Wenn gleich er auch nicht gestorben war ...
Um vom Thema abzulenken, fragte ich:
„Also, wieso willst du mich bei dir aufnehmen?“ Ihr Lächeln kehrte halbwegs zurück.
„Das hab' ich dir mehr oder weniger eben schon verraten. Wir suchen immer neue Frauen, die schön genug sind, um die Aufmerksamkeit der Männer zu erregen, und dennoch genug Verstand haben, sie nicht an sich heranzulassen.“
„Woher willst du wissen, ob ich mich nicht mit Männern einlasse?“ Sie stutzte.
„Also, eben wirktest du zumindest nicht so.“ Ich antwortete nicht, sondern setzte mich in Bewegung. Sie folgte mir.
„Jedenfalls bist du mir gleich aufgefallen. Du ... wo kommst du her? Aus Port Royal? Von New Providence? Oder bist du 'n entführtes Mädchen, das zur Piratin geworden is'?“
„Weder noch.“ Ich grinste amüsiert und sie funkelte mich belustigt und beleidigt zugleich an.
„So einer wie dir bin ich noch nie begegnet.“
„Das will ich auch hoffen!“ Ich schlug den Weg zu einer Taverne ein. Inzwischen hatte ich Durst bekommen.
„Wieso hast du dich eigentlich den Jolly-Rogers angeschlossen?“
„Ich hab' mich ihnen nicht angeschlossen, ich hab' sie gegründet.“
„Und?“ Sie seufzte und fuhr sich durch die Haare.
„Ich weiß nicht, ob ich dir genug vertraue, um es dir zu erzählen.“
„Das kann ich dir auch nicht sagen.“
„Wo willst du eigentlich hin?“
„Ich hab' Durst.“
„Sollen wir in die Taverne „Zum Strandläufer“ gehen?“
„Von mir aus.“ Gemeinsam bahnten wir uns einen Weg durch die Menge. Als wir schließlich auf das heruntergekommene Gasthaus zugingen, musste ich grinsen. Es war perfekt.
Drinnen war es unglaublich voll und laut, dennoch suchte ich uns einen Tisch in einer Ecke, bestellte einen Becher Rum und kippelte auf den hinteren Stuhlbeinen, bis ich an der Wand lehnte, und zog den Dreispitz tief in die Stirn.
„Du hast mir immer noch nicht gesagt, von welchem Schiff du kommst.“
„Welches vermutest du denn?“
„Um ehrlich zu sein hab' ich keine Ahnung. Die großen Kapitäne sehen uns nicht gerne bei ihren Schiffen und ärgerlicherweise entdecken sie jede noch so gut versteckte Späherin, die ich hinschicke. Das allerdings is' 'n Hinweis darauf, dass du von einem der großen Schiffe kommst, ansonsten hätten meine Mädels dich gesehen. Welches is' es? Die Wings of Angle? Die Little Luna? Obwohl meines Wissens nach keines der beiden Schiffe Frauen an Bord hat.“ Ich grinste nur und trank einen Schluck Rum.
„Das mysteriöse Mädchen. Du würdest gut in unsere Reihen passen. Willst du dich uns wirklich nicht anschließen? Du kannst doch die Männer auf deinem Schiff bestimmt nicht mehr sehen.“ Ich kniff die Augen zusammen.
„Was genau hast du gegen Männer?“
„Du bist verdammt schlau.“ Ich antwortete wieder nicht.
„Also schön, dann sag' ich's dir eben. Die Jolly-Rogers sind vor allem 'ne Zuflucht für jene, die schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht haben, oder die nichts mehr mit ihnen zu tun haben wollen.“ Ich konnte nicht anders, ich musste laut lachen.
„Is' das dein Ernst? Du leitest 'ne Gruppe ängstlicher Frauen, die sich vor den großen, bösen Männern fürchten? Unglaublich.“ Ich musste wieder lachen, trank dann den letzten Schluck Rum aus und sah wieder zu Joll. Sie sah mich mit verkniffenem Gesicht an.
„Du hast wohl noch nie schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht, oder? Bist du jemals verprügelt worden?“
„Aye.“ Stirnrunzelnd dachte ich an Gregorio.
„Hat dir jemals jemand das Herz gebrochen?“ Das war nicht so einfach zu beantworten, aber schließlich nickte ich. Con hatte mir einmal gesagt, dass er sich nichts aus mir machte. Damals hatte er mich zutiefst verletzt. Und erst recht, als ich geglaubt hatte, er hätte eine andere Freundin.
„Wurdest du schon von Männern im Stich gelassen.“ Ich winkte ab.
„So viele Male kann ich gar nicht aufzählen.“
„Aber ...“ Joll glaubte mir offensichtlich nicht.
„Und das alles sind keine Gründe für dich, die Männerwelt hinter dir zu lassen?“ Heftig schüttelte ich den Kopf.
„Nein, niemals. Es gibt nichts aufregenderes, als mit ihnen zusammen zu leben. Und wenn dich einer schlägt, schlägst du eben zurück.“ Lange sah Joll mir in die Augen.
„Dann gehe ich davon aus, dass du dich uns nicht anschließen wirst?“ Ich rieb mir das Handgelenk.
„Korrekt.“ Ein Schatten legte sich auf Jolls Gesicht, aber dann setzte sie eine entschlossene Miene auf.
„Wie du willst. Aber wenn du 's dir anders überlegst, kannst du gerne zu uns kommen.“ Ich nickte dankend und zuckte zusammen, als ein älterer Pirat krachend den Stuhl seines Nachbarn auf den Rücken gedonnert bekam. Wenige Augenblicke später war die schönste Schlägerei im Gange.
Joll verzog das Gesicht und rutschte mit ihrem Stuhl zur Seite. Ich hingegen seufzte und stand auf.
„Ich gehe. Kommst du mit?“ Sie nickte und folgte mir dicht an der Wand nach draußen, wo ich prompt mit jemandem zusammenstieß. Ich fing mich und trat einen Schritt zurück, der große Pirat aber konnte sich nicht fangen und rempelte einen anderen an, der ihm wütend einen Schlag versetzte. Im selben Moment, in dem der erste Pirat zum Schlag ausholte und dem zweiten krachend ins Gesicht schlug, erkannte ich ihn.
„Filos!“, flüsterte Joll neben mir warnend und zog mich zurück.
„Komm da weg, das is' Filos. Kennst du etwa die Geschichten über ihn nicht? Er is' beinahe so brutal wie sein Käpt'n. Er is' von der Little Luna.“ Der brutale Filos hatte den anderen Piraten inzwischen zu Boden geschickt, wo er hastig von dem großen Piraten weg kroch.
„Komm schon. Wenn er mitbekommen hat, dass du ihn geschubst hast, bist du die Nächste, die im Staub liegt.“ Ich warf ihr mein Piratengrinsen zu und rief laut:
„Filos!“ Mein Bruder wirbelte zu mir herum und kam dann grinsend auf uns zu.
„Hast du mich gerade etwa geschubst, Schwesterherz?“
„Du standst im Weg, kleiner Bruder.“ Er wischte sich etwas Blut aus dem Gesicht und spuckte aus.
„Jedem anderen hätte ich jetzt die Nase gebrochen.“ Er zwickte mir sanft in die Nase und ich pikste ihm gegen die Brust.
„Finger weg. Was machst du hier?“ Er verzog das Gesicht.
„Der Käpt'n sucht neue Männer. Wir haben in den letzten Schlachten viele verloren. Ich muss ihm dabei helfen.“
„Dann wollen wir dich mal nicht von deiner Arbeit abhalten. Komm Joll.“ Ich sah zu der jungen Frau, die mich mit offenem Mund anstarrte.
„Joll?“ Erst jetzt schien Filos sie zu bemerken.
„Du bist die Anführerin der Jolly-Rogers? Die Schwester von Jo?“ Er konnte sich sein Piratengrinsen nicht verkneifen.
„Dein Bruder hat mir noch sechzehn Goldmünzen geschuldet, ehe Edward ihn erschossen hat.“ Joll wurde zuerst blass, dann rot vor Zorn.
„Was mein Bruder für Schulden hatte, interessiert mich nicht. Er konnte sie nicht begleichen und ich hab' damit nichts zu tun, du Bastard.“ Filos trat einen Schritt näher und sah sie nun drohend an.
„Vorsicht mit dem, was du sagst, Mädchen. Selbst wenn du mit Rose befreundet bist, hab' ich keine Scheu davor, dir hier und jetzt die ...“ Ich unterbrach ihn hastig.
„Filos, das klären wir später. Vater wartet bestimmt schon auf dich. Außerdem is' das hier 'ne Frauenverabredung.“ Er knurrte mürrisch:
„Solange du dich ihnen nicht anschließt.“
„Keine Sorge, das hatte ich nie vor.“ Er sah mich noch einmal kurz an, zuckte dann mit den Schultern, gab mir einen flüchtigen aber demonstrati ven Kuss auf die Wange und verschwand schließlich in der Menge.
„Du kommst von der Little Luna ?“, hauchte Joll ehrfürchtig und trat einen Schritt zurück. Ich fuhr mir durch die Haare.
„Aye. Käpt'n Garreth is' mein Vater.“ Sie schien eine Weile zu brauchen, ehe sie diese Neuigkeit verarbeitet hatte.
„Aber ... seit wann hat er denn ...?“
„'ne Tochter?“, führte ich den Satz zu Ende.
„Seit beinahe achtzehn Jahren. Ich bin allerdings bei meiner, ähm, Mutter aufgewachsen.“ Ich schauderte bei dem Gedanken an die Gestaltwandlerin, die meine richtige Mutter kurz nach der Geburt umgebracht hatte.
„Oh.“, war das Einzige, was Joll heraus brachte. Noch immer starrte sie mich fassungslos an.
„Nun komm schon. So was Tolles is' das nun auch wieder nicht.“ Sie nickte langsam, schüttelte dann einmal den Kopf und biss sich auf die Lippe.
„Unglaublich. Garreth' Tochter! Wie heißt du wirklich?“
„Rosalia Maria. Aber wehe du nennst mich so.“ Langsam gewann sie ihre Fassung wieder und musterte mich wie ein seltenes Insekt.
„Du siehst ihm ähnlich.“ Ich zuckte mit den Schultern.
„Ich weiß. Können wir dieses Thema jetzt abschließen? Zeig mir lieber die Stadt.“
„Also schön, Rose. Aber ich hab' noch viele Fragen.“
Die Tage auf Tortuga vergingen wie im Flug. Ich verbrachte viel Zeit mit Joll, aber auch mit Trevis, Con, Luke, Filos oder Vater wanderte ich gerne durch die Straßen. Bald kannte ich mich hier besser aus, als früher in Belize. Und jeden Tag wurde mindestens ein Händler wütend auf mich, wenn ich mich an seinem Stand bediente. Oft jagten sie mich anschließend durch einige Gassen.
„Das war der letzte Sack Mehl.“, japste jetzt Igno neben mir und ließ den Sack auf das Deck fallen, sodass es staubte. In stundenlanger Arbeit hatten wir alle Vorräte verladen und bereiteten nun alles für unsere Abreise morgen früh vor. Gemeinsam mit siebenundzwanzig neuen Mitgliedern. Con, Sage und Vater hatten sie ausgiebig in ihren Kampfkünsten und auf allen anderen erdenklichen Gebieten getestet. Zuletzt hatten sie Vater als ihrem Käpt'n Treue schwören müssen.
„Hervorragend. Morgen früh können wir ablegen.“, rief Vater gut ge launt.
„Sage und Filos, in meine Kajüte. Cornelius!“ Con warf ihm wütende Blicke zu, küsste mich auf die Stirn und ging dann geschmeidig zu ihm hinüber. Was die beiden redeten, konnte ich nicht verstehen.
Ich wollte mich gerade zu ihnen gesellen, da rief jemand vom Pier meinen Namen. Verwirrt drehte ich mich um und entdeckte Joll, die wachsam die Piraten im Auge behielt.
„Joll. Was machst du hier?“
„Legt ihr morgen ab?“ Ich nickte und beugte mich über die Reling.
„Was is' los?“ Sie zuckte mit den Schultern.
„Ich hab' Gerüchte von eurer Abreise gehört und wollte mich vergewissern, ob es stimmt. Treffen wir uns heute Abend noch einmal in unserer Taverne? Zum Abschied?“ Ich zögerte. Ich hatte bereits Con versprochen, den Abend mit ihm zu verbringen.
„Ich weiß nicht genau, ob ich kann. Wenn ich kann, dann komme ich. Wenn nicht, dann eben nicht. Wir werden sehen.“ Joll grinste zu mir hoch und zwirbelte eine Haarsträhne zwischen den Fingern.
„In Ordnung. Bis später dann.“ Sie winkte einmal, drehte sich dann auf dem Absatz um und verschwand in der Menge.
„War das Joll? Die Anführerin der Jolly-Rogers?“, flüsterte Con an meinem Ohr. Ich drehte mich zu ihm um.
„Aye. Hast du uns gehört?“
„Ja.“
„Hast du Lust, den Abend mit uns zu verbringen? Ansonsten gehe ich nicht hin und bleibe bei dir.“ Er winkte ab.
„Ist schon in Ordnung. Ich teile dich zwar nicht gerne, aber du bist viel zu selten unter Frauen.“ Lachend boxte ich ihm gegen die Schultern.
„Ich brauche keine Frauen, wenn ich dich hab'.“ Lächelnd beugte er sich zu mir hinab und küsste mich flüchtig.
„Du bist mein Ein und Alles.“ Ich lehnte mich an seine Brust.
„Und dir gehören mein schwarzes Herz und meine verdammte Seele.“
„Eine Seele kann ich dir nicht geben, aber mein Herz gehört dir schon lange.“ Ich lachte leise und küsste ihn auf den Wangenknochen.
Als die Sonne schließlich zu sinken begann, ging ich zum Käpt'n in seine Kajüte. Er saß über einigen Seekarten gebeugt und war in seine Aufzeichnungen vertieft. Als ich eintrat, hob er verärgert den Kopf.
„Was is?“ Ich lehnte mich an den Türrahmen.
„Ich wollte dich fragen, ob du mich heute Abend noch brauchst?! Ansonsten würde ich mich gerne noch mal mit Joll treffen.“ Ich hatte die beiden einander vorgestellt und Vater war erleichtert gewesen, als ich ihm versichert hatte, dass ich bei ihm bleiben würde.
„Nein, geh nur. Aber nimm jemanden mit. Nachts kommen hier die brutalen Leute aus ihren Löchern.“ Ich nickte.
„Danke, Käpt'n. Bis nachher.“ Er schnippte mir eine Münze zu.
„Bring mir 'ne Flasche Rum mit.“ Grinsend ließ ich die Münze in einer Tasche verschwinden und kehrte zurück auf das Deck, wo Con bereits wartete. Hand in Hand schlenderten wir durch die Gassen zur Taverne „Zum Strandläufer “, in der Joll und ich uns jeden Tag getroffen hatten. Inzwischen hieß sie nur noch unsere Taverne.
„Du magst es hier, nicht wahr?“ Ich sah zu Con hoch.
„Aye, ich finde Tortuga wundervoll. Ich hab' mich an keinem Ort je so wohl gefühlt, so lebendig. Hier lebt der Abschaum der Welt, hier gibt es keine Regeln. Hier gehöre ich hin.“ Er fuhr sich durch die Haare.
„Ist dir bewusst, dass du das alles aufgeben musst, wenn du dich verwandeln willst? Du hättest einen neuen König, neue Gesetzte, neue Regeln. Vielleicht sogar eine neue Heimat.“ Ich blieb abrupt stehen.
„Wird es wirklich so sein? Würde ich, sobald ich 'ne Elfe wäre, gleichzeitig auch 'nen neuen König haben? Kann ich nicht einfach Pirat bleiben? Hier leben? Nach diesen Gesetzten und Regeln? Was wäre so schlimm daran? Natürlich würde ich gegen die Gestaltwandlerin kämpfen und dir helfen, sie zu besiegen. Aber muss ich dazu auch gleichzeitig König Furos dienen?“ Con zögerte.
„Ich weiß es nicht genau. Warum solltest du nicht so weiter leben können, wie bisher? Natürlich würde es dem König nicht gefallen, aber alleine die Tatsache, dass du uns helfen könntest und vor allem gute Kontakte in diese Welt hast, die entscheidend sein können, dürfte ihn milde stimmen. Aber versprechen kann ich nichts.“ Ich verzog das Gesicht.
„Ich werde unter keinen Umständen alles aufgeben, was ich mir in den letzten Monaten aufgebaut hab'! Mein Zuhause is' die Little Luna und mein Heimatort is' hier. Damit wird er sich abfinden müssen.“ Con grinste belustigt.
„Mein kleiner Sturkopf. Du wirst den König in den Wahnsinn treiben.“ Ich grinste mal wieder mein hämisches Piratengrinsen und zog ihn dann weiter durch die Menge.
In der Taverne war es wie immer voll und Con verzog das Gesicht.
„Wieso trefft ihr euch ausgerechnet hier ?“ Er sah sich verächtlich um und warf einem Piraten einen eisigen Blick zu, als der mir zu nahe kam.
„Kennst du 'ne andere Taverne, die so perfekt für Piraten geeignet is'?“ Er hob eine Augenbraue.
„Zumindest keine, in der es mehr stinkt.“ Ich sah ihn belustigt an und er schnitt eine Grimasse.
„Wenn du nichts dagegen hast, können wir jetzt wieder gehen.“
„Ach komm schon. So schlimm is' es hier nun auch wieder nicht. Ich geb' dir auch 'n Bier aus.“
„Nein danke. Ich rieche jetzt schon, dass es widerlich ist.“ Grinsend sah ich mich in der Taverne um, bis ich Joll an unserem üblichen Tisch in der Ecke entdeckte. Mit großen Augen betrachtete sie Con.
Ich winkte ihr zu und zog den Winterprinz hinter mir her, der Joll mit seinen kalten Blicken erbarmungslos musterte. Sie zuckte erschrocken zurück.
„Joll, das is' Cornelius. Con, das is' Joll.“
„Der kalte Pirat.“, hauchte sie und schien auf ihrem Stuhl immer kleiner zu werden. Ich sah sie beruhigend an, zog zwei weitere Stühle heran und setzte mich neben sie. Con ließ sich geräuschlos auf meiner anderen Seite nieder und hinderte so jeden Piraten daran, sich mir auch nur zu nähern.
„Wie war dein Tag heute so?“, erkundigte ich mich. Sie sah noch immer ängstlich zu Con, antwortete aber:
„Ganz gut. Und deiner?“
„Anstrengend.“ Endlich sah sie wieder mich an.
„Wieso?“ Ich zuckte mit den Schultern und erzählte ihr davon, wie wir die Little Luna beladen hatten.
Wir redeten noch lange an diesem Abend. Über alles mögliche. Joll wusste inzwischen, wo ich herkam und wie ich aufgewachsen war, und sie erzählte mir von ihrer aufregenden Kindheit in Port Royal, auf Tortuga und New Providence.
Während wir erzählten, tranken wir einen Becher Rum nach dem anderen, bis Con den Wirt mit kalten Blicken davon abhielt, uns Nachschub zu bringen. Als ich ihn entrüstet danach fragte, antwortete er nur, dass Vater es gar nicht gerne sehe würde, wenn ich morgen einen Brummschädel hätte. Ich stimmte ihm seufzend zu, verschwieg ihm aber, dass sich bereits jetzt die Taverne um mich herum drehte.
Plötzlich verspannte sich Con. Er war die ganze Zeit über wachsam gewesen, aber ich bemerkte es sofort, als er in Alarmbereitschaft ging.
„Was is' los?“ Ich beugte mich zu ihm und musterte sein angespanntes Gesicht. Er hingegen beachtete mich gar nicht, sondern sah wie gebannt zur Türe. Ich folgte seinen Blicken ... und erschrak. Drei elegante Gestalten standen dicht nebeneinander und suchten den Raum nach etwas ab. Sie trugen schwarze Kleidung, Schwerter und schwere Stiefel. Zwei von ihnen waren Frauen, der dritte ein Mann. Ihre schwarzen, toten Augen schienen im Licht der Fackeln und Laternen zu glühen.
„Reb ...“ Blitzschnell drückte Con mir eine Hand auf den Mund und brachte mich so zum Verstummen. Ohne mich anzusehen, erhob er sich.
„Du wartest hier, bis ich wieder komme. Egal wie lange das dauert.“ Ich sah ihn besorgt an, nickte aber.
„Sei vorsichtig.“ Mit eisigem Gesichtsausdruck bahnte er sich einen Weg durch die Piraten, bis zu den drei Gestalten, die ihn noch nicht entdeckt zu haben schienen.
Plötzlich heulte ein eisiger Windstoß durch die Taverne und alle Feuer und Laternen gingen aus. Im letzten Licht sah ich das Eis, das knackend über den Boden zog, dann war es stockfinster.
Joll packte panisch meinen Arm und ich wusste, sie würde jeden Augenblick etwas sagen. Hastig presste ich ihr meine Hand vor den Mund und zischte dich an ihrem Ohr:
„Still, sonst entdecken sie uns.“ In der Taverne wurde es mit einem Schlag ruhig. Alle waren in ihren Tätigkeiten erstarrt.
Dann hörte man das erstickte Gurgeln von jemandem, dem die Kehle durchgeschnitten wurde, wenige Augenblicke später einen unterdrückten Schrei und das Keuchen von jemandem, der ein Schwert in die Brust gerammt bekam. Meine Nackenhaare stellten sich auf und selbst die betrunkenen Piraten schienen die Gefahr wahrzunehmen. Joll drückte sich eng an mich und ich wagte nicht, meine Hand von ihrem Mund zu nehmen, um kein Geräusch zu verursachen.
Ein heiseres Lachen hallte durch die Taverne, dann das Klirren von zwei aufeinander treffenden Schwertern. Eine Türe wurde aufgerissen und im Mondschein, der hinein fiel, sah ich eine Elfe, die von Con aus der Taverne gedrängt wurde. Hinter den beiden fiel die Türe wieder ins Schloss.
Einen Augenblick lang herrschte Totenstille in der Taverne. Dann wagte ich es leise zu atmen. Das Geräusch hallte laut in dem Raum wieder und langsam gesellten sich auch andere Atemzüge dazu. Der Wirt ging mit einer Fackel herum und entzündete die Lichter wieder.
Die Piraten in der Taverne waren leichenblass. Keiner rührte sich, sondern starrte nur mit weit aufgerissenen Augen auf die beiden reglosen Gestalten, die in einer dunklen Blutlache auf dem Boden lagen. Ihre Kleidung war blutgetränkt, ihre langen Haare verklebt und aus dem Mundwinkel der Elfe rann ein rotes Rinnsal. In ihrer Kehle klaffte ein tiefer Schnitt. Der Elf lag auf dem Rücken, den Mund zu einem stummen Schrei verzerrt. Seine rechte Hand hielt ein Messer, dessen Spitze blutbeschmiert war. Ich fluchte leise.
Con!
Die Brust des Elfen war aufgeschnitten worden und Blut quoll heraus. Ich glaubte die Wärme bis hierhin zu spüren. Aber ich wusste, schon bald würde das Blut kalt und getrocknet sein.
„Was war das?“, hauchte ein Pirat am anderen Ende des Raums. Entsetzt starrte er auf die beiden Toten und dann zur Türe.
„'n Dämon!“
„Der Teufel!“
„'n Geist!
„Etwas Eisiges, Kaltes.“
„Es hat sie umgebracht!“
„Wer war es?“ Ich sah noch immer auf die beiden Elfen. Ihre schwarzen Augen blickten starr zur Decke.
Rebellen! Selbst jetzt noch sind sie der Gestaltwandlerin treu.
Am liebsten hätte ich meinen Säbel gezogen und auf sie eingeschlagen. Meine ganze Angst und Verzweiflung an ihnen ausgelassen, die ich seit der Begegnung mit der Gestaltwandlerin in mir trug.
„Rose ...“, wisperte Joll neben mir. Sie wer kreidebleich.
„War er das? Hat er sie .?“ Ich schnitt ihr schnell das Wort ab und sah mich dann um.
„Er hat uns das Leben gerettet. Ich kenne diese Leute. Sie bringen alle um, die in ihre Nähe kommen und nicht ihrer Sache dienen.“ Wenn überhaupt noch möglich, wurde Joll noch blasser.
„Aber ... hinter was waren sie her?“ Ich wusste es, trotzdem wagte ich es nicht, es laut auszusprechen.
„Rosalia, hinter wem waren sie her?“
„Hinter mir.“, erwiderte ich tonlos. Im selben Augenblick krachte etwas gegen die Türe. Draußen ertönte ein hämisches Lachen. Ein Windstoß heulte um die Taverne, drang durch Schlitze und Spalten und brachte mich zum Frösteln. Ein Blitz zuckte, ein Donnerschlag krachte. Durch ein Fenster sah ich dichten Nebel durch die Gassen ziehen.
Wieder lachte jemand. Höhnisch, spottend, bösartig. Es folgten ein gequälter Schrei und Flüche.
Am liebsten hätte ich mir die Ohren zugehalten, aber ich zwang mich, hinzuhören. Con riskierte sein Leben da draußen für mich. Und ich würde hier auf ihn warten, wie er es verlangt hatte. Aber vielleicht brauchte er mich da draußen?! Ich verfluchte mich dafür, dass ich so viel Rum getrunken hatte.
Ein weiterer Schrei hallte durch die Gassen und wurde von dem Nebel fort getragen. Pferdehufe klapperten, wurden lauter und lauter.
Ich duckte mich in unsere Ecke, weg von dem Fenster. Die Hufe kamen immer näher, übertönten den krachenden Donner. Sie rasten am Fenster vorbei, dann brüllte jemand. Ein Pferd wieherte vor Schmerz und Panik und ich hörte, wie der schwere Leib auf dem Boden aufschlug. Dann flog die Türe auf und im Schein eines Blitzes erkannte ich eine große, schlanke Gestalt mit langen Haaren, die um ihren Kopf herum wehten. Schwarze Augen bohrten sich in meine.
„Rosalia Maria. Endlich habe ich dich gefunden.“ Die Stimme war kratzig und rau. Eindeutig eine Männerstimme.
Mir lief ein Schauer über den Rücken, als draußen ein weiterer Schrei durch den Nebel drang. Regen peitschte nieder und ein weiterer Donner krachte.
Ich schluckte und erhob mich.
„Was willst du?“ Mit der rechten Hand zog ich den Säbel, mit der linken packte ich meinen Rumbecher. Der Elf lachte rau.
„Das weißt du ganz genau, Kind. Dein Blut. Dein Fleisch. Deine Seele.“ Panisch wich ich zurück. Meine Knie fühlten sich wie Butter an und der Säbel hing schlaff an meiner Seite.
„Wirst du dich freiwillig ergeben?“ Die Stimme klang schmeichelnd und sanft. Ich widerstand dem Drang, auf sie zu hören.
„Nein? Dann werde ich dich mit Gewalt holen.“ Er machte eine Satz auf mich zu und ich schleuderte den Becher nach ihm. Er wich geschickt aus, hielt aber inne.
„Rose!“ Con erschien in der Türe. Auf seiner Wange war ein langer Schnitt.
Ich hatte keine Zeit mehr zu antworten, da stürzten sich vier Gestalten auf ihn. Mit einem Blitzschlag und Donner verschwand er wieder. Dennoch hatte dieser Moment ausgereicht, um mich an alles zu erinnern, was er mir beigebracht hatte. Herausfordernd hob ich den Säbel.
„Dann komm doch.“ Ich sprang um den Tisch herum und duckte mich hinter einen Stuhl, als das Schwert heran sauste. Krachend schlug es in das Holz ein und Splitter flogen durch die Luft.
Ich sprang weiter. Der Elf folgte. Und ich wusste, würde er mir näher kommen, würde ich kämpfen müssen. Aber dazu war ich nicht stark genug.
Ich sprang auf einen Tisch, über einen der vor Schreck erstarrten Piraten drüber und hinter die Theke. Dann hechtete ich hinter ein Fass Bier, das unter einem Schwerthieb zerbrach, weiter unter einem Tisch hindurch und auf das Fenster zu.
Aus dem Augenwinkel sah ich Joll, die sich vor Angst nicht mehr rühren konnte. Ich sprang von ihr weg, rollte mich hinter einem Piraten her und beobachtete, wie sie ohnmächtig auf den Boden sank.
Mein Kopf war leer. Es gab nur noch dieses eine Gefühl der Klarheit und meinen geschärften Instinkt. Ich überließ ihm die Führung, ließ mich ganz auf ihn ein und folgte seinen Anweisungen. Ich bewegte mich wie von selbst. Mal nach links, dann wieder nach rechts. Abrollen, aufstehen, zur Seite springen.
Dann hatte ich endlich das Fenster erreicht und sprang mit einem Satz hindurch. Ich prallte mit der Schulter gegen die Scheibe, flog hindurch und schlug hart auf dem Boden der Gasse auf. Regen prasselte auf mich nieder, Blitze krachten in schneller Abfolge herab und der Himmel dröhnte lauter denn je. Er schien vor Schmerz zu brüllen. Ein Echo der verwundeten Elfen.
Ehe der Rebell hinter mir her springen konnte, rollte ich mich weg und hob den Säbel, als er schon im Flug war. Aber ich wusste, ich kam zu spät. Mit voller Wucht prallte der Elf gegen mich, sein Schwert zum Schlag erhoben. Mein Säbel zischte durch die Luft nach oben, richtete sich mit der Spitze auf seine Brust. Dann sah ich nichts mehr. Ich spürte, wie ich wieder auf der Erde aufschlug, eine schwere Last auf mir liegend. Eine Waffe fiel klappernd zu Boden, eine warme Flüssigkeit rann über meine Hände.
Keuchend zog ich mich unter dem leblosen Körper des Elfen hervor, schob ihn von mir herunter und robbte von ihm weg. Meine Hände klebten von seinem Blut, mein Säbel ragte drohend aus seinem Körper. Seine eigene Waffe lag neben ihm im Schlamm.
Mit zitternden Händen zog ich den Säbel aus der Brust des Rebellen, packte ihn fest und reckte dann das Gesicht zum Himmel. Ich schloss die Augen und spürte nur den kalten Regen im Gesicht, der das Blut fort wusch und meine Gedanken klärte, bis sich selbst mein rasender Puls beruhigt hatte. Dann marschierte ich entschlossen zum Eingang der Taverne.
Auf dem Platz vor dem Wirtshaus lagen fünf reglose Gestalten im Schlamm, von Regen durchnässt und immer wieder von grellen Blitzen beleuchtet. Inmitten dieses Schlachtfeldes umkreisten sich zwei Elfen.
Dicht neben mir schlug ein Eisdolch in eine Hauswand ein und ich wich zurück. Ich wusste, Con hatte mich gesehen und er wollte, dass ich mich zurückzog. Dennoch blieb ich stehen und rührte mich auch dann nicht, als ein weiterer Eisdolch noch näher einschlug. Ich konnte die Kälte auf meiner Haut spüren.
Im selben Moment wie der Donner grollte, krachten auch die beiden Schwerter der Kämpfenden aufeinander. Schnell und tödlich. Im Licht eines Blitzes funkelten die Waffen.
Con drängte den Rebellen immer weiter zurück, schnitt ihm jeden Weg zu mir ab.
Ein Blitz blendete mich und ich musste die Augen schließen. Im selben Augenblick brüllte der Rebell, eine Elfe wie ich jetzt hörte, auf und krümmte sich zusammen. Con rammte ihr erbarmungslos sein Schwert in den Rücken und ließ den zuckenden Körper zu Boden fallen. Dann rannte er auf mich zu.
„Rose, verdammt. Du solltest doch drinnen bleiben!“, brüllte er wütend. Einen Augenblick lang war ich verwirrt, dann verwandelte sich meine Panik in Erleichterung und Wut.
„Hätte ich mich da drinnen abschlachten lassen sollen?“, schrie ich. Gleichzeitig rannte ich auf ihn zu und fiel Con um den Hals.
„Oh, Con. Bist du verletzt?“ Er zog mich fest an sich, antwortete nicht und vergrub sein Gesicht in meinen nassen Haaren. Eine ganze Weile standen wir so auf dem Schlachtfeld und meine Angst fiel allmählich von mir ab. Wir hatten es geschafft. Wir hatten überlebt.
Vor Erleichterung schluchzte ich leise auf und Con zog mich noch fester an sich heran, wiegte mich sanft hin und her und murmelte beruhigend. Dann hob er mich vorsichtig hoch. Ich schlang ihm meine Arme um den Hals, vergrub mein Gesicht an seiner Schulter und schluchzte leise, während er mich durch die Gassen trug.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, wusste ich nicht, wo ich war. Mein Körper schmerzte, meine Muskeln brannten und auf dem Rücken spürte ich ein dumpfes Pochen. Mühsam öffnete ich die Augen und erkannte nach einigen Augenblicken erleichtert, dass ich in meiner Hängematte lag.
Eine kühle Hand legte sich auf meine Wange und ich drehte erschrocken den Kopf, bis ich Con neben mir auf einem Stuhl erkannte.
„Wie geht es dir?“ Ich verzog das Gesicht.
„Besser als nach 'ner Prügelei, aber nicht so gut wie an 'nem normalen Morgen.“ Er strich sanft über meine Stirn und mein Haar, beugte sich dann vor und gab mir einen Kuss auf die Nase.
„Ich hatte gestern Angst um dich.“ Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht schoss, und grinste schief.
„Und ich hatte Angst um dich. Wie geht’s dir?“
„Ich habe nur ein paar Kratzer. Nichts Ernstes.“ Erleichtert atmete ich aus und setzte mich vorsichtig hin. Mein Rücken brannte von dem harten Aufprall auf dem Boden.
„Kommst du alleine klar?“ Con beobachtete mich besorgt und ich nickte entschlossen. Ich würde niemals zulassen, dass er mir beim Umziehen zuschaute.
„Aye, ich schaffs alleine.“ Auffordernd wedelte ich mit den Händen und mit einem kühlen Lächeln verließ der Winterprinz meine Kajüte.
„Alles klar machen zum Ablegen, ihr Landratten. Los, ihr Kielschweine. Warrick ans Steuer. Der Rest bringt Wind in meine Segel.“, brüllte Vater, nachdem wir in langer Arbeit die Little Luna startklar gemacht hatten. Ich kletterten an einem Want hoch und arbeitete Hand in Hand mit Con und Luke zusammen. Meinen schmerzenden Körper ignorierte ich, so gut es ging.
Gemeinsam ging uns die Arbeit etwas leichter von der Hand und schließlich setzte sich die Little Luna mit einem Ruck in Bewegung und trieb auf das offenen Meer zu, das im Schein der warmen Morgensonne strahlte.
Ich arbeitete den ganzen Tag über mit den Piraten zusammen, ohne mich zu beklagen. Denn trotz meines wunden Körpers überkam mich auch dieses Mal ein Hochgefühl, so wie immer, wenn wir in See stachen. Ich fühlte mich dann immer ausgelassen und voller Energie und Tatendrang. Erst nach einigen Tagen legte sich dieses Hochgefühl und nach einigen Wochen wurde ich oft, so wie alle Piraten, ungehalten, leicht reizbar und genervt. Aber das war nur natürlich, bei so vielen Menschen auf engem Raum.
Als ich am Nachmittag im Krähennest stand und mit einem Fernrohr Ausschau hielt, gesellte sich Con zu mir.
„Wie geht’s dir?“ Ich nahm das Fernrohr herunter und drehte mich zu ihm um.
„Gut, jetzt wo wir beide endlich alleine sind.“ Ich lächelte zu ihm auf und schlang ihm meine Arme um die Taille. Er zog mich sanft an sich.
„Morgen wirst du achtzehn. Bei mir ist das schon so lange her.“ Ich sah ihn überrascht an.
„Ich hab' Geburtstag? Woher weißt du das? Ich hatte es ja selbst vergessen!“ Er schmunzelte und gab mir einen sanften Kuss auf die Mundwinkel.
„Ich weiß vieles, Schneeflöckchen.“ Damit zog er mich enger an sich und küsste mich richtig. Seufzend schlang ich ihm meine Arme um den Hals und zog seinen Kopf zu mir herunter. Ich fuhr mit den Fingern durch sein seidenweiches, zerzaustes, schwarzes Haar. Es sah immer aus, als wäre er durch einen Sturm gelaufen.
Jetzt zerwühlte ich seine Haare noch mehr und ließ die weichen Strähnen durch meine Finger gleiten, zog ihn noch näher zu mir heran und küsste ihn, bis ich die Welt um mich herum und die Ereignisse des vergangenen Abends vergaß.
„Ich liebe dich.“, murmelte er schließlich leise an meinem Hals und küsste mein Schlüsselbein.
„Ich dich auch.“ Liebevoll sah ich ihm in die Augen und legte schließlich meinen Kopf an seine starke Brust. Unter meinen Fingern pulsierte sein Herz.
Am nächsten Morgen wurde ich früh von einem leisen Flüstern an meiner Tür geweckt, aber noch bevor ich reagieren konnte, wurde sie aufgerissen und ich sah geblendet in das Licht einer Fackel.
„Alles Gute zum Geburtstag!“, brüllte eine Gruppe Piraten und drängte sich in meine Kajüte. Ich sah sie fassungslos an und begann dann zu strahlen.
„Danke! So was Schönes hat noch nie jemand an meinem Geburtstag für mich gemacht.“ Vater setzte sich neben mich in die Hängematte und zog mich fest an sich.
„Ich wünsche dir ganz viel Glück und Stärke für dein neues Lebensjahr. Jetzt bist du schon achtzehn Jahre lang auf der Welt. Möge der Teufel den Tag bereuen, an dem du deinen ersten Atemzug getan hast.“ Gerührt über seine ungewohnt liebevolle Art, murmelte ich:
„Danke, Vater. Achtzehn. Ich kann nicht fassen, dass ich schon so alt bin.“ Ich gab ihm einen Kuss auf die Wange, dann wurde er von Filos zur Seite gedrängt. Er hob mich mit seinen kräftigen Armen aus der Hängematte, wirbelte mich einmal im Kreis herum und drückte mich dann fest an sich.
„Alles Gute, Schwesterherz. Ich bin stolz, dein Bruder zu sein.“ Ich grinste ihn an und gab auch ihm einen Kuss, allerdings auf die Stirn.
Nacheinander umarmte ich alle anwesenden Piraten – es waren diejenigen, die in den letzten Monaten zu guten Freunden geworden waren – und nur Con fehlte, was mich zum Lächeln brachte.
„Hier, das is' für dich.“ Filos drückte mir ein Säckchen in die Hand, das oben mit einem roten Band zu einer unordentlichen Schleife zusammengebunden war. Ich öffnete es und schüttete mir den Inhalt in die Hand. Es war ein Armband aus silbernen, ineinandergreifenden Gliedern, die von roten Rubinen in Form von kleinen Rosen unterbrochen wurden.
Gerührt machte ich es mir ums rechte Handgelenk und umarmte Filos noch einmal.
„Vielen, vielen Dank. Es is' wunderschön.“ Er lächelte mich zufrieden an und trat dann einen Schritt zurück, um Vater vorzulassen. Er gab mir eine längliche Holzschachtel, die mit feinen Schnitzereien in Form von Wellen und Blumen übersät war.
Ich sah ihn kurz an, lächelte und öffnete dann vorsichtig die Schachtel. Auf einem goldenen Kissen lag der schönste Dolch, den ich je gesehen hatte. Das Heft war aus dunklem Holz und ebenso verziert, wie die Schachtel. Die Klinge war zweischneidig, etwa zwei Spannen lang und blankpoliert. Der Übergang von Heft zu Klinge war mit feinem Goldstaub bestäubt, der auch den Knauf bedeckte.
Ehrfürchtig nahm ich den Dolch heraus. Er passte genau in meine Hand, so, als hätte ihn jemand extra für mich angefertigt und meine Hand dazu vermessen. Er war perfekt ausbalanciert.
Ohne ein Wort zu sagen stand ich auf und umarmte Vater, der mich gerührt an sich drückte.
„Er is' wunderschön. Vielen Dank.“, flüsterte ich schließlich und sah ihm in die grünen Augen.
„Ich wusste gleich, dass er dir gefallen würde, als ich ihn entdeckt hab'.“ Ich gab ihm noch einen Kuss, dann wurde mir ein großes Geschenk von Trevis überreicht. Während ich den Dolch in meinen Gürtel steckte, erklärte er:
„Das is' von der ganzen Mannschaft. Abgesehen von Con, aber das hast du dir wahrscheinlich schon gedacht.“ Ich setzte mich auf einen Stuhl und stellte das große, ziemlich schwere Geschenk neben mich, löste die Schleife und ließ den Stoff, mit dem es eingewickelt war, heruntergleiten.
Nach den beiden Geschenken meines Bruders und meines Vaters, war ich nicht darauf gefasst, noch etwas wertvolles zu bekommen. Ungläubig zog ich den Stoff ganz weg und gab den Blick auf einen großen Korb mit Goldmünzen frei.
„Wer is'n darauf gekommen?“, fragte ich grinsend und sah gespannt in die Runde. Luke und Urim grinsten breit zurück.
„Wir dachten, es würde dir gefallen, wenn du noch 'n bisschen Geld für dich alleine haben würdest. Edward wird es wohl hoffentlich nicht vermissen.“, antwortete Urim und spähte ebenfalls in den Korb.
„Aber schau mal, was noch drinnen is'.“ Ich schob ein paar Münzen zur Seite und stieß auf einen Holzboden. Erstaunt tastete ich weiter und spürte schließlich zwei kleine Hebel. Es schien, als wäre ein Zwischenboden eingelassen und mit Münzen gefüllt worden. Als ich sie alle wegschob, bestätigte sich mein Verdacht. Gespannt zog ich an den beiden Hebeln, woraufhin sich die Platte hob. Ich nahm sie heraus, spähte wieder in den Korb und brach in schallendes Gelächter aus. Der ganze Korb war mit Rumflaschen gefüllt.
„Vielen Dank. Wirklich, das is' 'n großartiges Geschenk.“, lachte ich und sah die Piraten an.
„Danke, dass ihr für mich auf den Rum verzichtet. Aber ich denke, in Notfällen könnte ich die ein oder andere Flasche abgeben.“ Die Piraten grölten begeistert und ich umarmte sie alle noch einmal.
„So, jetzt bin aber ich an der Reihe.“ Mit einem Mal war die ausgelassenen Stimmung unter den Piraten verflogen und sie traten nervös zur Seite. Strahlend sah ich Con entgegen, der mit ruhigen Schritten auf mich zu kam und mich fest in seine Arme schloss.
„Alles Gute zum Geburtstag, Kleines.“ Ich gab ihm einen stürmischen Kuss auf den Mund, was ihm ein Grinsen entlockte.
„Ich habe etwas für dich.“ Er griff in seine Tasche und holte etwas Kleines heraus, das er mir in die Hand legte. Fasziniert sah ich mir die Kette genauer an. Das Band bestand aus feinen, dünnen, silbernen Gliedern und als Anhänger hing ein wunderschöner Kristall in Form einer Träne daran.
„Das ist ein Tropfen des Meeres, den ich in eine Art Eiskristall verwandelt habe, der nicht schmilzt. Weißt du noch, wie du mir eine deiner Tränen geschenkt hast, als du aus deiner Ohnmacht auf der Insel erwacht bist?“ Ich nickte verwirrt und Con holte eine zweite Kette aus seiner Tasche. Sie sah genauso aus, wie die, die ich in der Hand hielt, nur war der Anhänger etwas klarer und glitzerte stärker.
„Das ist deine Träne. Wenn ich darf, würde ich sie gerne als Kette behalten. Dann hast du eine Träne von mir und ich eine von dir. Denn du weißt ja, dass ich das Meer bin.“ Ich umarmte ihn noch einmal fest und murmelte an seinem Ohr:
„Natürlich darfst du sie behalten. Dann sind wir immer miteinander verbunden.“ Ich legte mir Cons Träne um den Hals und beobachtete, wie er dasselbe mir meiner Träne machte.
Ein leises Lächeln stahl sich auf das Gesicht des Winterprinzen, als er mir vorsichtig über die Schultern strich.
„Draußen will dich noch jemand begrüßen.“ Verständnislos sah ihn zu ihm auf, folgte ihm aber auf das Deck.
„Tarak!“, rief ich begeistert, als ich den Greifen entdeckte. Er war kurz nach unserer Abreise aus Belize in die Elfenwelt zurückgeflogen und ich hatte ihn seitdem nicht mehr gesehen.
Tarak erhob sich elegant von seinem Sonnenplatz und kam auf mich zu stolziert. Sanft drückte er seinen Kopf an meinen Bauch.
„Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Rose.“
„Danke, Tarak.“ Ich umarmte ihn und kraulte ihn sanft hinter den Ohren.
„Wie geht’s dir? Und seit wann bist du hier?“
„Mir geht es gut. Ich bin heute Nacht angekommen.“ Ich umarmte ihn noch einmal und vergrub für einen Moment mein Gesicht in seiner weichen Mähne.
Trotz meines Geburtstags verlief dieser Tag wie alle anderen. Ich ar- beitete mit meiner Gruppe zusammen, schrubbte das Deck und half wo ich konnte. Und obwohl ich diese Arbeit schon so oft verrichtet hatte, wurde sie mir dennoch nicht überdrüssig. Ich liebte das Leben an Deck, das Meer, das Rauschen der Wellen, den Wind im Gesicht und die heiße Sonne. Das hier war mein Leben.
Später am Abend klopfte es an meiner Zimmertüre. Leise ging ich hin und öffnete sie einen Spalt. Draußen stand Con und sah mich lächelnd an.
„Kann ich rein kommen?“ Wortlos stieß ich die Tür weiter auf und schloss sie hinter ihm wieder.
„Habe ich dich geweckt?“, fragte er mit einem Blick auf mein weißes Nachtkleid und die zerwühlte Decke in der Hängematte. Ich schüttelte den Kopf.
„Nein, ich war noch wach und hab' nachgedacht.“
„Worüber?“
„Über diesen schönen Tag.“ Con lächelte und setzte sich neben mich in die Hängematte. Eine Weile schwiegen wir beide und hingen unseren eigenen Gedanken nach, dann fragte ich:
„Bist du mit der Prophezeiung schon weiter gekommen?“ Augenblicklich verflog sein Lächeln. Grimmig schüttelte er den Kopf und knurrte etwas Unverständliches. Auf dieses Thema reagierte er immer ziemlich empfindlich.
„Wie lautet sie nochmal?“
„Aus Liebe benutzt
Aus Hass beschmutzt
Es scheint der Mond
Man wird belohnt
Besiegt den Tod
Das Blut ist rot
Ein Band entspringt
Das die Umkehrung bringt
Mit unsterblicher Liebe
Wächst daraus der Friede“
Verständnislos dachte ich über die Worte Sinn ergaben. Überhaupt keinen Sinn.
Was zum Teufel soll Ein Band entspringt, heißen? Oder das mit der unsterblichen Liebe? Vielleicht müssen wir ja ein Kind ... aber nein, das kann doch nicht sein. Obwohl das mit dem Blutdann auch Sinn ergeben würde.
„Das is' wirklich beschissen. Es kann alles sein.“, murmelte ich und schüttelte dann den Kopf.
„Wie auch immer, ich bin sicher, wir werden noch früh genug herausfinden, was es damit auf sich hat.“
„Du hast recht. Wir sollten uns den schönen Tag nicht mit diesen Gedanken verderben.“ Er legte mir einen Arm um die Schultern, gab mir einen Kuss auf die Schläfe und sagte dann leise:
„Der eigentliche Grund, warum ich zu dir gekommen bin, ist, dass ich Kontakt mit Logus aufgenommen habe. Er richtet dir viele Grüße und Glückwünsche aus. Außerdem ist er bereit für den Kampf um das Amulett. Er hat einige Männer zusammengestellt und wartet nun auf meine Befehle.“
„Wie geht's ihm?“
„Ich glaube ganz gut. Der König hat ihn zum stellvertretenden Kriegsberater und zu seinem zweiten Leibwächter gemacht. Auch vom König übrigens viele Grüße an dich. Er will dich kennen lernen.“ Ich lachte leise.
„Auf einmal wollen sie mich alle kennenlernen. Früher war ich unwichtig und seid du in mein Leben getreten bist, bin ich der Mittelpunkt der Welt.“ Con lachte ebenfalls und zog mich auf seinen Schoß. Ich vergrub meinen Kopf an seiner Schulter und atmete seinen Duft ein.
„Stört dich das denn?“ Ich schüttelte den Kopf.
„Nein, es is' nur ungewohnt. Aber irgendwie auch ganz schön. Ich hab' das Gefühl, endlich dazu zugehören.“ Zufrieden legte er seine Wange auf meinen Kopf, streichelte meinen Rücken und begann, leise ein Lied zu summen. Es hüllte mich ein und ich begann wegzudämmern. Schließlich schlief ich ein und sank in einen Schlaf, in dem ich von Con und seiner Welt träumte.