Piz Palü - Marie Brunntaler - E-Book

Piz Palü E-Book

Marie Brunntaler

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Beschreibung

Ein Grand Hotel in den Schweizer Bergen Auf dem Piz Palü befindet sich das Grand Arnold seit Generationen in Familienbesitz. Auch im Jahr 1957 reisen illustre Gäste an, um die Sommerfrische in dem Schweizer Luxushotel zu genießen. Von den verschlungenen Familienverhältnissen der Arnolds, der Missgunst und Eifersucht unter ihnen, ahnen sie nichts, die gelangweilten Witwen, Generaldirektoren samt Gattinnen, Bergfanatiker und Prominente wie der Filmstar O.W. Fischer, der seinem Ruhm entfliehen will, aber schnell wieder vom Rummel um seine Person eingeholt wird. Erst als die Kinder des Hoteldirektors spurlos verschwinden und dann auch noch ein Mord geschieht, scheint der Wind um den Piz Palü immer eisiger zu wehen. Kommissar Tschudi, Leiter der Mordkommission in Graubünden und gesundheitlich angeschlagen, übernimmt den Fall. Was er am Fuße des Piz Palü ans Tageslicht bringt, erzählt von lange unterdrücktem Hass und schwärenden Familiengeheimnissen ...

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Seitenzahl: 250

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Das Buch

Im Sommer 1957 versammelt sich wie jedes Jahr eine illustre Gesellschaft im Grand Arnold.

Das Traditionshotel in den Schweizer Alpen zieht Bergfanatiker ebenso an wie reiche Witwen und Prominente. Auch Filmstar O.W. Fischer weilt unter den Gästen, um ein wenig Abgeschiedenheit zu genießen. Doch daraus wird in diesem Sommer nichts, als erst die beiden Kinder der Hotelbesitzer spurlos verschwinden und dann auch noch ein Mord geschieht. Familiengeheimnisse und lange unterdrückte Rachegefühle drängen nach und nach an die Oberfläche ...

Die Autorin

MARIE BRUNNTALER wurde im Südschwarzwald geboren, studierte Biologie und arbeitete als Landschaftsplanerin in Heidelberg und Bonn, bevor sie ihrem Mann in die Schweiz folgte. Marie Brunntaler arbeitet als Landschaftstopografin im Berner Oberland. Nach

Marie Brunntaler

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www.eisele-verlag.de

ISBN 978-3-96161-112-6

© 2021 Julia Eisele Verlags GmbH, München

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Inhaltsverzeichnis
Über das Buch / Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Empfehlungen

1

Der Wagen des Grand Hotels wartete an der Station Bernina Diavolezza, wo der Zug aus St. Moritz geringfügig verspätet eintraf. Frau von Hoppe reiste in Begleitung. Bartolo seufzte über die insgesamt sechs Koffer. Zwei davon würde er auf dem Dach festschnallen müssen.

»Hilf mir damit«, sagte er zur Begleiterin Frau von Hoppes. Der Kleidung nach war sie ihre Zofe, vielleicht die Gesellschaftsdame, siebzehn, höchstens achtzehn Jahre alt. Bartolo öffnete den Wagenschlag.

»Das ist meine Nichte.« Frau von Hoppe nahm Platz.

Für einen Moment sprachlos, verharrte Bartolo in der Verbeugung. »Verzeihung, gnädiges Fräulein.«

»Trotzdem kann ich ihm helfen.« Sie nahm den schwersten Koffer und wuchtete ihn in den Fond.

Man hatte Bartolo schon mehrfach mit Kündigung gedroht, sollte er sich weiterhin Gästen gegenüber respektlos benehmen. Seine Entschuldigung lautete meistens, Direktheit sei die Natur der Rätoromanen. Im Übrigen war gutes Personal auf zweitausend Metern Höhe schwer zu finden, Bartolo hielt die Kündigung also für eine leere Drohung.

Frau von Hoppe verkroch sich tief in ihren Pelzkragen. »Hauptsache, wir fahren bald los. Ich friere mich hier zu Tode.«

Bartolo wollte den nächsten Koffer nehmen.

»Zu zweit?«, bot ihm das Fräulein an.

Während sie das Gepäckstück gemeinsam auf das Wagendach hievten, bemerkte er, dass sie hinkte.

»Komm endlich herein und mach die Tür zu«, rief Frau von Hoppe.

»Wenn es dir recht ist, sitze ich vorn.«

»Du und deine Extratouren.« Die gnädige Frau sank in den Sitz.

Beim Einsteigen streifte Bartolos Blick die Beine der Kleinen. »Hinten ist es aber wärmer.«

»Mir gefällt es hier besser.«

Ihr Mund war etwas zu breit, ihr Kinn ein wenig zu kurz. Ob ihre Augen grün oder grau waren, konnte Bartolo in der Kürze nicht feststellen. Er startete, der Alvis TC108 setzte sich in Bewegung. Bis zum Grand Hotel war es eine Fahrt von zwanzig Minuten.

»So einen habe ich noch nie gesehen«, sagte sie.

»Unser Alvis? Das einzige Auto der Welt, das in der Schweiz gebaut wird.«

»Ist das so etwas Besonderes?«

»Sie waren noch nicht oft in der Schweiz, Fräulein von Hoppe?«

»Ich bin hier geboren.« Sie zog den Mantel vor der Brust zu. »Ist das bei euch immer so kalt?«

»Warten Sie, bis wir oben sind. Hier unten ist es noch warm.« Sportlich nahm er die ersten Serpentinen.

Sie schaute hinaus, wo sich die Berge mit jedem gewonnenen Höhenmeter deutlicher abzeichneten. Als ob sie aus dem Himmel herausgemeißelt wären. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich irgendwann wieder hierherkomme.«

»Die meisten halten die Einsamkeit nicht lange aus.« Er schaltete einen Gang zurück. »Die, die bleiben, lernen, dass in der Höhe seltsame Dinge passieren. Vorzeichen und Omen, rastlose Geister.«

Sie musterte ihn von der Seite. »Nicht nur Hotelchauffeur, auch noch Alpenpoet?«

»Im Grand Hotel bin ich alles.«

»Alles?«

»Sie werden schon sehen.«

Sie zeigte auf die schneebedeckten Hänge. »Ich verstehe das nicht. August, und so viel Schnee?«

»Auf der Diavolezza vergessen Sie am besten alles, was Sie über das Wetter wissen.«

Sie passierten den Wegweiser zum Grand Hotel.

»Diavolezza – die Teufelin, ist das rätoromanisch?«, erkundigte sie sich.

»Kennen Sie die Sage nicht?«

»Früher kannte ich sie vielleicht.«

»Unweit von hier, auf dem Munt Pers, hauste vor Jahrhunderten eine Bergfee. In Walpurgisnächten nahm sie im Lago Bianco ein Bad und wurde manchmal von Jägern erblickt. Aratsch, ein junger Jäger, war unvorsichtig und näherte sich ihr. Man hat ihn nie wiedergesehen. Alle nahmen an, er wäre in eine Gletscherspalte gefallen. Aber manchmal, wenn der Wind richtig steht, hört man in Sommernächten die Stimme der Diavolezza: Mort ais Aratsch, ruft sie. Aratsch ist tot.«

Hinter der nächsten Kurve stoppte Bartolo so hart, dass Frau von Hoppe im Fond nach vorn geworfen wurde.

»Was um Himmels willen …« Sie stützte sich auf die Vorderlehne. »Haben Sie den Verstand verloren?«

»Tschuf Schimgia!«, stieß Bartolo hervor.

Vor ihnen stand ein Benz 300SL auf der Straße quer. Zwei Männer drehten sich um. Sie waren ausgestiegen und schienen den Ausblick zu genießen. Beide liefen zum Fahrzeug zurück.

»Ich hab’s dir gesagt«, rief der Jüngere.

Der Ältere zog den Hut. »Tausend Pardons. Haben Sie sich etwas getan?«

Da Frau von Hoppe nicht antwortete, öffnete das Fräulein die Beifahrertür. »Uns geht es gut, vielen Dank.«

Der jüngere Mann spähte in den Alvis. »Verzeihung, ist das Frau von Hoppe?«

Ihr erstaunter Blick hinter Glas, in dem sich die Alpensilhouette spiegelte.

»Ich bin’s, der Otto«, gab er sich zu erkennen. »Otto Fischer. Sie haben mir in Berlin die Ehre gegeben. Nach der Bambiverleihung.«

»Ich erinnere mich«, kam es mit distanzierter Stimme aus dem Fond.

»Darf ich Ihnen einen lieben Kollegen vorstellen?« Fischer zeigte auf den Älteren, der mit dem Hut in der Hand dastand. »Leo Kriegler. Er schreibt meinen nächsten Film.«

Der andere verbeugte sich.

»Fahren wir vielleicht in dieselbe Richtung?«, rief Fischer.

»Es lässt sich wohl kaum vermeiden.« Sie ließ das Fenster um eine Winzigkeit herunter.

»Dann sollten wir besser die Straße freimachen.« Fischer lachte, und das war ein Ereignis, als ob im Lichtspieltheater der Vorhang aufging. Er hatte das beliebteste und am höchsten dotierte Lachen Deutschlands. Für Frau von Hoppe präsentierte er es umsonst.

Sein Begleiter stieg in den Benz. Der Motor knurrte. Beim Zurücksetzen wirbelte das Auto Staub und Kies auf.

»Hoffe bald auf Ihre geschätzte Gesellschaft!« Fischer schwang sich ebenfalls in den Wagen.

»War das wirklich O. W. Fischer?« Auch das Fräulein stieg wieder ein.

Bartolo löste die Handbremse. »Er kommt jeden Sommer zu uns. Um ungestört zu sein, wie er sagt. Aber natürlich wird er sofort erkannt.«

»Können wir endlich weiterfahren, bevor ich erfriere?«, rief Frau von Hoppe.

Der Alvis glitt in die nächste Höhenkurve. Nicht eine Wolke stand am Himmel.

* * *

Patters empfing die Gäste mit aufgespanntem Sonnenschirm. Bei Damen mit zarter Haut konnte die Augustsonne bereits nach Sekunden schädlich sein. Walti Patters, aus dem Wallis gebürtig, war daran gewöhnt, dass sein Name englisch ausgesprochen wurde. Die Gäste assoziierten mit dem Chefbutler gewohnheitsmäßig einen Briten. Einige hatten sogar das schweizerische Wallis mit dem britischen Wales verwechselt. Patters begleitete Frau von Hoppe unter das schützende Vordach und teilte Bartolo mit, er müsse später eine Lieferung aus Pontresina abholen. Fragend blieb Patters vor dem Fräulein stehen, das sich Frau von Hoppe nicht anschloss.

»Kann ich etwas für Sie tun?«

»Ich wollte mich beim Chauffeur nach etwas erkundigen.«

»Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein, gnädiges Fräulein«, erwiderte Patters freundlich. »Bartolo hat viel zu tun.«

»Ich soll eine Bluse für Frau von Hoppe bügeln. Wo ist das möglich?«

»Ich schicke Ihnen ein Mädchen aufs Zimmer. Sie wird sich darum kümmern.«

»Frau von Hoppe hat sehr präzise Vorstellungen, wie eine Bluse gebügelt werden muss. In diesem Punkt verlässt sie sich lieber auf mich.«

»Sie bügeln selbst für Ihre Tante?«, staunte Bartolo.

»Habe ich Ihnen nicht einen Auftrag erteilt?«, ging Patters scharf dazwischen. »In dem Fall werde ich Ihnen natürlich unser Bügelzimmer zeigen, Fräulein …«

Sie nahm ihre Reisetasche aus dem Fond. »Förster.«

»Hier entlang, Fräulein Förster.« Patters winkte einem Diener, der ihr die Tasche abnahm.

Bartolo stellte das restliche Gepäck hinter den Wagen. »Aber wenn Sie Frau von Hoppes Nichte sind, wieso heißen Sie dann Förster?«, rief er ihr nach.

»Bartolo, Sie melden sich nachher bei mir!« Die Strenge in Patters’ Stimme hatte den Klang von Metall.

Frau von Hoppe betrat das Grand Arnold. Roter Marmor, weißer Marmor, in endlosen Rauten bis zur Mitteltreppe. Die Drehtüren aus poliertem Messing, das Glas mit geätzten Motiven aus der Vogelwelt. Alpenblumen in Bodenvasen. Die Decke in Kassetten gegliedert, byzanthinisch vermutete man, in Wirklichkeit war es die Liebe des Gründungsvaters zum Ornament.

Das Grand Arnold existierte seit 1866 und war damit im selben Jahr eröffnet worden, als dem Engländer Kenelm Edward Digby die Erstbesteigung des Hauptgipfels des Piz Palü gelang. Dadurch hatte die Hoteleröffnung den Charakter einer Gipfelfeier. Dem Gründer, Simon Arnold, kam der Anlass gelegen, da er das Gros seiner Gäste unter den Hochalpinisten zu finden hoffte. Das Hotel lag auf 1834 Metern Seehöhe und bot beste Einstiegsmöglichkeiten für Touren zu den Gipfeln des Piz Bernina und Piz Palü.

Simon Arnold erlebte den Boom, den sein Haus in den achtzehnhundertachtziger Jahren erfuhr, nicht mehr. Nachdem ein Wiener Gesellschaftsblatt einen Artikel über die verjüngende Eigenschaft der Höhenluft im Engadin veröffentlicht hatte, strömte die mondäne Welt aus Deutschland, Italien und der Donaumonarchie in das Hotel. Gegen Ende des Jahrhunderts rückte der Hochalpinismus in den Hintergrund, man kam ins Grand Arnold, um die vertraute Gesellschaft wiederzutreffen, die in den heißen Monaten den Großstädten entfloh.

Seit seiner Gründung hatte sich das Hotel ununterbrochen im Besitz der Arnolds befunden, bis heute, im Sommer des Jahres 1957. Selbst während des Dritten Reichs hatte die jüdische Familie nicht unter Besucherschwund zu leiden gehabt. In der Schweiz verloren die Rassengesetze ihre Wirkung; ein Schweizer Jude war in erster Linie Schweizer.

Mit erhobenem Kinn lief Frau von Hoppe auf eine Dame im lachsfarbenen Kostüm zu. »Erika.«

Erika Kälin, geborene Arnold, wechselte vom roten auf den weißen Marmor. »Wilhelmine. Hattest du eine schreckliche Reise?«

»Natürlich. Eine Ewigkeit, bis man bei euch ist.« Im Hintergrund sah Frau von Hoppe ihren Schwager, den Hoteldirektor, vorübergehen, gefolgt von Carl, seinem Siamkater.

»Hat er das scheußliche Tier immer noch?«, raunte sie ihrer Schwester zu.

»Die, die wir hassen, leben ewig.« Erika führte Wilhelmine in Richtung des Restaurants.

»Ich würde lieber zuerst auf mein Zimmer.« Sie deutete auf ihre Reisekleidung.

»Du siehst formidable aus. Die Kinder wollen dich begrüßen.« Erika ging voraus. »Immerhin bist du Annas Lieblingstante.«

»Heute scheint es mein Schicksal zu sein, als Tante aufzutreten. Was sagt das über mein Alter?« Wilhelmine zog die Handschuhe aus.

Vorbei an der Treppe erreichten sie die geschnitzten Flügeltüren, die ein Page öffnete.

»Wie geht es Anna?«, fragte Frau von Hoppe, bevor sie den Wintergarten betraten.

»Launisch wie immer, antriebslos und verloren.«

»Hat sie einen Freund?«

»Sie ist sechzehn.«

»Umso eher muss man die Augen offen halten.«

»Angeblich gibt es da jemanden.« Erika senkte die Stimme. »Aber ich fürchte, es handelt sich um einen Fantasieprinzen.«

Frau von Hoppe richtete ihre Frisur. »Dass Fantasieprinzen bei euch absteigen, ist mir neu. Ich habe hier entweder verheiratete Direktoren oder transpirierende Bergfanatiker kennengelernt.« Lächelnd streckte sie beide Arme aus. »Anna! Liebling!«

An einem Tisch beim Fenster hoben zwei junge Leute den Kopf.

»Ist das etwa der Günther?«, rief Frau von Hoppe. »Du bist ja ein Mann geworden.«

»Guten Tag, Tante Wilhelmine.« Der Zehnjährige stand auf.

»Bin ich schon zu alt, um einen Kuss zu kriegen?« Frau von Hoppe schloss ihren Neffen in die Arme.

2

Ich weiß es, dachte Arthur Kälin. Manchmal weiß ich es, manchmal weiß ich es nicht. Im Geiste überschlug der Hoteldirektor, was er mit Sicherheit wusste. Dass die Stadt München seit Kurzem eine Million Einwohner zählte. Dass die Engländer daran gescheitert waren, den Suezkanal zurückzuerobern. Dass das Amtsgericht Berchtesgaden Hitler erst neulich für tot erklärt hatte. Kälin brach der Schweiß aus. Wenn ich alles weiß, wieso weiß ich nicht, wo ich Kuchen für den Kater herkriege? Die Kaffee-und-Kuchenzeit war überschritten, die Kellner hatten die Trolleys mit den frischgebackenen Köstlichkeiten bereits in die Küche zurückgefahren. Carl hielt den hellen Schwanz mit der dunklen Lunte senkrecht erhoben, Zeichen seiner Ungeduld. Das Glöckchen um seinen Hals klingelte vorwurfsvoll.

Bertolt Brecht war mit achtundfünfzig Jahren gestorben. Das Erdbeben im Iran hatte die Stärke sieben komma vier. Einundfünfzig Menschen ertranken beim Untergang der Andrea Doria. Die Sache mit dem Kuchen war verloren. Anklagend sah der Kater Kälin an. Er ging auf die Knie und entschuldigte sich bei seinem Freund. Aus diesem Grund bemerkte er die schmale Person nicht, die unter Führung des Chefbutlers gerade die Halle betrat.

Patters stellte den Sonnenschirm in die Halterung und bat Fräulein Förster, ihm zu folgen. Nach einigen Schritten merkte er, dass sie stehen geblieben war. Ihr Blick galt dem Herrn im braunen Tweed, der vor einer Katze kniete.

»Ist das Arthur Kälin?«, fragte sie, als handle es sich um eine Sehenswürdigkeit.

»Das ist unser Herr Direktor Kälin«, antwortete Patters korrekt. »Hier entlang, Fräulein Förster.«

Sie folgte dem Butler.

Einem Mann mit schlampig sitzendem Oberhemd fiel der sonderbare Gang des Fräuleins auf. Bei jedem zweiten Schritt hob sie die linke Hüfte und drehte den Fuß dabei nach innen. Taktlos beobachtete er die Hinkende, bis sie in einem Korridor verschwand. Erst dann wandte er sich an den knienden Hoteldirektor. »Der Postwagen ist schon hier gewesen. Trotzdem habe ich meine Briefe noch nicht bekommen.«

Kälin musterte den Gast von unten. »Die Post muss erst sortiert werden. In einer halben Stunde, Herr Hansen.«

Der Mann schüttelte über die Auskunft den Kopf. »Mir scheint, ihr seid auch noch stolz auf eure verfluchte Schweizer Langsamkeit.«

Kälin kraulte den Kater. »Schweizer Gründlichkeit, Herr Hansen.«

»Wissen Sie was, ihr verdient die schöne Gegend gar nicht.«

»Aber wir haben sie nun einmal.«

»Was ist also mit meiner Post?«

Kälin nahm den Kater auf den Arm. »Darf ich Sie zur Rezeption begleiten, wo man sich um Ihre Angelegenheit kümmern wird?« Er begann die Durchquerung der Halle.

Die Rezeptionistin Mademoiselle Elsy Bévelier hatte bereits unter dem verstorbenen Herrn Arnold den Empfang geleitet. Als eine der Wenigen war sie nicht gekündigt worden, als das Grand Arnold vor dem Aus stand, und wurde als Erste in ihrem Amt bestätigt, als Kälin das Hotel nach der Heirat mit Erika Arnold vor dem Ruin rettete.

Elsy begrüßte den Direktor. »Die Exzellenzen treffen überraschend schon morgen ein. Sie benötigen diesmal vier Zimmer.«

Der Kater liebte Elsy. Er wollte seinem Herrn vom Arm springen und über den Tresen zu ihr laufen. Kälin hielt ihn fest. »Dann geben Sie den Exzellenzen eben vier Zimmer, Elsy.«

»Wir haben Vollbelegung, Monsieur le Directeur. Wie soll ich das machen?« Obwohl sie seit zwanzig Jahren im Engadin lebte, hatte Elsy ihren französischen Akzent nie abgelegt.

»Da werden Sie eben einige Gäste umbringen müssen«, lächelte Kälin. Ihm entging der entrüstete Blick Hansens nicht. »Wie weit sind wir mit der Post, Elsy?«

»Bitte, Monsieur Hansen.« Sie überreichte dem Bochumer eine Tageszeitung. Ihm war anzusehen, dass er seine Beschwerde gern fortsetzen wollte, nun aber mit nichts als dem deutschen Handelsblatt abziehen musste.

Mit geheimnsivollem Lächeln bückte sich Elsy hinter den Tresen und brachte im nächsten Moment eine mit Eischaum garnierte Tarte au citron zum Vorschein. »Ja, was haben wir denn hier für den lieben Carl?«

Der Kater befreite sich aus Kälins Griff, huschte hinter die Rezeption und genoss die Süßigkeit zu Füßen der Rezeptionistin.

* * *

»Wenn Sie ihre Nichte sind, wieso arbeiten Sie dann für Frau von Hoppe?« Bartolo zündete sich eine Zigarette an. Kaum hatte der Chefbutler Fräulein Förster sich selbst überlassen, war der Chauffeur zu ihr ins Bügelzimmer geschlüpft.

Corinne zog das lange Kabel von der Decke über das Bügelbrett. »Früher hatte sie eine tschechische Gesellschafterin. Die kannte eine besondere Bügeltechnik.«

»Ich wette, Ihre Tante bezahlt Ihnen nichts dafür, dass Sie solche Arbeiten machen.«

»Das ist doch schnell erledigt.« Sie befeuchtete den Zeigefinger und prüfte die Temperatur. »Dem Butler gefällt das nicht, wenn Sie sich mit mir unterhalten, oder?«

»Stört es Sie?« Er hielt den Rauch in den Lungen.

»Sie könnten Schwierigkeiten kriegen.«

»Patters ist ein vertrockneter Gockel. Er war sein Leben lang allein und kennt nichts als seine Pflichten. Eine traurige Existenz.«

Sie setzte das Eisen auf die grüngetupfte Bluse. »Aber was tun Sie, wenn er Sie rausschmeißt?«

»Der kann mir gar nichts.«

Leise glitt das Eisen über die Seide. »Was macht Sie so sicher?«

»Herr Kälin hat mich damals persönlich eingestellt.«

Für einen Moment vergaß Corinne zu bügeln. »Sie kennen den Direktor?«

»Anfangs habe ich nur ihn gefahren. Er würde es nie zulassen, dass die mich rausschmeißen.« Bartolo zeigte auf das Bügelbrett. »Vorsicht.«

»Ach, verdammt.« Es qualmte. Sie riss das Eisen hoch. »Ist noch mal gut gegangen, danke.« Corinne nahm sich den linken Ärmel vor. »Kommen Sie mit Frau Kälin auch gut aus?«

»Um Himmels willen, sie ist eine versnobte Kuh, die auf jeden heruntersieht, der mit Köpfchen und harter Arbeit hochgekommen ist. Deshalb behandelt sie auch Kälin von oben herab. Aber wenn es darum geht, die Rechnungen zu bezahlen, dann streckt sie die Hand aus.«

Mit dem Kragen ließ Corinne sich Zeit. »Was ist das nur mit dieser Familie Arnold?«

»Alle in der Gegend verehren sie. In Wirklichkeit sind sie hochnäsig und nutzlos. Erikas Vater, der alte Arnold, trat als Grandseigneur auf, mit Rose im Knopfloch und Handkuss und dem ganzen Zauber. Hat das Hotel dabei in den Ruin geführt. Als er starb, hatte er nicht mal mehr einen Nachttopf, um reinzupinkeln.« Er verfolgte ihre ruhigen Bewegungen. »Wäre Kälin nicht so verliebt in Arnolds Tochter gewesen, gäbe es das Hotel heute nicht mehr.«

»Und sie?«

»Sie hat ihn nie geliebt.«

»Woher wissen Sie das?«

»Weil sie ihn schlecht macht, wo sie kann. Kälin ist einer, der nicht gern redet. Konversation liegt ihm nicht. Sie aber tut so, als ob er dumm wäre. Er hat sie vor dem Ruin gerettet, und sie behandelt ihn, als ob er ihr nicht das Wasser reichen könnte.«

Corinne nahm die fertige Bluse hoch. »Sie machen kein Geheimnis daraus, wem Ihre Sympathie gehört. Wo schalte ich das Eisen aus?«

»Ich mache das schon.« Er öffnete das Fenster, warf die Kippe hinaus und fächelte mit der Hand durch die Luft. »Wenn Patters fragen sollte …«

»Dann sage ich, dass ich geraucht habe. Ich heiße übrigens Corinne.« Sie legte die Bluse über den Arm. »Müssen Sie nicht nach Pontresina?«

»Aber zum Dinner bin ich wieder da, Corinne.« Bartolo zog den Stecker.

* * *

Trotz der enttäuschten Miene des Katers ließ Kälin ihn vor der Tür. »Brav hierbleiben.«

Er betrat die Suite. »Ist alles zu deiner Zufriedenheit, Otto?«

»Dank dir schön, Arthur.« Der Schauspieler trug die Sonnenbrille auch im Zimmer. »Der Balkon geht zwar in die andere Himmelsrichtung als letztes Jahr, aber das stört mich nicht.«

»Ich könnte veranlassen, dich zur Ostseite umzuquartieren.«

»Lass nur. An mir ist die Morgensonne sowieso vergeudet.«

»Langschläfer?«

»Langleser. Wenn ich in der Nacht wach werde, lese ich.«

»Was liest du, einen interessanten Roman?« Da ihn O. W. nicht aufforderte, sich zu setzen, schlenderte Kälin auf den Balkon.

»Um Gottes willen, mit erfundenen Geschichten muss ich mich schon von Berufs wegen herumärgern.«

»Richtig.« Kälin drehte sich um. »Man kommt aus dem Staunen nicht heraus. Den Bambi hast du dreimal hintereinander gewonnen, dazu das Filmband in Silber, das österreichische Ehrenkreuz. Und du sollst ein Angebot aus Hollywood haben, liest man.«

»Mir ist das alles suspekt.« Fischer winkte ab. »Eine innere Stimme sagt mir, dass mit einer Welt, die mich umjubelt, etwas nicht stimmen kann.«

»Ist das jetzt sehr klug oder sehr eitel?« Kälin steckte die Daumen in die Taschen seiner Anzugweste.

»Im Grunde bin ich für die Einsamkeit gemacht, Arthur.«

»Einsamkeit, du? Die Damen liegen dir zu Füßen.«

»Eine ungemütliche Stellung, um sich zu unterhalten.«

Kälin zeigte ins Freie. »Ein paar Minuten noch, dann kommt die Sonne herum.« Er trat in die Suite zurück. »Weshalb willst du mich sprechen?«

»Verzeih. Bitte nimm Platz.«

Die Einrichtung des Grand Arnold verzichtete auf Alpenzauber. Die Möbel waren modern, die Linien schlicht. Kälin setzte sich auf das petrolblaue Sofa.

Fischer stemmte die Hände in die Hüften. »Ich bin nicht allein hier, wie du mitgekriegt hast.«

»Ein gewisser Leo Kriegler wohnt zwei Etagen tiefer. Dein Drehbuchautor?«

»Kriegler ist nicht sein richtiger Name.«

»Er hat an der Rezeption seinen Pass abgegeben.«

»Stimmt, es ist sein bürgerlicher Name, aber nicht der, unter dem man ihn kennt. In Wirklichkeit ist mein Freund …« Fischer machte eine bedeutende Pause. »Alessandro Ostia.«

»Wer?«

»Sag bloß, du hast noch nie von Alessandro Ostia gehört.«

»Im Augenblick wüsste ich wirklich nicht …« Kälin hörte ein zartes Klingeln und ein vorsichtiges Kratzen von draußen.

»Alessandro stehen außergewöhnliche spirituelle Kräfte zur Verfügung. Er bringt Menschen unter Hypnose dazu, Ketten zu zerreißen. Durch seine spiritistischen Börsentipps beeinflusst er die Aktienkurse.«

»Dein Begleiter ist Zauberer?«, erwiderte Kälin unbeeindruckt.

»Er ist weit mehr als das. Seine Projekte haben eine menschheitsumspannende Dimension.«

Kälin stand auf. »Wieso gibst du den Mann dann als Drehbuchautor aus?« Bevor O. W. antworten konnte, öffnete der Direktor die Tür. »Entschuldige, Carl. Dir ist langweilig, habe ich recht?«

»Weil Alessandro inkognito bleiben möchte.«

»Warum? Er könnte im Hotel eine Vorstellung geben.« Kälin nahm den maunzenden Kater auf den Arm.

»Er hatte in letzter Zeit etwas Pech. Alessandro sucht einen Geldgeber, der sein nächstes Projekt finanziert.«

Fischer zog ein Taschentuch und trat einen Schritt zurück. Kälin bemerkte es. »Was hast du?«

»Die Katze.«

»Du magst Carl nicht?«

»Nur aus der Ferne.« Fischer blinzelte. »Ich bin allergisch auf deinen Liebling.«

»Das wusste ich nicht.« Kälin zog sich zur Tür zurück. »Meine Investitionen basieren auf gewinnorientierten Kalkulationen, Otto. Ich kann deinem Zauberkünstler nicht helfen, fürchte ich.«

»Warum lernst du ihn nicht wenigstens kennen?« Fischer nieste. »Siehst du, es geht schon los. Heute beim Dinner?«

»Abends kümmert sich meine Frau um die Gäste. Ich vermeide das Dinner, wenn möglich.« Kälin trat über die Schwelle nach draußen.

»Zum Dinner! Überleg es dir bitte«, rief O. W. ihm nach.

Nachdenklich lief Kälin den Korridor hinunter. Ein Zauberer, menschheitsumspannende Dimension – mit jedem Jahr kam ihm Otto versponnener vor. Ich sollte vor meiner eigenen Tür kehren, dachte Kälin. Manchmal weiß ich es, manchmal weiß ich es nicht. Fürst Rainier heiratet Grace Kelly. Das Schauspielhaus Zürich spielt die Uraufführung von Dürrenmatts neuem Stück. Wie hieß es noch mal?

»Wie heißt das neue Stück von Dürrenmatt?«, fragte Kälin den Kater.

Jetzt erst bemerkte er den Jungen am anderen Ende des Korridors. »Günther?«

»Papa.«

»Was machst du hier?«

»Ich hab dich gesucht.«

»Ist etwas passiert?«

»Ich habe gelesen.«

»Was liest du denn?«

»Über China und die Krieger, die es dort gab.«

»Von wem hast du solche Bücher? Von Patters, habe ich recht?«

»Er hat mich in seine Bibliothek mitgenommen.«

»Unser Chefbutler ist ein gebildeter Mann.«

»Ich möchte in eine chinesische Schule gehen, Papa. Da lernt man vierzigtausend Buchstaben.«

»Es gibt keine chinesische Schule in den Bergen.«

»Patters hat mir ein Buch von Mong Tse gezeigt. Das war ein Philosoph vor zweitausend Jahren.«

»Das klingt interessant.« Kälin fand es sonderbar, kurz hintereinander von einem spiritistischen Zauberer und einem chinesischen Philosophen zu hören.

Als ob er etas gewittert hätte, sprang Carl zu Boden und lief auf die Tür am Ende des Flures zu.

»Halt ihn auf!«, schrie Kälin.

Als der Kater an Günther vorbeirannte, fauchte er. Erschrocken trat der Junge zurück.

»Du hättest ihn festhalten müssen! Er darf nicht ins Freie.« Mit vorwurfsvollem Blick rannte Kälin an seinem Sohn vorbei. »Draußen erfriert er.«

»Entschuldige, Papa«, sagte der Junge, obwohl sein Vater ihn nicht mehr hörte.

3

Frau von Hoppe nahm die Halskette aus der Schatulle. »Erika findet immer so wunderbare Hausangestellte. Ich weiß gar nicht, wie sie das macht in dieser gottverlassenen Gegend.«

Der Anhänger hatte die Form einer Hyperbel. Vorsichtig entwirrte sie die kleinen Diamanten, die sich verheddert hatten. »Ein ziemlich eintöniger Haufen ist das in diesem Jahr. Da steht uns ein langweiliger Sommer bevor.«

»Immerhin ist O. W. Fischer hier.« Corinne hängte die Bluse nicht erst auf, sondern legte sie auf das Bett. Frau von Hoppe wollte sie zum Dinner tragen.

»Es mag dir amüsant erscheinen, mit einem Filmstar unter demselben Dach zu wohnen, aber nach der ersten Aufregung des Wiedererkennens gibt es mit diesen Leuten so schrecklich wenig zu reden.«

»Sie kennen ihn von früher?«

»Gott, kennen – bei der Bambiverleihung haben wir an ein und demselben Tisch gesessen.«

»Würden Sie mich ihm vorstellen?«

Ungeduldig hielt Frau von Hoppe die Kette an ihren Hals. »Na! Worauf wartest du? Hilf mir.«

Corinne brauchte eine Weile, um den komplizierten Verschluss zu befestigen. »Wieso haben Sie am Bahnhof gesagt, dass ich Ihre Nichte bin?«

»Mir ging dieser Chauffeur auf die Nerven. Die primitiven Kerle aus den Bergen glauben, wir wären hier alle auf Du und Du.«

»Irgendwann wird der Chauffeur dahinterkommen, dass es nicht stimmt.«

»Und wenn schon.« Frau von Hoppe hielt ihr das Armband hin. »Was wird denn im Dienstbotentrakt so getratscht?«

»Woher soll ich das wissen?«

Ein eindringlicher Blick. »Du hast meine Bluse ja wohl nicht im Salon gebügelt. Sag schon, was redet man im Bügelzimmer?«

»Ich habe den Eindruck, dass Frau Kälin im Hotel nicht sehr beliebt ist.«

»Erika ist ein Ungeheuer. Die Leute haben Angst vor ihr, kaum dass sie einen Raum betritt.«

»Aber sie ist doch Ihre Schwester.« Mit dem Armband ging es schneller.

»Als Kind hat sie auch mich tyrannisiert.« Frau von Hoppe griff zur Puderquaste. »Einmal hat sie mich einen ganzen Tag lang in den Kleiderschrank gesperrt und unserem Vater seelenruhig zugesehen, wie er mich überall suchte. Als sie mich gegen Abend herausließ, hatte ich mich von oben bis unten angepinkelt.« Illusionslos tupfte sich Frau von Hoppe übers Gesicht. »Mit ihren eigenen Kindern macht Erika es genauso. Kein Wunder, dass Anna zu Schwermut neigt.«

»Erikas Tochter ist depressiv?«

»Das habe ich nicht gesagt. Es fehlt ihr nur einfach die Kraft, etwas aus eigenem Antrieb zu unternehmen. Erika behauptet, Anna hätte das von ihrem Vater, aber das stimmt nicht. Arthur mag zurückhaltend sein, aber er hat ein Wirtschaftsimperium aus dem Boden gestampft, wenn man das in der Schweiz so nennen darf.« Sie stand auf und betrachtete sich im Spiegel. »Morgen frühstücke ich im Bett. Wenn ich aufstehe, gleich hinein ins Tweedkostüm. Spaziergang gegen zwölf, aber nur die flache Route zur Hofbrandhütte. Das Kraxeln in den Viertausendern überlassen wir den Lebensmüden.«

»Ich dachte …«

»Ja?«

»Ich habe mir eigentlich vorgenommen, den Piz Palü auszuprobieren.«

»Den Piz, du?« Frau von Hoppe musterte sie konsterniert. »Willst du im Rollstuhl landen?«

»Mit einem Führer natürlich.«

»Und wenn du runterfällst? Was mache ich dann ohne dich?«

»Über den Ostgrat soll es einen gut markierten Aufstieg geben.«

»Mein liebes Kind, mit deinem Handicap schlag dir das besser aus dem Kopf. Der Piz ist die schwerste Tour in der Gegend. Er wird nur von trainierten Kletterern gemacht. In dieser Saison ist er überhaupt noch nicht bestiegen worden, habe ich mir sagen lassen.«

Corinne gab Frau von Hoppe die Handschuhe. »Ich werde schon nicht runterfallen.«

Überrascht musterte Frau von Hoppe ihre Gesellschafterin. »Warum auf einmal so ambitioniert?«

Corinne trat ans Fenster. »Was ist denn da unten los?«

»Wo?«

»Vor der Einfahrt.«

»Die Leute kommen zum Dinner. Das Grand Arnold ist der einzige Ort weit und breit, wo man was Anständiges zu essen kriegt.«

»Nein, ich glaube, das ist die Bergrettung.« Corinne öffnete das Fenster. »Herr Patters spricht mit … mit …«

Frau von Hoppe zog den Handschuh bis knapp unter die Schulter. »Mit wem?«

»Dort ist Kälin.«

»Arthur?«

»Er hat Skier dabei.«

»Er will nachts skifahren?«

»Ihre Schwester ist auch unten.«

Frau von Hoppe kam zu Corinne. »Da muss etwas passiert sein.« Plötzlich zeigte sie auf einen weiß gekleideten Herren. »Sieh mal an, da ist ja auch dein Idol.«

»Er trägt einen weißen Anorak«, murmelte Corinne.

»Was für ein Pfau.«

Zu zweit standen sie am Fenster. Ein weiteres Fahrzeug der Bergrettung kam die Serpentinen hoch.

* * *

Die Kinder waren zuletzt um sechs Uhr abends gesehen worden. Da die meisten Gäste ruhten oder sich für das Abendessen fertig machten, war die Hotelhalle weitgehend leer. Der Rezeptionistin fiel auf, dass Günther eine wetterfeste Jacke trug. Seine Schwester Anna übergab Mademoiselle Bévelier einen Brief.

»Ein Brief an Patters?«, fragte Elsy. »Aber Sie begegnen ihm bestimmt gleich beim Abendessen.«

»Zum Essen bin ich nicht hier«, antwortete Anna.

»Sie wollen noch einmal hinaus?« Elsy sah in ihren Unterlagen nach. »Es wurde kein Wagen für später bestellt. Soll ich Bartolo Bescheid geben, dass er den Alvis bereit macht, Fräulein Kälin?«

»Nicht nötig. Sehen Sie nur zu, dass Patters den Brief bekommt.«

Elsy zeigte zur Treppe. »Da kommt Bartolo gerade. Wollen wir ihn wegen des Autos fragen?«

»Ach, geben Sie her!« Anna nahm den Brief wieder an sich und lief dem Chauffeur entgegen. »Bringen Sie das zu Patters, Bartolo.«

»Gerne, Fräulein Kälin. Er bespricht nur gerade die Diät von Herrn Hansen mit dem Küchenchef.«

»Es hat keine Eile.« Sie drückte ihm den Brief in die Hand und kehrte zu ihrem Bruder zurück. Günther bat sie, ihm mit dem Rucksack zu helfen. Mademoiselle Bévelier schnappte noch einen Wortwechsel zwischen den Geschwistern auf.

»Ich habe das Buch«, sagte Günther. »Jedes Wort chinesisch.«

»Hat Patters gesehen, dass du es genommen hast?« Die beiden brachen in den Privattrakt der Hoteldirektion auf.

Bartolo brachte Annas Brief ins Büro des Chefbutlers.

»Wieso hat mir Fräulein Kälin den Brief nicht persönlich gegeben?« Patters betrachtete das Schreiben.

»Weil Sie gerade im Gespräch mit dem Küchenchef waren.«

»Richtig. Herr Hansen macht uns wieder Schwierigkeiten.«

»Was ist es diesmal?«

»Er ist Vegetarier.«

»Was soll das sein?«

»Er isst kein Fleisch. Ich konnte das klären. Statt der Kuttelsuppe bekommt er Gemüsebouillon und einen Toast statt der Schlachtplatte.« Der Chefbutler hielt den Brief vor seine Augen, als ob er ihn lesen könnte, ohne den Umschlag zu öffnen.

Bartolo wollte gehen.