Eine Liebe von Bern - Marie Brunntaler - E-Book

Eine Liebe von Bern E-Book

Marie Brunntaler

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Beschreibung

Bern, 1967. Léon Seematter traut seinen Augen nicht: Nachdem er jahrelang erfolgreich die einzige Tanzschule in Bern geleitet hat, erscheint ein zweiter Tanzlehrer auf der Bildfläche, der Léon mit seinen modernen Tänzen zu Beatmusik Konkurrenz macht. Es ist Georges Szell, ein alter Bekannter. Doch nicht nur er, auch das Auftauchen einer frechen neuen Schülerin nimmt Léon mit auf eine Reise in seine Vergangenheit – eine Vergangenheit, in der er schon einmal hinter Georges Szell zurückstecken musste. In ihrem vierten Roman erzählt Marie Brunntaler von der Rivalität zwischen zwei Männern, die unterschiedlicher nicht sein könnten, von verpassten und von neuen Chancen – und von Geheimnissen, die das ganze Leben verändern können.  

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Seitenzahl: 273

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Das Buch

Bern, 1967. Der Tanzlehrer Léon Seematter traut seinen Augen nicht: Nachdem er jahrelang erfolgreich die einzige Tanzschule in Bern geleitet hat, erscheint ein zweiter Tanzlehrer auf der Bildfläche, der Léon mit seinen modernen Tänzen zu Beatmusik Konkurrenz macht. Es ist Georges Szell, ein alter Bekannter. Doch nicht nur er, auch das Auftauchen einer frechen neuen Schülerin nimmt Léon mit auf eine Reise in seine Vergangenheit – eine Vergangenheit, in der er schon einmal hinter Georges Szell zurückstecken musste.

Die Autorin

Marie Brunntaler wurde im Südschwarzwald geboren, studierte Biologie und arbeitete als Landschaftsplanerin in Heidelberg und Bonn, bevor sie ihrem Mann in die Schweiz folgte. Marie Brunntaler arbeitet als Landschaftstopografin im Berner Oberland. Eine Liebe von Bern ist ihr vierter Roman.

Marie Brunntaler

Eine Liebe von Bern

Roman

Besuchen Sie uns im Internet:

www.eisele-verlag.de

ISBN 978-3-96161-164-5

© 2023 Julia Eisele Verlags GmbH, München

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Umschlagillustration: © mauritius images / ClassicStock / Debrocke

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis
Über das Buch / Über die Autorin
Titel
Impressum
BERN, IM SEPTEMBER 1967
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
NELLY
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
BERN, IM SEPTEMBER 1967
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Empfehlungen

BERN, IM SEPTEMBER 1967

1

Heidi Maisonge verließ den unterirdischen Kopfbahnhof. Die Rolltreppe war außer Betrieb. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie mit ihrem Koffer die Stufen ans Tageslicht geschafft hatte. Der Schweiß brach ihr aus, der Schwindel kam wieder. Oben angelangt setzte sie sich auf den Koffer. Rund um Heidi das hektische Drängen und Rennen der Menschen, die zum Zug wollten, in die Stadt, jeder wollte irgendwohin. Heidi wartete, bis sich der Schwindel legte.

Ein freundlicher Beamter der Schweizerischen Bundesbahn erkundigte sich, ob sie Hilfe brauche.

»Das wäre nett. Ich habe mir nämlich den Knöchel verstaucht.«

Der Blick des SBB-Mannes wanderte zu Heidis Füßen. Sie steckten in Stiefeln, eigentlich zu warm für die Jahreszeit, aber die Mädchen trugen das heutzutage. Dazu ein schwingender Rock und eine Jacke, die in mehreren Farben spielte.

Der Beamte nahm Heidis Koffer auf. »Wollen Sie zum Taxistand?«

»Nein, danke. Mein Freund holt mich ab.«

An der Seite des SBB-Mannes erreichte sie den Hauptausgang des Berner Bahnhofs. Kaum jemand wusste, dass sich an dieser Stelle bis vor hundert Jahren das erste Schweizer Gefängnis befunden hatte. Geschichte, Naturkunde, Politik, Heidi wusste auf vielen Gebieten Erstaunliches. Sie dankte dem Mann von der SBB und nahm den Koffer entgegen.

»Wo ist denn Ihr Freund?« Er blickte sich auf dem Platz um.

»Dort!« Sie zeigte auf eine dunkle Limousine.

»Dann ist es ja gut. Salü, Fräulein. Und gute Besserung.«

»Wofür?«

»Für Ihren verstauchten Knöchel.«

Deutlich hinkend lief sie auf die Limousine zu. Bevor sie das Auto erreichte, drehte sie sich um; der Beamte war in die Bahnhofshalle zurückgekehrt. Heidi beobachtete, wie der dunkle Wagen wegfuhr. Sie bog nach links ab. Durch die Neuengasse wäre sie schneller ans Ziel gekommen, doch dafür hätte sie die Unterführung benutzen müssen. Keine weiteren Stufen, beschloss Heidi und nahm den Umweg in die Aarbergergasse. Obwohl ihr Koffer nicht schwer war, musste sie mehrmals stehen bleiben und ausruhen. Erschöpft sah sie der Straßenbahn hinterher, die vom Bahnhof zur Zytglogge fuhr. Als Heidi endlich den langgestreckten Waisenhausplatz erreichte, musste sie unbedingt etwas trinken. Die Lokale hatten noch die Stühle im Freien, auch die Sonnenschirme, die um diese Jahreszeit manchmal als Regenschirme dienten.

Im Hutterli ging die feine Berner Gesellschaft ein und aus, Bundesräte, Anwälte, Ärzte. Konnte sich ein verschwitztes junges Mädchen einfach ins Hutterli setzen? Heidi verstaute ihren Koffer unter dem Tisch und nahm in einem Korbstuhl Platz.

»Haben Sie vorbestellt, Mademoiselle?« Der Kellner war schneller bei ihr, als eine Wespe von Limonade angelockt wurde. »Dieser Tisch ist reserviert.«

»Natürlich, für mich«, antwortete Heidi.

»Auf welchen Namen?«, entgegnete der Kellner ungläubig.

Heidi glaubte auf dem kleinen Schild U. Burckhardt zu entziffern. »Ich bin mit meinem Vater verabredet.« Mit der Stoffserviette tupfte sie sich die Oberlippe ab.

»Die Reservierung lautet aber auf Frau Ursula Burckhardt.«

»Das ist meine Mutter«, bestätigte Heidi. »Und ich bin sicher, meine Mutter hätte etwas dagegen, wie Sie mich behandeln.«

Der Kellner schien abzuwägen, mit welcher Antwort er die wenigsten Schwierigkeiten bekommen würde. »Was darf ich Ihnen bringen, Fräulein Burckhardt?«

»Ein Rivella Blau.« Sie schlug die Karte auf. »Wie lange dauert ein Schinken-Käse-Toast?«

»Nur ein paar Minuten.«

»Den nehme ich.«

Der Kellner zog sich zurück.

Heidi überlegte, ob sie es schaffen würde, den Toast zu verdrücken, bevor ihre Mutter auftauchte und feststellte, dass sie gar keine Tochter hatte.

* * *

Bern war nicht nur eine der einwohnerreichsten Städte der Schweiz, sondern auch die Stadt mit den reichsten Einwohnern. Die Hauptstadt mit den vier Namen. Berne, sagte die Genferin, Berna nannte sie der Mann aus dem Ticino, und der Einheimische hatte den freundlichen Namen Bärn für sie.

Bern war Zentrum des gleichnamigen Kantons und Sitz der städtischen, kantonalen und eidgenössischen Verwaltung. Das schwäbische Fürstengeschlecht der Zähringer hatte die Stadt 1191 gegründet; manche Bauten von damals standen heute noch.

Die Aare definierte Bern, wie kaum sonst ein Fluss einer Stadt ihren Charakter gab. Wien und die Donau wurden besungen, doch die Donau floss praktisch unbeachtet am Stadtrand vorbei. Die Aare zerschnitt Bern, erschuf es, umklammerte, umarmte es.

Warum war Bern nicht berühmter, wieso reihte es sich nicht in die Liste der Welthauptstädte ein? Paris, London, Berlin, Wien – Bern? Niemandem wäre das in den Sinn gekommen. Hatte Harry Lime im Dritten Mann etwa recht, wenn er behauptete: »Unter den Borgias gab es in Italien Mord, Terror und Folter und zugleich Michelangelo, Leonardo da Vinci und die Renaissance. In der Schweiz gab es fünfhundert Jahre brüderliche Liebe, Demokratie und Frieden, und was kam dabei heraus? Die Kuckucksuhr.«

Falsch, überspitzt, die Aussage eines Filmschurken? Vielleicht, doch wer heutzutage auf die Berner Straßen trat, sah Tradition, Geschichte, hörte Beschaulichkeit und jede Viertelstunde das Glockenspiel der Zytglogge, eines der ältesten Glockentürme der Schweiz.

Zwei Weltkriege waren im 20. Jahrhundert gekommen und gegangen, Kaiserreiche hatten ihren Sturz erlebt, zwei Ideologien teilten Europa. Die Landkarte hatte sich in den siebenundsechzig Jahren dieses Jahrhunderts einschneidender verändert als in den Jahrhunderten davor. Nur die Grenzen der Schweiz waren um keinen Zentimeter verrückt worden. Harry Lime hatte recht: fünfhundert Jahre Frieden, auch in diesem Jahr – 1967.

2

Bam bam bam, klar und edel, schlicht und getragen klang es auf dem Waldhauser-Flügel, solides Instrument des einzigen Schweizer Klavierbauers. Mit milden Augen schaute Herr Ungefahr in den matt erleuchteten Saal, während er zum ungezählten Mal die Quadrille spielte. Ungefahr brauchte dafür längst nicht mehr in die Noten zu schauen.

»Balancé«, sagte eine schneidende Stimme, auf die alle hörten. Bewegung entstand im Saal, Gleichmaß, und die Schönheit einstudierter Ordnung.

»Compliment«, ertönte die Stimme.

Junge Schweizer beugten ihre Köpfe, junge Schweizerinnen das Knie. Fünfzig Paare schritten vom Kopfende des Saales auf Léon Seematter zu. Der Tanzmeister stand erhöht da und hatte jede Nuance im Blick.

»Abfallen!«, befahl er.

Die Gruppen fielen auseinander.

»Traverser«, ordnete er an.

Paarweise durschnitten und durchkreuzten sie den Saal.

»In Linie bleiben!« Die Stimme des Meisters wurde schärfer. Er war oberster Richter und wurde zum Scharfrichter, wenn das Gesetz der Quadrille missachtet wurde. »Spyri, glauben Sie, ich sehe das nicht?«

André Spyri, der seit Jahr und Tag Tanzkurse bei Seematter belegte, aber immer noch zu den Anfängern zählte, war Berner Oberländer. Groß, blond, mit schweren Händen, noch schwereren Füßen, dazwischen das Fass seines kerngesunden Körpers. Spyri hatte eine verzweifelte Sehnsucht nach dem Zarten, Musischen, dem Tänzerischen, das jedem Menschen innewohnte, aber nicht bei jedem zum Ausdruck kam. Verbissen kämpfte er gegen das Handicap seines stämmigen Körpers. Rückschläge akzeptierte er nicht. Die Schelte und Demütigungen Seematters nahm er als Ansporn, es stets von Neuem zu versuchen.

»Großes Compliment«, rief Seematter in die Klasse.

Herr Ungefahr beendete die Quadrille mit einer Verzierung in Es-Dur und schlug das Notenheft zu.

»Ich hatte gehofft, dass Sie ein besonders graziöser Tanzkurs werden«, sagte Seematter in die Runde. »Leider habe ich mich getäuscht. Es gibt noch viel zu tun.« Er klatschte in die Hände. »Alles aufstellen zum Anstandsunterricht!«

Die Herde folgte ihm in den Vortragsraum. Seematter wartete, bis es mucksmäuschenstill wurde. »Der Tanzboden ist der Ort, an dem sich die Geschlechter auf korrekte Weise miteinander vermischen.«

Ein verstohlenes Kichern wies ihn darauf hin, dass seine Wortwahl missverständlich war. Einige Eltern wohnten dem Kurs am Rande des Saales bei, Eheleute, die ihrer schüchternen Tochter Zuversicht gaben, Mütter, denen der Stolz auf den tanzenden Sohn ins Gesicht gemalt war. Seematter korrigierte sich vor allem der Eltern wegen.

»Ich meine natürlich den Ort, wo Beziehungen seriös geknüpft werden können. Der junge Mensch muss lernen, die richtige Form und die rechten Worte zu finden. Was spricht man also während des Tanzens?«

Schultern strafften sich, junge Männerköpfe gingen hoch. Das war ein interessanter Punkt. Meistens, während sie auf ihre Schritte achteten, fiel ihnen keine geistreiche Konversation ein.

»Spricht ein Tänzer seine Partnerin mit den Worten an: Schwitzen Sie auch so stark?,so ist das ungehörig«, fuhr Seematter fort. »Schwitzen tut ein Pferd. Ein Mensch transpiriert. Sollte ein Herr tatsächlich ungewöhnlich stark transpirieren –« Seematters Blick wanderte tadelnd zu Spyri. »Dann darf ich auf meinen Parfum-Automaten aufmerksam machen. Er hängt im Übungszimmer. Nach Einwurf von zwanzig Rappen wird Ihnen ein Parfum auf das Taschentuch gespritzt, und Sie erfreuen sich eines erfrischenden Fluidums.«

Seematter nahm die zwei Stufen nach unten und trat unter die Schüler. Sobald er das Podium verließ, wurde sichtbar, was sein lebenslanges Handicap darstellte: Seematter war ein kleiner Mann. Den Makel, dass die meisten seiner Tanzpartnerinnen größer gewesen waren, hatte er durch napoleonisches Selbstbewusstsein überwunden. Er stand kerzengerade da, das Kinn erhoben, um wenigstens ein paar Zentimeter an Augenhöhe zu gewinnen. Mit den Jahren war er kräftiger geworden, zu seinem Vorteil, wie er fand. Der Springinsfeld, den er während seiner Ballettjahre am Stadttheater abgegeben hatte, war Vergangenheit. Wegen seiner mangelnden Größe hatte er es nie zum Ersten Solotänzer gebracht und sich mit kleinen Partien wie der Hexe im Weihnachtsmärchen oder dem Derwisch zufriedengeben müssen. Heute war Seematter untersetzt, sein aschblondes Haar bändigte er mit Brillantine, vergaß aber nie, sich die Napoleonlocke in die Stirn zu frisieren. Ihm wohnte die Grazie eines Schmetterlings und die Kraft eines Panthers inne. Seine Augen sprühten Feuer, seine Schultern und Beinmuskeln erzählten von jahrelangem Training. Léon Seematter strotzte vor Kraft und bewerkstelligte das Paradoxon, diese Kraft in Eleganz zu verwandeln.

»Wir üben das Promenieren zu zwei und zwei im Saal«, rief er mit heller Stimme. »Es ist das Ziel der jungen Damen und Herren, ein angeregtes Gespräch zu führen. Aufstellung!«

Wie an einer Schnur gezogen, begaben sich alle in die vorgegebene Formation.

»Herr Ungefahr, Untermalungsmusik!«

Untermalung bedeutete für den Pianisten die Serenade von Enrico Toselli. Ungefahr spielte sie mit viel Gefühl.

Während sich die Paare in Konversation übten, trat Seematter auf eine Dame der besten Berner Gesellschaft zu.

»Ich habe mich gefragt, wieso es plötzlich so hell wurde im Saal«, scherzte er. »Ich glaube, das hatte mit Ihrem Erscheinen zu tun, verehrte Frau Burckhardt.« Er machte eine untadelige Verbeugung.

Seematter war Schweizer. Er verfügte über alle bekannten Schweizer Tugenden, schmeichelte sich aber, eine unschweizerische hinzuzählen zu dürfen, seinen Witz. Er war überzeugt, dass ihn bei den Damen vor allem seine Wortgewandtheit auszeichnete.

Ursula Burckhardt lachte gutmütig. Ihre Tochter Regula trat neugierig zur Mutter.

»Bitte einreihen, Fräulein Regula«, sagte Seematter. »Der Anstandsunterricht ist genauso wichtig wie das Tanzen.«

Während die Tochter zu ihrem Partner zurückkehrte, überreichte Frau Burckhardt Seematter ein hübsch verschnürtes Paket. »Ich habe Ihnen eine Kleinigkeit mitgebracht.«

Er zögerte. »Aber doch nicht hier, liebe Frau Burckhardt. Wenn ich Sie in mein Büro bitten darf?« Mit einer Geste forderte er seine Assistentin Lore auf, die Kursleitung zu übernehmen.

Erst im Kontor nahm Seematter das Geschenk entgegen. »Das wäre doch nicht nötig gewesen.«

Die Burckhardts besaßen eine Privatbank in der Rathausgasse, außerdem eine Kette von Delikatessengeschäften. Mostbröckli Burckhardt war ihr Verkaufsschlager, die Räucherspezialität aus Pferdefleisch.

Seematter schnupperte. Die Mostbröckli verströmten ihren strengen Duft. »Sie verwöhnen mich.«

»Lieber Herr Seematter, Sie stellen nicht nur ein Bollwerk an Anstand und Lebensart in unserer Stadt dar, sondern gewissermaßen auch die einzige Eheanbahnungsagentur.«

Für einen Moment zuckte er zurück. »Obwohl in meinem Institut schon viele Herzen zueinander gefunden haben, möchte ich mich doch nicht als Agentur bezeichnen.«

»Alles in Ehren natürlich.« Mit einem tiefen Atemzug öffnete Frau Burckhardt die Jacke ihres moosgrünen Kostüms. »Es wird allmählich Zeit, dass meine Regula unter die Haube kommt.«

»Aber sie ist ja noch so jung!« Seematter lächelte, weil er den Sinn ihres Besuchs endlich verstand. »Allerdings, in letzter Zeit wirkt sie doch recht aufgeblüht.«

»Das meine ich auch«, nickte Frau Burckhardt. »Ich möchte in diesem Punkt bei Regula nichts dem Zufall überlassen. Mir schwebt ein besonderer Typ von Schwiegersohn vor.«

Seematter stellte das Päckchen auf den Aktenschrank. »An welche der Berner Familien haben Sie gedacht? Zurzeit habe ich einige interessante junge Herren in meinem Kurs.«

»Ihre aktuellen Schüler habe ich mir gerade angeschaut. Die Stettlers, die Graffenrieds, die Tschiffelis haben ihre Söhne in den Kurs geschickt. Aber von denen kommt keiner infrage.«

»Wieso nicht?«

»Ich denke in diesem Punkt anders als mein seliger Walter. Das Finanzielle soll bei der Wahl keine Rolle spielen.«

»Natürlich, die Burckhardts haben ja selbst …« Vergebens suchte Seematter nach einer Umschreibung für das schnöde Wort Mammon.

»Mein Schwiegersohn soll zwar aus einer anständigen Familie kommen und über Manieren verfügen, in erster Linie benötigt er aber Ausstrahlung.«

»An welche Art Ausstrahlung denken Sie?«

»Sie sprachen vorhin von Fluidum, Herr Seematter. Ich meine damit nicht das Fluidum, das Ihr Parfumautomat versprüht.«

»Ich ahne, worauf Sie abzielen.«

»Bedauerlicherweise kommt Regula ganz nach ihrem verstorbenen Vater. Für einen Unternehmer wie Walter mochte das angehen, aber nicht für ein siebzehnjähriges Mädchen. Regula ist zu ernst, zu gewissenhaft. Würde ich meine Tochter mit einem typischen Berner verheiraten, wäre ich in größter Sorge um den Charakter meiner Enkelkinder.«

»Was suchen Sie genau, Frau Burckhardt?«, entgegnete Seematter, von der Fülle der Anforderungen verwirrt.

»Einen lebensfrohen jungen Menschen, der ein wenig Leichtigkeit in unsere Familie bringt.«

Léon nickte problematisch. »Ausgerechnet Leichtigkeit?«

»Sie haben recht, ich verlange das Schwerste, das Seltenste, Herr Seematter. In den Mauern unserer Stadt bedeutet Leichtigkeit eine enorme Anstrengung.«

»Ich würde eher sagen, es bedarf einer gehörigen Portion Glück.«

»Das Glück, das dem Tüchtigen winkt. Und was die Zusammenführung der Geschlechter betrifft, sind Sie der Tüchtigste unter unseren Bürgern.«

»Ich danke für Ihr Vertrauen.«

»Ich komme mit der Sorge einer Witwe zu Ihnen, Herr Seematter.« Frau Burckhardt sah auf die Uhr. »So spät schon? Ich bin im Hutterli verabredet.«

Seematter brachte sie zur Tür. »Gottlob ist das Hutterli nur wenige Schritte entfernt.«

»Lassen Sie sich die Mostbröckli schmecken«, sagte Ursula Burckhardt zum Abschied.

3

Wenn man von der Tanzschule Seematter mit bester Adresse im Herzen der Stadt nordwärts ging, durch das Zibelegässli in die Brunngasse einbog und schließlich die Brunngasshalde erreichte, befand man sich immer noch in der Altstadt, doch die Atmosphäre hatte sich verändert. Die Häuser wirkten schmucklos, es gab keine Arkaden, die zum Verweilen luden; sie hätten den Verkehr behindert. Die Brunngasshalde war eine Durchgangsstraße. Hier floss der Verkehr jener Autos, die von der Untertorbrücke rasch auf die Schnellstraße Richtung Basel kommen wollten. Rechts der Brunngasshalde ging es urwaldähnlich steil bergab, der Abgrund fußte an der Aare, die tief unten ihre Schleife zog.

Im Haus einer Nähmaschinenreparaturwerkstatt war neulich der dritte Stock vermietet worden. Das Gebäude hatte stets Gewerbebetriebe beherbergt, aber noch keinen wie diesen. Eine Tanzschule in der Brunngasshalde, das war, als wollte man ein Chateaubriand in der Bahnhofskneipe essen.

Im dritten Stock befanden sich rechts hinter dem Eingang die Garderoben, linker Hand die Toiletten. Durch die Teeküche kam man in eine Halle, wo früher der Schlosser gehämmert und geschweißt hatte. Georges Szell setzte alles daran, aus der alten Gewerbehalle einen funkelnden Ballsaal zu machen.

Georges saß einer jungen Frau gegenüber; kurzer Rock, mintgrüner Pullover, langes blondes Haar, sie hieß Brigitte.

»Ich habe mir die neuesten Beat-Platten angehört«, sagte Brigitte. »Die Musik hat mir gefallen. Aber so richtig gepackt hat es mich erst, als ich den Beatles-Film A Hard Day’s Night gesehen habe. Kennen Sie A Hard Day’s Night, Herr Szell?«

Georges fröstelte. In der Halle war es kalt. »Natürlich.«

Brigitte schlug die Beine übereinander. »Als eine englische Band nach Zürich gekommen ist, bin ich zu dem Konzert gefahren. Oh weh. Da hat mich so ein Beat-Musiker angelächelt, wissen Sie. Und ich bin einfach auf die Bühne gesprungen und dem um den Hals gefallen.«

»Wirklich?«

»Ich habe mich mitreißen lassen.«

»Also gut, Brigitte.« Georges schob ihr das Anmeldeformular hin. »Wir nehmen in dem Kurs sämtliche Tänze durch, die in Mode sind.« Er legte einen Kugelschreiber bereit. »Wenn Sie bitte dort unterschreiben?«

Brigitte faltete das Blatt zusammen und steckte es in die Brusttasche ihrer Jeansjacke. »Ich werde es meinen Eltern zeigen.«

Georges sog die Unterlippe zwischen die Zähne. »Natürlich, lassen Sie sich Zeit, Brigitte. Aber nicht zu lange. Unsere Eröffnungsparty ist bereits kommenden Freitag. Was die Beat-Musik betrifft, kommen Sie bestimmt auf Ihre Kosten.«

Brigitte stand auf. »Ja, das habe ich schon gehört.«

»Von wem?«

»Von meinen Freundinnen.«

Auf ein Geräusch hin drehte sie sich um. Eine große schlanke Frau betrat die Halle.

»In Bern gibt es bisher nur die Tanzschule Seematter. Wir jungen Leute waren froh, als es geheißen hat, da kommt ein Neuer, und der spielt andere Musik.«

»Freut mich zu hören«, erwiderte Georges. »Ich habe übrigens nichts dagegen, wenn Sie das unter ihren Mitschülerinnen weitererzählen.«

Brigitte gab ihm die Hand. »Ich habe Ihren Aushang bei uns am Schwarzen Brett gesehen.«

»Wirklich?« Sein Gesicht hellte sich auf.

Corinne Dumarchellier kam näher. »Dein Aushang im Lyzeum war eine glänzende Idee«, sagte sie.

»Darf ich vorstellen? Das ist meine Partnerin.«

Corinne schüttelte der Schülerin die Hand.

»Und das ist Brigitte.«

»Salü, Brigitte.«

Brigitte steckte eine Karte mit den Terminen ein und machte sich auf den Weg zur anderen Seite der Halle, wo der Ausgang lag. »Bis nächsten Freitag also.«

»Eine Neue?« Corinne ordnete die Unterlagen auf dem Tisch.

»Hoffentlich.« Er sah der Schülerin nach.

»Wie viele sind es inzwischen?«

»Zu wenige. Viel zu wenige.« Georges fiel Corinnes Strickjacke auf. Es war früh kühl geworden in diesem Jahr. Wollte man nicht heizen, musste man sich warm anziehen.

»Alle sind gespannt auf eine Tanzschule, in der moderne Musik gespielt wird«, entgegnete Corinne.

»Bedauerlicherweise zahlen nicht die Jugendlichen die Kursbeträge, sondern ihre Eltern. Und die Berner schicken ihre Kinder lieber zu Seematter.«

»Die Kundschaft kommt bestimmt nach und nach.«

»Nach und nach nützt uns leider nichts. Ich hatte die exorbitanten Berner Preise vergessen.« Er machte eine Geste in den Raum. »Diese Etage kostet eine Stange Geld. Kommen keine Schüler, können wir uns höchstens zwei Monate halten.«

Plötzlich sprang Georges auf. »Aber nein, meine Damen!«

Drei Frauen und ein Mann drehten sich um. Sie trugen Arbeitskittel und Schürzen, zwei hatten Bürsten unter die Füße geschnallt.

»Das soll Hochglanz sein?« Er blickte in vier ernste Gesichter. Eine der Frauen schob ihr Kopftuch aus der Stirn. »Dieser Boden muss spiegeln. Schweben muss man darauf können! Beim Tanzen darf man nicht spüren, dass man einen Fußboden unter sich hat.«

Georges fasste eine der Frauen um die Taille und deutete ein paar Tanzschritte an. Sie erstarrte, sie verweigerte. Nach nur einer Drehung ließ er sie wieder los.

»So etwas kann ich nicht«, sagte sie in tödlichem Ernst.

»Deshalb eröffne ich ja eine Tanzschule, damit Sie es lernen.« Sein Lächeln wurde unsicher.

»Ich will nicht tanzen lernen.«

»Ich meinte ja nur … Bitte bohnern Sie weiter. Der Boden muss glänzen.« Georges kehrte zu Corinne zurück. »Ich werde noch wahnsinnig mit diesen Leuten.« Er wollte weiter ins Büro.

Sie hielt ihn fest. »Ich will das nicht tun, Georges.«

Er sah sie an und verstand. »Es ist von großer Bedeutung für mich.«

»Ich weiß ja, dass du, bevor wir beginnen, alte Rechnungen begleichen willst. Aber ich lasse mich dafür nicht einspannen.«

Er streichelte ihre langen Finger, berührte die unsichtbaren Härchen ihres Unterarms. »Es liegt mir viel daran. Tu mir den Gefallen.«

»Warum gehst du nicht selbst zu Seematter?«

Das Telefon im Büro läutete. Georges lief zwischen den Frauen mit ihren knirschenden Bürsten hindurch und erreichte sein Kontor. Noch fehlte die Einrichtung, das Telefon stand auf dem Boden. Georges riss den Hörer hoch.

»Tanzschule Georges Szell. Womit kann ich dienen?«

Es war keine neue Anmeldung, wie er gehofft hatte, keine Mutter, die sich nach Terminen erkundigte, auch niemand von der Tanzlehrer-Innung.

»Polizei?« Den Hörer am Ohr beugte Szell sich vor. »Bitte sagen Sie den Namen noch einmal. – Maisonge? Ich kenne niemanden, der …« Georges unterbrach sich. Corinne war eingetreten. »Ich verstehe. Ja. Ich komme sofort.« Er legte auf.

»Was gibt’s denn?« Corinne lehnte im Türrahmen.

»Ich muss auf die Stadtkanzlei. Meine Konzessionierung liegt zur Unterschrift vor.«

»Das ist ja wunderbar.« Sie trat ein. »Warum machst du dann so ein Gesicht? Soll ich dich begleiten?«

»Ich überlege …« Georges rückte das Telefon an die Wand, damit man nicht darüber stolperte. »Ich überlege, auf dem Rückweg gleich die Vorhänge für den Übungssaal abzuholen. Mir wäre lieber, du achtest darauf, dass die Arbeiten hier vorangehen.«

Sie umarmte ihn. »Georges, das ist großartig. Du wirst sehen, jetzt fügt sich alles noch zum Guten.«

Über Corinne hinweg starrte er in die Gewerbehalle, die noch nicht die geringste Tanzsaalatmosphäre verströmte. Nachdenklich streichelte er Corinnes Rücken. »Natürlich, aber natürlich.«

4

Mädchen-Lyzeum – die geschwungene Schrift in Bronze hatte Patina angesetzt. Mit Hut und Überzieher trat Léon Seematter ein und lief auf den Schulwart zu.

»Guten Morgen, Herr Struck.«

»Salü, Herr Seematter.« Der Pedell bediente gerade die Glocke, die in der Kuppel des Treppenhauses hing. Der schrille Ton drang in sämtliche Klassenzimmer.

Seematter warf einen Blick auf die Uhr. »Sie läuten jetzt schon die Pause ein?«

»Ich läute jeden Tag zur gleichen Zeit die Pause ein«, antwortete der Pedell würdevoll.

»Mir scheint, bei Ihnen gibt es mehr Pausen als Unterrichtsstunden«, scherzte Seematter.

Der Schulwart verzog keine Miene. »Wie darf ich das verstehen?«

»Ich meine, so gut möchte ich es auch einmal haben. Ich weiß manchmal nicht mehr, wie ich die ganze Arbeit schaffen soll.« Er zog ein hektografiertes Schreiben hervor. »Jetzt muss ich noch einen Faschingskurs einschieben.«

»Wir haben erst September«, gab Struck zu bedenken. »Die Fasnacht beginnt im Februar.«

»Lernen müssen die jungen Leute die Tänze aber jetzt, um sie zur Fasnacht zu beherrschen. Bitte, Herr Struck, würden Sie diesen Zettel für mich aufhängen?«

Der Pedell reagierte abweisend. »Schon wieder? Unsere Vitrine ist den öffentlichen Bekanntmachungen des Lyzeums vorbehalten.«

Seematter steckte ihm eine Münze zu, die der andere verschwinden ließ, ohne einen Blick darauf zu werfen.

»Ich habe Ihnen gerade zwei Franken gegeben.«

»Herzlichen Dank«, sagte Struck.

»Ich dachte, Sie haben es vielleicht nicht bemerkt.«

Der Pedell nahm Seematters Aushang entgegen und öffnete die Vitrine.

»Was ist denn das?«, rief Seematter überrascht.

»Das ist der Aushang eines gewissen Herrn Szell.«

»Warum hängt der hier?«

»Er eröffnet eine Tanzschule in der Brunngasshalde.« Struck nahm eine veraltete Liste ab und pinnte Seematters Ankündigung an das Brett.

»Szell? Was will Georges Szell in Bern?«

Struck musterte ihn überrascht. »Sie haben gesagt, die Arbeit wächst Ihnen über den Kopf. Da müsste Ihnen eine zweite Tanzschule wie gerufen kommen.« Missmutig betrachtete er das Gesamtbild der Vitrine. Die Zettel überlappten einander. Struck ging daran, die Aushänge neu zu ordnen.

Währenddessen las Seematter den Anschlag genauer. »Hier steht, Szell will eine Eröffnungsparty machen.«

»Warum soll er denn keine Party machen?«

»Weil er nicht darf«, stellte Seematter fest. »Laut Statuten ist jede Festlichkeit verboten, solange eine Tanzschule den Betrieb noch nicht aufgenommen hat.«

»Aber er nimmt ihn ja auf.«

»Paragraf elf lautet: Es ist verboten …« Seematter unterbrach sich. »Gut, dann mache ich auch eine Party, und zwar am selben Abend.«

»Das ist aber nicht nobel von Ihnen, Herr Seematter.« Struck verschloss die Vitrine. »Sie sind eine eingesessene Berner Institution. Wenn Sie am selben Abend ein Fest geben wie Szell, wie soll der Mann denn hochkommen? Außerdem – haben Sie das gelesen?«

»Was?« Seematter ging ein zweites Mal auf die Zehenspitzen.

»Herr Szell kündigt sein Fest als Beat-Party an. Sie wollen doch nicht etwa auch eine Beat-Party veranstalten? Das passt nicht zu Ihrem Institut.«

»Beat-Party …« Aus Seematters Mund klang das Wort wie ein Fluch. »Sperren Sie die Vitrine noch einmal auf, Herr Struck.

»Wieso?«

»Der Aushang muss verschwinden.«

»Was fällt Ihnen denn ein?«

»Beat-Party?!« Seematter wurde laut. »Mit solchen Mitteln arbeitet dieser Mann? Er verführt die Jugend, er zettelt Orgien an? Und Sie machen bei diesem Sodom und Gomorrha mit, Herr Struck? Sie sind ja bestochen!«, setzte er nach, während von allen Seiten Schülerinnen aus den Klassenzimmern strömten.

»Was erlauben Sie sich?«, ereiferte sich der Schulwart. »Weil Sie mir zwei läppische Franken geben, glauben Sie, Sie können mich beleidigen? Das ist unglaublich!«

Unter den vielen Mädchen blieb eine auf der Treppe stehen. Kurzer Rock, mintgrüner Pullover, blondes Haar. Brigitte warf einen langen Blick auf den hinauseilenden Tanzmeister. Schritt für Schritt kam sie nach unten und trat auf Herrn Struck zu.

»Was wollen Sie?«, fragte er aufgeregt.

»Ich möchte nachsehen, wann die Beat-Party steigt.«

Mit einer wegwerfenden Geste zeigte Struck auf den Aushang und wandte sich wichtigeren Aufgaben zu.

* * *

Mit schuldbewusstem Gesicht trat Heidi vor die Polizeiwache. »Es tut mir leid, dass ich die Zeche geprellt habe.«

Wenn ein Mensch nicht zu seiner Umgebung passte, zu dem Hintergrund, vor dem er stand, wurde der Mensch mit einem Mal fremd. Georges betrachtete seine Tochter. In diesem Augenblick kam er sich selbst wie ein Fremder vor. Er hasste dieses Gefühl, fremd in der Heimat, fremd in der Welt zu sein. Étranger, das war kein Zustand, sondern ein Charakter. Zeit seines Lebens war Georges ein Étranger gewesen. Er verfluchte Heidi, die ihn bei jeder ihrer Begegnungen daran erinnerte, weil sie Georges so ähnlich war. Weil er seine eigene Natur in Heidi wiederfand und fürchtete, sich selbst an Heidi weitergegeben zu haben.

Die Angelegenheit war glimpflich abgegangen, aber Georges hatte seine Personalien angeben müssen. Außerdem musste er ein Rivella Blau und einen Schinken-Käse-Toast bezahlen. Die Kantonalpolizei hatte den Vorfall registriert. Georges Szell, der in Bern ein Gewerbe eröffnen wollte, war durch ein junges Mädchen namens Heidi Maisonge auffällig geworden.

»Wieso hast du diesen Namen angegeben?« Zusammen traten sie aus den Arkaden auf die sonnendurchflutete Kramgasse. Die Septemberluft tat Georges wohl.

»Es ist der Künstlername meiner Mutter«, antwortete Heidi.

»In deinen Papieren steht nicht Maisonge, sondern Szell. Du hast die Polizei verwirrt. Du hast sie noch mehr verwirrt, weil du dich zunächst als Heidi Burckhardt ausgegeben hast.«

Sie brachte ihre großen blauen Augen ins Spiel. »Das habe ich nur getan, weil der Kellner so unfreundlich zu mir war.«

»Der Kellner hat nichts weiter getan, als die Tischreservierung zu prüfen.«

»Er hätte mich trotzdem nicht anzuschnauzen brauchen.«

»Was wolltest du überhaupt im Hutterli?«

Sie senkte den Kopf und seufzte, als wollte sie ihrer Erregung Herr werden. Georges durchschaute sie. Mit diesem Seufzer verschaffte Heidi sich Zeit, um nachzudenken.

»Da war ein Mann«, begann sie. »Der hat mich verfolgt. Seit dem Bahnhof war er hinter mir her.«

»Ein Mann also.« Er unterdrückte seine aufsteigende Wut. »Wie sah er aus?«

»Ein älterer Mann. Grauer Hut, er trug eine Sonnenbrille.«

»Es hat geregnet.«

»Er wollte etwas von mir.«

»Und vor diesem Mann bist du ins Hutterli geflohen?«

»So war es.«

»Was hat der Mann mit der Sonnenbrille getan, nachdem du dich in das Lokal gesetzt hast?«

»Er hat gesehen, dass ich mit dem Kellner spreche, und ist abgezogen.«

Georges wollte nicht länger vor der Polizeiwache stehen bleiben und lief los. »Es gibt diesen Mann überhaupt nicht! Du hast ihn erfunden.« Er wandte sich nicht zur Brunngasshalde, von wo er kam, sondern bog in die Straße zum Bundesplatz ein.

»Da war wirklich ein Mann!« Sie folgte ihm mit hopsenden Schritten; anders war das Laufen in den hohen Stiefeln unmöglich. »Er hatte eine Glatze und eine dicke Nase …«

»Wie konntest du seine Glatze sehen, wenn er einen Hut trug?«

Heidi wollte etwas entgegnen.

»Sei still. Um Gottes willen, sei still! Du hast dich als Tochter der Familie Burckhardt ausgegeben, einer der bekanntesten Familien Berns. Du hast im Hutterli gegessen und getrunken, bist aufgestanden und gegangen, ohne zu bezahlen. Der Kellner hat dich beobachtet und ist dir nachgelaufen. Er hat dich angezeigt.«

Heidi holte ihn ein. »Ich hätte ja bezahlt. Ich habe es nur vergessen.«

»Womit wolltest du denn zahlen?«

»Mit meinem Geld.«

»Gut, dann zeig mir das Geld, mit dem du den Schinkentoast und das Rivella bezahlt hättest. Zeig es mir!«, rief er so laut, dass sich Touristen, unterwegs zum Berner Münster, nach ihnen umdrehten. »Du bist im Internat. Dort brauchst du kein Geld. Ich weiß nicht, wer dir die Bahnfahrt bezahlt hat, ich war es jedenfalls nicht. Und damit sind wir bei dem entscheidenden Punkt: Wieso bist du hier?«

»Ich bin hier geboren.«

»Falsch. Du wurdest im Krankenhaus Neuchâtel geboren. Aber das spielt überhaupt keine Rolle. Du solltest in Grenoble bleiben, im Internat!«

»Ich will dort nicht länger bleiben, Georges.«

»Warum?«

»Weil es schrecklich ist. Ich möchte lieber bei dir sein.«

Diese Lüge Heidis tat ihm am meisten weh. Seine Tochter war eine notorische Lügnerin. Bei Kindern und Jugendlichen, hatte der Internatspsychiater versichert, seien solche Zustände nicht ungewöhnlich. Sie entsprangen einem mangelnden Selbstwertgefühl oder übersteigertem Geltungsdrang. Diese Phase würde sich von selbst legen. Trotzdem werde er Heidi im Auge behalten, schloss der Psychiater: Das Lycée au ciel ouvert sei kein Institut für schwer erziehbare Mädchen, sondern ein Internat von erstklassigem Ruf.

Heidi blieb stehen. »Wo gehen wir überhaupt hin?«

»Ich bringe dich in die Jugendherberge.«

»Du willst mich in ein Hotel abschieben?«

»Ich schiebe dich nicht ab. Aber du überfällst mich zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt. Ich stehe kurz vor der Eröffnung. Ich habe jetzt keine Zeit …«

»Keine Zeit für deine Tochter?« Ihr Blick, ihre Haltung waren dazu angetan, sein schlechtes Gewissen zu wecken.

»Du kannst im Augenblick nicht in die Brunngasshalde mitkommen.«

»Warum nicht?«

»Weil dort … noch nichts fertig ist. Es ist ungemütlich. Es würde dir nicht gefallen.«

»Du willst nicht, dass Corinne mich sieht«, erwiderte sie.

»Da hast du verdammt recht!«, brach es aus ihm heraus. »Ich will nicht, dass sie überhaupt weiß, dass du hier bist. Wir nehmen jetzt ein Zimmer in der Herberge, und dann entscheide ich, wann du zurückfährst. Wo hast du dein Gepäck gelassen? Am Bahnhof?«

Ehrlich erstaunt sah sie ihn an. »Nein. Es muss …«

»Ja?«

»Ich glaube, der Koffer steht noch im Hutterli.«

5

Rosalino Montegiallo fuhr mit seinem Neffen Peter die Strecke von Herzogenbuchsee nach Bern. Der Onkel chauffierte ein Fahrzeug, das er selbst entworfen hatte, den Montegiallo Shark, kurz MGS. Rosalino hatte sich aus einfachen Verhältnissen emporgearbeitet. Sein Vater war Besitzer einer Lkw-Werkstatt gewesen. Nach einer Ausbildung zum Kfz-Mechaniker hatte Rosalino den Betrieb übernommen und zu einer Vertretung für Luxusfahrzeuge und Rennwagenhersteller ausgebaut. Er war der Erste, der Ferrari in der Schweiz vertrat, daneben Bentley und Maserati. Rosalino hatte nie geheiratet und seinen Neffen Peter an Sohnes statt angenommen.

Von Herzogenbuchsee benötigte man mit dem Auto gewöhnlich eine knappe Stunde. Rosalino legte die Strecke im Shark in weniger als dreißig Minuten zurück.

»Du wirst uns noch umbringen, Onkel.« Peter starrte auf die kurvenreiche Strecke. Phantomhaft imitierten seine Füße das Spiel von Gas und Kupplung, ohne auch nur das Geringste am Fahrstil des Onkels ändern zu können.

»Um diese Zeit ist wenig los auf den Straßen.« Rosalino überholte drei Fahrzeuge hintereinander.

»Das wird knapp!«, rief Peter. »Das wird zu knapp!«

Wenige Zentimeter vor einem herannahenden Laster scherte Rosalino wieder auf die eigene Spur ein. Der Laster ließ das Überlandhorn ertönen.

»Siehst du, gar kein Problem«, sagte der Onkel gelassen lächelnd.

Peter wischte sich die Hände an den Hosenbeinen trocken. Ein Blick zur Seite. Rosalino fuhr wie der Teufel, in seinem Smoking sah er dabei aus wie ein Bräutigam. Peter dagegen war in saloppen hellblauen Hosen unterwegs, dazu ein bordeauxrotes Sakko. Seine Krawatte spielte in beiden Farben.

»Dass du derart elegant zu den Burckhardts fährst, kommt mir verdächtig vor.«

Rosalino hupte einen Radfahrer an, der erschrocken zur Seite taumelte. »Was soll daran verdächtig sein?«

In der Einladung stand: auf einen kleinen Imbiss.«

»Du weißt doch, wie so etwas bei den Burckhardts aussieht. Kleiner Imbiss bedeutet, die lassen aus ihrem Delikatessengeschäft alles auffahren, was gut und teuer ist.«

»Ich komme mir vor, als ob ich bei einer Staatsprüfung antreten müsste.«

Darauf schwieg Rosalino eine Weile, ließ den MGS im zweiten Gang röhren und schaltete hinter einer Kuppe in den dritten. »Eine Prüfung ist es in jedem Fall.«

»Was willst du damit sagen?«