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Simon Urban

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Beschreibung

Ostberlin 2011: Die Wiedervereinigung hat es nie gegeben, Egon Krenz ist seit 22 Jahren an der Macht und die DDR nahezu pleite. Die Hauptstadt: ein maroder Moloch, verpestet und verdreckt von Millionen Ölmotoren des Trabant-Nachfolgers Phobos. Die letzte Chance für den Sozialismus: Wirtschaftsverhandlungen mit der BRD und ihrem Bundeskanzler Oskar Lafontaine. Doch dann wird ein ehemaliger Berater von Krenz ermordet aufgefunden - und alles weist darauf hin, dass die Täter aus den Reihen der Stasi kommen. Als auch noch der SPIEGEL über diesen Fall berichtet, ist klar: Wird die Unschuld der Stasi nicht bewiesen, ist die DDR endgültig erledigt. Im grauen, zerfallenden Ostberlin suchen Martin Wegener von der Volkspolizei und sein westdeutscher Kollege Richard Brendel nach den Mördern - und finden heraus, warum die Entwicklung der DDR so katastrophal verlaufen musste. Mit Witz und beißender Ironie erzählt Simon Urban eine packende Geschichte über politischen und menschlichen Verrat, über die vergebliche Suche nach Wahrheit und Liebe. Plan D ist ein deutsch-deutscher Thriller, der von den großen Irrtümern des zwanzigsten Jahrhunderts handelt. Und von ihrem Weiterleben heute.

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Seitenzahl: 606

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Für meine ElternIn Erinnerung an Günter Schabowski

»Wer die Vergangenheit nicht kennt,ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen.«

George Santayana

Mittwoch, 19. Oktober 2011

1

Wegener öffnete den Reißverschluss der Cordhose, zog mit zwei Fingern seinen Penis heraus und entspannte sich. Ein paar Sekunden war es vollkommen still, dann prasselte der heiße Urin auf das trockene Laub, immer schubweise, ein Schwall versiegte, dann kam der neue, wuchs zu einem dampfenden Bogen und verkümmerte wieder, wurde vom nächsten abgelöst. Wegener stellte sich breitbeiniger hin, zählte mit, zum zehnten, zum elften, zum zwölften Mal baute sich der dünne Strahl auf, krümmte sich und ging ein, plötzlich unterbrochen, dann tröpfelte es nur noch.

Wer sich vom Tatort entfernt, sollte wenigstens nicht mit bepissten Schuhen zurückkommen, hatte Früchtl immer gesagt und es selbst nie geschafft, und wenn er vorher nichts gesagt hätte, wären seine Schuhe hinterher niemandem aufgefallen.

Wegener legte den Kopf in den Nacken. Starrte in die Nacht. Die Metallverkleidung der Pipeline glänzte im Mondlicht, ein silbriger Streifen, der sich rechts und links zwischen den Bäumen verlor. Dieser Streifen würde weiterglänzen, wenn man ihm folgte, wenn man im immer gleichen Abstand zur Leitung bliebe und das Mondlicht im richtigen Winkel auf das Blech treffen ließ, durch ein verschwommenes Labyrinth aus Eichenstämmen und den Betonpfeilern des Pipeline-Viadukts, kilometerweit über den knisternden Laubboden bis zur Sektorengrenze.

Diese Röhre leuchtet einem immer noch den Weg in den Westen, dachte Wegener, diese Röhre ist der fette Ariadnefaden des Sozialismus. Und musste lächeln. Oben würden sie sich das anhören und die Köpfe wiegen und sagen: Oberflächlich betrachtet, bitte, aber wer genau hinsehe, dem falle doch wohl auf, dass diese Röhre vielmehr den Weg in den Osten leuchte, tief hinein in die Sozialistische Union, bis in den Ural, sogar bis nach Sibirien, das sei doch ein entscheidender Unterschied, nur das Gas wandere schließlich westwärts, sonst nichts.

Wegener schüttelte seinen Penis, schob ihn zurück in die Hose, zog den Reißverschluss hoch. In der Tiefe des Waldes flammten die Scheinwerfer der Spurensicherung auf, gleißende, durch Baumstämme zerteilte Flecken, die immer mehr wurden, die schnell zu einem großen Fleck zusammenwuchsen, auf den er jetzt halbblind zusteuerte wie auf das Licht am Ende eines lichtlosen Tunnels, über Äste und Gesträuch stolpernd, bis es hell genug war für einen Blick auf seine Schuhe: Zwei Flecken auf dem rechten, einer auf dem linken.

Acht Strahler hatten Lienecke und seine Leute aufgestellt, je vier auf jeder Seite der Pipeline, die jetzt nicht mehr silbrig glänzte, sondern fleckig und vermoost aussah, der größte unter den vielen, schäbigen Versorgungskanälen, die Ostdeutschland in immer dünnere Streifen schnitten. Hinter dem flatternden Absperrband waren der Vertreter des Energieministeriums und seine Sicherheitsbeamten längst zu gelangweilten Gaffern erstarrt. Neben ihnen brummte der Generator auf seinem Hänger, rote Kabel schlängelten sich wie ausgehärtete Blutspuren den Hügel hinauf durchs Laub. Lienecke verteilte kartonweise Müllbeutel. Seine Assistenten begannen so ameisenartig Laub zu harken und in die Säcke rieseln zu lassen, als hätte das Politbüro gerade mit sofortiger Wirkung trockene Blätter verboten. Wie immer, wenn er Lienecke und seine Leute bei der Arbeit sah, tauchend, kletternd, grabend, abklebend, schabend, eintütend, sortierend, fegend, kratzend, war Wegener froh, mit solchen Puzzlespielen nichts zu tun zu haben, sich auf diese Typen verlassen zu können, die früh genug erkannt hatten, dass Glück und Unglück von einem Tropfen Schweiß, Sperma oder Urin auf dem Schuh abhingen und dass unerschöpfliche Geduld eine seltene Gabe war, mit der man es weit bringen konnte, vor allem in der Deutschen Demokratischen Republik.

Keiner der Assistenten redete während der Arbeit. Auch Lienecke sagte nichts. Nur der Generator brummte und das Laub raschelte. Ab und zu knackte ein Ast. Die sechs gleichmäßig wühlenden Männer in den weißen Ganzkörperanzügen kamen Wegener vor wie seltsam beherrschte Tiere auf einer ebenso mühseligen wie vergeblichen Nahrungssuche. Diese Spurensucher-Spezies verständigte sich mit unsichtbaren Zeichen, steckte telepathisch ihr Revier ab, besaß eine geheime Choreografie, stakste wie eine lethargische Population Albino-Storche über den Waldboden, synchrone Zeitlupe, alle in Reihe, ein Schritt pro Minute. Wegener drehte sich zu den beiden Uniformierten um, die an ihrem Phobos lehnten und rauchten, ohne jeden Sinn für Lieneckes betuliches Ballett. Die Volkspolizisten starrten in die Dunkelheit, beneideten vermutlich ihre Kollegen, die schon vor mehr als einer Stunde mit dem Jäger und seinen beiden sabbernden Kötern zum Revier gefahren waren, zogen an krummen Kippen, ihre Nasen umgedrehte Schornsteine, die den Rauch nach unten bliesen, aber der ließ sich nicht täuschen und trieb unbeirrt nach oben.

Wegener hockte sich hin. Griff in trockene Blätter. Hier hatte es seit Tagen nicht geregnet. Vielleicht sogar seit Wochen nicht. Auf Reifenspuren durften die Laubsammler kaum hoffen. Fußspuren noch unwahrscheinlicher. Blieb die ewige Hoffnung auf unbewusst ausgespuckte Kaugummis, Lackspuren an Eichenrinde, Notizzettel, die durch Hosentaschenlöcher gerutscht waren. Wegener stand wieder auf und lehnte sich an einen Baumstamm. Seine Armbanduhr zeigte Viertel nach neun. Mit Glück würde hier um elf abgebaut. Mit Pech irgendwann zwischen eins und zwei.

Der Kommissar ist vierundzwanzig Stunden am Tag misstrauisch, hatte Früchtl gesagt, und der misstrauische Kommissar bleibt bis zum Schluss. Der misstrauische Kommissar misstraut den Kollegen, der Spurensicherung und dem Mordopfer, weil er der Misstrauer Nr. 1 ist. Der misstrauische Kommissar misstraut an erster Stelle sich selbst. Vertrauen kannst du auf Gott, hatte Früchtl gesagt, und bei uns noch nicht mal auf den.

Lieneckes Truppe rückte jetzt langsam zur Pipeline vor. Neben dem Generator stapelten sich prall gefüllte Säcke. Der nackte Waldboden war eine schrumpelige, braune Haut voller Wurzeladern und Löcher, aber ohne Kaugummis und Notizzettel. Lienecke hob die rechte Hand. Seine Männer nickten. Das sind die Bilder, die mir im Kopf herumlaufen, wie in einem Hamsterrad, wenn ich neunzig bin, dachte Wegener, als Endlosschleife, im Altenheimbett, wenn auch die letzten Synapsen zusitzen und der Speichel in Fäden auf die Bettwäsche tropft. Wenn andere im Delirium von ihren Ginsterbüschen und Kasselerbraten und FDJ-Hanseln gequält werden, dann sehe ich zwei quarzende Vopos vor einer erleuchteten Blätterinsel, auf der die Ku-Klux-Klan-Ortsgruppe Köpenick in Zeitlupe tanzt, stakst, raschelt, während im Hintergrund ein Toter baumelt. Und die Schwester sagt: Aber Herr Wegener!, und geht mir mit der behandschuhten Hand über die letzten grauen Haare, fast zärtlich, so, als hätte die Hand gar keinen Handschuh an, das ist doch alles schon lange vorbei, Herr Wegener, das war einmal, Ihr Wald, Ihre Blätterinsel, Ihr Ballett, Ihr Toter, die dicken Vopos, der Energieministeriumsvertreter. Das haben Sie hinter sich, das spielte mal sieben oder zehn Tage lang eine Rolle in Ihrem Leben, eine Hauptrolle vielleicht sogar, aber danach nicht mehr, niemals, nie. Wegener merkte, wie die Müdigkeit ihn plötzlich packte. Wie die sich dumpf um seinen Kopf wickelte, eine bordsteinkantendicke Schaumstoffmatte, alles dämmend, alles verschluckend. Am liebsten wäre er sofort an dem rauen Stamm nach unten gerutscht, ins trockene Laub, hätte sich knisternd zusammengerollt und Lienecke gebeten, die Lampen auszumachen, ganz schnell, alle acht.

Einer der Vopos grunzte.

Wegener drehte sich um.

Zwei helle Punkte flimmerten weit entfernt über den Forstweg und kamen langsam näher.

Lienecke hob den Kopf, nickte, sah wieder nach unten.

Seine Assistenten brachen ihre Buddelei ab und verstellten den Winkel der vorderen Strahler. Die Lichtkegel ruckten nacheinander in Richtung Pipeline, illuminierten eine triste Naturbühne, die Show konnte beginnen. Der glänzende, lang gezogene Phobos Prius wurde sichtbar. Sein ovaler Kühlergrill funkelte. Über dem Wagen leuchtete plötzlich auch die Leiche. Aus dem Schatten der Gasleitung herausgeschnitten, erschien sie jetzt grell vor dem Waldschwarz, eine schlaffe, schwebende Marionette an einem einzigen Faden. Dieser Tote dreht uns allen den Rücken zu, dachte Wegener, der hängt zwar am Strick, aber mit der Polizei will er deshalb noch lang nichts zu tun haben. Sein Geheimnis gehört ihm. Keine Lust auf nikotinsüchtige Vopos, Lieneckes Laubsammelroboter, einen hundemüden Ermittler. Hier interessiert sich keiner für den anderen. Hier hat jeder seinen exakt abgegrenzten Job: Hängen, Rauchen, Starren, Suchen. Für eine Sekunde wurde Wegener das Bizarre, das jeder Tatort mit sich brachte, wieder bewusst, die unwirkliche Verbindung von angehaltener Zeit und automatisierter Betriebsamkeit, die Gegenstandswerdung eines Menschen, die erzwungene, willkürliche Gemeinschaft, an der keiner der Anwesenden jemals ein Interesse gehabt hatte. Der Zufall, der den einen hängen und die anderen buddeln ließ und der auch das Gegenteil hätte veranstalten können. In der aktuellen Konstellation bin ich Volkspolizeihauptmann, dachte Wegener, und der aufgeknüpfte dürre Alte mit dem teuren Mantel, der Seidenkrawatte, der goldenen Uhr und den zusammengebundenen Schnürsenkeln ist das Opfer. Fünfundsiebzig, achtzig Jahre Leben enden unter der Nordmagistrale am Müggelsee, warum auch immer, und schon geht das ewige Theater von vorne los, die Ermittlungsfabrik, die Fragen, die Lügen, die Ahnungen, immer gibt es nur fünf mögliche Antworten, natürliches Ableben, Unfall, Suizid, Totschlag, Mord, ein Ergebnis so wenig hilfreich wie das andere, jedes Resultat kommt immer zu spät, befriedigt höchstens Beamtenehrgeiz und Verwandtenschmerz, bleibt belanglos.

Die hüpfenden Lichtkegel auf dem Forstweg waren inzwischen zu zwei Scheinwerfern geworden, die jetzt die leichte Steigung herunterkamen, durch die Senke rollten, einen Bogen drehten, blendeten. Der Auspuff röchelte, Wartburg Aktivist, dachte Wegener, alt, aber gepflegt. Der Wagen stoppte neben dem Generator. Das Röcheln verstummte. Die Ministeriumsdelegation glotzte. Zwei Aluminium-Heckflossen schimmerten, eine Rapsol-Wolke wehte herüber, der ewige, überhitzte Frittierfettgestank, dann gingen die Scheinwerferaugen aus, die Innenbeleuchtung an, ein blonder Mann kramte in einer Tasche, packte etwas hinein, öffnete die Wagentür, kletterte heraus, grüßte die Gaffer, warf die Tür ins Schloss, kam auf Wegener zu.

»Doktor Sascha Jocicz«, sagte der Blonde mit etwas atemloser Stimme, »Gerichtsmedizin Mitte, Bereitschaft.«

»Martin Wegener, Kripo Köpenick«, sagte Wegener und musste einen langen, schmerzhaften Händedruck über sich ergehen lassen.

»Oberstleutnant Wegener?«

»Hauptmann, Herr Doktor.«

Der Doktor lächelte nicht, wenn er bei der Arbeit fremde Hände quetschte, also lächelte Wegener auch nicht. Jocicz gab ihn frei und betrachtete die Pipeline, den Toten, den glänzenden Prius, die Laubsäcke. Sein Blick wanderte von rechts nach links über die Szenerie, von links nach rechts wieder zurück. Eingescannt, dachte Wegener. Jocicz drehte sich um, stiefelte zu seinem Wartburg, öffnete zackig die Kofferraumklappe, hob zackig einen großen Metallkoffer heraus, schlug zackig die Kofferraum-Klappe zu, überprüfte seine Frisur in der spiegelnden Heckscheibe, ging sich zärtlich mit der Hand über den Scheitel. Besteht fast nur aus Kanten, dachte Wegener, eckiger Schädel mit eckigem Kinn. Darunter eckige Schultern. In der Hose vermutlich Beine wie Stahlträger. Muskulöse Balken, um extra zackig zu marschieren.

»Wer knattert so spät durch Nacht und Wind?« Lienecke duckte sich unter dem Absperrband durch.

»Belesen ist er auch noch, der Kollege.« Jocicz gab Lienecke die Hand, beide griffen zu, ohne eine Miene zu verziehen.

»Na, Ulf.«

»Na, Sascha.«

Wegener überlegte, wer fester drückte, Ulf oder Sascha.

»Der Anlasser?« Lienecke befreite seine Hand, um sich damit am Kopf zu kratzen. Der Gerichtsmediziner hatte gewonnen.

»Kriegen sie nicht hin. Zumindest nicht bei der Winterbaureihe. Und das ist ja schon der zweite dieses Jahr. Zuverlässig bricht das Ritzel.«

»Was kostet ein Anlasser bei den Wartburgs?«

»Zu viel. Aber beim neuen Agitator ist ja angeblich alles anders.« Jocicz ließ seinen Metallkoffer aufschnappen und zog einen weißen Schutzanzug heraus.

»Sie kennen jemanden, der einen Agitator fährt?«, fragte Wegener und sah in den Himmel. Kräftiger Wind hatte die Baumkronen gepackt. Der ganze Wald fing an zu rauschen.

»Ich kenne sogar jemanden, der einen Phobos Datscha fährt.«

»Ich auch«, sagte Lienecke, »Achtung Krenz.«

Jocicz grinste ein eckiges Grinsen und kletterte in seinen Anzug.

»Was erwarten Sie von den Gas-Konsultationen mit Westdeutschland, Herr Hauptmann? Meine Mutter sagt immer, alle Politiker sind Verbrecher. Da müsste ein Kriminalbeamter doch längst was im Urin haben.«

»Wahrscheinlich liegt Ihre Frau Mutter richtig«, sagte Wegener. »Eins ist sicher, am Ende wird niemand verhaftet.«

»Da haben Sie Recht. Verhaftet wird von denen keiner.«

»Lafontaine schlägt sich in Weimar den Bauch mit Thüringern voll«, sagte Lienecke, »währenddessen streiten sie zwölf Stunden über den Gaspreis, dann fährt er wieder. In seinem VW Phaeton samt Sitzheizung und funktionierendem Anlasser.«

»Mit zwölf Stunden kommst du nicht aus.« Wegener betrachtete den Toten, der sich jetzt leicht im Wind bewegte. Das Rauschen in den Baumkronen war stärker geworden. Ein fliegendes Ozeangetöse. Blätter schwebten durchs Strahlerlicht wie große goldene Schneeflocken. »Wer schafft mehr Würste? Lafontaine oder Achtung Krenz?«

»Guck dir Achtung an, das Beuteltier. Im Wurstwettfressen zieht der jeden ab.«

»Das gibt sechs Monate, Sascha.«

»Beuteltier hab ich gesagt, nicht Sack voll Speck. Beuteltier gibt nur drei.«

Wegener drehte sich um und starrte in die Dunkelheit, spürte plötzlich, dass da noch jemand war, irgendwer, der ihn im Blick hatte, der alles beobachtete. Der an einem Eichenstamm lehnte, mit Nachtsichtgerät und Richtmikrofon. Der viel erzählen konnte über das Wenige, was hier in den letzten Stunden passiert war, und der sich nur noch wünschte, dass dieser Suchtrupp endlich fertig würde mit seiner sinnlosen Jagd nach Spuren, die es nicht gab, weil sie längst entfernt worden waren. Damit auch der Beobachter der Beobachter endlich nach Hause gehen durfte.

Ich kann euch riechen, dachte Wegener, ihr Spitzel, hinter euren Büschen und Mauern und Maskeraden, wenn ich mich auf irgendwas verlassen kann, dann auf meine Nase, ihr stinkt mir, Brüder, von den Dachböden, aus den Kellerverschlägen, hinter Müllcontainern, ich wittere eure Zigarettenstummel, eure Wanzen, eure Teleobjektive, eure Selbstgewissheit, die vor allem.

Wegener starrte immer noch.

Lienecke und der eckige Gerichtsmediziner sahen ihn an.

Niemand sagte was.

Blätterrauschen und Generatorbrummen, sonst nichts. Wer immer da gestanden hatte, jetzt zog er sich zurück, geräuschlos, unsichtbar. Das wäre der Moment, den Vopos in die Ärsche zu treten, dachte Wegener, mit Taschenlampen in den Stadtforst zu rennen, bis sich vielleicht von irgendeinem Baumstamm der flüchtende Schatten lösen würde, den man ohnehin nie erwischte, aber von dem man dann wenigstens wüsste, dass es ihn wirklich gab. Einer von Lieneckes Männern rief etwas, bückte sich, kniete im Laub. Lienecke setzte seine Brille auf und stieg über das flatternde Band.

»Der deutsche Wald«, sagte Jocicz, »ist genau so lang ein Quell der Freude, bis man ihn nach Fingerabdrücken durchsuchen muss.«

Wegener trat an das Absperrband. »Was dagegen, wenn ich mir Ihre Arbeit aus der Nähe angucke?«

»Bei Josef Früchtl gelernt?«

»Zum Glück.«

»Dann kann ich wohl nicht nein sagen.«

»Nein«, sagte Wegener, »können Sie nicht.«

Jocicz zupfte an seinem Schutzanzug. »Im Koffer ist noch einer.«

Jetzt wurden auch die vier Strahler auf der anderen Seite der Pipeline neu ausgerichtet. Der Tote hing plötzlich im Gegenlicht, die Röhre war ein schmutziger Wulst aus gebogenem Blech, Schweißnähten und dicken Schraubenmuttern. Aufgeschreckte Falter kreiselten durch die Tageshelligkeit, noch einmal lebendig, morgen holt euch der kalte Herbst im Schlaf von euren Ästen, dachte Wegener und stieg in den viel zu großen Kunststoffanzug. Die Vopos drehten sich weg, rauchten weiter in die Dunkelheit.

Jocicz wartete am Absperrband. Der Anblick eines Hauptmanns in Frischhaltefolie machte das Kantengesicht ein wenig runder. Jocicz stiefelte los, Wegener folgte ihm über den gesäuberten Boden, im Halbkreis um den rechten Betonpfeiler der Pipeline. Mit jedem Schritt wurde ein bisschen mehr von dem Erhängten sichtbar, der sich seinen Besuchern nun zögerlich zuwandte, bis er schließlich ein faltiges Wachsgesicht zeigte, krumme Schnabelnase, buschige Brauen, weißer Kinnbart. Jocicz blieb vor dem Toten stehen und leuchtete ihn Zentimeter für Zentimeter mit der Taschenlampe ab. Schob die Hosenbeine hoch und untersuchte die blassen, haarigen Waden. Drückte seinen Handschuhdaumen in das fahle Fleisch. Fotografierte die leicht gekrümmten Hände, die verfärbten Nägel, die Gelenke. Betrachtete die ausgelatschten Schuhe mit den zusammengebundenen Schnürsenkeln, fotografierte sie und sagte nichts. Seine Bewegungen hatten alles Zackige verloren. Wie eine Katze schlich er um den schlaffen Körper, machte sich Notizen, stieg auf eine Leiter, befingerte den Leichenhinterkopf, die grauen Haare, das erstaunte Gesicht, leuchtete mit seiner Taschenlampe in die toten Augen, kam wieder herunter.

Wegener sah zu. Als Jocicz fertig war, saßen die Silhouetten der beiden Vopos reglos im Wagen, Köpfe auf der Brust. Die Ministeriumsgruppe diskutierte. Lieneckes Männer hatten den kompletten inneren Ring der Absperrung vom Laub befreit. Einer verlud die Säcke auf zwei abgedeckte Hänger, die anderen liefen hinter der Flatterbandgrenze mit Handstrahlern durch den Wald. Betrunkene Riesenglühwürmchen, die nichts finden würden, solange sie nichts finden sollten.

»Wenn ich bitten darf.« Jocicz hatte seine freundlichste Stimme ausgepackt.

Wegener versuchte trotz der Müdigkeit ein interessiertes Gesicht hinzukriegen.

»Sie wollten doch gern dabei sein.« Jocicz schob die Klappleiter etwas näher an die Pipeline, stieg auf der rechten Stufenreihe hoch und machte eine einladende Handbewegung, ihm auf der linken zu folgen. Wegener zog Handschuhe aus der Schutzanzugtasche, streifte sie über, prüfte den Stand der Leiter.

»Alles sicher«, rief Jocicz von oben.

»Der misstrauische Kommissar überprüft die Leiter«, sagte Wegener mehr zu sich selbst und kletterte, bis Rücken und Nacken des Toten vierzig Zentimeter vor seinem Gesicht waren. Jetzt konnte er den dunklen Ring sehen, den die Schlinge in den langen Hals fraß. Unten der Phobos Prius wie ein zu früh bestellter Leichenwagen. Zwei Dellen im schwarzen Dach.

Jocicz guckte dem Hängenden über die Schulter, seine Hände tasteten, die Gummifinger kletterten am strammen Seil hoch, wurden zur Faust, zogen kurz und kräftig daran.

Wegener sah Jocicz direkt in die Augen. Jocicz hielt dem Blick stand.

»Eine Hinrichtung«, sagte Wegener.

»So sieht es aus«, sagte Jocicz.

»Oder die Inszenierung einer Hinrichtung.«

»Auch das ist möglich.«

»Wann?«

»Vor rund 48 Stunden«, sagte Jocicz. »Eher etwas weniger. Tod nicht durch Strangulation, sondern durch Genickbruch. Man hat ihn aufs Wagendach gestellt und Gas gegeben, anderthalb Meter Fall, Exitus.«

»Ok.«

»Zusammengebundene Schnürsenkel und ein Henkersknoten mit acht Rundtörns, Herr Wegener. Gute Chancen, um schultertief in die Scheiße zu greifen.«

»Ist mir nicht entgangen.«

»Und die Klamotten sehen nach Bonze aus.«

»Definitiv.«

Jocicz strich sich mit der Hand durch die Haare. Ein kleines, gelbes Blatt, das sich in seinem Scheitel verfangen hatte, schwebte herunter. Wegener merkte, dass die Leiche roch. Nach Schweiß, nach dumpfem Moder und langsam einsetzender Verwesung.

»Was tun Sie jetzt?«

Wegener klammerte sich mit beiden Händen an die kalten Leiterholme. »Ermitteln. Ich bin ja der Ermittler.«

»Ein Ermittler, der niemanden verhaften kann.«

»Das macht nichts, verhaftet wird ja sowieso nie jemand«, sagte Wegener und stieg die Leiter langsam wieder herunter.

Donnerstag, 20. Oktober 2011

2

Wegener öffnete die Augen, schloss sie wieder, öffnete sie. Der Ventilator klebte über ihm an der Decke wie ein rundliches Insekt mit drei fetten, platten Beinen. Dieses faule Vieh bewegte sich nie, hatte sich nie bewegt, würde sich vermutlich nie bewegen. Vielleicht war es gar nicht angeschlossen. Wegener versuchte sich zu erinnern, ob Karolina jemals den Ventilator zum Surren gebracht hatte, in irgendeinem heißen Sommer, um ein bisschen Spielfilmstimmung herzustellen. Ihm fiel nichts ein. Das Ding hatte immer nur tot herumgehangen und einen langsam wandernden Schatten an die Decke geworfen. Einen verzerrten Spinnenschatten mit drei fetten, platten Beinen.

Er tastete auf dem Nachttisch nach seinem Minsk, drückte auf die Menütaste, hielt sich das leuchtende Display direkt vor die Nase: 10:49h. Ein Anruf in Abwesenheit, 09:53h, W.B. Büro. Borgs wartete jetzt schon seit einer Stunde auf Rückruf, zweihundert Fotos vom Tatort vor sich ausgebreitet, die Zeugenaussage des Jägers Soundso im Kopf, den Wanst prall gefüllt mit der hartnäckigen Entschlossenheit, die ihn seit achtzehn Jahren Vorgänge von den Schreibtischen seiner Abteilung schieben ließ, wenn politische Windhosen am Horizont auftauchten. Wegener merkte, wie recht ihm die Borgs’sche Abschiebepraxis in diesem Fall war. Er drehte sich auf den Bauch, drückte das Gesicht ins Kissen, zog sich die Decke über den Kopf und rechnete nach, wie lange ihn diese Pipelinegeschichte noch beschäftigen würde: realistisch betrachtet, acht Stunden. Dann hatte das K5 übernommen, eine Geheimhaltungsstufe draufgeklatscht, Verschlusssache, fertig. Oder es ging gleich in die Normannenstraße, Staatsschutz, Interne Abteilung. Jocicz durfte die Obduktion abgeben, Lienecke die Spurenauswertung, er selbst das wochenlange Ratespiel, die Vernehmung von Spaziergängern, Reitern, Pilzsammlern, Pipeline-Wachschutzheinis, die Streitereien mit dem Energieministerium über Ermittlungen im Sperrgebiet und den ganzen anderen Dreck. Stattdessen Verschwiegenheitsverpflichtungserklärung aufgrund Sonderermittlungsstatus III, ein dünnes, gelbes Blatt Papier mit einer Menge kleingedruckter Drohungen, die von Herabstufung über Kündigung bis Bautzen reichten. Dann konnten alle, die gestern Abend dabei waren, unterschreiben, dass sie weder ihre Arbeit verlieren noch zu einer Haftstrafe wegen Geheimnisverrats verurteilt werden wollten und deshalb zukünftig mit niemandem – respektive mit verwandten / angeheirateten Personen und / oder den an der betreffenden Ermittlung beteiligten Kollegen – über die entsprechenden dienstlichen Vorgänge und sämtliche begleitende Umstände reden oder anderweitig kommunizieren würden. Bei dem Passus anderweitig kommunizieren musste Wegener immer an Rauchzeichen denken. Vielleicht wegen der Indianer-Zeltlager, die Tobias Kirchhoff früher jeden Sommer für die FDJ angeleiert hatte, irgendwo in Mecklenburg. Wegener stellte sich Jocicz, Lienecke und die Spurensammler vor, im Kreis um ein qualmendes Lagerfeuer in Neustrelitz, jeder mit einer Decke in der Hand, beim Versuch, über den Toten an der Pipeline anderweitig zu kommunizieren. Jocicz schrieb mit Rauchwolken in den Abendhimmel: Glaubt mir, Männer, Schnürsenkel zusammengebunden, der Galgenknoten achtmal gewickelt, das waren SIE, einwandfrei, verdammte Scheiße. Und Lienecke, wedelnd: Kein Zweifel, nichts gefunden im Laub, nicht den kleinsten Hinweis, und genau das ist der Hinweis, so sauber arbeiten nur DIE! Und sämtliche Spurensammler mit synchronen Fächelbewegungen wie ein tragischer Chor: Nicht den kleinsten Hinweis, das ist der Hinweis!

Wegener warf die Bettdecke zur Seite, stand ächzend auf, stellte das Fenster auf Kippe, schlurfte ins Bad. Der letzte funktionierende Deckenstrahler schickte sein spärliches Licht in Richtung Waschbecken. Toilette und Wanne blieben in grünlich gefliester Dunkelheit zurück. Auf dem Spiegelschrank leuchtete Karolinas alte Deospray-Dose, ein lachsfarben glitzernder Phallus mit der Aufschrift Action. Die letzte Action in unserer Beziehung, hatte Karolina irgendwann mal gesagt, und Wegener darauf: Erstens war das ein echt mieser Kalauer und zweitens geht diese Action wenigstens nie zu Ende, sondern wartet dein Leben lang auf dich, palettenweise, im Konsum, mit viel Solidarität produziert vom Kombinat Körperpflege. Darauf Karolina: Von dem du noch nie was gehört hast. Darauf Wegener: Ich rieche nach Mann. Karolina: Das riecht man. Und jetzt war er seit einem Jahr unfähig, eine hässliche Dose wegzuwerfen, die in seinem Badezimmer lachsfarben lauerte. Die jeden Morgen im Spot der halbinvaliden Lampe erstrahlte wie ein abgetakelter Schlager-Star auf der Parkbühne von Eisenhüttenstadt und das alte Lied vom Verlustschmerz anstimmte, vor dem alle Menschen gleich sind.

Wegener stützte sich mit beiden Händen aufs Waschbecken und betrachtete im Spiegelschrank ein Gesicht, das seit sechsundfünfzig Jahren seins war. Trotz schnabeliger Nase, nach hinten flüchtender, blassblonder Haare und etwas zu runder Wangen kam ihm dieses Ichgesicht manchmal gutaussehend vor. Heute nicht. Heute erschien ihm die hunderttausendfach überprüfte Visage konturlos, beliebig, unproportional, von roten Striemen lächerlich gemacht, die der Faltenwurf des Bettlakens hinterlassen hatte, eine zerknitterte Landkarte, auf der wenig gewonnene und viele verlorene Schlachten eingezeichnet waren. Hauptmann Hängebacke. Nichts, was Karolina vermissen müsste, dachte Wegener und wusste, dass er schon genau so oft das Gegenteil gedacht hatte, vor dem gleichen Spiegel, mit den gleichen Lakenfalten auf der Stirn. Er drehte die Dose so, dass man Action nicht mehr lesen konnte, und schaltete das Radio ein. Jan »Schmuso« Hermann, verkündete die dauerglückliche Moderatorenstimme, der König der DDR-Kuschelbarden und sein neuer Song Fraglos, die Zeit hasst die Liebe. Belanglose Akkorde setzen ein.

Denk dran, sagte die Früchtl-Stimme in seinem Kopf, Männer sind wie Holzdielen, sie werden im Alter immer schöner. Frauen sind wie Holzdielen unter einem undichten Dach, sie gammeln beharrlich in Richtung Finale.

Wie sie mir fehlen, deine verbalen Geisterfahrten, dachte Wegener.

Unter der dampfend heißen Dusche versuchte er, Jan »Schmuso« Hermanns Geplärr zu ignorieren, und stellte sich das Gespräch vor, das die K5-ler demnächst mit ihm führen würden, Eiertanz inklusive. Der Verdacht, dass es sich bei der Ermordung des Pipeline-Toten nicht um ein Privatvergnügen gehandelt hatte, hing so unübersehbar in der Luft wie die GOLDKRONE-Leuchtreklame am Alex, die ungeheuerliche Befürchtung, die nie gedacht werden durfte, jetzt war sie in meterhohen Neon-Versalien buchstabiert, blinkte abwechselnd rot und grün, wegsehen unmöglich. Also würden die Herren mit wohldosierten Beerdigungsgesichtern auf Borgs’ blau gepolsterten Büroschemeln hocken und auswendig gelernte Dienstanweisungen herunterleiern, von der nagenden Angst getrieben, bloß keinen verständlichen Satz zu sagen. Die Sprache der Sprachlosigkeit, Kommunikationskompetenz Ost. Und alle würden sie immer wieder auf Borgs schielen. Und Borgs würde in seiner Fensternische thronen wie ein satter Mönch, die Hände vor dem Kugelbauch gefaltet, scheinbar schlafend, zumindest dauerhaft verstummt.

Wegener hatte Borgs zwei Mal in so einer Zuständigkeits-Bredouille erlebt, beide Male Fälle von Vorbereitungshandlungen versuchter Republikflucht. Beide Male durch Unfälle mit Todesfolge vor Tatausführung beendet. Beide Male war Borgs in den Besprechungen mit den Sonderabteilungen zum schweigenden Klosterbruder geworden, hatte die Männer in den grauen Anzügen reden lassen, hatte den hilflosen Bandwurmsätzen und den verklausulierten Andeutungen gelauscht und nichts gesagt. Namenlose Oberste lieferten den K5-lern Ermittlungsergebnisse, überreichten Befunde, klappten Aktendeckel zu. Uralte Spiele nach nie geänderten Regeln. Am Ende hatte Borgs die ganze Bagage mit nichts als seinem freundlichen Doggengesicht hinauskomplimentiert. Ohne einen einzigen Satz gebellt zu haben.

Walter, du hast dich ordentlich hochgeschwiegen, dachte Wegener und stellte das heiße Wasser ab. Den Mund halten zu können ist die wahre Kunst eines Dezernatsleiters. Dann sah er die Zecke an seiner rechten Wade. Eine kleine, schwarze Kugel, die gerade die erste und letzte Dusche ihres Parasitenlebens genommen hatte.

*

Der abgewetzte Schachbrettboden der Präsidiumsflure verführte Wegener immer noch dazu, seine Schrittlänge dem Muster anzupassen. Er versuchte, die Fußspitzen exakt an der Kante eines Quadrats aufzusetzen, was zu einem altbekannten Problem führte – Schritte von der Länge eines Quadrats waren zu kurz, Schritte über zwei Quadrate zu lang. Trippeln oder Schreiten, hießen die Alternativen. Wegener war nach Schreiten. Wann hatte man schon mal eine Ermittlung, die man gleich am ersten Tag auf die Spezialisten abwälzen konnte. Mit übergroßen Schritten ging er auf Borgs’ Vorzimmer zu und feierte den ersten Sieg des Tages: Die Spitze des linken Schuhs setzte an der Linie des letzten Quadrats auf und berührte gleichzeitig die Tür. Touché.

Christa Gerdes machte sich nicht die Mühe, vom Monitor aufzusehen, hackte stattdessen lieber Zahlen in ihren alten Robotron Kappa, dass der pelzmützenartige Frisurturm wippte, klappte nur kurz einen hageren Arm aus, der faltige Wegweiser in Richtung geradedurch. Frauen sind Holzdielen unter einem undichten Dach, hörte Wegener Früchtl raunen, klopfte an die offene Tür und sah sofort, dass er richtig getippt hatte: Der Schreibtisch in der Fensternische war bedeckt mit Fotos der Pipeline, des Waldbodens, des Seils, des verbeulten Wagendachs und eines Gesichts, das im gelblichen Licht der Leselampe irgendwie lebendiger aussah als vor ein paar Stunden im Stadtforst.

Wegener holte tief Luft und betrat die Chefhöhle, die Dunkelkammer, den Räucherofen, wie auch immer dieses vergilbte Zimmer genannt wurde, alles traf zu, hier dauerte keine Besprechung länger als fünfzehn Minuten.

»Martin.« Borgs zerquetschte seinen Zigarillostumpen in einer kleinen Pappschale. Der Ärger über den Pipeline-Mord hing ihm aus dem runden Gesicht, eine IFA-Ladung Unannehmlichkeiten rollte gerade auf seine Abteilung zu, dabei hätte alles so schön sein können, ein ruhiger Oktobermorgen, ganz ohne alte, nach bizarren Ritualen erhängte Männer. »Noch vier Wochen bis zu den Konsultationen, Martin. Und dann so was.«

»Wir scheinen die Gas-Devisen dringend nötig zu haben.« Wegener drückte die Tür ins Schloss und deutete auf die dampfende Pappschale, »wenn uns jetzt schon die Aschenbecher ausgehen.«

»Meine Christa«, sagte Borgs stolz und sank in den Stuhl zurück. »Wenn sie zerstört, dann etwas Existenzielles.«

»Es gibt noch konsequente Frauen.«

»Was denkst du?« Borgs faltete die Hände vor der Bauchkugel.

»In Bezug auf Gas-Devisen oder auf unseren Mann hier?«

»Wie wär’s mit einer Verbindung zwischen beidem?«

Wegener zog sich einen der blau gepolsterten Stühle zum Schreibtisch und setzte sich. »Sieht alles danach aus, als ob wir ein Problem haben.«

»Wir hoffentlich nicht.« Borgs ließ seinen Blick über die Fotos wandern. »Aber am Werderschen Markt kriegen sie Zuckungen, wenn sie von der Geschichte hören, das kannst du mir glauben.«

»Das K5 schon informiert?«

»Ganz ruhig. Hab das ja erst zwei Stunden auf dem Tisch, nicht wahr? Außerdem wollte ich vorher mit dir sprechen.«

»Offen?«

»Unter vier Augen. Wie du siehst.« Borgs zündete sich einen neuen Zigarillo an, paffte und wuchtete seine kurzen, dicken Beine auf die linke Schreibtischkante. In beiden Sohlen ein kreisrundes Loch.

Wegener zog den Mantel aus und hängte ihn über die Stuhllehne.

»Schauen wir mal, was wir haben«, sagte Borgs, schmatzte und blies einen Mund voll Rauch zur Zimmerdecke. »Eine männliche Leiche um die achtzig. Todesursache Genickbruch, erhängt an der Nordmagistrale Nähe Sektorengrenze. Suizid ausgeschlossen. Der Tatort so sauber wie die Rosette einer Meerjungfrau.«

»Sauberer geht’s nicht«, sagte Wegener.

»Sauberer ist völlig unmöglich«, bestätigte Borgs. »Und in diese allumfassende Sauberkeit legt jemand Spuren, die eindeutig sagen, hier haben Stasialtkader einen vermeintlichen Verräter um die Ecke gebracht. Zusammengebundene Schnürsenkel, achtfacher Galgenknoten. So hat die Sicherheit ihre eigenen Leute erledigt. Zuletzt passiert vor rund zwei Jahrzehnten, im Zuge der Wiederbelebung unserer geliebten DDR. Angeblich. Weiß ja keiner. Erzählt ja immer nur jeder, wenn’s gerade passt, hinter vorgehaltener Hand. So. Und in einem Monat kommt Lafontaine, um unseren bankrotten Saftladen zu retten. Vorausgesetzt, der Saftladen ist schön brav. Nur, momentan sieht es aus, als ob der Saftladen ziemlich unartig war. Was soll das bitteschön für ein Kasperletheater sein, Martin? Wer will uns da verarschen?«

Wegener fächelte sich Zigarillorauch aus dem Gesicht. »Diese Verräter-Morde, sind das Gerüchte oder hat es die wirklich gegeben?«

»Frag mich nicht.« Borgs zuckte mit seinen breiten Schultern. »Ich hab nie jemanden getroffen, der das weiß. Kann uns aber auch egal sein. Die Zeichen sprechen ja so oder so ihre Sprache.«

»Zusammenbinden der Schnürsenkel: Vor uns kannst du nicht weglaufen. Das versteh ich noch. Und der Galgenknoten?«

»Acht mal gewickelt.« Borgs hielt acht kleine, dicke Finger in die verräucherte Luft. »8. Februar 1950. Gründung des MfS. Eine Erinnerung an die alten Ideale, wenn du so willst. An die Tradition der Bruderschaft.«

»Kranke Spinner waren das.«

»Gefährliche kranke Spinner.«

Wegener hustete. »Zwei Möglichkeiten. Unser Mann war bei der Sicherheit, hat Mist gebaut, sie wollen ihn loswerden. Und gleichzeitig ein Zeichen setzen. Als Signal nach innen, sozusagen. Also beleben sie die alte Methode wieder, damit jeder bei der Truppe weiß: Das passiert, wenn du uns hintergehst.«

»Totaler Schwachsinn.« Borgs schüttelte den Kopf. »Der Mann ist um die achtzig! Und selbst wenn der Geheimdienst immer noch Leute beseitigt, was er sich im Rahmen der internationalen Verträge gar nicht leisten kann, dann doch bitte nicht auf diese Weise. Und auch noch vier Wochen vor den Konsultationen. Ein einziger nachweislicher Bruch der Rechtsstaatlichkeitskriterien, und hier gehen die Lichter aus. Zweite Möglichkeit?«

»Jemand versucht, der Sicherheit was in die Schuhe zu schieben, indem er ihre alten Methoden aufwärmt.«

Borgs schmatzte, paffte, schmatzte. »Wenn ich der Stasi was anhängen will, dann muss das öffentlich werden, dann braucht es einen Skandal. Wie soll das gehen? Wer soll das machen? Heute Abend übernimmt das K5. Sonderermittlungsstatus. Da dringt nichts nach außen. Und es ist schwer vorstellbar, dass Schily morgen mit der Geschichte zur Aktuellen Kamera rennt.«

»Das wäre in der Tat eine Überraschung.« Wegener stand auf, zog den schweren Vorhang ein Stück zur Seite und öffnete die alten Doppelfenster. Kalte Luft wehte ins Zimmer und tauschte Rauchgestank gegen Fettgestank. Auf der Lechner-Allee kämpfte ein weißer Phobos II Universal mit einer Parklücke, der kahle Kopf des Fahrers ragte aus dem Seitenfenster, drehte sich nach rechts, nach links, eine unentschlossene, hautfarbene Beule. Mitten auf der Beule ein Pflaster. Der Universal stand schräg, gab auf, preschte davon.

»Vielleicht waren es ja auch die Typen von damals«, sagte Wegener.

»Was soll das heißen, die Typen von damals?«

»Altkader. Die angeblich 89/90 so vorgegangen sind. Typen, die zu Honeckers Zeiten gut im Geschäft waren. Dann kommt die Wiederbelebung, ihr Erich geht in Rente, Krenz wird die Nummer 1, Schily löst Mielke ab, im Zuge von Reformen und Neuausrichtung fliegen sie raus. Aber irgendeine Rechnung ist noch offen.«

»Theoretisch möglich«, brummte Borgs. »Aber einundzwanzig Jahre sind eine verdammt lange Zeit. Warum erst jetzt?«

»Vielleicht hatte sich unser Schnürsenkelmann besonders gut versteckt.«

Borgs sah unzufrieden aus. »Und dann trotzdem noch diese Inszenierung? Wen soll das denn heute noch erschrecken?«

»Andere Verräter von damals. Keine Ahnung. Vielleicht haben sie es auch nur aus Prinzip gemacht. Aber das ist alles witzlos, so lange wir nicht wissen, ob der Alte überhaupt bei der Sicherheit war.«

»Wir müssten erst mal wissen, wer der Mann überhaupt ist.«

Wegener setzte sich wieder. »Und wenn’s nur um die Pipeline geht? Um die Konsultationen?«

»Hab ich auch schon dran gedacht. Russenmafia. Ein alter Spinner, der seine Schmiergelder nicht abgeführt hat. Aber die Russen machen das anders.«

»Russisch.«

»Zum Beispiel. Was sagt dir das mit dem zerbeulten Autodach?«

»Improvisation. Oder noch ein Symbol, eins, das nur Insider verstehen. Aber warum nehmen sie die Kennzeichen mit?«

»Keine Ahnung.« Borgs ließ seine Beine von der Schreibtischkante rutschen. »Mir ist vor allem eins wichtig: Man wird sich die ganze Chose am Werderschen Markt sehr bald sehr genau angucken. Und das ZK hält seinen Rüssel höchstpersönlich rein. Was für uns heißt, wir machen exakt das, was wir machen sollen. Keinen Handgriff mehr und keinen weniger. Ich muss Kallweit nicht noch Angriffsfläche bieten, nur weil der den Diensten mehr Befugnisse zuschustern will.«

»Dann bin ich wohl raus.«

»Fast.« Die mürrische Dogge Borgs wurde zur listigen Dogge Borgs. »Heute Nacht haben sie einen Briefumschlag im Mantel des Toten gefunden. Suche nach Abdrücken läuft noch.« Die listige Dogge schob sämtliche Fotos zur Seite, fuhr mit dem Zeigefinger über die Schreibtischunterlage, blieb an einer Notiz hängen. »Der Umschlag ist handschriftlich adressiert an einen Emil Fischer, nur der Name, keine Anschrift, keine Briefmarke, nichts. Im Umschlag ein Zettel, Computerausdruck. Text: Liebe Nachbarn, liebe Genossen, am Samstag den 22.10.2011 feiern wir unseren Geburtstag. Falls es etwas lauter werden sollte bitten wir um Verständniß. Verständnis hier mit ß geschrieben. Mit freundlichen Grüssen, Grüße mit Doppel-S, M. Radecker, I. Dedelow, 16. OG.«

»Dann könnte Fischer der Tote sein«, sagte Wegener.

»Oder einer von den Absendern, der es nicht mehr geschafft hat, den Umschlag bei Fischer einzuwerfen.«

»Oder so.«

»Vielleicht hat auch nur jemand Fischers Briefkasten aufgebrochen, man weiß es nicht. Christa hat schon nachgeschaut, Redecker, Dedelow und Fischer gibt es in dieser Kombination nur einmal. In der Ludwig-Renn-Straße 32.« Borgs wuchtete sich aus seinem Stuhl, watschelte zum Fenster, klappte die Doppelflügel wieder zu und zog den Vorhang gerade. »Du kümmerst dich heute noch um die Sache, vielleicht kriegst du die Identität geklärt, ein paar Nachbarschaftskommentare, dann stehen wir nicht mit leeren Händen da. Bitte einen ausführlichen Bericht, formvollendet.«

»Morgen Abend?«

»Spätestens morgen Vormittag. Dann machen wir Dienst nach Vorschrift, bis die uns das Ding abnehmen. Ich setz mich gleich mit den Herren auseinander. Und wenn man dich noch sehen will, Martin, was ich stark annehme, dann geb ich dir einen guten Tipp.«

»Schnauze halten«, sagte Wegener.

»Von Borgs lernen, heißt siegen lernen.« Die Dogge ließ sich zufrieden in ihren Stuhl plumpsen.

3

Voss müffelte. Bislang hatte Wegener nur davon gehört, dass Voss müffelte, jetzt roch er es. Voss müffelte nach ungewaschenen Elasta-Feinripp-Unterhemden aus dem VEB Sigmund Jähn, nach filterlosen Karo-Kippen, nach Zwiebeln, Knoblauch, Zahnstein, nach der penetranten Sorge um die exakte Einhaltung der Straßenverkehrsrichtlinien und nach irgendwas anderem, das Wegener nicht identifizieren konnte. Vielleicht ein letzter, trauriger Rest Florena SportDeodorant, der die Schlacht gegen Buttersäure, Tabak und verschiedene Gemüse aus der Familie der Lauchgewächse vor Tagen verloren hatte und sich jetzt möglichst unauffällig verflüchtigen wollte.

»Tut mir leid mit dem Navodobro, Herr Hauptmann. Sieberg hat sich draufgesetzt, das hält kein Display aus.«

»Wir finden es auch so.«

Voss lenkte den Streifenwagen vornübergebeugt. Die grobporige Rübennase fast auf dem Armaturenbrett, beide Hände am Lenkrad festgekrallt, die Augen zusammengekniffen, immer in der dumpfen Erwartung niederträchtiger Katastrophen. Die Nähte der grauen Polizeihose schnitten mit der Erbarmungslosigkeit ostdeutscher Uniformtextilien in die dicken Voss-Oberschenkel und schnürten das Voss-Geschlecht im Schritt zu einer tennisballgroßen Beule zusammen. Wegener merkte, wie es ihm kalt den Rücken runterlief. Bis er diesen abartig runden Geschlechtswulst wieder aus dem Kopf bekam, konnten Wochen vergehen. So ein Wulst konnte einem im Traum erscheinen. So ein Wulst konnte im Traum sogar sprechen. Wenn diese Beule mir jetzt nachts aus ihrem Leben erzählt, dachte Wegener, dann springe ich vom EastSide auf den Alex.

»Schon wieder!« Voss stierte finster auf den Phenoplast-Tross, der über den vierspurigen Liebknecht-Ring rollte, sich an die Tempobegrenzung hielt, Mindestabstände beachtete. »Da! Am Brückenpfeiler! Ist Ihnen mal aufgefallen, was die jetzt überall hinschmieren?«

Wegener sah Voss an.

»Alle Vopos fahren Phobos!« Voss prustete ein paar kleine Speicheltropfen an die Windschutzscheibe. »Ja, was denn sonst? Was sollen wir denn bitteschön sonst fahren? Maserati? Das hätten die sprühen sollen, als der Trabi abgeschafft wurde, diese Fotzenköppe, dann wäre es wenigstens neu gewesen!«

Wegener versuchte vergeblich, seine Seitenscheibe ein Stück herunterzudrehen. Die Kurbel war direkt über dem Gewinde abgebrochen.

»Und alle anderen fahren ja auch Phobos!«, sagte Voss. »Bis auf die paar Bernds, die von ihren Trabanten nicht lassen können, also müsste es ja wohl heißen: Auch die Vopos fahren Phobos!«

»Voss, schreiben Sie das meinetwegen nachts an die Häuserwände von Köpenick«, sagte Wegener, »aber lassen Sie sich nicht erwischen.«

»Ich hab mich noch nie erwischen lassen.« Voss griff sich mit der linken Hand zwischen die Beine, Zeigefinger und Daumen zerrten am Stoff.

Wegener sah aus dem Fenster. Die ersten Wohnsilos erschienen hinter vorbeiwischenden Birken, wurden mehr, wurden zu einer Hochhausarmee, zu einer unsortierten Kastenkompanie. Rechts das löchrige Gebiss eines Bauzauns, dahinter Brache, Erdhaufen, alte Reifen. Die Sonne blieb hinter dünnen Wolkenfetzen verschwunden, leuchtete trüb wie durch eine Milchglasscheibe. Gelbe Birkenblätter sprenkelten den rissigen Asphalt, fließende Punkte, die der Wind in immer neuen Mustern anordnete. Dann knickte die Straße scharf nach links ab, der Häuserstapel von Marzahn war plötzlich näher als gedacht, erschien breit, klotzig, weiß vor dem grauen Himmel, eine kilometerlang aufgetürmte Horizontmauer.

Voss ächzte.

Wegener versuchte nicht hinzusehen, ahnte, der war immer noch mit der Hand an seiner Hose zugange. Voss das Ross, hatte Borgs gesagt, stinkt wie ein Gaul, aber galoppiert für dich, wohin du willst.

»Ein Schulfreund meines Schwagers war das ja«, seufzte Voss, »der hat den Phobos verbrochen. Also, den Namen, meine ich.«

Wegener starrte weiter auf die wachsende Marzahn-Kulisse. Noch ein Blick auf Voss das Ross mit einer Hand im Untergeschoss würde diesen Tag versauen, bevor er richtig angefangen hatte.

»War eine Art Preisausschreiben damals. Ein Wettbewerb. Wussten Sie das, Herr Hauptmann?«

Wegener schüttelte den Kopf.

»Die wollten halt keinen neuen Trabant, sollte ja alles anders werden nach der Wiederbelebung. Oder jedenfalls anders heißen. Also konnte man Vorschläge einreichen. Der Schulfreund von meinem Schwager …« Voss klang plötzlich erleichtert. Als Wegener hinsah, hatte er beide Hände am Lenkrad. »… der hat damals im Lexikon unter Mars nachgeschlagen. Der rote Planet, Sie verstehen, der Stern des Sozialismus, sozusagen.«

Wegener holte sein Notizbuch aus der Manteltasche und klappte die Christa-Gerdes-Skizze auf. Grüne Filzstift-Pfeile schlängelten sich durch blaue Kugelschreiberwohnblöcke bis zu einem schwarzen Kreuz, der Ludwig-Renn-Straße 32.

»Tut mir echt leid mit dem Navodobro«, sagte Voss.

Wegener drehte die Zeichnung um 90 Grad. »Kein Problem.«

»Landsberger Allee. Rechts Allee der Kosmonauten.«

»Links«, sagte Wegener. »In die Raoul-Wallenberg-Straße.«

»Apropos Kosmonauten«, sagte Voss und gab zu viel Gas. »Dieser Schulfreund ist dann also im Lexikon auf einen Trabanten des Mars gestoßen, fliegt irgendwo da oben rum, und dieser Trabant heißt Phobos. Und das hat der dann eingereicht, mit der Begründung, wenn man die neue Pappe Phobos nennt, dann sei das ein Trabant – und eben auch kein Trabant. Aber in jedem Fall ein Sozialist. Dreht sich ja schließlich sein Leben lang um den Mars.«

»Vierte rechts in die Paul-Dessau-Straße.«

»Paul Dessau, Paul Dessau, Paul Dessau«, sagte Voss und fuhr mit jedem Paul Dessau langsamer, die Stirn an der Windschutzscheibe, das Kinn auf dem Lenkrad.

»Da hinten. An dem Stoppschild.«

»Jawoll, Herr Hauptmann.«

Die Sonne war plötzlich wieder da, reflektiert von den geöffneten Fenstern der Wohnblocks, ein greller Lichtpunkt, der von Scheibe zu Scheibe sprang, fröhlich neben dem Polizeiwagen durch die Raoul-Wallenberg-Straße hüpfte. Hier wird gerade hunderttausendmal der Essensmief ausgelüftet, dachte Wegener, der Erbseneintopfgeruch, Soljankageruch, Tiefkühlschnitzelgeruch, dann wird der Rondo-Kaffee aus dem Küchenschrank geholt, aufgebrüht, DFF 5 eingeschaltet, Inka Bauses Tacheles-Tagesthema, Nimm endlich ab oder ich stell einen Ausreiseantrag!Hey, Ex-Wessi – quatsch mich nicht mit Drüben voll! Wenn ich damals Mondos gehabt hätte, wärst du heute nicht auf der Welt!

»Paul Dessau«, freute sich Voss und bog rechts ins Wohngebiet ab.

»Übernächste links in die Ludwig-Renn-Straße. Nummer 32.«

»Ludwig Renn, Ludwig Renn, Ludwig Renn …« Voss kurbelte nach links, zählte die Hausnummern mit, wurde sehr langsam, setzte den Blinker rechts, stoppte auf dem Parkstreifen, schnaufte. Dort, wo seine Stirn die Scheibe berührt hatte, glänzte ein bohnenförmiger Abdruck.

Wegener klinkte die Beifahrertür auf und atmete tief durch. So gut konnte es also riechen in Marzahn: Nach Herbst, nach gemähtem Gras und nur ein kleines bisschen nach Frittierfett.

»Seit wir Rapsöl tanken müssen, hab ich zwanzig Kilo zugenommen«, sagte Voss und drückte sich aus dem Wagen. »Krieg bei jeder Fahrt Lust auf Pommes-Mayo. Abhängig wird man in diesem Beruf, Herr Hauptmann, radikal abhängig, aber finden Sie mal einen in der Verwaltung, der Ihnen dafür ne Kur bewilligt!«

»Sie können es tragen.« Wegener schlug seine Tür zu.

Die Ludwig-Renn-Straße setzte sich aus einer Handvoll maroder Hochhäuser, gammelnden Trabis, Altglascontainern und gelben Bäumen zusammen. Auf einer vermüllten Wiese stand eine fette Frau in Jogginghose, unbeweglich wie ein Denkmal gegen den Sport. Zwei kleine schwarze Hunde trippelten um sie herum, von ihren Nasen in unvorhersehbaren Schleifen durchs Gras gezogen. Einer der Hunde hockte sich breitbeinig hin, pinkelte, starrte. Von den Betonverschalungen der Balkone blätterte Farbe. In einem Blumenkasten leuchteten die letzten Geranien, an der Brüstung daneben blinkte der erste Weihnachtsschmuck, ein Rentier-Schlitten voller Geschenke, die es niemals geben würde. Zwischen den schiefen Gehwegplatten wuchs Unkraut. Hier wohnen oder tot unter einer Pipeline hängen, dachte Wegener.

»War mal ne gute Gegend«, sagte Voss, »so um die Wiederbelebung rum. Heute stehen hier nur noch die ollen Kisten und höchstens mal ein Lada und das war’s. Könnense mal sehen.«

»Nummer 32«, sagte Wegener und betrachtete die Skizze. »Wahrscheinlich eins von den beiden da drüben.«

Voss das Ross trampelte bis zum nächsten Straßenschild und gestikulierte mit den Vorderhufen in Richtung rechter Turm. Wegener nahm die Abkürzung über den Rasen, zählte die Stockwerke des Hochhauses, geriet irgendwo in der Mitte durcheinander und kam beim zweiten Versuch auf 18 Etagen. Manfred Radecker und Ines Dedelow wohnten im sechzehnten Stock. Fischers Wohnung lag also höchstwahrscheinlich irgendwo im oberen Drittel. Der teure Mantel, die goldene Uhr, die Seidenkrawatte, nichts an dem Toten passte zu dieser Adresse. Höchstens seine ausgelatschten Schuhe.

Als Wegener die Haustür erreicht hatte, stand Voss gebückt vor einer breiten Klingeltafel und las sich Namensschilder vor. Fast die Hälfte der Einsteckfächer war leer. Wegener legte den Kopf in den Nacken. Rötliche Waschbetonplatten türmten sich in den Himmel. Eine Platte pro Etage, achtzehn Platten insgesamt. Die Balkone mit Wellblech verkleidet, das irgendwann mal weiß gewesen sein musste. Jetzt fraß sich der Rost aus den Schraublöchern in die Verschalung.

»R. Brose, Reinke, I. Holzmüller, gibt es hier alle«, sagte Voss und bückte sich noch tiefer. »M. Bussmann, Gert Herzog, E. Fischer, da isser ja, achtzehnter Stock.«

»Die Toten wohnen immer oben«, sagte Wegener und klingelte.

Voss fummelte ein Taschentuch aus seiner Uniformjacke, faltete es auseinander, schnäuzte sich.

Wegener klingelte noch mal bei E. Fischer. Nichts. Dann bei Radecker/ Dedelow. Wieder nichts.

»Sind alle auf Arbeit«, sagte Voss.

»Oder im Leichenschauhaus Köpenick.« Wegener drückte links neben Fischer auf die Klingeln von Weber und A. Zauritz.

Die Gegensprechanlage knisterte.

»Hallo!«, rief Voss.

»Hallo!«, rief eine Frauenstimme.

»Volkspolizei! Wenn Sie bitte mal öffnen würden!«

»Aber nur, wenn Sie hei-ter sind!«

»Noch sind wir heiter.«

»Hi-nei-ein«, sang die Frauenstimme. Ein schwacher Summton leierte aus dem Lautsprecher. Wegener drückte die Tür auf.

Im Flur roch es nach Suppe. Schmutzig-gelber Rauputz. Der Boden bestand aus grauen PVC-Platten, deren Außenkanten sich nach oben bogen wie alte Käsescheiben. Auf den Metalltüren des Aufzugs bunte Lackstiftkommentare:

Held der Arbeitslosigkeit!

Das bin ich schon, Plastekopp

Rammelow macht’s Rammeln froh

Mich ooch!

»Da können Sie nachher Ihren Vopo-Spruch dazuschreiben«, sagte Wegener, holte noch einmal tief Luft und folgte Voss in die Kabine.

Der Aufzug knackte während der Fahrt. Manche Stockwerke leuchteten in einem verschrammten Feld als rote Zahl auf, andere wurden unterschlagen. Auf den hellgrünen Plastikwänden noch mehr Kritzeleien, einige hatte man mit Lösungsmittel zu grauen Flecken verschmiert.

»Alle fahren Trabi, nur der Krenz, der fährt Benz«, las Voss vor. »Und da: Adolf konnte wenigstens Autobahnen bauen.«

»Wo sie Recht haben, haben sie Recht.« Wegener holte sein Minsk aus der Manteltasche, stellte den Klingelton ab, steckte es wieder ein.

»Hier!« Voss grapschte an die Fahrstuhl-Decke. »Alle Vopos fahren Phobos! Aber da drüben steht, alle fahren Trabi, bis auf Krenz. Die haben doch echt den Arsch auf, diese Heiopeis, die wissen selbst nicht, was bei ihnen schiefgelaufen ist.«

Das Knacken wurde langsamer, die Kabine stoppte so ruckartig, dass Wegener sich an der Wand festhielt, im Display leuchtete eine 18. Theatralischer Glockenklang. Die Metalltüren fuhren zur Seite und gaben den Blick auf einen schmuddeligen Flur und eine hagere Frau frei. Die Frau lehnte in ihrer offenen Wohnungstür und rauchte. Hinter ihr ein Saustall voller Gerümpel.

»Hier ist Rauchverbot!«, rief die Hagere und grinste. Fettige, rötliche Fransenhaare hingen ihr ins Gesicht wie ein trauriger Teppich. Die Zähne erinnerten Wegener an den Bauzaun.

»Für Sie offenbar nicht«, stellte Voss fest.

»Gut erkannt. Ich warte ja auch, dass es irgendwann mal brennt, damit die süßen Jungs von der Feuerwehr vorbeikommen.«

»Tut’s auch die Polizei?«

»Klar, Schätzchen, immer rein hier.« Die Hagere lachte wie eine Rüttelplatte, hob ihren geblümten Morgenrock hoch und entblößte ein welkes Bein mit einem dunkelblauen Bluterguss am Oberschenkel.

Voss machte den Mund auf und wieder zu.

»Kennen Sie Herrn Fischer?«, fragte Wegener. »Ist einer Ihrer Nachbarn hier im 18. Stock.«

»Bien sûr«, sagte die Hagere, »Genosse Fischer ist sogar mein einziger Nachbar, alle anderen sind nämlich weg, to-tal weg. Wollten nicht mehr neben so nem hübschen, jungen Ding wohnen, kann man sich gar nicht vorstellen, was, wie?«

»Und Sie sind …?«

»Was immer du willst, alter Mann.«

»Kennen Sie Herrn Fischer?«

»Kein Stück, ist ja nie hier. Hab ihn überhaupt nur paar Mal gesehen. Neulich war ich bei ihm drin, um mir n Pfund Butter zu leihen, wollt ihr wissen, wofür?«

»So wie es aussieht, für Ihre Haare«, sagte Voss.

»Da hab ich doch gar keine mehr«, flüsterte die Hagere und verzog ihr eingefallenes Gesicht zu einem ironischen Bedauern.

»Wir können Sie auch mit zum Präsidium nehmen!« Das Ross wurde langsam wild.

»Glaub mir, du willst mich nicht auf deinem Präsidium, das kann ich dir versprechen, da willst du mich nicht, überall willst du mich, aber nicht auf deinem Scheißpräsidium!«

Wegener zog das Foto aus der Innentasche, machte drei Schritte auf die Hagere zu und hielt ihr den Abzug unter die Nase. Aus der Wohnung roch es nach Schnaps. Das Bauzaun-Grinsen erlosch.

»Wohnen Sie jetzt ganz allein im 18. Stock, gnä’ Frau?«

»Sieht wohl so aus«, hauchte die Hagere und hielt sich am Türrahmen fest. »Was haben Sie mit ihm gemacht …?! Sie Aas! Sie haben meinen einzigen Nachbarn erschossen!«

»Welche Wohnung ist die von Herrn Fischer?«

»Nichts sag ich euch, ihr Dreckspolypen, Sackgesichter, Nazischweine! Ihr habt ihn erschossen!«

Wegener wandte sich ab und ging den schummrigen Gang hinunter. Dreißig Meter kahler, dreckiger Flurtunnel. Eine Neonröhre summte und blieb dabei vollkommen dunkel, eine andere blinkte alle drei Sekunden auf, erlosch wieder, knackte leise. Das kurze Flimmern blendete Risse an den Wänden ein und wieder aus. Auf dem Boden Putzbrocken, Wollmäuse, Flecken, die im Dunkeln verschwanden, wieder da waren, verschwanden. Wegener hielt sich in der Mitte des Flurs. Wartete mit dem nächsten Schritt auf das nächste Flimmern. Stoppte, wenn es dunkel blieb. Im Hintergrund forderte Voss die Hagere auf, in ihre Wohnung zu gehen. Die Hagere jammerte. Voss wurde lauter. Wegener klappte sein Minsk auf und leuchtete mit dem Display die Klingelschilder ab. Zwei Türen ohne Namen. Über der dritten Klingel ein Stück Klebeband, auf das jemand mit Kugelschreiber die Buchstaben We geschrieben hatte, der Rest war abgerissen. Vor der vierten Tür lag ein größeres Stück Putz. Wegener hielt sein Display hoch: Unter der Decke Spinnweben, in denen tote Mücken schwebten, dunkle Wasserflecken. Drei Türen ohne Namen. Dann ein Klebebandstreifen, diesmal vollständig mit rotem Filzstift beschriftet: E. FISCHER. Wegener holte die Magnetkarte für den Präsidiumsparkplatz aus dem Portemonnaie, hielt das Minsk direkt über das Türschloss und versuchte, die Karte zwischen Schloss und Rahmen zu schieben. Zwei Zentimeter weit kam er, dann war Schluss. Irgendwas blockierte. Wegener drückte kräftiger, das Plastik bog sich. Er zog die Karte aus dem Türspalt und versuchte es ein Stück tiefer. Am anderen Ende des Flurs war Voss mit der Frau in ihrer Wohnung verschwunden. Wegener bückte sich und betrachtete das Schloss. Keine Einbruchspuren, nicht mal ein Kratzer. Die Abdeckung des Zylinders war neu. Um die Sache würde sich einer von Lieneckes Männern kümmern müssen. Die Lache der Hageren schallte über den Flur und brach schlagartig zusammen. Das Ross kam herangetrabt und schwenkte etwas in der rechten Hand.

»Herr Hauptmann! Die Alte hat einen Schlüssel!«

Voss stoppte unter der blinkenden Neonröhre, sein Gesicht war jetzt ein bedrohlich flackernder, fleischfarbener Smiley. »Hat er ihr vor nem Jahr gegeben, damit sie die Blumen gießt.«

»Mit Korn?«

»Sie schwört, dass nie was mitgegangen ist.«

Wegener schüttelte den Kopf, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte zweimal um, drückte die Tür mit dem Ellenbogen auf. Blendende Helligkeit. Zwei große Fenster, keine Vorhänge.

Voss schnaufte so enttäuscht, als hätte er ein Penthouse erwartet und keine Plattenbude. Wegener ließ seinen Blick durch das Ein-Zimmer-Appartement wandern. In der linken Ecke eine alte Schlafcouch, ausgeklappt, bezogen, die orange-braune Bettdecke akkurat gefaltet. Rechts neben der Tür eine Kochnische mit Herd und Kühlschrank, neben dem Spülbecken gestapelte Teller, Tassen, zwei Gläser, aus denen Besteck ragte, Sonja-Kaffeefilter, eine Flasche Leumikor-Reiniger, vor dem Fenster ein Küchentisch mit zwei Klappstühlen, auf der Fensterbank mehrere Blumentöpfe, in denen Rosen wuchsen. Die Pflanzen sahen so perfekt aus, als wären sie gerade gekauft worden. In der rechten hinteren Ecke trennten zwei Wände ein kleines Bad ab. Durch die offene Tür konnte Wegener eine altrosa Toilette mit farblich passendem Vorleger erkennen. In der ganzen Wohnung der gleiche graue PVC-Boden wie im Flur, allerdings gründlich gereinigt. Ein paar hellere Platten in der Kochnische waren offenbar ausgetauscht worden.

»Was meinen Sie, Voss?«

»Sieht aus wie ein Musterappartement, sozialistische Einraumwohnung um 1970. Ich könnte in so was nicht leben.«

»Das hat E. Fischer vermutlich genau so gesehen«, sagte Wegener. »Keine Vorhänge, keine Bilder, kein Teppich, keine Tischdecke, keine Bücher, keine Schränke. Nicht mal ein Kleiderschrank. Aber Rosen in Töpfen.«

»Zweitwohnung«, sagte Voss. »Vielleicht wohnt der woanders und ist nur ab und zu mal in Berlin.«

»Oder er wohnt in Berlin und ist nur ab und zu mal hier.«

Voss nahm seine Mütze ab. »Eine Geliebte?«

»Könnte sein. Muss aber eine anspruchslose Geliebte sein, wenn er eine Platte in Marzahn anmietet. Sieht eher nach Notunterkunft aus, falls es eng wird. Ein Versteck. Ein Versteck mit Rosen, immerhin.«

»Versteck vor wem?«

»Vielleicht vor seinen Mördern.«

»Wie hat’s ihn denn erwischt?«

»Die Sache ist vermutlich jetzt schon Stufe drei. Seien Sie froh, wenn ich Sie mit dem Kram verschone, dann müssen Sie später nichts unterschreiben.«

Voss nickte und stülpte seine Mütze wieder auf.

»Sie warten bitte hier auf die Spurensicherung«, sagte Wegener. »Sobald Ulf Lienecke da ist, nehmen Sie sich die Nachbarn vor. Viele sind es ja nicht. Vielleicht ist Fischer mal in Begleitung gesehen worden, vielleicht hat ihm auch mal jemand im Fahrstuhl ein Gespräch aufgedrängt. Danach stellen Sie bitte Kontakt zur Hausverwaltung her und besorgen alles, was die über ihn haben.«

Voss kramte in seiner Hosentasche nach den Wagenschlüsseln.

»Ich nehm die Bahn«, sagte Wegener. »Da kann man die Fenster öffnen.«

4

Die S 7 ruckelte, stotterte, zuckte, dann sauste sie plötzlich los, als wäre sie gerade noch hinten festgehalten worden und hätte sich mit letzter Kraft aus einem harten Griff befreit. Der Glaskubus des Bahnhofs Friedrichstraße blieb zurück, Regen klatschte an die zerkratzten Scheiben. Die Bahn zischte über ihr eisernes Viadukt in Richtung Alexanderplatz, immer auf Augenhöhe mit den dritten Stockwerken der Stadt. Rußgeschwärzte Mietshausfassaden fuhren vorbei, schmutziger Stuck, brüchige Ziegelwände, schwere Vorhänge hinter morschen Altbaufenstern, steinerne Fallrohre, die man mit Plastik und Draht geflickt hatte und die längst wieder so undicht waren wie vorher. Zwischen den Wohnhäusern mehrstöckige, erleuchtete Setzkästen, zahllose quadratische Fächer, in denen Behörden Robotronpopulationen, Gummipflanzen und Büroangestellte sammelten.

Wegener fror.

Die Heizung funktionierte nicht oder war noch nicht angestellt, vielleicht hatten die Geizhälse bei den Verkehrsbetrieben auf einen milden Oktober gehofft. Aus dem Regen wurde leichter Hagel, klackerte auf das Metalldach, Eiskörner krochen quer über die Scheiben und ließen dünne Wasserfäden zurück. Die Bahn legte sich in die Kurve, bog sich nach rechts, ein leuchtender Schweif im dunklen Häusertal. Über den Dächern erschien der silberne Ball des Fernsehturms am Abendhimmel wie eine gigantische Christbaumkugel. Lichter spiegelten sich auf dem nassen Asphalt der Karl-Liebknecht-Straße, brachen sich in den wandernden Tropfen auf den Waggonfenstern. Wegener hatte plötzlich das Gefühl, Lebkuchen zu riechen oder Glühwein mit Zimt. Weihnachten packte ihn mit der Wucht von Erinnerungen, die abrupt ausgelöst werden, durch einen Duft, einen Geschmack, durch irgendetwas, das man noch eine Sekunde vorher kein bisschen geahnt hat. Die Bahn bremste so rumpelig, wie sie angefahren war. Ein spitzes Quietschen unter den Bodenblechen. Stillstand. Die Türen zischten länger, als sie sich öffneten. Wegener stieg aus, nahm die Treppe ins Erdgeschoss und versuchte, diese Weihnachtsassoziation aus dem Kopf zu kriegen, das, was immer noch die Mutter-Vater-Welt war, was er erfolgreich wegschob und was erfolgreich wiederkam, der schwerwiegende Verlust, der ihm auf den abschüssigen Wegen der Erinnerung hinterherrutschte und spätestens Heiligabend in den Nacken krachen würde. Als er die massiven Schwingtüren der Station aufstieß, roch der Alexanderplatz zum Glück nach Phobosfett und nicht nach gebrannten Mandeln. Anderthalb Monate, dann würden Glühwein, Stollen, Zuckerwatte und feierliche Tristesse die Oberhand gewinnen.

Im Berolina-Haus wurde auch um Viertel nach sieben noch der Sozialismus aufgebaut; hinter fast allen Fenstern brannte Licht. Wegener klappte den Mantelkragen hoch und rannte am S-Bahnhof entlang auf den leuchtenden Sandsteinklotz zu, versuchte, den stärker werdenden Bratwurstduft zu ignorieren, wich auf der Dircksenstraße einigen esstischgroßen Pfützen aus und fluchte: sechsundfünfzig! Und immer noch keinen Schirm!

Als er unter dem gläsernen Vordach des Berolina-Hauses ankam, war er nass. Neben der gewaltigen, goldenen Pforte des Haupteingangs glänzte die Angeber-Messingtafel mit endloser Gravur: Ministerium für Energieexport & Transitwirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik. Abteilungen I – IV, VII – Unterabteilungen A – H.

Darunter das Staatswappen.

Wegener ging auf die Wach-Staffel zu und übergab seine Ausweis-Chipkarte. Die Karte wurde in einen mobilen Borska-Scanner gesteckt, den ein Unterwachtmeister am Gürtel trug. Der Scanner surrte, zwei rote Lämpchen erloschen, zwei grüne Lämpchen blinkten. Ein feister Staffelsack leuchtete Wegener mit einem Xenon-Handstrahler ins Gesicht, verglich das Chipkartengesicht mit dem, das er vor sich hatte, und sah zufrieden aus. »Willkommen im Ministerium für Energieexport und Transitwirtschaft, Herr Hauptmann.«

»Und ich dachte, Sie greifen mir noch schön fest zwischen die Beine.«

»Eine sensorische Kontrolle ist bei Beamten im Volkspolizeidienst nach positiver Überprüfung des Dienstausweisdokuments und visueller Identifikation nicht notwendig, Herr Hauptmann.«

Wegener kontrollierte im spiegelnden Metall der Ministeriums-Messingtafel seine Restfrisur und betrat die Empfangshalle. Wärme, Raumerfrischer Vanille, Rachmaninow. Klavierkonzert Nr. 3. Zweimal war er mit Karolina hier gewesen, vor ein paar Jahren, als sie sich um den Posten der Assistentin irgendeines Fachbereichsleiters beworben hatte, abgelehnt wurde, noch mal eingeladen, noch mal abgelehnt wurde. Das Transitgeschäft wird so wichtig, irgendwann rufen die mich an, hatte Karolina nach der zweiten Absage behauptet und nichts getan, außer zu warten. Sechs Monate später war sie eingestellt. Hier passt unser Toter hin, dachte Wegener. Hierher gehören der Anzug, die Uhr, die Krawatte. Er stiefelte zu dem eleganten Nussbaumtresen und legte seinen Dienstausweis auf das polierte Holz. »Zu Frau Karolina Enders bitte.«

Die Empfangsdame hob zwei frei erfundene Augenbrauen und tackerte demonstrativ gelassen auf der Nanotchev-Tastatur herum. Motiv-Fingernägel: Sonne, Mond und Sterne.

Wegener steckte seinen Ausweis wieder ein, lehnte sich an den Tresen und hatte das Gefühl, drüben zu sein. Ankunft im Grand-Hotel. Die Halle des Berolina-Hauses war nichts anderes als eine Orgie. Eine Messing- und Marmor-Orgie. Ein gnadenloses Geprotze für die energiesüchtigen EU-Unterhändler, seht her, die DDR hat auch was zu bieten und ihr seid schön scharf darauf, Friede den Hütten, Sieg den Palästen. Deckenlampen, Wandleuchter, Standaschenbecher, die Beschilderung der einzelnen Abteilungen – alles, was sich aus Metall herstellen ließ, glänzte golden. Der Boden hellster Stein. Rote Teppichbahnen malten Gehwege ins makellose Weiß, kreuzten sich in der Mitte der Halle, flossen rechts und links die Stufen der geschwungenen Freitreppen hinauf in den ersten Stock. Ein riesiger Flatscreen voller Diagramme, Börsenkurven, Zahlenblinkereien. Energiepreise von London bis Peking. In einer Sitzgruppe aus dunklen Lederwürfeln lachten zwei junge Anzugträger, der eine zeigte dem anderen etwas auf seinem Minsk. Kurzrasierte Haare. Blasse Plattfressen. Gas-Russen, dachte Wegener und hörte, wie die Empfangsdame mit Karolina telefonierte, ein Herr Wagner sei hier. Oder so.

Die jungen Russen wurden von einem langen Weißhaarigen begrüßt. Der Weißhaarige ließ die Hände seiner Gäste gar nicht mehr los. Der kleinere Russe sagte etwas, über das alle drei grinsten. Lafontaine! rief der Weißhaarige. Jetzt wurde laut gelacht. Der kleinere Russe versuchte, dem langen Weißhaarigen auf die Schulter zu klopfen und kam nicht ganz dran. Die Empfangsdame hüstelte. Wegener drehte sich um.

»Frau Enders ist auf dem Weg. Sie können so lange Platz nehmen.«

Wegener nickte, wendete, ging zur Sitzgruppe. Der Weißhaarige und seine Russen kamen an ihm vorbei, alle drei rochen nach Tabak, Aftershave, Geldgier. »Wir sind da sehr optimistisch«, sagte der Weißhaarige, »und Herr Jost natürlich auch.« Einer der Russen antwortete etwas auf Deutsch, das Wegener nicht verstand. Herr Jost kam darin vor, und ein Wort, das so ähnlich klang wie Ända. Vielleicht sollte das Enders heißen. Wegener setzte sich auf die Ledercouch und versuchte sich vorzustellen, wie Karolina in Konferenzen mit solchen russischen Milchbubis hockte, im teuren Kostüm, mit einem echt wirkenden künstlichen Lächeln, mit tausend Informationen und Planvorgaben im Kopf, gerade mal fünfunddreißig, immer noch im Körper einer Zwanzigjährigen und schon die erste Hälfte der geplanten Ministeriumskarriere absolviert, die zweite Hälfte fest im Blick. Vor ein paar Jahren wäre ihr das selbst unheimlich gewesen. Vor ein paar Jahren hätte sie gesagt, Geld verdienen, okay, aber lass mich mit internationalen Staatsgeschäften in Ruhe. Bei internationalen Staatsgeschäften geht es nicht nur um Geld, sondern um Macht. Und alles, was mit Macht zu tun hat, kostet dich bei uns irgendwann Kopf und Kragen. Wer seinen Kopf und seinen Kragen mag, sollte sich da raushalten, und zwar lebenslänglich.

»Ich bin unschuldig, Herr Hauptmann!« Karolina war aus irgendeiner Aufzugtür gekommen und gab sich keine Mühe, ihre Überraschung zu verbergen. Hübscher konnte ein überraschtes Gesicht nicht aussehen. Hübscher konnte überhaupt kein Gesicht aussehen.

»Das habe ich ganz anders in Erinnerung«, sagte Wegener und ärgerte sich sofort. Jedes Wort, das ihm jetzt rausrutschte, würde einen unerträglichen Vergangenheitsanteil haben, jeder Satz deutete nach hinten, wurde ein Damalsgebilde, ein außer Kontrolle geratenes Zeitloch. Wegener fragte sich, was schlimmer war, dass er das nicht in den Griff bekam oder dass Karolina überhaupt nichts davon merkte. Die strahlte. Die küsste ihn so distanziert auf die Wange, als wäre er ein Kind mit einer ansteckenden Krankheit. Setzte sich aufs Sofa. Zwei Plätze Abstand.

»Gute Musikwahl fürs Foyer«, sagte Wegener.

»Danke. Ich gebe es weiter.« Karolina holte ihr Minsk aus der Rocktasche und drückte schnell nacheinander auf zwei Tasten. Stummschaltung.

»Neues Telefon?«

»M 7.«

»Ach, du bist jetzt bei der Stasi.«

Karolinas Sommersprossengesicht war sofort ein bisschen beleidigt. Der schmale Mund ein Strich, der nicht wusste, wohin er sollte. Die Augenbrauen zweimal kindliche Kränkung. Ihre rostroten Haare noch kürzer als beim letzten Treffen. Eine flache Frisurmütze, die auch noch gut aussah, wie alles an Karolina. Frauen tragen die Haare kurz, weil sie wissen, dass Männer wollen, dass Frauen die Haare lang tragen, dachte Wegener und sagte: »Die Assistentin eines Fachbereichsleiters des Ministeriums für Energieexport und Transitwirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik könnte ruhig etwas humorvoller sein. Humor ist gut fürs Geschäft.«

Karolinas Mund weichte auf. »Ich wollte es dir bei ner Tasse Glühwein sagen. Konnte ja nicht wissen, dass du einfach hier aufkreuzt.«

Ein paar Sekunden war es still.

»Du strahlst so. Bist du schwanger oder gekündigt?«

Karolina lachte. »Befördert.«

Wegener wusste nicht, wie er reagieren sollte, und sah, dass Karolina merkte, dass er nicht wusste, wie er reagieren sollte. »Wie muss man dich jetzt anreden?«

»Fachbereichsleiterin im Ministerium für Energieexport und Transitwirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik. Oder Gas-Nutte. Wie du willst.«

»Ich nehme die Gas-Nutte.«

»Eine gute Wahl.«

»Welcher Fachbereich?«

»Mitteleuropa. Sektion 1.«