Please identify. Auf der Jagd nach Laura Adams - Thomas Kastura - E-Book

Please identify. Auf der Jagd nach Laura Adams E-Book

Thomas Kastura

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Beschreibung

Interrail mit der besten Freundin - der perfekte Urlaub, den Laura natürlich auf ihrem Online-Profil mit Fotos und Posts dokumentiert. Bis dort ein anzügliches Bild erscheint, das sie garantiert nicht selbst hochgeladen hat. Doch der Versuch, es zu löschen, scheitert: Laura hat keinen Zugriff mehr auf ihr Profil! Dafür aber Tausende von anderen Usern, die in Lauras Namen zu Flashmobs und gefährlichen Aktionen aufrufen. Plötzlich wird Laura von der Polizei gesucht und die Reise entwickelt sich zum Albtraum. Doch wer steckt wirklich hinter diesen Ereignissen? Lauras Gegner ist mächtiger und skrupelloser, als sie ahnt …

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Seitenzahl: 330

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Thomas Kastura

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Auf der Jagd nach Laura Adams

 

 

 

1. Auflage 2014 ©2014 Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Covergestaltung: Frauke Schneider Satz: KCS GmbH · Verlagsservice & Medienproduktion, Stelle/Hamburg Druck: Westermann Druck Zwickau GmbH ISBN 978-3-401-80333-3

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Inhaltsverzeichnis

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Epilog

1

Ganz nah am Abgrund. Regenböen fegten durch die Luft, das Meer lag unter ihr in der Tiefe. Wogen brachen sich an Felsenzähnen, die wie Hunderte hungriger Mäuler aussahen. Laura fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis ihr Körper unten ankam.

In der Ferne war der Himmel pechschwarz. Ihr Haar wehte ihr ins Gesicht. Wenn sie der Wind traf, riss er sie fast weg. Sie stemmte sich dagegen.

Tat. Das. Gut.

Sie stand auf der Klippe von St. John’s Head, in einer Höhe von 350 Metern, auf den Orkneys. Das sind Inseln im Norden Schottlands. Ein paar Schafe, viele Vögel, wenig Menschen.

Sie breitete die Arme aus.

Vor ein paar Wochen hatte Laura auf Google Maps eine Karte von Europa aufgerufen. Sie hatte den Finger über den Bildschirm kreisen lassen, die Augen geschlossen und bis fünf gezählt. Der fünfte Mai war ihr Geburtstag. Und bei fünf hatte sie den Finger gesenkt und gesagt: „Da fahr ich hin.“

Warum?

Einfach so.

„Geh da weg!“, sagte Mischa besorgt. „Sonst passiert noch was.“

Mischa war ihre beste Freundin, sie war immer dabei, ohne Mischa lief gar nichts. Meist wirkte sie eher abwartend und vorsichtig, verlässlich wie ein Anker. Aber wehe, wenn sie was trank und in Fahrt kam. Dann konnte sie richtig aufdrehen.

„Muss noch Fotos machen.“ Laura zückte ihr Handy und tapste ungeschickt umher.

Das Gras und die Steine waren verdammt glitschig. Mit einem ihrer Trekkingstiefel blieb sie irgendwo hängen. Plötzlich rutschte sie weg. Verzweifelt ruderte Laura mit den Armen in der Luft, verlor das Gleichgewicht.

Panik durchfuhr sie, als sie die steil abfallende Felskante auf sich zukommen sah. Die hungrigen Mäuler da unten in der Tiefe öffneten sich und raubten ihr den Willen.

Rasch griff Mischa nach ihrer Schulter, doch ihre Finger glitten an dem regenfesten Funktionsstoff ab. Sie packte fester zu, krallte sich in den Jackenstoff und bekam endlich einen Ärmel zu fassen. Im letzten Augenblick gelang es ihr, Laura mit einem Ruck zu Boden zu ziehen. Ihre Füße ragten schon hinaus in die Leere.

„Geh da weg!“, schrie Mischa. „Ich hab’s dir doch gesagt!“

„Stimmt“, flüsterte Laura. Sie zog schützend die Beine an den Körper wie ein kleines Kind. „Hast du.“

„Alles in Ordnung?“

„Gibt wahrscheinlich ein paar blaue Flecke.“ Laura rieb sich ihr Hinterteil. Alles in Ordnung, dachte sie. Wenn dich der Wind trifft und es jemanden gibt, der dich festhält.

Sie krochen ein Stück vom Klippenrand weg und lagen im Gras, erschöpft von dem Schreck. Er saß ihnen noch eine ganze Weile in den Gliedern. Mit etwas Pech hätte Laura Mischa mitgerissen und sie wären beide abgestürzt.

Sie kicherten albern, als sich die Anspannung langsam löste, und sahen auf den tosenden Atlantik hinaus. Der Horizont war eine Wand aus Dunst und Nebel.

Laura hatte sich wieder gefangen. Sie stand auf und schoss ein Foto nach dem anderen, jetzt erst recht, aber mit Sicherheitsabstand. Trotzdem wurden die Bilder spektakulär. Nichts für Leute mit Höhenangst.

Es gab keinen Internetempfang hier am Ende der Welt. Später würde sie alles auf ihre NetFriends-Seite posten, zurück in Stromness, der kleinen grauen Stadt am Meer.

2

Sie waren beide sechzehn Jahre alt. Für ihre erste Ferienreise ganz allein ohne irgendwelche Erwachsenen, die Kindermädchen spielten, hatten sie sich einen InterRail-Pass gekauft. Damit konnten sie mit der Bahn nach Herzenslust in Europa herumfahren und mussten nicht für jede Strecke extra Tickets lösen. Billiger kamen sie nicht durch die Weltgeschichte, es sei denn, sie trampten. Aber davor hatten sie zu viel Bammel.

Es hatte sie auch so genug Kämpfe gekostet, bis ihre Eltern einverstanden gewesen waren. Die hätten lieber einen Flug nach Werweißwohin bezahlt, Schüleraustausch mit Gastfamilie, geregeltem Tagesablauf, schön unter Beobachtung. China, wegen der Wirtschaft? Oder lieber Chile, wegen der Sprache? Für den Mond gab’s glücklicherweise noch kein Austauschprogramm.

Nee, es sollten, mussten die Orkneys sein. Die kannte kein Schwein, jedenfalls niemand, dem Laura davon erzählte. Um sich einen Überblick zu verschaffen, hatte sie Paps’ alten Schulatlas aufgeschlagen und lange darin blättern müssen – schon mal ein gutes Zeichen. Der Rest war einfach gewesen. Zuerst Mischa überzeugen, dann die Eltern belabern, und zwar mit Argument Nummer eins: Englisch kann man nie gut genug sprechen.

Den InterRail-Pass hatte sie von Omas sporadischen Geldspritzen gekauft. Laura hortete die Scheine seit Jahren und hielt sie unter Verschluss. Ihr Taschengeld gab sie sofort aus, meistens für Klamotten, Apps oder Musik-Downloads. Omageld dagegen landete in einer altmodischen Stahlkassette, die sie unter ihrem Bett aufbewahrte. Das war dann Argument Nummer zwei gewesen: Ich kann’s selber bezahlen.

Natürlich hieß es sofort: Allein fährst du uns aber nicht weg.

„Klar, allein, würde mir nie einfallen!“, hatte Laura entgegnet und Argument Nummer drei ins Feld geführt: Mischa. „Wir passen aufeinander auf, klappt doch auch sonst prima. Ach, kommt schon! Wir sind doch keine kleinen Kinder mehr.“

„Darf die das denn?“, kam es zweifelnd zurück.

Ja, Mischa durfte. Ihre Mutter war sofort einverstanden gewesen. Die hatte in Aberdeen studiert, irgendwann in der Steinzeit. Als sie von den Plänen der beiden Freundinnen hörte, erhellte ein nostalgisches Lächeln ihr Gesicht und Mischa wusste gleich, dass sie gewonnen hatten. Nach dem Lächeln kam zwar ein ellenlanger Vortrag über Schottland und das Bahnfahren und wie man sich gegen zudringliche „Scheißkerle“ wehrte. Aber irgendwann gingen ihr die guten Ratschläge aus und sie wünschte den beiden nur noch Glück und möglichst viele neue Erfahrungen.

Das hatte schließlich den Ausschlag für Lauras Eltern gegeben. Widerstrebend hatten sie zugestimmt, wobei ihr Vater ziemlich entspannt wirkte, während ihre Mom bis zuletzt Bedenken hatte, bevor sie nach längeren Diskussionen einlenkte.

Als die Ferien Anfang August begannen, packten Laura und Mischa ihre nagelneuen Rucksäcke und stiegen am Münchner Hauptbahnhof in den ICE nach Mannheim. Über Köln, Aachen und Lüttich ging es nach Brüssel. Dort nahmen sie den Eurostar, unterquerten damit den Ärmelkanal und kamen am Abend in London St. Pancras an.

Mit der U-Bahn fuhren sie in einen der Vororte im Norden der Stadt und checkten für drei Tage in dem beschissensten Hostel der Welt ein, das dafür aber unschlagbar billig war. Überall der Geruch von Kotze und Pisse und Fieserem, Betten wie im Knast. Der einzige Vorteil bestand darin, dass sie dadurch gezwungen waren, den ganzen Tag über die City zu durchstreifen: Covent Garden, das Themseufer, eine Fahrt auf dem London Eye. Außerdem gab es ja noch Jungs.

Der erste, den sie kennenlernten, war Danny aus Syracuse, Upstate New York. Er befand sich auf einem Europa-Trip. Eigentlich wollte er weiter nach Frankreich und Italien. Doch er ließ sich gern treiben und schaute, wie sich die Dinge entwickelten.

Sie lernten ihn auf einem Doppeldeckerbus bei einer Stadtrundfahrt für Touristen kennen. Laura machte mit dem Handy ein Foto von Mischa und sich und Danny drängte sich von hinten ins Bild. „Hey, ich will auch mit drauf!“ Er kam ihr wie ein Typ vor, der für jeden Spaß zu haben war. Nachdem sie den Rest des Tages zu dritt verbracht hatten, verabredeten sie sich für den nächsten Morgen in Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett. Dort alberten sie herum wie auf einem Schulausflug, Laura hatte noch nie so viel gelacht, und als sie schließlich von ihren weiteren Reiseplänen erzählten, hatte Danny nichts dagegen, spontan mit zu den Orkneys zu fahren. Der Eiffelturm und das Kolosseum liefen ihm nicht weg, Laura und Mischa dagegen schon. Er war neunzehn, sah sogar ein wenig älter aus.

Jetzt stieg er gerade den Abhang zur Klippe hoch. Sein blonder Haarschopf war weithin zu sehen. Danny hatte behauptet, dass es keinen Sport gäbe, den er nicht trieb. Wenn er die Brandung sah, dachte er vermutlich an Surfen. Er schien die Weite und die Einsamkeit zu mögen, was vor allem Laura für ihn einnahm. Wenn sie sich Blicke zuwarfen, hatte sie das Gefühl, dass sie sich ohne Worte verstanden und genau wussten, was der andere dachte. Danny gefiel Laura und sie hatte den Verdacht, dass er sie auch ganz gut fand.

Wesley stapfte hinter Danny her, langsamer, verdrießlich. Sie hatten ihn in einem Internetcafé aufgegabelt, am Bahnhof von Edinburgh. Wesley war ein waschechter Schotte und wollte eigentlich nur nach Inverness mitfahren, um dort Freunde zu treffen. Auf seinen Tipp hin besuchten sie ein großes Rockfestival am Loch Ness, „Rockness“. Nach zwei aufregenden, schlaflosen und ziemlich schlammigen Tagen konnte Mischa ihn überreden, sie weiter in den Norden zu begleiten. Nach und nach taute er auf und gab mehr als Ein-Wort-Sätze von sich. Seine „Freunde“ hatten sich auf dem Festival nicht blicken lassen. Also war er einfach bei den beiden deutschen Mädchen und dem Ami geblieben. Außerdem besaß er ein kleines Zwei-Mann-Zelt, in dem auch Danny übernachten konnte. Dass er schon achtzehn war, mochte man auf den ersten Blick kaum glauben, weil er ein bisschen schmächtig geraten war.

Wenn Wesley das Meer sah, dachte er bestimmt an seinen Vater. Der arbeitete als Ingenieur auf einer Bohrinsel, wie er Laura erzählt hatte. Vielleicht dachte er auch an ein Computerspiel mit Schiffen, Piraten und Riesenkraken, denn er verbrachte die meiste Zeit vor seinem Laptop. Für die Wanderung zum St. John’s Head hatte er es ausnahmsweise im Guesthouse gelassen. Oft wirkte Wesley unsicher, als wüsste er nicht, wie er sich in Lauras und Mischas Gegenwart verhalten sollte. Er tat so, als seien ihm Mädchen egal. Im Gegensatz zu Danny hielt er sich eher im Hintergrund und richtete sich bei Entscheidungen gerne nach den anderen. In Schottland kannte er sich bestens aus.

Zu viert standen sie da und betrachteten die Küstenlinie. Der Regen wurde stärker.

„Von hier bis Neufundland gibt’s nur den Ozean“, sagte Wesley. „Wenn du da rausruderst, wirst du abgetrieben, schneller, als du gucken kannst.“

„Wegen der Strömung?“, fragte Danny.

„Irre stark. Dagegen hast du keine Chance.“

„Wer will schon raus aufs Meer?“ Mischa zog die Kapuze ihrer Jacke tiefer in die Stirn. „Da ist doch nichts. Nur Wasser und noch mal Wasser.“

„Wasser blinkt aber nicht“, sagte Laura und deutete auf einen weit entfernten Punkt. „Seht ihr auch das rote Licht?“

Sie strengten sich an, etwas zu erkennen.

„Könnte ein Fischtrawler sein“, meinte Wesley.

„Oder ein Typ, der über Bord gegangen ist.“ Danny ließ es wie einen Scherz klingen. „Mit einem Rettungsanzug.“

Eine Zeit lang dachten sie darüber nach, was da draußen vor sich gehen könnte. Malten sich Szenen von Menschen in Seenot aus. Sie kannten den Film „Der Sturm“, in dem eine Monsterwelle einen Fischkutter wie nichts umwarf und zum Kentern brachte. Und auf irgendwelchen Doku-Sendern gingen andauernd Schiffe unter, von der „Titanic“ bis zur kleinsten Segeljolle. Wer nicht gleich ertrank und nicht rechtzeitig einen schützenden Rettungsanzug anlegte, dem machte die Unterkühlung binnen Minuten den Garaus.

Keiner kam auf den Gedanken, dass da draußen auch jemand in ihre Richtung blicken konnte. Vier einsame Gestalten auf einer Klippe, die fest davon ausgingen, sie seien die Einzigen weit und breit.

Laura machte ein Foto von ihnen allen, indem sie ihr Smartphone am ausgestreckten Arm von sich weghielt. Sie steckten die Köpfe zusammen und grinsten.

„Lasst uns zurückgehen“, sagte Mischa schließlich.

3

Der Weg zum Fähranleger in Moaness zog sich in die Länge. Er führte durch ein heidebewachsenes Tal voller Moortümpel und schwärzlicher Bäche, eine richtige Wildnis. Sie befanden sich auf Hoy, einer dünn besiedelten Insel, deren größte Attraktion die Klippen waren sowie der Old Man of Hoy, ein Felsenfinger direkt vor der Küste. Laura genoss es, mit Anlauf über tückische Stellen zu springen oder auch mal voll in den Matsch. Es fühlte sich gut an, den Körper in Aktion zu spüren nach dem Beinahe-Unfall auf der Klippe.

Nur Danny musste wieder mal Quatsch machen. Er watete ins Moor hinein, wedelte wild mit den Armen und tat so, als würde er plötzlich versinken. „Verdammt, ich komm nicht mehr raus!“, rief er theatralisch.

„Selber schuld“, feixte Wesley. „Im Sommer verschwinden hier dauernd Leute. Da fällt einer mehr oder weniger gar nicht auf.“

„Ich stecke fest. Echt jetzt!“

Das Moor reichte ihm schon bis zu den Knien.

„Haha!“, sagte Laura, war aber unsicher, ob sie Danny nicht doch glauben sollte.

Wesley winkte ab und machte schon Anstalten weiterzugehen.

„Ihr könnt mich doch hier nicht einfach zurücklassen!“, protestierte Danny.

„Oh Mann!“ Laura stapfte ein paar Schritte in den weichen, schwammigen Untergrund hinein, schnappte sich die Kapuze von Dannys Regenjacke und zog daran.

Der Widerstand war anfangs beträchtlich, das Moor hielt ihn fest mit unerbittlichem Klammergriff. Schließlich gelang es Danny mit Lauras Hilfe, sich frei zu strampeln. Durch den plötzlichen Ruck fiel Laura nach hinten und gemeinsam landeten sie in einem Heidestrauch, der teuflisch pikte.

„Schauspieler!“ Laura versuchte, sich hochzurappeln, doch Danny hielt sie sanft an der Schulter fest.

„Von dir lass ich mich am liebsten retten“, sagte er, grinste dabei über beide Ohren und hatte wieder diesen Blick, als würde er sie besser kennen als sie sich selbst.

Eigentlich fand sie das gar nicht lustig. Aber dann musste sie lachen. „And the Oscar goes to …“, witzelte sie und stand etwas umständlich auf.

Mischa verdrehte die Augen. „Wenn das jetzt bei jedem Moorloch so geht, kommen wir nie an.“

Der Rest der Wanderung verlief ohne Zwischenfälle. In einem Café am Pier, das extra für die Passagiere der Nachmittagsfähre geöffnet hatte, wärmten sie sich auf. Dann setzten sie aufs Mainland über. Der kleine Ort Stromness empfing sie mit grauen Würfelhäuschen, dazwischen bunte Wimpel und ein paar Sonnenstrahlen. Danny und Wesley wollten noch die Kutter im Hafen anschauen, aber Laura und Mischa zog es zurück ins warme Guesthouse. Dort hatten sie sich nach dem Matschwetter in Rockness eingemietet, um ihr Zelt zu säubern und endlich mal wieder in einem richtigen Bett zu schlafen.

Sie hängten ihre Klamotten zum Trocknen auf und nahmen eine heiße Dusche. Ihr Doppelzimmer war zwar nicht größer als ein Schuhkarton, aber gemütlich eingerichtet. Und es gab WLAN.

Laura wickelte ihre nassen schwarzen Haare in einen Handtuchturban. Dann legte sie sich aufs Bett und ging mit ihrem Smartphone ins Internet. Zuerst checkte sie die Fotos, die sie auf Hoy gemacht hatte. Sie fingen die Stimmung super ein. Laura wusste schon den Text, den sie zu den Klippenbildern posten würde: „Am Arsch der Welt ist es schön, aber windig. Bin fast runtergefallen.“

„Und ich hab dich gerettet.“ Mischa frottierte sich ab. „Auf den Kommentar kannst du Gift nehmen!“

Laura lachte. „Wahrscheinlich geht ‚Arsch‘ gar nicht durch den Sprachfilter. Offensive language und so.“ Sie rief ihre NetFriends-Seite auf. Doch statt der vertrauten grünweißen Anzeige erschien ein roter Balken.

„Dein Profil wurde gesperrt“, las sie laut.

„Kein Wunder! Bei all dem Mist, den du reinstellst.“

„Versteh ich nicht.“ Laura probierte herum. Immer wieder rief sie die Internetseite neu auf. Schaltete ihr Smartphone aus und wieder an. Das Ergebnis blieb immer das gleiche. Ein roter Balken. „Irgendwas stimmt da nicht.“

„Vielleicht liegt’s am Empfang?“, fragte Mischa. „Die Orkneys sind zu weit weg von der Zivilisation.“

Laura rief ihre E-Mails ab – am Empfang konnte es also nicht liegen. Aha, eine Nachricht vom NetFriends-Security-Team, Betreff: Identity Request: In der Mail wurde sie aufgefordert, ihren Personalausweis zu fotografieren und der Abteilung User Operations zu schicken. „Ist dir das schon mal passiert?“, wollte sie von ihrer Freundin wissen.

„Nee.“

„Muss ich jetzt beweisen, dass ich ich bin?“

„Sieht wohl so aus. Aber warte mal, vielleicht wollen die von mir das Gleiche.“ Mischa hatte ihr Handy am Stromnetz mit einem Adapter für Großbritannien aufgeladen – vorsintflutlich, dass es in Europa immer noch unterschiedliche Stecker gab. Sie schaltete es ein. Normalerweise ging sie nicht so häufig auf ihre NetFriends-Seite wie Laura und Fotos stellte sie selten online, höchstens, um ihr Profilbild zu aktualisieren. Mischa interessierte sich mehr dafür, was die anderen posteten. Sie likte alles Mögliche und schrieb meist positive Kommentare. Rumätzen, wie es viele taten, die sie kannte, war nicht ihr Fall.

Mit ihrem NetFriends-Profil war alles in Ordnung. „Sieht aus wie immer.“

„Geh mal auf meines“, sagte Laura und setzte sich neben Mischa, um das Display sehen zu können. Es zeigte das vertraute Titelbild, das sie bei der Abfahrt in München vor zehn Tagen hochgeladen hatte: einen ICE und davor Laura und Mischa mit ihren Rucksäcken. Dann ihr Profilbild und ihr Name Laura Adams.

„Alles wie gehabt, kein roter Balken.“ Mischa scrollte nach unten. „Neueste Aktivität“, las sie vor. „Rockness vorher. Noch geht’s mir blendend.“ Zu dem Eintrag gehörte ein Foto, auf dem Laura vor einem Zelteingang abgebildet war und gut gelaunt in die Kamera winkte. Sie trug ihr Lieblings-T-Shirt, weiß mit dem Aufdruck „noir“ in schwarzer Schmierschrift.

„Was? Gib mal her!“ Laura schnappte sich das Smartphone. „Komisch. Das hab ich gar nicht gepostet.“ „Du hast doch Bilder auf dem Rockfestival gemacht.“ „Klar, aber nicht dieses! Und hochgeladen hab ich nur zwei, eins von der Bühne und einen Schnappschuss von uns allen.“ Sie scrollte zum nächsten Eintrag. „Rockness nachher. Keiner liebt mich! Und schon wieder ein Foto. Was soll denn das?“

Zu sehen war derselbe Zelteingang. Davor waren leere Whiskyflaschen auf dem Gras verstreut. Und im Inneren lag jemand. Total nackt. Zur Seite gedreht, sodass man nur den Hintern und den Rücken sah. Der Kopf war von der Zeltplane verdeckt.

Laura konnte es nicht fassen. „Spinn ich oder was?“

„Eine unmissverständliche Einladung.“ Mischa prustete los. „Hab gar nicht gewusst, dass du dich so einsam fühlst.“

„Das Foto ist nicht von mir! So was würde ich nie machen.“

„Na ja, gemacht hat das Foto wohl jemand anderes.“

„Find ich gar nicht witzig“, zischte Laura. „Meinst du, ich leg mich hin wie das letzte Luder und zeig aller Welt meinen Allerwertesten?“

„Wenn du zugedröhnt gewesen bist, wär das doch möglich. Die Whiskyflaschen sprechen eine deutliche Sprache.“

„So viel haben wir doch gar nicht getrunken. Jedenfalls keinen Whisky, weißt du ja selbst. Die Flaschen sind nicht von uns.“

„Bist du am Samstag nicht mal für ein paar Stunden verschwunden? Um eine Runde zu pennen?“ Mischa überlegte. „Vielleicht ist das Bild dabei entstanden?“

„Logisch. Ich hab mir ruck, zuck die Kante gegeben, mir die Kleider vom Leib gerissen und mich nackt im Zelt drapiert. Dann kommt dieser Typ vorbei und denkt sich, toller Anblick, den halt ich für mein Poesiealbum fest.“ Lauras Stimme triefte vor Sarkasmus.

„Was ist denn nun wirklich gelaufen?“

„Ich glaub’s nicht! Du nimmst das für bare Münze?“ Laura wurde laut. „Dieser Arsch gehört nicht mir! Kapiert?“

„Ich überleg ja nur. Reg dich nicht so auf.“

„Das steht auf meinem Profil, Mischa! Das kann jeder sehen, alle meine Freunde, meine Familie, wildfremde Leute. Die denken, ich bau hier in Schottland Scheiße.“

„So schlimm ist es doch gar nicht.“

„Dann schau dir mal die Kommentare an. Schöne Aussichten. – Wer wird denn so schüchtern sein? – Ich komm gleich. – Schlampe! Und das sind noch die harmlosesten.“

„Von wem sind die Kommentare?“ Neugierig beugte sich Mischa über ihr Handy.

„Die üblichen Verdächtigen aus der Schule“, sagte Laura. „Chris, Gabriel, Svea, Vicky, Wolle. Und ein paar, die ich gar nicht kenne. Warum dürfen die das überhaupt? Ich hab mein Profil doch nur für meine NetFriends-Kontakte freigeschaltet.“

„Für Blödmänner ist das natürlich ein gefundenes Fressen.“

„Ich möchte wissen, wer das Foto gepostet hat, noch dazu in meinem Namen. Wie geht das? Gibt’s da keine Sicherheitseinstellungen?“

„Vielleicht hat dich NetFriends deswegen gesperrt? Wegen anstößiger Bilder oder so?“

„Kann gut sein.“ Laura brütete vor sich hin. Dann schaute sie nach, wann das Foto hochgeladen worden war. Vor 4 Stunden. Genau zu der Zeit, als sie nach Hoy gefahren und zur Klippe gewandert waren. Laura hatte den gemeinsamen Ausflug auf NetFriends sogar noch angekündigt. Das war aber schon am Morgen gewesen, vor acht Stunden oder so.

„Steht da noch mehr seltsames Zeug?“, fragte Mischa.

Sie überprüften die jüngsten Einträge auf Lauras Profil und fanden nichts Verdächtiges. Die beiden Rockness-Bilder waren die einzigen ungewöhnlichen Aktivitäten.

„Mein Zugang ist gesperrt, also kann ich den Mist auch nicht löschen“, sagte Laura. „Was soll ich denn tun?“

„Jetzt schreib ich mal einen Kommentar.“ Mischa nahm ihr Handy wieder an sich und tippte umständlich darauf herum. „Ist nur Fake. Stimmt alles gar nicht. Das auf dem Foto ist NICHT Laura.“

„Danke.“

Die Reaktion erfolgte prompt. „Kann ja jeder sagen.“ Von einem „Gabrrriel Schuster“.

„War ja klar“, meinte Mischa. „Gabriel ist einfach total bescheuert.“ Sie schrieb wieder einen Kommentar, der allerdings etwas geflunkert war, aber darauf kam es momentan nicht an. „Ich war in Rockness dabei. Das Mädchen im Zelt muss eine andere sein. Oder das Bild ist gefälscht.“

„Faule Ausrede“, gab Gabriel zurück.

„Immer noch betrunken?“, fragte ein Leo Nidas, von dem sie noch nie gehört hatten.

„Schwierig, das jetzt noch richtigzustellen“, sagte Mischa. „Hätte man sofort nach dem Hochladen des Fotos machen müssen. Wenn ich alles abstreite, denken die nur, dass ich dich verteidigen will.“

Plötzlich ein neuer Kommentar: „Es geht darum, Spaß zu haben.“

Von Laura Adams. Mit ihrem kleinen Profilbild.

„Das gibt’s nicht“, sagte Laura. Allmählich wurde sie richtig wütend. „Wie unverschämt ist das denn? Die tut so, als wär sie ich.“

„Wer?“

„Keine Ahnung.“ Sekunden verstrichen. „Jedenfalls lass ich mir das nicht bieten. Gib noch mal her.“

Mischa reichte Laura das Handy. Sie gab folgenden Kommentar ein: „Hier spricht Laura Adams. Mein Profil wurde gesperrt. Da will mich jemand mit dem gefakten Nacktfoto verarschen. Okay, war witzig. Aber DAS BIN NICHT ICH.“

Dann schickte sie den Text ab.

Der Kommentar verschwand und erschien nicht auf der Seite. Sogar das Eingabefenster, das Mischas Porträt zeigte, war weg.

Nach etlichen Versuchen, etwas auf Lauras Profil zu posten, schauten sie in der Liste von Mischas Freunden nach. Laura tauchte darin nicht mehr auf. Offenbar wurde Mischa „entfreundet“. Sie konnte Lauras Aktivitäten auf Net-Friends zwar noch verfolgen, aber keine Kommentare mehr dazu abgeben.

„Was ist denn jetzt los?“ Mischa verstand gar nichts mehr. „All diese Fremden dürfen dein Profil kommentieren, aber ich nicht?

„Anscheinend habe ich jetzt andere Freunde“, sagte Laura ironisch. „Ein paar von den alten und jede Menge neue. Wer auch immer sich für mich ausgibt – er hat dich rausgeschmissen. Uns.“

Mischas Miene verdüsterte sich. „Ich frage mich, was als Nächstes kommt.“

4

Danny und Wesley lachten sich schief, als sie das Foto von Lauras Hintern – oder von wessen Hintern auch immer – sahen. Die Jungs hatten Fish and Chips besorgt und jetzt saßen sie alle zusammen im Zimmer der Mädchen und aßen. Nachdem sie ordentlich reingehauen hatten, gingen sie in den Pub um die Ecke. Wesley hatte sein Laptop mitgenommen. Mit einem Surfstick verband er seinen Rechner mit dem Internet. Danny ging zum Tresen und bestellte für alle. Glücklicherweise nahm es die Barkeeperin mit dem Jugendschutz nicht so genau.

Laura dachte, dass für eine angemessene Reaktion auf die Sperrung ihrer Profilseite jede Menge Zeit blieb, und verließ sich darauf, dass außer ein paar Deppen nicht so viele Leute dem Foto Aufmerksamkeit schenken würden. Doch im Gegensatz zu Mischa glaubten die Jungs Laura nicht vorbehaltlos. Wesley kannte Laura nicht gut genug und konnte sich durchaus vorstellen, dass sie aus Leichtsinn etwas auf NetFriends stellte, was sie hinterher bereute und wieder rückgängig machen wollte. Danny stellte vor allem infrage, dass das Foto angeblich gefälscht war.

„Du behauptest, du bist das nicht. Aber wer soll das denn sonst sein?“

Laura schaute sich das vergrößerte Bild auf dem Laptop genau an. Dann stand sie auf und drehte sich einmal demonstrativ um die eigene Achse. Sie trug eine enge Jeans, ihre Figur kam gut zur Geltung. Seit einem knappen Jahr machte sie Capoeira, das war eine Art Kampftanz aus Brasilien. Während des Trainings liefen immer südamerikanische Sprechgesänge mit rhythmischer Begleitung. „Guck dir mal meinen Po an! Der ist hübscher und größer als dieses schlaffe Ding da.“

Wesley pfiff durch die Zähne. „Klarer Fall von Mobbing. Da hat jemand dein bestes Teil verkleinert. Muss der böse Schrumpfator gewesen sein!“

„Das Zelt sieht genauso aus wie unseres“, sagte Mischa. „Aber solche Zelte gibt’s wie Sand am Meer!“, protestierte Laura „Dunkelgrünes Iglu – lässt sich leicht nachstellen.“

„Jetzt mal im Ernst.“ Wesley nahm sich Lauras Profil vor. „Irgend so ein Witzbold hat dein NetFriends-Konto gehackt.“

„Und wie geht das?“, fragte Laura.

„Er kennt dein Passwort. Entweder mithilfe eines Entschlüsselungsprogramms oder einer illegalen App.“

„Verdammt!“

„Oder einfach durch Ausprobieren. Wie lautet es denn?“

„Laura16“, sagte sie kleinlaut.

„Nicht besonders einfallsreich“, meinte Wesley. „Und ziemlich unsicher. Das ist ganz leicht zu knacken. Jemand gibt deine E-Mail-Adresse ein, die vermutlich kein großes Geheimnis ist, dann das Passwort und fertig. Kann praktisch jeder gewesen sein, der dir eins auswischen will.“

„Oder der auf den Profilen anderer Leute herumschnüffelt“, sagte Mischa. Sie checkte immer wieder, ob auf ihrer eigenen NetFriends-Seite noch alles in Ordnung war. Aber zum Glück sah die normal aus, keine fremden Postings.

„Und was soll ich jetzt machen?“, fragte Laura. „Kann man das nicht bei NetFriends melden?“

„Versuch’s.“ Wesley zuckte mit den Schultern. „Dauert bestimmt eine Ewigkeit, bis das Help Center antwortet. Falls sie’s überhaupt tun, die kriegen am Tag Tausende solcher Anfragen.“

„Und was ist mit dieser Identity Request?“

„Das ist eigentlich ein gutes Zeichen. Irgendjemand hat dein Profil gekapert. Er muss sich aus einem anderen Land angemeldet haben und dafür musste er zwangsläufig ein anderes Gerät benutzen als das, mit dem du dich sonst immer einloggst, also dein Smartphone oder dein Computer zu Hause. NetFriends erkennt so etwas und sperrt dein Konto automatisch, das ist ein Schutzmechanismus. In der Regel musst du dich dann von deinem üblichen Computer oder dem Smartphone wieder anmelden und alles ist gut. Oder du beantwortest eine Sicherheitsfrage, dann geht das auch von einem anderen Gerät aus.“

„Was denn für eine Sicherheitsfrage?“

„Da muss man verschiedene Profilbilder entsprechenden Freunden zuordnen.“

„Aber so weit komme ich ja nicht mal“, sagte Laura. „Die lassen mich gar nicht erst rein.“

„Weil irgendwas faul ist, deswegen die Identity Request. Das Ganze ist quasi schon im fortgeschrittenen Stadium. NetFriends will Klarheit, so sehe ich das.“ Wesley nahm Lauras Handy und las noch einmal die Mail, die sie erhalten hatte. „Am besten, du tust, was die verlangen. Mach ein Foto von deinem Ausweis und schick es an User Operations. Dann werden wir ja sehen, was passiert.“

„Und warum muss ich meine Identität beweisen und nicht der Typ, der mein Profil gekapert hat? Warum hat der Zugang und nicht ich?“

„Weiß ich auch nicht.“

Zähneknirschend befolgte Laura Wesleys Rat. Sie legte ihren Ausweis auf den Tisch und fotografierte ihn ab. Genervt hängte sie die Bilddatei an eine E-Mail, in der sie auf ihr gehacktes Profil hinwies und ihrem Unmut Luft machte.

„Ich hab denen geschrieben, dass ich auf einer Ferienreise keine Lust habe, mich mit so einem Mist zu befassen“, sagte sie. „Die sollen sich mal besser um die Sicherheit ihres Netzwerkes kümmern. Und ich hab noch gefragt, ob sie den Hacker ermitteln können.“

Inzwischen war im Pub einiges los. Die anderen Gäste blickten ein bisschen mitleidig zu den jungen Leuten hinüber, die sich an ihrem Fensterplatz mit Smartphones und einem Laptop beschäftigten, während um sie herum die Stimmung stieg und sich eifrig zugeprostet wurde. Auf einer Videowand lief ein Musikclip, vom Wummern der Bässe vibrierte das Bier in den Gläsern. Ein dünner Rotschopf trat an ihren Tisch und fing ein Gespräch mit Mischa an, die ihr Smartphone endlich einsteckte und interessiert zuhörte.

Wesley und Danny stellten fest, dass sie von der falschen Laura ebenfalls entfreundet worden waren. Sie hatten keine Möglichkeit mehr, etwas auf Lauras Seite zu posten und Einfluss auf die immer zahlreicher werdenden fiesen Kommentare zu nehmen.

„Da geht aber jemand gründlich vor“, wunderte sich Wesley. „Und sehr zielgerichtet.“ Wenigstens konnte er weiter verfolgen, was sich auf Lauras gekapertem Profil tat. Ihre Privatsphäre-Einstellungen schienen inzwischen lächerlich niedrig zu sein, wie bei einer öffentlichen Seite, denn die Zahl ihrer Freunde stieg rasant an. Nur Lauras richtige Freunde waren ausgesperrt, zu bloßen Zuschauern degradiert.

Plötzlich tauchte eine neue Statusmeldung auf. Kein Text, nur ein weiteres Foto. Es zeigte den Pub, in dem sie gerade saßen, von außen. „Flattie Bar“ stand auf dem angestrahlten Schild über dem Eingang. Und wenn man genau hinsah, konnte man hinter den Fensterscheiben ihre Köpfe erkennen.

Laura fuhr herum und blickte nach draußen. Fast erwartete sie, dass ihr eine grinsende Visage entgegenglotzte und jemand winkte wie bei einer Überraschungsparty. Aber da war niemand.

Ihr Handy klingelte. Es war ihr Vater und er hatte schlechte Neuigkeiten.

5

Bei uns wurde eingebrochen.“ Paps klang aufgeregt. „Am helllichten Nachmittag, Laura, ich kann’s nicht fassen. Die haben die Wohnungstür aufgehebelt und sind bei uns zu Hause einfach so rumspaziert. Ich war mit der Band im Proberaum und deine Mutter ist ja auf dieser bescheuerten Tagung in Salzburg. Ich hab noch gar nicht mit ihr gesprochen, bei ihrem Handy geht nur die Mailbox ran.“

„Hat denn keiner von den Nachbarn was gemerkt?“, fragte Laura.

„Die Leute kümmern sich nur um ihren eigenen Kram. Ich hab ja noch gar nicht alle kennengelernt, seit wir eingezogen sind.“

„Und die Polizei?“

„Ist schon da. Aber eine große Hilfe sind die nicht. Schreiben auf, was geklaut wurde, mehr machen die nicht.“

„Was genau fehlt denn?“ Laura hatte ein ungutes Gefühl. Doch eine spöttische Bemerkung konnte sie sich nicht verkneifen. „Haben die den Flügel mitgehen lassen? Oder deine E-Gitarren?“

„Ich bin hier am Durchdrehen und du machst Witze!“

„Sorry, Paps.“

„Dein Laptop ist weg! Zufrieden?“

„WAS?“

„Diese Scheißdiebe haben alle Computer mitgenommen! Meine neuesten Kompositionen, das Programm für die Konzerte im Herbst, einfach alles war da drauf.“

„Die haben mein Laptop?“ Laura schnappte nach Luft.

„Dein Zimmer sieht aus, als wär da ’ne Bombe eingeschlagen. Die haben die ganze Wohnung auf den Kopf gestellt.“

Im Pub wurde es so laut, dass Laura lieber vor die Tür ging, um weiterzutelefonieren. Da es regnete, blieb sie unter dem Vordach der Flattie Bar stehen und blickte die Hauptstraße von Stromness hinunter. Nur wenige Leute waren unterwegs.

„Haben die meine Sachen durchwühlt?“, fragte Laura.

„Sieht so aus. Tut mir leid, dass ich dir deinen Urlaub vermiese, aber du musst es ja erfahren.“ Ihr Vater machte eine Pause. „Geht’s dir ansonsten gut? Alles in Ordnung da oben in Schottland?“

„Kann ich nicht gerade behaupten.“ Sie erzählte von ihrem gekaperten NetFriends-Profil. Allerdings musste sie es immer wieder von Neuem erklären, bis ihr Vater begriff, was das Problem war. Er nutzte das soziale Netzwerk nur selten, stellte hin und wieder Konzerttermine ein und machte ein bisschen Werbung für seine Band.

„Das muss mehr oder weniger zeitgleich mit dem Einbruch passiert sein“, gab er zu bedenken.

Laura schauderte. „Komischer Zufall, oder?“

„Meinst du, dass es jemand auf dich abgesehen hat?“

„Mit meinem Laptop wäre es erst recht kein Problem, Zugang zu meinem Profil zu bekommen. Alle Passwörter sind dort gespeichert. Irgendjemand muss sich damit eingeloggt und dann alle Daten geändert haben.“

„Und wer sollte das tun?“

„Anfangs hab ich’s einfach für einen Streich gehalten, von Gabriel oder Svea. Aber die würden doch nicht bei uns einbrechen.“

„Diese Kerle haben gewusst, dass niemand zu Hause ist“, überlegte Paps. „Die kannten sich ziemlich gut aus bei uns. Vielleicht haben sich deine Freunde mit irgendwelchen schrägen Typen zusammengetan, mit Kriminellen.“

Laura dachte an das jüngste Foto auf ihrem Profil, das den Pub von außen zeigte. Wer hatte das eingestellt? Gab es jemanden auf den Orkneys, der seinen Spaß mit ihr trieb? Der ausländische Touristen auf dem Kieker hatte? Jemand, der sich an das Kidnapping ihrer Seite, die anscheinend in München erfolgt war, dranhängte? Verbreitete sich so etwas derartig schnell?

Oder stellte ihr jemand ganz real nach, vielleicht schon seit dem Rockfestival?

„Ich melde mich wieder, Paps“, sagte sie schließlich. „Momentan kommen wir nicht weiter.“

„Tut ja schon gut, mit dir zu reden, Kleines.“ Ihr Vater klang ziemlich ratlos. Er war der Situation nicht gewachsen, ein Musiker, dessen größte Sorge normalerweise das Lampenfieber vor dem nächsten Auftritt war. „Ich sprech noch mal mit der Polizei, Stichwort Internet und geklaute Computer. Möglicherweise ist das ein Anhaltspunkt.“

„Mach dich nicht verrückt. So ein Einbruch ist kein Weltuntergang. Irgendwie kriegst du deine Dateien schon zurück.“

„Wie denn?“

„Du mailst doch dauernd mit deinen Kumpels und schickst ihnen deine Sachen zum Reinhören. Da werden sich deine Songs schon wiederfinden. Leih dir ein Laptop, check deine Mails und das meiste taucht wieder auf, bestimmt.“

„Gute Idee!“

„Und wenn Mom wieder erreichbar ist, kann sie garantiert helfen. Wer ist denn der Sicherheitsfreak der Familie?“

„Du kriegst einen neuen Computer, versprochen. Von der Kohle für meinen ersten Gig im Herbst.“

„Du bist süß.“

„Pass auf dich auf.“

Laura lachte. „Wollt ich auch gerade sagen. Bis bald.“ Sie legte auf.

So war es immer: Sie musste Paps Mut machen und nicht umgekehrt. Sonst tat es ja keiner.

Sollte sie es selber auf Moms Handy probieren? Lieber hackte sie sich die Hand ab. Laura wusste schon, warum ihre Mutter schwer zu erreichen war. „Tagung“ bedeutete vermutlich, dass Mom gerade an einem Bartresen saß und irgendeinem gut aussehenden Manager Events oder Fortbildungsseminare aufschwatzte. Laura konnte sich vorstellen, wie so was ablief – und wo es manchmal endete.

Es gab viele Gründe, ausgerechnet auf die Orkneys zu fahren. Oh ja.

Laura ging ein paar Schritte in den Regen hinaus und spähte die Straße hinunter. Die Häuser wirkten abweisend und kalt. Hoch im Norden blieb es im Sommer außergewöhnlich lange hell, das hatte sie im Internet gelesen. Aber man musste es mit eigenen Augen erleben, um es zu glauben.

Die Dämmerung setzte erst spät ein und bis dahin wirkte Stromness mit seinen grauen Mauern und den Pfützen auf dem Pflaster wie in ein unbestimmtes Zwielicht getaucht. Bunte Fahnen, vom Wind ganz zerzaust, zierten das Hotel, zu dem die Flattie Bar gehörte. Vor dem Schaufenster eines kleinen Ladens stand ein Pärchen. Die beiden drehten Laura den Rücken zu, sonst war niemand zu sehen.

Trotzdem fühlte sie sich irgendwie beobachtet.

Sie überquerte die Straße. Es war nicht weit zum Fährhafen, etwa zweihundert Meter. In dem Örtchen lag alles nah beieinander.

Dieselgeruch hing in der Luft. Das Schiff der Northlink Ferries hatte bereits angelegt. Erst am nächsten Morgen würde es nach Scrabster übersetzen. Die Motoren liefen trotzdem.

Verzweifelt versuchte Laura, die Ereignisse der vergangenen Stunden in einen Zusammenhang zu bringen. Sie ging zum Rand des Piers und stützte sich schwer aufs Geländer. Das Wasser im Hafenbecken kräuselte sich und bildete kleine Strudel. Sogar hier machten sich die starken Gezeitenströme von Nordsee und Atlantik noch bemerkbar. Fischkutter dümpelten an ihren Vertäuungen, ihre Mastspitzen hoben sich wie die riesigen Zeiger einer Uhr vor dem Himmel ab.

Laura fotografierte einen besonders hübschen Trawler, der schon ein wenig älter wirkte, nicht so modern wie die übrigen Schiffe mit ihren hohen Bordwänden, Antennen und Radaranlagen. Der Rumpf war weiß und dunkelgrün gestrichen und das Steuerhaus bestand aus Holz. „Sea Eagle“ stand auf dem Bug, das bedeutete „Seeadler“. Laura wählte die beste Aufnahme aus und schickte sie ihrem Vater. Vielleicht munterte ihn das ein wenig auf. Er liebte das Meer genauso wie sie und war immer auf der Suche nach einem guten Titel für einen neuen Song. Außerdem sah die „Sea Eagle“ im regnerischen Abenddunst geheimnisvoll aus, wie ein Geisterschiff, das nur vorübergehend in Stromness angelegt hatte und von einem Moment auf den anderen wieder verschwunden sein konnte, ein Adler auf der Jagd. Laura gefiel das.

Es gab eben solche und solche Fotos, dachte sie. Manche waren nichts weiter als Schnappschüsse, die man amüsant fand und gleich wieder vergaß. Andere brachten einen zum Grübeln und einige wenige zum Träumen, noch nach Jahren.

Die Bilder auf ihrer gekaperten NetFriends-Seite hielt sie zwar für ärgerlich, aber noch für relativ harmlos. Ein angebliches Nacktfoto von hinten – es gab Schlimmeres. Die Tatsache, dass ein Profil gehackt worden war, schien sich jedoch schnell rumzusprechen, Schottland war ja nicht von der Außenwelt abgeschnitten. Sogar auf den Orkneys konnte es jemanden geben, der Laura für Freiwild hielt und ihr zum Spaß ein wenig Angst einjagte. Aber der Einbruch zu Hause, das war ein anderes Kaliber. Was die Diebe mit ihren verschiedenen Passwörtern anstellen konnten, wagte sie sich nicht auszumalen.

Ein Geräusch auf der „Sea Eagle“ ließ sie zusammenzucken.

Dann legte sich eine Hand auf ihre Schulter.

6

Blitzschnell fuhr Laura herum, duckte sich und ließ ihre rechte Faust nach vorn schnellen.

Wer auch immer sich ihr von hinten genähert hatte, klappte mit einem dumpfen Stöhnen zusammen.

Es war Danny.

„Oh, verdammt!“, rief Laura und bückte sich. „Sorry! Alles okay?“

Sie half ihm hoch. Doch es dauerte eine Weile, bis er wieder zu Atem kam.

„Schöne Begrüßung“, presste er hervor.

„Warum schleichst du dich auch so an?“

„Hab ich doch gar nicht.“

„Hast du wohl!“

„Du warst so lange verschwunden. Da hab ich nach dir gesucht.“

Langsam fiel die Anspannung von Laura ab. „Tut mir leid, Danny. Es ist nur … Ich hab gerade mit meinem Vater in Deutschland gesprochen. Es ist etwas Schlimmes passiert.“

Sie erzählte ihm von dem Einbruch und dass ihr Laptop gestohlen worden war.

„Das würde einiges erklären“, meinte er. „Mit deinem eigenen Computer kann sich jedes Kind in deinen Net-Friends-Account einloggen.“

„Ist mir klar.“

„Hast du viele private Sachen gespeichert?“

Daran hatte Laura noch gar nicht gedacht. Entgeistert starrte sie Danny an. „Scheiße!“

Fieberhaft durchforschte sie ihre Erinnerung und rief sich die Verzeichnisse ihrer Festplatte vors innere Auge. Sie erschrak.

Wer auch immer ihr Laptop geklaut hatte: Diese Person wusste jetzt praktisch alles über sie. Er konnte ihre sämtlichen E-Mails lesen, auch die supervertraulichen, die teilweise weit zurückreichten und die sie mit Absicht nicht gelöscht hatte. Was sie mit Mischa und anderen Freunden an Albernheiten, Schwärmereien und Gehässigkeiten ausgetauscht hatte. Und Bilder, ohne Ende Bilder. Jedes noch so dämliche Funfoto, Partyschwachsinn, Posieren im Freibad oder in den Isarauen. Die Zeltlager von früher fielen ihr ein. Auch vom Schullandheim und dem Skilager musste es unzählige Fotos geben. Und diese denkwürdige Kneipentour kürzlich im Mai, da hatte sie ganz schön getankt gehabt. Kurzfilme waren auch dabei: Laura, das Model, in einem sauteuren Rüschenteil von Victoria’s Secret.

Auch über die Jungs, mit denen sie mal was gehabt hatte, waren die Diebe jetzt bestens informiert: Über ihren ersten Freund Frederic war vermutlich noch nicht so viel zu finden – zu der Zeit war sie noch ziemlich brav gewesen. Bei Raffaele hatte es letztes Jahr schon anders ausgesehen: die große Liebe, minutiös dokumentiert für die Nachwelt.

Es fühlte sich an, als wäre sie plötzlich splitterfasernackt. So nackt wie auf dem Foto, das sie angeblich in dem Zelt auf Rockness zeigte. Dazu kam die Ungewissheit, was sich sonst noch auf ihrem Computer befinden mochte und woran sie auf die Schnelle gar nicht dachte? Jede Menge persönlicher Daten, natürlich. Familie.

„Der Schock sitzt tief, wie?“ Danny versuchte, sie zu trösten. „Das legt sich. Einem Kumpel von mir ist das auch mal passiert. An das meiste, was weg ist, kommst du irgendwie wieder ran.“

Genau damit hatte Laura vorhin ihren Vater beruhigen wollen. Was für ein blödes Gerede! Sie war wütend, wollte irgendwas kaputt machen. Mit Schwung trat sie gegen das Geländer am Pier und ein stechender Schmerz durchfuhr ihren großen Zeh.

Plötzlich konnte Laura ein Schluchzen nicht unterdrücken und mit einem Mal flossen die Tränen. „Und diese Mistkerle, die meinen Account gehackt haben!“, sagte sie mit erstickter Stimme. „Was wollen die denn von mir? Ich bin doch total uninteressant.“

„Vielleicht spielt jemand ein bisschen mit deiner Net-Friends-Seite rum. Na und? Wenn du nicht reagierst, verliert das schnell seinen Reiz.“

„Meinst du?“