Das geheime Kind - Thomas Kastura - E-Book

Das geheime Kind E-Book

Thomas Kastura

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  • Herausgeber: Knaur eBook
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2010
Beschreibung

Eine Leiche in einer Kleingartenanlage, ein grausiger Fund und das dunkle Geheimnis einer Familie. Kommissar Klemens Raupach gibt sich 48 Stunden, um den Fall zu lösen – und bleibt bis zur völligen Erschöpfung am Ball. Temporeich, dunkel und hart, ein bestechender Blick in die menschlichen Abgründe. Das geheime Kind von Thomas Kastura: Kriminalroman im eBook!

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Seitenzahl: 431

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Thomas Kastura

Das geheime Kind

Kriminalroman

Knaur e-books

Für Michael

Ad astra duco

STERBEN. Begraben werden. Die Glieder strecken. Den dünnen Arm an die Brust führen. Den fremden Tod umschlingen. Ein letztes Mal die Haut zwischen den Fingern fühlen. Die Augen schließen. Nie mehr atmen.

Die Vorstellung, sich zu verlieren. Einen Teil davon, die Hülle, all das Störende, Begrenzende, den Abglanz. Wird es ein langer Schmerz sein?

Sich unerreichbar zu machen. Unfindbar. Anders werden, vergessen. Sind da Gedanken, die es lohnt mitzunehmen? Ist das möglich?

Was lässt sich vor dem Abgrund noch bewahren?

BEIM SCHACH mochte Nicolas die Figuren. Ihre Verschiedenheit.

Das Pferdchen und der Turm sahen wie naturgetreue Nachbildungen aus. Die anderen ließen mehr Raum für seine Phantasie.

Am liebsten war ihm die Dame. Sie lag gut in der Hand, ihre Krone fühlte sich wie ein Zahnrad an, nur dass die Zacken abgerundet waren. Aber warum hatte der König ein Kreuz auf dem Kopf? Und der Läufer mit diesem Schlitz, sollte das ein Helm sein oder ein Gesicht?

Von den Bauern gab es viele. Er hatte sie zur Unterscheidung mit Filzstift markiert, eins bis acht. Bauern hatten keinen hohen Wert. Angeblich waren sie nicht so wichtig. Sie durften nicht so weit ziehen und wurden schnell geschlagen – nach den Regeln, die normalerweise galten.

Das mit dem Ziehen war verwirrend. Vor, zurück, quer. Mal weiter, mal kürzer. Wo die Felder aufhörten, war Schluss. Warum eigentlich? Und warum bewegte sich ein Turm überhaupt? Das war doch ein Gebäude und gar keine Figur.

Nicolas spielte Schach nach seinen eigenen Regeln. Es gab drei Varianten:

I. Schule. Die Bauern waren die Schüler und die höheren Figuren die Lehrer. Der schwarze König war zum Beispiel der Religionslehrer, klar. Bei dem weißen König hatten sie Bio. Jede Felderreihe stand für ein anderes Schulfach. Pro Feld wurde eine Frage gestellt. Bei der richtigen Antwort durfte man vorrücken. Hin und wieder griff ein Schüler einen Lehrer beim Abfragen an, dann flog er vom Brett. Obwohl Bauer Nummer 3 die Antwort meistens wusste, flog er oft vom Brett. Das kam daher, weil er leicht die Beherrschung verlor, über seine Fäuste. Bauer Nummer 3 war er selbst, Nicolas.

II. Einkaufen. Bauer Nummer 3 ging zusammen mit dem weißen Springer in den Supermarkt. Auf den Feldern der anderen Figuren gab es allerlei Waren, Wurst, Käse oder Getränke. Bauer Nummer 3 zählte auf, welche Waren er mitnehmen wollte. Pro Feld nannte er den genauen Preis. Am Ende rechnete er alles im Kopf zusammen und schlug noch die Steuerprozente drauf. Mit Zahlen konnte er gut umgehen. Der weiße Springer kontrollierte das Ergebnis. Das war Otto.

Otto lebte mit der Mama von Bauer Nummer 3 zusammen und spielte mit ihm, wenn sie auf der Arbeit war. Otto hatte keine Arbeit. Er kümmerte sich um Bauer Nummer 3, der ja auch keine richtige Arbeit hatte, weil er noch zur Schule ging. Otto war also sein »Kollege«, und so redete er ihn immer an. Otto sah ein bisschen aus wie ein Pferd, weil er ein schmales Gesicht hatte und lange Zähne. Einkaufen machte am meisten Spaß, denn Bauer Nummer 3 wusste alle Preise auswendig. Aus der Zeitung kannte er sogar die Sonderangebote.

III. Krieg. Diese Variante ähnelte mehr einer richtigen Schachpartie. Es galten die normalen Regeln mit dem Unterschied, dass die weißen Bauern auf den Feldern der schwarzen Bauern aufgebaut wurden und umgekehrt. Weiß durfte dann mit den schwarzen Bauern ziehen und Schwarz mit den weißen. Ziel des Spiels war, alle Bauern der eigenen Farbe zu schlagen. Schlagen bedeutete in diesem Fall jedoch »Befreien«. Die Bauern standen für Geiseln oder menschliche Schutzschilde, wie Otto es nannte. Das war natürlich Quatsch, im Krieg wurde niemand befreit. Nicolas sagte lieber »Zurückerobern« dazu, letztlich lief es auf dasselbe hinaus.

Wegen der vertauschten Bauernfarbe fand er diese Spielvariante ziemlich kompliziert. Doch Otto meinte, das sei eine gute Übung. Man musste sich seiner Sache erst sicher sein, bevor man jemanden schlug und am Ende lebensgefährlich verletzte.

Gerade waren sie wieder Einkaufen.

»Hundert Gramm Hinterschinken«, sagte der weiße Springer.

»Eins neunundfünfzig«, sagte Bauer Nummer 3.

»Darf’s auch etwas mehr sein?«

»Nein. Hundert Gramm reichen.« Nicolas hatte heute keine Lust auf Abweichungen. Er war noch durcheinander von gestern. Etwas war geschehen, worüber er unbedingt mit Otto reden musste. Aber das war um einiges schwieriger als Preise zusammenzuzählen.

Das Telefon klingelte. Otto unterbrach das Spiel und ging ran. Er meldete sich. Hörte eine Weile zu, schwieg.

Sein Gesicht veränderte sich. Er bekam Falten auf der Stirn, seine Augen wurden größer, erst vor Überraschung, dann, weil er sich wunderte und wohl nicht glauben konnte, was er da hörte. Er sagte nur ja, ja, plötzlich ein entschiedenes Nein! Anscheinend war es ein wichtiges Gespräch.

»Entschuldige«, sagte Otto schließlich und stand auf. »Bin gleich wieder da.«

Bauer Nummer 3 ging zur Käseabteilung. Der Preis für Camembert war reduziert. Es gab sehr viele Käsesorten. Man konnte sich nicht entscheiden.

Otto stand in der Küche. Er redete eindringlich ins Telefon. Einen ähnlichen Ton schlug er an, wenn sein Kollege wieder mal das Bad überschwemmt hatte. Diesmal klang es besorgter, anders als bei verschüttetem Wasser, das konnte man einfach aufwischen und dann war es wieder gut.

»Ich weiß, wo das ist«, sagte Otto. »Ja, ich komme hin. Sagen wir, in zwei Stunden.« Er machte eine Pause. »Keine Dummheiten!«

Bauer Nummer 3 entschied sich für Camembert. Otto war noch in der Küche und sagte nichts mehr. Die Kühlschranktür wurde geöffnet. Ein Glas wurde auf die Arbeitsfläche gestellt, und eine Flasche. Der Schraubverschluss klackerte bei jeder Umdrehung.

Bestimmt die Flasche mit dem Zeug, das auf der Zunge wie Feuer brannte. Otto trank es oft. Danach roch er widerlich. Wenn er viel davon getrunken hatte, brachte er die Worte durcheinander.

Dann war das Geräusch eines Schlüssels zu hören, an der Wohnungstür. Mama kam nach Hause. Sie hatte wieder Frauen geholfen, Babys zur Welt zu bringen.

Sie begrüßte Nicolas mit einem Handkuss. Das machten sie immer so. Er mochte es nicht, von jemand berührt zu werden. Wozu sollte es gut sein, sich gegenseitig anzufassen? Dabei wurden nur Krankheiten übertragen.

Sie ging in die Küche. Es dauerte nicht lange, und Mama und Otto stritten sich. Wegen Alkohol, dem Zeug aus den Flaschen.

Nicolas hielt sich die Ohren zu. Wenn Otto und Mama sich anschrien, wusste er nicht, was als Nächstes passierte. Das war schwer zu ertragen. Eigentlich mochten sich die beiden, sie schliefen sogar im selben Bett. Manchmal.

Früher hatte Mama mit Papa im selben Bett geschlafen, aber das war lange her. Jetzt mochte Mama Otto lieber als Papa.

Eine Tür ging auf. Thorbens Zimmer am Ende des Ganges. Thorben war sein Bruder. Er konnte Otto nicht leiden. Schade, dass sich die beiden nicht vertrugen.

»Na, wieder getankt?«, fragte Thorben.

»Nur einen Kurzen«, sagte Otto.

»Einen ziemlich Langen, möchte ich wetten.«

»Das geht dich nichts an.«

»Musst du hier in der Wohnung trinken?«, fragte Thorben. »Vor Nico?«

Thorben stellte Otto immer nur Fragen. Anders verständigten sich die zwei nicht. Nico war eine Abkürzung für Nicolas. Besser als Nikki.

»Kannst du nicht auf die Straße runtergehen?« Thorben ließ nicht locker.

»Bin ja schon weg.« Otto steckte die Schnapsflasche in seine Jacke. »Tschüss, Kollege. Halt die Ohren steif, ja?«

Das sagte er immer zum Abschied.

»Ich versuch’s.« Nicolas nahm den weißen Springer vom Brett.

Otto winkte und öffnete die Haustür. Nicolas wurde es kalt an den Füßen. Er zog die Beine an. Dann fiel die Tür ins Schloss.

»Alles okay?«, fragte Thorben.

»Unser Spiel. Wir sind nicht fertig geworden.«

»Machst du allein weiter?«

»Keine Lust.«

»Wie war’s in der Schule? Habt ihr nicht eine Probe geschrieben?«

»In Mathe.« Nicolas lächelte. »Der Satz des Pythagoras und wie man ihn umkehrt. Man muss nur …«

»Bist du fertig geworden?«

»Fast. Das meiste hab ich.«

»Nur Streber kommen auf die volle Punktzahl.« Thorben ging zur Garderobe und nahm seine Jacke vom Haken. »Ich muss noch mal los, Nico. Viel zu tun heute.«

»Rettest du wieder Leute?«

»Wir besprechen die Dienstpläne der nächsten Wochen. Kommst du ohne mich klar?«

»Mama ist ja da.«

»Mach ihr keinen Kummer.«

Thorben kramte nach seinen Schlüsseln. Dann war er draußen.

Nicolas schlich sich zur Küchentür und spähte vorsichtig um die Ecke.

Mama stand am offenen Fenster und rauchte. Es war ihr Lieblingsplatz, der einzige Ort in der Wohnung, an dem sie für kurze Zeit allein sein konnte.

Er baute das Schachspiel ab und ging auf sein Zimmer. Dort stand seine Playmobil-Ritterburg. Die war ganz anders als Schach, primitiver. Da mussten Ritter ihre Burg gegen Wikinger verteidigen. Meistens gewannen die Ritter, und die Wikinger zogen ab. Wenn nicht, eroberten die Wikinger die Burg und sperrten die Ritter ins Verlies. Manchmal kam es vor, dass die Wikinger einen Ritter zur Abschreckung töteten. Dann landete der Ritter im Müll. Kämpfe forderten Opfer.

»FÜR MEIN GEFÜHL ist das Jackett zu lang.«

»Nein. Das Jackett ist nicht zu lang.«

Raupach blickte erneut in den Spiegel. »Es ist zu lang.«

Heide trat einen Schritt zurück. »Das Jackett ist genau richtig.«

»Wirklich?«

»Es streckt dich.«

Er straffte den Rücken. Drehte sich, nach links, nach rechts. Sah an sich herab. »Eindeutig zu lang.«

»Lass es kürzen, wenn’s dir nicht gefällt«, schlug sie vor.

»Dann verliert es seinen Schnitt. Man kann ein Jackett nicht einfach abschneiden wie eine Hose.«

»Aber es sind doch nur ein paar Zentimeter.«

»Nein. Wenn es zu lang ist …«

»Ich finde es elegant.«

»Damit sehe ich aus wie ein Butler«, widersprach er.

»Hast du was gegen Butler?«

»Wenn ich einen Verdächtigen zur Vernehmung einbestelle, sage ich ja auch nicht: Es ist angerichtet.« Raupach deutete auf den Saum und schüttelte den Kopf. »Zu lang.«

»Wie du meinst«, sagte Heide. Sie half ihm aus dem Jackett und gab es einem Verkäufer.

Inzwischen leisteten ihnen drei Angestellte eines Kölner Herrenausstatters Gesellschaft. Wie der stumme Chor in einer griechischen Tragödie verfolgten sie das Schauspiel. Es war Freitag, da hatten die meisten Kunden wenig Zeit – abgesehen von diesen beiden. Die Gründlichkeit, mit der sie die Ware prüften, die Nähte, das Innenfutter, die Verarbeitung, grenzte an Misstrauen.

Heide und Raupach ließen sich von den gequälten Mienen nicht im Geringsten beeindrucken.

Der Anzug passte nicht. Keiner passte. Raupach hatte eine ganze Reihe anprobiert, bei zehn hatte Heide mit dem Zählen aufgehört. Er brauchte unbedingt einen neuen. Mit seinem alten dunkelblauen konnte er nicht mehr unter Menschen gehen. Überall durchgescheuerte Stellen, an den Schultern, den Ellbogen. Die Hose war an manchen Stellen dünn wie Japanpapier und glänzte verdächtig.

»Habe ich überhaupt die Figur für den italienischen Schnitt?«, fragte Raupach plötzlich.

»Damit sehen Sie am besten aus«, versuchte es der Abteilungsleiter.

»Eigentlich bevorzuge ich den englischen Schnitt.«

»Der wird selten verlangt.«

»Wo sind wir hier?«, fragte Heide. »In einem Resteladen? Haben Sie keine größere Auswahl?«

Der Mann wies auf Kleiderständeralleen, die sich ins Unendliche dehnten. »Normalerweise genügt das unseren Kunden.« Er wandte sich an Heide: »Möchten Sie sich in unserer Damenabteilung umsehen? Vielleicht finden Sie etwas Hübsches?«

Das war ein Fehler. Heide trug fast ausschließlich schwarz. Meistens etwas Praktisches. Einschüchterndes. Gelegentlich etwas Umwerfendes. Aber ganz bestimmt nichts Hübsches.

»Haben Sie was an meiner Aufmachung auszusetzen?« Sie sah an ihrem Businesskostüm herab. Unter der linken Achsel hatte es der Schneider weiter gemacht, wegen der Pistole.

»So war das nicht gemeint.«

»Sollte ich irgendwas mit Blümchen tragen? Ist das mehr mein Stil?«, fragte sie.

»Nicht in Ihrem Alter …«

»So? Wie alt schätzen Sie mich denn?«

Der Mann blickte hilfesuchend zu seinen Kollegen. Die interessierten sich gerade intensiv für ihre Schuhe.

Wenn Heide sich mit den Verkäufern anlegte, war das ein deutliches Signal, das Geschäft zu verlassen. Raupach bedankte sich und strebte zum Ausgang. Heide nutzte jede Gelegenheit, um sich über irgendetwas aufzuregen. Als Nächstes würde sie wissen wollen, in welchen Ländern die Anzüge genäht wurden, woher der Stoff stammte, ob Kinderarbeit im Spiel war und dergleichen.

Raupach betrat die Drehtür.

Heide war ihm auf den Fersen. »Wie alt würdest du mich schätzen, Klemens? Wenn du es nicht wüsstest.«

Sie schaffte es nicht mehr, sich hinter ihm in die Drehtür zu zwängen. Das verschaffte ihm ein paar Sekunden Bedenkzeit.

Heide war 48 und sah auch ungefähr so aus, obwohl sie sich alle erdenkliche Mühe gab, jünger zu wirken. Schlank, sehnig, leicht gebräunt – körperlich war sie bestens in Form. Nur im Gesicht hatte ihr Beruf Spuren hinterlassen. Die Augen lagen so tief in den Höhlen wie Tümpel am Grund eines verwunschenen Tals.

Raupach überlegte fieberhaft. Wenn er 45 sagte, wäre das unhöflich. 40 wäre schmeichelhaft, aber die 4 stände immer noch am Anfang. 39 klang wie Schlussverkauf, 38 wie eine Notlüge.

Sein Handy klingelte. »Eine Leiche in der Kleingartenanlage am Nordpark«, gab Photini durch. »Männlich, etwa in deinem Alter.«

»Bin schon unterwegs.« Er bedeutete Heide, dass die Pflicht rief. Perfektes Timing.

»Es ist dein freier Tag«, sagte Photini. »Soll ich mich drum kümmern?«

»Das liegt quasi vor meiner Haustür, Nippes, fast schon Niehl. Fahren wir beide hin.«

»Wie du meinst, Partner.«

PHOTINI VERALBERTE IHN seit kurzem mit Formulierungen aus amerikanischen Polizeiserien. »Partner« war bewusst doppeldeutig. Vor ein paar Wochen hatte sie im richtigen Leben einen Partner gefunden. In der Mordkommission wusste es jeder, aber noch niemand hatte ihren neuen Freund zu Gesicht bekommen, und Photini hüllte sich in Schweigen. Er hieß Patrick, wie ihr bei einem Telefonat herausgerutscht war, mehr war nicht bekannt.

»Nordpark«, sagte Raupach, als sie im Auto saßen. »Zwischen Kretzer und Kevelaerer Straße.«

»Die Schrebergärten?« Heide rammte den ersten Gang ins Getriebe und schoss aus der Parklücke.

»Genau.«

»Tolle Gegend.«

»Sarkasmus steht dir nicht. Ein Häuschen mit ein wenig Grün dabei, was ist dagegen einzuwenden? Nicht jeder kann sich eine Villa leisten.«

»Meine Sache wär’s jedenfalls nicht. Zu viel Natur.«

Raupach wechselte das Thema. »Die richtige Kleidung zu finden ist schwer.«

»War nicht zu übersehen. Ich liebe es, Schwächen an dir zu entdecken.«

»So?«

»Du musst diese Typen rumkommandieren. Sonst drehen sie dir irgendeinen teuren Müll an und behaupten, du würdest darin eine bella figura machen.« Heide nahm ihre Funktion als Raupachs Modeberaterin sehr ernst.

»Warum kaufst du den Anzug nicht ohne mich?«, schlug Raupach vor. »Du kennst meine Größe. Nimm zwei oder drei zur Auswahl mit. Wenn einer halbwegs passt, trägt er sich schon ein.«

»Wir sind kein altes Ehepaar, Klemens.«

»Nicht?«

Sie blickte ihn verwundert an. »Wir waren uns einig, dass es nicht klappt.«

»Stimmt. Vor zwölf Jahren. Oder waren es dreizehn?«

»Höre ich da spätes Bedauern?«

»Wäre das nicht praktisch?« Raupach malte sich hin und wieder ein anderes Leben aus. Allerdings war das wie beim Anzugprobieren: Es gab verwirrend viele Alternativen. »Wir könnten so tun, als hätten wir die schwierigste Zeit schon hinter uns«, begann er. »All die Krisen der ersten Jahre. Das Nachlassen der Verliebtheit. Der Horror der beginnenden Routine. Ein paar Seitensprünge fürs Selbstwertgefühl, zur Beruhigung, dass man nichts verpasst hat, und die daraus resultierenden Dramen. Das hätten wir alles schon abgehakt.«

»Es würde vieles vereinfachen …«, sinnierte sie. Nach zwei gescheiterten Ehen wusste sie, wovon sie sprach. Raupach hatte erst eine hinter sich. Anfänger.

»Wir bräuchten nicht mal zusammenziehen«, fuhr er fort. »Viele Paare in unserem Alter machen das so. Jeder behält seinen kleinen Alltag, keiner muss sich umstellen. Seife, Haarbürste, Zahnpastatube, alles bleibt am Platz. Und soweit ich weiß, brächte uns das steuerliche Vorteile.«

»Charmant.« Heide fletschte die Zähne zu einem Raubtierlächeln. »Gibt’s einen besonderen Grund für diese stürmische Liebeserklärung?«

Es gab einen Grund, doch den wollte er ihr nicht verraten. Nicht jetzt. »Der Anzug«, sagte er schließlich. »Gemeinsam Kleidung kaufen. Ich finde das ziemlich intim.«

»Sollen wir mal zusammen zu Ikea fahren?«

»Heute Morgen gehst du aber ganz schön ran. Ikea …, wenn das kein eindeutiges Angebot ist.«

»Du hast angefangen.«

»Und was sollen wir dort kaufen?«, fragte Raupach. »Wir haben doch alles, was wir brauchen.«

»Wie wär’s mit einem richtigen Bett? Deine alte Schlafcouch bricht bald zusammen. Für eine Beziehung, selbst für eine sporadische, ist das Ding nicht ausgelegt.«

»Dann behalte ich es lieber.« Er lachte, ein bisschen zu laut. Heide war der einzige Mensch, mit dem er ungezwungen und mit der richtigen Dosis Ironie über solche Themen reden konnte. Ausnahmsweise wollte sie nicht das letzte Wort haben.

Auf der Neusser Straße bogen sie nach rechts ab, Blücherstraße, Leipziger Platz. Ein Karree gepflegter, unnahbarer Altbauten blickte auf eine Grünanlage mit Spielplatz herab. Die Blätter der Bäume leuchteten in der Vormittagssonne, rot und gelb, bronzefarben und golden. Der Wind spielte mit den Wipfeln.

Der Herbst war Raupachs Lieblingsjahreszeit. Er mochte es, die Stadt dabei zu ertappen, wenn sie sich von ihren schönen Seiten zeigte. Köln hielt nach zwanzig Jahren immer noch viel vor ihm verborgen, selbst Nippes, sein eigenes Viertel.

Heide wohnte in Sülz, das war im Südwesten. Sie würde nie von dort weggehen, aus ihrem Elternhaus, in das sie vor einigen Jahren gezogen war, nachdem sie es eine Weile vermietet hatte, ein schmales, altersschwaches Handtuch von einem Haus, verloren zwischen unansehnlichen Bürogebäuden, aber top renoviert.

Besser, jeder blieb, wo er war.

Zur Rechten lagen die alten Gummiwerke in der Niehler Straße. Dort wurde längst nichts mehr produziert. Der größte Teil der weitläufigen Anlage würde bald abgerissen werden und Wohn- und Gewerbeflächen weichen. Falls den Investoren nicht die Puste ausging und sie ihr Geld in ein anderes aussichtsloses Projekt steckten.

Sie bogen in die Xantener Straße ein, kurz darauf setzte Heide ihn ab.

»Darf ich mitkommen?«, fragte sie.

»Du kennst doch die derzeitige Aufgabenverteilung. Keine Leichen für Heide.«

»Na ja, ich hab sowieso noch Hausaufgaben zu machen.« Sie wies auf den Rücksitz. Dort lagen toxikologische Fachbücher, ihr Spezialgebiet. Sie musste einen Vortrag auf einem Polizeikongress in Düsseldorf halten.

Raupach fand es gut, dass sie sich auf die Theorie konzentrierte, nach all den Problemen, die sie in letzter Zeit gehabt hatte. »Wir sehen uns, Partner.«

»Fang du nicht auch noch an.« Heide gab Gas, die Tür fiel zu.

Altes Ehepaar. Sie ahnte schon, was mit Raupach los war. Er sorgte sich um Photini. Als ob die nicht auf sich selber aufpassen konnte.

DER WEG, der die Kleingartenanlage in zwei Hälften teilte, war zu schmal für ein größeres Polizeiaufgebot, deshalb hatten die Kollegen ihre Wagen alle vorn an der Straße geparkt. Raupach schloss sich einem Kriminaltechniker an, der zum Team von Effie Bongartz gehörte. Wenn Hattebier, der Chef der Spurensicherung, Effie den Fall überließ, war bestimmt keine Schusswaffe im Spiel. Glück gehabt, dachte der Kommissar, ein vormittägliches Hattebier-Referat über Ballistik war nicht nach seinem Geschmack.

Maschendrahtzaun zu beiden Seiten. Sauber abgetrennte Parzellen, so weit sie einsehbar waren, Bepflanzung in Reih und Glied, viele Nutzbeete, das Gemüse war größtenteils abgeerntet. Die Häuschen stellten Miniaturidyllen dar, teils wie vom Reißbrett, teils älter, individueller, mit Spuren jahrelanger Benutzung. Hin und wieder Fahnenmasten, beflaggt mit Schwarz-Rot-Gold, dem Kölner Stadtwappen oder dem Emblem eines Fußballvereins, Geißbock bevorzugt.

Vereinzelt Leute auf den Grundstücken. Ein paar klebten am Zaun und beäugten Raupach misstrauisch. Andere werkelten stur vor sich hin und hoben nur kurz den Kopf, als der Kommissar vorbeiging.

Die Anlage kam ihm vor wie ein einziges großes Mietshaus, besser: eine Scheibe Mietshaus, in die Horizontale gebracht, aufgeklappt, die Balkone zu einem Stückchen Land entrollt. Der asphaltierte Weg mitten hindurch war der Aufzugsschacht. Raupach musste an Fernsehbilder von Dubai denken, an die Bauprojekte der Ölscheichs, Landgewinnung in Form einer Palme: Der Stamm, das war die Hauptstraße. Die Zufahrtswege sahen aus der Luft wie Palmwedel aus, und die Millionärsvillen waren die einzelnen Blätter. The Palm hieß das. Vielleicht die teuerste Schrebergartensiedlung der Welt.

Reintgen erstattete in strammem Tonfall Bericht. Das Gelände sei bereits vorbildlich abgesperrt. Die alte Dame, die den Toten entdeckt hatte, warte in der Nähe, im Nordpark. Höttges kümmere sich um sie. Zeugen hätten sich noch nicht gemeldet.

»Wann kapieren Sie endlich, dass wir nicht beim Militär sind?« Raupach ließ sich Schutzkleidung geben und schlüpfte ohne Eile hinein.

»Sonst mögen Sie es doch kurz und bündig«, sagte Reintgen eingeschnappt.

»Ja, aber bitte in Zimmerlautstärke.«

Zuerst betrachtete Raupach den Fundort der Leiche von außen. Nummer 88. Eine Gartentür, bewehrt mit rostigem Stacheldraht. Eine mannshohe Thujahecke hinter dem Zaun hielt neugierige Blicke ab. Nachbarschaftliche Kontakte schienen hier unerwünscht zu sein im Gegensatz zu anderen, offener angelegten Parzellen. Wenn einer der Polizisten das zugewachsene Grundstück betrat oder verließ, konnte man kurz ein Häuschen sehen, verdeckt von einem riesigen Kirschbaum.

Schließlich traf Photini Dirou ein. Reintgen wiederholte seine kleine Ansprache in gemäßigterem Tonfall.

Photini nickte und schaute Raupach ungläubig an. »Hast du auf mich gewartet?«

»Gemeinsam handeln. Am Anfang einer Ermittlung ist das wichtig«, belehrte er sie.

Sie gingen hinein, Pflasterung mit Verbundsteinen, zu beiden Seiten Beete, Kartoffeln, Lauch, teilweise umgegraben. Ein leicht gebogener Weg führte bis zum Haus. Viel Holz, weiß gefasste Fenster, taubenblauer Anstrich, im skandinavischen Stil. Stufen, eine kleine Terrasse, daneben Rasen. Lehmiger Boden schimmerte zwischen den Grashalmen durch.

Bäuchlings die Leiche.

Zahlreiche Markierungen wiesen auf Schuhspuren hin. Clausing, der Gerichtsmediziner, vermaß gerade eine Wunde am Schädel und murmelte etwas von »Knochenrillen«. Einer seiner Helfer machte Fotografien. Dann bemerkte er den Leiter der Mordkommission.

»Morgen.«

»Tag, Doc. Was haben wir?«

»Der Schädel ist gespalten, mehrere Hiebe von hinten, mit einem scharfen Gegenstand. Humusspuren in den Wunden. Ich tippe auf einen Spaten.« Clausing wies auf die Beete. Neben einem reifen Kürbis war die Erde aufgeworfen, frisch und feucht, als habe jemand eine Pflanze samt Wurzelstock ausgegraben.

Effie Bongartz kam aus dem Gartenhäuschen und nickte Raupach und Photini zu. »Auf der Terrasse haben wir eine leere Schnapsflasche gefunden. Billiger Wodka.«

Sie gab ihren Kollegen einen Plastikbeutel mit dem Beweismittel. »Und das hier lag direkt neben der Leiche.«

Es war ein Beutel im Beutel. Ein kleines Stück Haschisch. Pyramidenförmig.

Effie hatte ihre Jugend in einem Mädcheninternat im Bergischen Land verbracht. Drogen waren dort so verbreitet gewesen wie Gummibärchen. Sie seufzte. »Volle Dröhnung. Kommt alles zur Analyse ins Labor.«

»Ich würde ihn gern umdrehen«, sagte Clausing.

Raupach prägte sich das Bild ein. Ein Mann mit einer schlammfarbenen Windjacke, ausgewaschenen Jeans, Turnschuhen aus dem Supermarkt. Die Arme ausgebreitet, als wollte er die Erde umarmen. Um den Kopf herum befand sich eine Blutlache, im Boden versickert, eingetrocknet. Die sichtbare Gesichtshälfte war ausdruckslos, die Augen geschlossen.

»Nur zu«, sagte der Kommissar.

Clausing und Effie wälzten den reglosen Körper auf den Rücken. Die Fotokamera des Kriminaltechnikers hielt alles fest. Das Klicken bei jeder Aufnahme, von der Elektronik simuliert, war kaum zu hören.

Der Tod hatte viele Gesichter. Für Raupach war jedes einmalig, er wollte nicht als einer dieser Bullen enden, die Leichen ausschließlich als Objekte betrachteten. Und Photini, die neben ihm stand, sollte das auch nicht passieren.

Die wenigen Toten, die sie bislang gesehen hatte, waren verstümmelt, massakriert, verbrannt worden, entstellte Grimassen, die einem nicht gerade die Träume versüßten. Sie betrachtete den Mann und zugleich Raupach, wie er die Unterlippe hochzog und die Leiche mit einem Anflug von Bitternis musterte.

Mit der richtigen Einstellung hinsehen, dachte sie, fachmännisch, aber nicht ohne Gefühle. Keine lockeren Bemerkungen, um auf Distanz zu gehen und die bösen Gedanken zu verjagen.

Dieser Tote schien zu schlafen. Als sei er aus dem Leben gestolpert. Ein falscher Schritt. Irgendetwas war immer im Weg. Ein Stein, unerwartet, eine Kante, zu hoch. Am Mundwinkel haftete ein Grashalm.

Es stimmte: Der Mann war in Raupachs Alter. Seit mehreren Tagen unrasiert, billige Freizeitkleidung, ein kleiner Bierbauch. Auf den ersten Blick wirkte er nicht wie jemand, der sich regelmäßig Joints drehte.

Effie filzte seine Taschen. Sie war schon seit einer halben Stunde vor Ort. Mit spitzen Fingern und Schutzhandschuhen tastete sie die Leiche ab, geschulte Bewegungen.

»Wir haben die Tatwaffe noch nicht gefunden. Wurde wohl entfernt, genauso wie der Geldbeutel und was er sonst bei sich trug. Seine Taschen sind offenbar durchsucht worden.«

»Ist da wirklich gar nichts?«, fragte Raupach.

»Nicht mal Tabak oder Blättchen zum Selberdrehen. Kein Feuerzeug, kein Hausschlüssel.« Effie schaute hoch. »Identität ungeklärt. Sie müssen einen Gebissabdruck machen, Clausing. Volles Programm.«

»Zuerst sehe ich mir die Totenflecken an.« Der Gerichtsmediziner war ein Faktenmensch, der sich während der Arbeit zu keiner überflüssigen Bemerkung hinreißen ließ. »Ich würde sagen, Exitus um Mitternacht, vielleicht ein bisschen früher.«

»Kann es sein, dass die Leiche hier nur abgelegt wurde?«

Effie und Clausing verneinten. Bislang spreche alles dafür, dass dies hier der Tatort sei.

Raupach wandte sich ab. »Was ist mit dem Häuschen?«

»War abgesperrt.« Effie richtete sich auf. »Der Schlüssel lag unter dem Querbalken über dem Eingang. Wir haben den Holzboden in der Hütte genau untersucht, die Staubschicht. Unwahrscheinlich, dass der Tote oder irgendjemand sonst in letzter Zeit da drin gewesen ist.«

»Das heißt, er hielt sich nur im Freien auf.« Photini ließ ihren Blick über die Hecke gleiten, die das Grundstück nach allen Seiten begrenzte. »Vielleicht war er fremd hier.«

»Es waren nur fünf Grad in der vergangenen Nacht«, meinte Effie.

»Da ist in einer Kleingartenanlage wenig los.« Raupach betrat die gemauerte Terrasse. Überall Kletterpflanzen, Clematis, Knöterich, blickdicht. »Schwer, Zeugen zu finden.«

»Kommt drauf an.« Photini folgte ihm. »Es gibt solche und solche Schrebergärten. Manche sind wie kleine Siedlungen. In denen ist das ganze Jahr über was los. Andere sind so ruhig wie ein Elefantenfriedhof.«

»Wie diese hier?«

»Die Anlage ist klein, winzig im Vergleich zu der Kleingartenkolonie in Bilderstöckchen, an der jogge ich jeden Morgen vorbei. Außerdem liegt sie mitten in einem Wohngebiet.« Sie schaute zu den umstehenden Häuserzeilen hoch, auf die Rückseiten vier- bis fünfgeschossiger Gebäude. Ein paar Schaulustige bevölkerten die Balkone. »Von da oben hat man eine gute Sicht.«

»In der Nacht?« Raupach würde Befragungsteams losschicken. Aber er bezweifelte, ob etwas dabei herauskam. »Ist das so ein Fall, bei dem jeder den Kopf einzieht und die Klappe hält?« Er stellte die Frage so laut, dass es hellhörige Nachbarn mitkriegen mussten. »Weil ein brutaler Mord den Landfrieden stört?«

Kein Geräusch. Der Landfrieden hielt.

Im Inneren des Gartenhäuschens standen grobe Möbel aus dunkelbraunem Holz, selbstgezimmert. Die Feuerstelle in der Mitte des Raumes besaß eine gusseiserne Vorrichtung für einen Kessel oder einen Spieß. An den Wänden Teppiche mit großflächigen geometrischen Mustern, ungewöhnlich für Köln-Niehl. Raupach dachte an seinen Sommerurlaub in den schottischen Highlands. Die Lodges für Wanderer und Hillwalker waren ähnlich eingerichtet.

Sie gingen wieder nach draußen. Neben der Terrasse befand sich eine Überdachung für Gartenwerkzeug. Rechen, Harken, Astschneider. Kein Spaten dabei.

Photini warf einen Blick auf ihr Handy. Niesken hatte ihr aus dem Präsidium eine SMS geschickt. »Das Häuschen gehört Leuten namens Plavotic.«

»Klingt nach Jugoslawen«, sagte Raupach.

»Das kann ja heiter werden.«

»Feindschaften unter den Balkanvölkern?« Wenn er auf ihre griechische Herkunft anspielte, ging sie immer sofort an die Decke.

»Auf dem Balkan trägt man bessere Anzüge als das da.« Sie zupfte an dem Ärmel seines Jacketts. »Ich kenne einen Schneider in Athen. Bei hoffnungslosen Fällen macht er Hausbesuche.«

DER NORDPARK grenzte direkt an die Kleingärten. Die Grünanlage schien aus reinem Zufall zwischen Nippes, Niehl und Riehl erhalten geblieben zu sein, als habe keines der Stadtviertel gesteigerten Wert auf die Baufläche gelegt. Wege, Rasen, Parkbänke, mehr war da nicht.

Der Pavillon, unter dem Höttges mit der Zeugin wartete, glich einem vergammelten Pilz. Der Stiel war mit Graffiti beschmiert, auf dem Schirm wucherte eine dicke grünbraune Moosschicht. In der Mitte des Daches ragte ein Blitzableiter empor. Irgendein Witzbold hatte einen alten Fahrradschlauch hochgeschleudert, wie bei einer Kirmesbude, an der man Ringe über allerlei Billigartikel wirft, die die Bezeichnung »Preise« nicht wirklich verdient haben.

Frau Leins schloss den kräftigen jungen Kommissarsanwärter gleich ins Herz. Er erinnerte sie an ihren Enkel, der auch an keiner Currywurst vorbeigehen konnte, mit dem Unterschied, dass Höttges ein besserer Zuhörer war.

Inzwischen kannte er ihre Lebensgeschichte bis ins kleinste Detail. Das getrübte Verhältnis zu ihrem verstorbenen Ehemann. Dass er seine Dahlien über alles liebte, wunderschöne Blumen in prachtvollen, seltenen Farben. Und dass er Gift ausgelegt hatte, um Hunde und Katzen von seinem Garten fernzuhalten. Wie ihr Ruheständlerleben darüber zerbrochen war.

Ein Mord hatte manchmal diesen Effekt: die Leute enthüllten Dinge, über die sie nicht einmal mit ihren nächsten Angehörigen sprachen. Der Tod brachte immer neue Geschichten über den Tod hervor. Es war, als stünde der Alltag unvermittelt still. Ein Rachen öffnet sich in der Zeit, ein schmatzender Schlund, und Erlebnisse und Erfahrungen steigen empor aus dem Moor der Vergangenheiten, das man allein sonst nicht zu betreten wagt.

Raupach und Photini näherten sich, Höttges stellte seine Kollegen vor. Sie setzten sich alle auf die ringförmige Bank, die den Stiel des Pilzes umgab.

»Ich hab nur einen Fuß gesehen«, sagte Frau Leins. Sie unterbrach den Strom ihrer Erinnerungen und sprang mühelos in die Gegenwart. Ihr Gehirn funktionierte wie ein DVD-Player, trotz einer Betriebszeit von 72 Jahren. »Um genau zu sein, war es ein Schuh. In diesem Dickicht konnte ich kaum etwas erkennen.«

Raupach stellte die W-Fragen, wo, wann, manchmal kam er sich vor wie ein abgehalfterter Journalist. Frau Leins hatte ihre Entdeckung um 8 Uhr 45 gemacht, als sie nach ihrem morgendlichen Einkauf einen Spaziergang unternahm. Alles sei wie immer gewesen.

»Ich wohne in der Kalkarer Straße, gewissermaßen um die Ecke. Früher hat uns Nummer 86 gehört«, sagte sie, »die Parzelle zwei Grundstücke weiter. Ich achte immer darauf, was sich in der Anlage verändert. Heute interessiert das die Leute ja nicht mehr, die bleiben lieber für sich.«

»Haben Sie den Garten betreten?«, fragte Raupach.

»Wo denken Sie hin, da hab ich mich doch nicht reingetraut. Zuerst hab ich gerufen, hallo, ist alles in Ordnung? und so etwas. Aber da hat sich nichts gerührt.« Frau Leins durchstöberte ihre Tasche, ein unförmiges Ding aus Kunstleder, und förderte ein Handy zutage. »Das hab ich mir angeschafft, damit meine Kinder mich überall erreichen können, auch in Notfällen. Die rufen aber nur vor ihren Geburtstagen an und geben Wunschlisten durch.«

»Jetzt war ja ein Notfall«, meinte Photini. »Das Handy hat sich also schon ausgezahlt.«

Frau Leins lächelte schwach. »Jedenfalls hab ich sofort die Polizei verständigt, wie es sich gehört.«

»Gibt es hier öfter Schwierigkeiten?«, fragte Raupach. »Schlägereien oder dergleichen?«

»Eigentlich geht es eher gesittet zu.«

»Probleme mit Trinkern oder Drogenabhängigen?«

»Bei Dunkelheit gehe ich nicht mehr in den Park. Ich will gar nicht so genau wissen, was da passiert.«

»Und in den Kleingärten?«, fragte Photini.

»Da findet schon mal eine Feier statt, zu diesem Zweck haben manche Leute ja ihre Grundstücke. Aber Drogen? Kann ich mir, ehrlich gesagt, nicht vorstellen.«

»Kennen Sie die Leute aus Nummer 88?«

»Die sind nett. Plavotic, ein Ehepaar. Er stammt aus Kroatien. Arbeitet als Elektriker. Leider kümmern sie sich selten um die Pflanzen. Ich hab sie schon seit Wochen nicht mehr gesehen.«

»Macht es Ihnen etwas aus, die Leiche in Augenschein zu nehmen?«, fragte Raupach.

Frau Leins zögerte. »Muss das sein?«

»Wir suchen nach Hinweisen.«

»Das ist mir schon klar.«

»Helfen Sie uns dabei?«

»Wenn Sie meinen.« Sie erhob sich und begleitete die Ermittler zum Tatort. Es fiel ihr nicht leicht. Einen Todesfall zu melden war eines. Doch eine Leiche zu begutachten, gehörte ihrer Ansicht nach zu den Aufgaben der Polizei.

Frau Leins schlug eine Hand vor den Mund, als sie den Toten sah. Diese graue Haut. Wie Asche. Dann schaute sie genauer hin, überlegte. »Ich weiß nicht, wer das ist.«

»Nie gesehen?«, fragte Raupach.

»Schwer zu sagen. Ich meine, ich kenne viele Menschen aus dem Viertel und von der Anlage. Aber dieser Mann … Ich bin mir nicht sicher.«

Das Gesicht. So gelassen. Die Züge waren entspannt. Ein wenig traurig, wie bei jemandem, der sich zu viele Gedanken macht über Dinge, die nicht zu ändern sind.

»Es ist nur ein Gefühl«, fuhr sie fort. »Sie sehen jemanden beim Bäcker, er macht eine Bemerkung über das Wetter. Eine Woche später läuft Ihnen der gleiche Mann wieder über den Weg, an der Bushaltestelle. Sie werden stutzig, aber nur kurz. Dann vergessen Sie ihn wieder.«

»Verstehe.«

»Er kommt mir auf diese Art bekannt vor. Das ist auch schon alles.«

Raupach nickte. »Fällt Ihnen etwas an dem Grundstück auf? Irgendeine Veränderung?«

»Nein.«

»Gut. Wenn Sie sich an mehr erinnern, wenden Sie sich an meinen jungen Kollegen. Trotzdem danke.«

Höttges begleitete Frau Leins bis ans Ende der Absperrungen.

»Die Frau ist eine gute Beobachterin«, meinte Photini.

»Ja. Schade, dass nicht mehr dabei herauskam.« Raupach ging in die Hocke und wies auf die Markierungen. »Machen wir weiter mit dem, was wir haben.«

»Es gibt hier Schuhspuren von mindestens drei verschiedenen Personen«, sagte Effie. Sie ließ die Abdrücke mit Gelatine-Folie sichern. »Vielleicht haben zwei Junkies den Toten ausgeraubt und umgebracht, weil er sich gewehrt hat.«

»Wegen dem bisschen Shit?«, zweifelte Photini. »Reichlich blöde Junkies.«

»Auf die Menge kommt es gar nicht an. Sondern auf die Situation und wie sich Leute unter Druck verhalten.« Effie betrachtete die noch unvollständige Skizze mit Sohlenabdrücken auf ihrem Laptop. »Da kann viel schiefgelaufen sein.«

»Meinst du, er hat einfach Pech gehabt?«

»Ist das nicht meistens so?«

Als Nächstes erschien der Vorsitzende des Kleingartenvereins »Heckenrose e.V.«. Er war erst seit einem Jahr im Amt und zeigte sich entsetzt über den Vorfall, konnte aber kaum etwas zu der Ermittlung beitragen. Die Plavotics kannte er nur flüchtig, immerhin war ihm ihre Adresse bekannt. Sie nahmen nicht an den Mitgliederversammlungen teil und hatten kaum Kontakt zu den anderen Kleingärtnern. Das sei aber nicht ungewöhnlich, es gebe immer Leute, die lieber für sich blieben. Bei der »Heckenrose« gehe es nicht so pingelig zu wie in manch anderen Anlagen, die er kenne. Im Sommer habe er die beiden einmal gesehen, Anfang Juli, sie veranstalteten einen Grillabend mit Freunden. Damals sagten sie, dass sie häufiger kommen wollten, sonst lohne sich die Pacht der Parzelle ja gar nicht. Aber das hatten sie dann wohl nicht wahrgemacht.

Raupach entließ den Vereinsvorsitzenden und wies Photini an, Befragungsteams zu bilden, die sämtliche Nachbarn vernehmen sollten, auch die Anwohner in den angrenzenden Häusern.

»Diese Gegend ist tagsüber ziemlich belebt. Glaubt mir, irgendeiner hat was gesehen. Wir müssen nur lang genug suchen.«

»Wie immer«, stöhnte Photini.

»Geduld.«

»Das kannst du dem Präsidenten sagen.«

»Ich glaube kaum, dass Lürrip bei diesem Fall schnelle Ergebnisse sehen will.«

Sie machte sich daran, die Kollegen zum üblichen Klingelputzen einzuteilen.

Als Höttges zurückkam, trug Raupach ihm auf, sich einen Sechserpack Bier zu beschaffen.

»Warum denn das?«, wunderte er sich.

»Spezialauftrag. Setzen Sie sich auf eine Bank im Nordpark. Lassen Sie sich häuslich nieder.«

»Undercover?«

»Sie brauchen nicht zu verheimlichen, dass Sie Polizist sind. Halten Sie einfach Ausschau nach Zeugen. Oder nach Leuten, die den Toten gekannt haben. Werfen Sie Ihre Angel aus.«

»Soll ich mit den Leuten zwanglos ins Gespräch kommen?«

»Wenn nötig trinken Sie ein Bier mit. Um eine Vertrauensbasis herzustellen.«

»Im Dienst?«

»Seien Sie nicht so zimperlich.«

»IST DAS EINE GUTE IDEE?« Photini startete den Motor und schoss aus der Lücke zwischen den Einsatzfahrzeugen. »Höttges unter diesen Pilz zu setzen, mit einem Sixpack?«

»Von dir chauffiert zu werden, ist gefährlicher«, gab Raupach zurück.

»Na, ich weiß nicht.« Sie fuhren ein paar Blocks weiter, in die Pohlmannstraße, zur Wohnung der Familie Plavotic.

»Ich verlange ja nicht, dass er den Mörder ganz alleine stellt und im Handumdrehen einbuchtet.«

Photini schüttelte den Kopf. »Er will abnehmen. Mit all dem Bier in seiner Nähe schafft er das nie.«

Der Kommissar begriff. »Ach so.«

»Du stellst ihn vor ein Dilemma. Der Ärmste wird noch depressiv.«

»Aber er ist ideal für diese Aufgabe.« Raupach betrachtete die Häuserzeilen an der Amsterdamer Straße, einer großen Verkehrsader im Kölner Norden. Laut, verschmutzt, kein schöner Ort zum Wohnen. »Höttges zieht Spuren an, ist dir das noch nicht aufgefallen?«

»Er stolpert darüber. Das ist was anderes.«

»Kommt auf die Sichtweise an. Ich würde sagen, es ist Zeit für ein Experiment.«

»Dass er seine Angel auswirft?« Photini lachte. »Wie soll er das denn tun, wenn er auf seiner Bank sitzen bleibt? Deine Metaphern waren schon mal besser.«

»Mir fiel nichts Passenderes ein. Ich hab an das Warten beim Angeln gedacht. Bis der Fisch anbeißt.«

»Das tut der Fisch doch nicht automatisch.«

»Normalerweise nicht«, räumte Raupach ein.

»Das Bier soll als Köder dienen? Bisschen dürftig.«

»Also gut, vergiss das mit dem Angeln. Höttges funktioniert anders. Elementar.«

»Ich höre.«

»Gravitation ist die stärkste Kraft im Universum«, begann Raupach. »Das kann dir jeder Physiker bestätigen.«

»Nur weil Höttges ein bisschen zu viel Speck auf den Rippen hat – «

»Schwerkraft wirkt immer, unter allen Bedingungen, egal ob ein Körper sich bewegt oder stillsteht. Die Ursache für Schwerkraft ist die Masse. Die ist einfach da, hat sich so angesammelt.«

»Haha.« Photini mochte es nicht, wenn man sich über Kollegen lustig machte.

»Nimm den Jupiter. Riesiger Planet, viel Masse. Jede Menge Monde, hohe Anziehungskraft. Fängt unzählige herumschwirrende Gesteinsbrocken ein. Höttges ist Jupiter. Er hat eine Gabe dafür, Dinge in seine Umlaufbahn zu ziehen.«

»Wahllos.«

»Man muss ihn nur in Position bringen.«

»Das geht bei Höttges einfacher als beim Jupiter.«

»Eben. Die Parkbank.«

»Kann aber ganz schön lange dauern, bis er da etwas anzieht«, wandte Photini ein.

»Warten wir’s ab.«

Sie erreichten die Pohlmannstraße. Wohnblöcke, Reihenhäuser, ein wenig Grün. Das ganze Viertel war recht ansehnlich saniert. Bei der angegebenen Adresse hielten sie an. Ein mehrstöckiger Flachbau, neuer Anstrich, ziegelrot. Koniferen im windgeschützten Eingangsbereich, davor ein parkender Lieferwagen. Aufschrift: Plavotic – der Elektriker Ihres Vertrauens. Kann alles, macht alles. Etwas abgesetzt: Meisterbetrieb.

»Der Mann hat ein gesundes Selbstvertrauen.« Photini klingelte.

»Wird seinen Grund haben.«

Der Lieferwagen war relativ neu. Durch die Heckscheiben konnte man Werkzeug sehen, an Halterungen ordentlich aufgereiht.

Der Türsummer. Die Wohnung lag im zweiten Stock. Plavotics Betrieb befand sich in Ehrenfeld, ein paar Kilometer entfernt.

Es roch nach Kohl. Ivanka Plavotic hatte ihrem Mann Tihomir einen deftigen Eintopf zubereitet, mit Würsten, Speck und Suppenfleisch. Nach dem ersten Schreck nach der Begrüßung – »Kriminalpolizei« – bat sie die Polizisten herein und fragte, ob sie mitessen wollten.

»Nein danke«, sagte Raupach, obwohl er Hunger hatte. Das mochte er gar nicht: mit knurrendem Magen ermitteln. Photini rümpfte wegen des Kohls die Nase.

»Ich stelle die Sachen warm.« Die Frau machte Anstalten, den Topf in die Küche zu tragen.

Raupach wehrte ab. »Lassen Sie sich von uns nicht stören.«

»Wirklich? Na dann setzen Sie sich wenigstens.«

Die beiden Ermittler nahmen am Esstisch Platz.

Ivanka Plavotic schöpfte eine winzige Portion auf ihren Teller. Sie war Ende vierzig und ungewöhnlich attraktiv. Lange, dunkle Haare, modische Frisur, auffallend schlanke Figur. Unter einer Küchenschürze, die sie jetzt ablegte, trug sie ein schwarzes Schlauchkleid. »Sie haben Glück. Mein Mann kommt mittags selten nach Hause. Die Firma hält ihn auf Trab.«

»Für deinen Eintopf lass ich alles stehen und liegen«, sagte Tihomir Plavotic mit vollem Mund. »Das weißt du doch, mein Schatz.«

Ein verliebter Blick, leichter Akzent. Wandteppiche zeigten Adriaszenen.

»Er kennt nur seinen Betrieb.« Ivanka spielte die beleidigte Ehefrau. »Manchmal weiß er nicht mehr, mit wem er verheiratet ist.«

»Wie war der Name noch mal?« Tihomir tat so, als dächte er nach. »Ilona? Isabella?«

Sie drohte mit dem Zeigefinger. »Irgendwann treibst du es zu weit.«

Er lachte. Ein glückliches Ehepaar, wie es schien.

Raupach eröffnete den beiden den Ernst der Lage. Eine Leiche auf ihrem Grundstück am Nordpark. Hässliche Sache.

Die Stimmung kippte.

»Wie kann das sein?« Tihomir Plavotic wischte sich mit seiner Papierserviette den Mund ab und stand auf. »Ich hab noch nie was mit der Polizei zu tun gehabt.«

»Nur die Ruhe, Sie stehen momentan nicht unter Verdacht«, sagte Raupach. »In Ihrer Parzelle ist jemand ermordet worden. Ich muss Sie fragen, wo Sie gestern Nacht waren.«

»Hier. Zu Hause«, erwiderte Tihomir. »Wir hatten Gäste zum Fondue.«

»Fleisch, Fisch, Käse?«

»Was?«

»Das Fondue. Was gab es denn?«

»Rindfleisch, in dünnen Streifen«, sagte Ivanka. »Hühnchenspieße. Und Gemüse.«

Photini machte sich Notizen. »Wie lange dauerte der Abend?«

»Bis zwölf, halb eins.« Tihomir zuckte mit den Schultern. »Ich hab nicht auf die Uhr gesehen.«

»Wir waren um kurz nach eins im Bett«, ergänzte Ivanka.

»Geben Sie uns bitte die Namen Ihrer Gäste«, sagte Raupach.

»Wir sind schon lange nicht mehr in dem Gartenhäuschen gewesen. War es gestern Abend nicht zu kalt dafür?« Ivanka Plavotic wirkte zunehmend besorgt. Sie holte Zettel und Stift und räumte den Tisch ab.

Tihomir spießte noch einen großen Bissen vom Teller. Dann begann er, die Personalien seiner Freunde aufzuschreiben, zwei Paare im selben Alter, aus Niehl, wie er erklärte. »Was genau ist denn passiert?«

»Das versuchen wir zu rekonstruieren. Kennen Sie diesen Mann?« Photini zeigte ein Polaroidfoto des Toten.

Die beiden betrachteten das Bild, eingehend, als wollten sie jeden Zweifel ausschließen. Dann schüttelten sie synchron den Kopf. »Nein. Wer ist das?«

»Das Mordopfer. Gibt es einen Spaten auf Ihrem Gartengrundstück?«

»Ja, gleich neben der Terrasse«, erwiderte Tihomir Plavotic. »Damit hab ich im März noch das Kürbisbeet umgegraben. Die Dinger wachsen ganz von alleine. Tomaten haben wir dieses Jahr gar nicht angepflanzt. Für mehr Gartenarbeit fehlt mir die Zeit.«

Auf Photinis Bitte beschrieb er das Gerät. Blatt aus Edelstahl, Holzstiel, T-Griff, selten benutzt.

»Haben Sie Ihre Bekannten auch mal in das Häuschen eingeladen?«, fragte Raupach.

»Früher, als wir noch öfter im Garten waren, haben wir regelmäßig gegrillt. Da waren wir zu zehnt oder noch mehr. Ist leider eingeschlafen. Bestimmt kennen Sie das: Man wird bequem.« Tihomir machte eine entschuldigende Geste zu seiner Frau. »Ohne Ivanka hätten wir gar keine Gäste mehr.«

»Das ist nicht wahr. Du bist nur überarbeitet.« Sie knetete seine Hand. Die mit dem Ehering.

»Muss schlimm sein, mit einem müden alten Kerl verheiratet zu sein.«

Ivanka winkte ab. Musterte Tihomir dabei kurz, als sei an seinem Gerede mehr dran, als sie vor den Polizisten zugeben wollte.

Raupach stand auf und ging zu den Wandteppichen. Dubrovnik, der Hafen. Schöne Stadt, scheußliche Darstellung, aus Massenproduktion. »Hat sonst jemand Zugang zu Ihrem Häuschen am Nordpark?«

»Nein.« Ivanka warf ihrem Mann einen nervösen Blick zu.

»Sind Sie sicher?«, fragte die Photini.

»Natürlich.«

»Es kommt vor, dass man jemandem einen Ersatzschlüssel gibt, den Nachbarn vielleicht, und es dann wieder vergisst.«

»Ja, mag sein.«

»Und bei Ihnen ist das nicht so?«

Tihomir hustete und knüllte seine Serviette zusammen.

Raupach wies auf das Foto, das immer noch auf dem Tisch lag. »Dieser Mann könnte einfach in Ihr Grundstück eingedrungen sein. Zufällig. Weil offensichtlich niemand da war und Nummer 88 ruhig wirkte.« Er verschränkte die Arme und sah zu Boden, wusste, dass Photini die Plavotics nicht aus den Augen ließ. »Oder er betrat ganz bewusst Ihren Garten. Weil er ihn kannte. Ohne Ihr Wissen, versteht sich.« Der Kommissar nickte, als wöge er die Möglichkeiten ab. Er schaute hoch. »Wenn Sie uns mehr darüber sagen können, jetzt ist Gelegenheit dazu.«

Photini fixierte die Frau. Lächelte verständnisvoll.

»Milan sieht dort hin und wieder nach dem Rechten«, rang sich Ivanka ab. »Mein Neffe.«

»Sie wollen ihn nicht in Schwierigkeiten bringen«, sagte Photini.

»Er fährt Taxi. Er hat genug um die Ohren.«

»Milan ist ein guter Junge«, brach es aus Tihomir hervor. »Aber in seinem Job gerät er manchmal an merkwürdige Leute.«

»Da geht es uns ähnlich«, sagte Raupach.

ER FÜHLTE SICH wie die Raupe aus Alice im Wunderland. Die saß allerdings auf einem Pilz und zog sich eine Wasserpfeife nach der anderen rein. Höttges saß unter dem Pilz, zu seinen Füßen zwei Batterien Kölsch. Die Marke war dafür berüchtigt, Kopfschmerzen zu bereiten. Deswegen hatte er sie gekauft, bloß nicht in Versuchung kommen. Keine einzige Flasche würde er anrühren. Der helle Wahnsinn, wie viele Kalorien das Zeug hatte.

Er versuchte, es sich auf der Bank gemütlich zu machen. Wie jemand, der seinen Rausch ausschlief.

Aber er war nicht müde. Er sollte ja aufpassen, wachsam sein. Liegend war das schwer zu bewerkstelligen. Auf einer Bank, die zu schmal für ihn war.

Er richtete sich wieder auf. Nein, so ging das nicht. Außerdem: Wer sprach schon einen komatösen Säufer an?

Dann tat er eben so, als hätte er Urlaub. Freier Tag. Allein im Park. Die Natur genießen. Vogelstimmen. Der Himmel über Köln sah aus wie gebrauchtes Spülwasser.

Doch davon war nur ein dünner Streifen zu sehen, weil Höttges ja unter dem Pilz saß. Also stand er auf und vertrat sich die Beine. Umrundete das lächerliche Ding.

Im Kreis gehen. Das war meditativ.

Wenn man dafür eine Ader hatte. Normalerweise meditierte Höttges in seiner Badewanne. Ohne sich zu bewegen.

Zwei junge Mütter schoben Kinderwagen vorbei, aufgedonnert wie zu einer Junggesellinnen-Party. Sie wichen routiniert aus. Höttges konnte sich vorstellen, was sie dachten. Ein Dicker mit Nickelbrille in Feierlaune am Vormittag? So einer war als Ernährer ungeeignet.

Das stimmte vermutlich.

Was hatte der Chef gesagt? Er sollte seine Angel auswerfen.

Höttges setzte sich wieder. Na ja, ein Bier musste er wohl aufmachen. Als Kommunikationssignal.

Er war durstig. Das Bier schmeckte besser als erwartet. Kaum hatte er angesetzt, war die Flasche schon leer.

Er öffnete eine weitere. Versuchte die Graffiti am Stiel des Pilzes zu entziffern.

Geograph wäre er gern geworden. Oder Archäologe. So ein Hut mit speckiger Krempe und Dreitagebart, das macht bestimmt Eindruck. Nebenbei die Rätsel untergegangener Welten lösen. Kürzlich hatte er sich einen neuen Schulatlas gekauft, in dem würde er jetzt gern schmökern. Unglaublich, was sich in zehn Jahren alles verändert, all die neuen Staaten. Und was gleich bleibt. Australien. Dort gab es mehrere große Wüsten, jede Menge unerforschtes Land, immer noch. Genug Platz für Verschüttetes, Verlassenes, Zugewehtes.

Bei seinem miesen Gehalt würde er nie da hinkommen. Es reichte höchstens für Kängurufleisch aus dem Tiefkühlregal.

Er bekam Gesellschaft. Endlich.

Ein Rentner mit Prinz-Heinrich-Mütze und Spazierstock. Der Mann trank ein Bier und kam ins Erzählen. Dabei brachte er seine Biographie dauernd durcheinander, Autos, Frauen, Arbeitsplätze, Kinder. Die Kleingärten konnte er nicht leiden, weil er trotz mehrmaliger Anträge keine Parzelle erhalten hatte. Er ging immer um acht Uhr abends ins Bett, kam als Zeuge also kaum in Frage und wusste auch nichts über die Vorfälle der vergangenen Nacht. Als er wieder von vorn anfing, diesmal bei seinem ersten VW Käfer, wies Höttges ihn darauf hin. Er stand beleidigt auf und setzte seine Runde durch den Park fort.

Die frische Luft und das Bier machten Höttges hungrig. Eine Gruppe Schüler tauchte auf, vermutlich schwänzten die Bengel. Sie ließen sich auf der Wiese nieder und aßen Pommes.

Wie dumm, an Proviant hatte er nicht gedacht. Jetzt musste er die Stellung halten und konnte nicht weg. Spezialauftrag? Mehr so ein Scheißauftrag.

»Ich bin der Tünn!«

Der Mann streckte neben ihm die Beine aus und bediente sich ungeniert von dem Biervorrat. Er roch nach einer Brauerei, in der lange nicht mehr aufgewischt worden war.

»Gerd.«

»Tütentünn, zur besseren Unterscheidung.« Er prostete Höttges zu. »Kleine Privatfeier?«

»Kann man so sagen.«

»Gar nicht gut, allein hier zu sitzen.«

»Wenn’s mir langweilig wird, denke ich an die Wüsten in Australien. Ich stell mir vor, dass da genau so ein Pilz steht wie der hier, an einer Eisenbahnhaltestelle mitten im Nichts. Da kommen sicher weniger Leute vorbei als im Nordpark. Da ist man froh über jede Menschenseele, die einem begegnet.«

»Tolles Land, Australien.« Tünn trank. »Mal dort gewesen?«

»Zu weit weg. Zu teuer.«

»Tolle Riffe, Korallen und so. Tolles Tauchrevier.«

»Du tauchst?«

Tünn lachte kehlig. »Ach was, ich hab nicht mal einen Reisepass. Hab nie einen gebraucht.«

»Willst du nichts sehen von der Welt?«, fragte Höttges. »Fremde Völker? Naturwunder?«

»Was ich kennen muss, kenn ich. Gibt nichts, worüber ich mich noch wundern könnte.«

Der Kommissarsanwärter schätzte den Mann auf Ende dreißig. Notorischer Trinker, der dicken, rot-violett geäderten Nase nach zu urteilen. Treckingschuhe vom Discounter, Trainingsanzug, unter der Jacke ein dickes kariertes Hemd, lange, nach hinten gekämmte Haare, Ohrring. Verquollene Augen, die jedoch alles an seinem Gegenüber genau registrierten.

»Wohnst du hier in der Gegend?«, fragte Höttges. Sich herantasten. Nur nicht mit der Tür ins Haus fallen.

»So ungefähr.« Eine unbestimmte Rundumgeste. »Hab dich hier noch nie gesehen.«

»Vorgezogenes Wochenende. Ich werd heut nicht gebraucht in der Arbeit.«

»Klingt nach trüben Aussichten.«

»Es schwankt«, sagte Höttges. »Mach ich eben einen Ausflug, hab ich mir gedacht. Besser, als zu Hause rumzuhängen.«

»Wo bist du denn her?«, wollte Tünn wissen.

»Kalk.«

»Das war ja ’ne Weltreise.«

»Köln hat viele Ecken, die ich noch nicht kenne.«

»Nach Australien fährt die KVB aber nicht.«

Der Witz war ein guter Anlass, noch ein Bier in Angriff zu nehmen. Tünn fragte diesmal, ob er eins haben dürfe. Der erste Sixpack war aufgebraucht.

»Australien.« Tünn blickte in die Ferne. »Für unsereinen könnte das auf dem Mond liegen, würde keinen Unterschied machen.«

»Eine Bekannte von mir hatte eine Freundin, die mal da unten war.« Höttges dachte an ein Gespräch mit Photini.

»Ich kenn auch jemanden, der jemanden kennt, der eine Cousine in Sydney hat. Bringt mich nur nicht weiter.«

»Stimmt.«

»Es gibt Leute, die fliegen wöchentlich nach Australien. Einmal um die halbe Welt, wegen irgendwelcher Geschäfte.« Tünn schlug die Beine übereinander, als säßen sie in teuren Ledersesseln, unter Sonnensegeln, über einer leuchtenden Bucht. »Was haben die bloß davon?«

»Geld?«

»Das hätt ich auch gern. Aber ich krieg schon die Krise, wenn ich einmal im Jahr mit der Bahn nach Düren fahr. Da wohnt meine Schwester.«

»Was ist so schlimm daran?«

»Es fängt schon mit dem Ticket an. Ich weiß nie, ob ich das richtige löse am Automaten, das macht mich ganz hibbelig. Und dann die Leute im Zug. Die schauen so seltsam, sogar wenn ich mich ein bisschen feingemacht hab mit meinen guten Klamotten.«

»Ist doch nicht anders als hier.« Höttges wies auf die Bank und den Park. Die Schüler mit den Pommes hatten begonnen, Fußball zu spielen.

»Du verstehst das nicht. Hier kann ich einfach aufstehen und weggehen. In der Bahn ist das schwierig.«

»Den Platz wechseln?«

»Das bringt mich durcheinander. Nach einem freien Sitz suchen. Vielleicht ist der reserviert? Da wird mir dann alles zu viel.«

»Du reist also ungern. Na und?«

»Schau dich doch um, Gerd! Die Leute reisen andauernd. Ich hab dann immer das Gefühl, dass ich jemandem den Platz wegnehme. Jemandem, der Wichtigeres zu tun hat und dringender irgendwohin muss. Nach Düren oder nach Australien, ist egal. Ich werd nirgendwo gebraucht. Und das wissen die Leute im Zug, die sehen mir das an.«

»Kann es sein, dass du dir das nur einbildest?«

»Alle Jubeljahre meine Schwester besuchen, das reicht mir. Ich bleib lieber hier in Köln. Ist doch groß genug, die Stadt. Keine überzogenen Ansprüche stellen, damit fährt sich’s gut im Leben.«

»Wenn du meinst.«

Tünn hatte eine Idee. »Lust auf ’nen Happen zu essen?«

»Ich könnte was vertragen.« Höttges’ Magen knurrte wie ein verstimmter Kontrabass.

»Dann gehen wir zu mir.« Er stand auf. »Ist gar nicht weit.«

»Wo willst du hin?« Höttges fragte sich, ob er seinen Posten verlassen durfte.

»In die Heckenrose.«

»Wie?«

»Die Kleingärten. Da wohn ich.« Tünn zwinkerte seinem neuen Freund zu. »Illegal, versteht sich. Man darf da nicht richtig wohnen. Hab mich stillschweigend bei einem Bekannten einquartiert, jetzt, wo’s kühler wird.«

»Stört das deinen Bekannten nicht?«

»Keine Ahnung. Der sitzt wieder mal im Knast.« Er entblößte zwei Reihen fleckiger Zähne. »Wir müssen nur an den Bullen vorbei. Hast du diesen Aufmarsch mitgekriegt? Mit Sack und Pack sind die hier angetanzt. Da ist was passiert.«

»Was denn?«

»Aus Ärger halt ich mich lieber raus. Nur nicht auffallen.«

»Du weißt also was.«

»Ich weiß immer was.«

RAUPACH WAR ÜBERRASCHT, dass Höttges sich so früh meldete, per SMS. Der Mann war ein Phänomen. Gravitation. Man sollte den Naturgesetzen öfter ihren Lauf lassen.

»Abwarten«, meinte Photini. »Manche Zeugen wollen sich nur wichtig machen.«

Sie saßen in der Kantine und hatten ihre Mahlzeit gerade beendet: rechteckige Fischstücke, dreieckige Kartoffelpressteile, eine Schüssel mit gleichmäßig runden Erbsen wie aus dem Stanzwerk.

»Der Koch versucht uns etwas zu sagen, mit angewandter Geometrie.« Heide hatte das meiste übriggelassen und ein Muster daraus gelegt. »Vielleicht will er den Polizisten eine kleine Neurose mit ins Wochenende geben. Seht auf eure Teller: Die Welt ist einfacher strukturiert, als Ihr denkt.«

Raupach hatte keinen Sinn für das Geläster. Er stupste eine Erbse mit der Gabel hin und her, sie kullerte in die Fischsoße.

Der Tote war ungefähr so alt wie er selbst, besaß die gleiche Statur, sah insgesamt bloß ein wenig ungepflegter, verschlissener aus. Raupach war vor einigen Jahren in eine berufliche Krise geraten. Wenn er damals nicht wieder Tritt gefasst hätte, nach einem dummen, unverzeihlichen Fehler, würde er sich heute nicht groß unterscheiden von so einem Mann. Da kommt man schnell ins Straucheln, schliddert in etwas hinein, ist plötzlich zur falschen Zeit am falschen Ort.