Please love me - Lora Flynn - E-Book

Please love me E-Book

Lora Flynn

5,0

Beschreibung

Vor zwölf Wochen war mein Leben völlig aus den Fugen geraten. Ich verlor meine Mutter und meine erste große Liebe. Beides an einem Tag. Ich war mir sicher, dass es nicht noch schlimmer kommen konnte. Doch dann traf ich ihn. Und er hob meine Welt endgültig aus den Angeln. Was würdest du tun, wenn du jemanden triffst, der deine Welt vollkommen aus dem Gleichgewicht bringt? Was würdest du tun, wenn du dich plötzlich und aus heiterem Himmel in diese Person verliebst? Und was würdest du tun, wenn diese Liebe der Inbegriff von Falsch ist, wenn sie gegen jegliche Moral verstößt? Würdest du sie zulassen?

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LORA FLYNN

PLEASE LOVE ME ROMANBand 1

LORA FLYNN

PLEASE LOVE ME

VORWORT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

DANKSAGUNG

ÜBER DIE AUTORIN

Deutsche Erstausgabe 12/2018

Copyright © 2018 by Lora Flynn,

c/o Bianca Kronsteiner, impressumservice.net,

Robert-Preußler-Straße 13 / TOP 15020 Salzburg,

AT – Österreich

Druck und Bindung: epubli – ein Service der neopubli, GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: Copyright © by Lora Flynn

[email protected]

Für meine Oma,

die warmherzigste und gütigste Frau,

die ich kennen lernen durfte…

Vorwort

Über menschliche Gefühle:

„Je mehr sie weggedrückt werden,

desto intensiver glühen sie unter der Oberfläche.

Je heftiger sie verleugnet werden,

desto intensiver brechen sie sich auf irgend eine Weise Bahn.“

- Jane Austen, Verstand und Gefühl

Kapitel 1

Mit der flachen Hand fuhr ich über die Spiegelscheibe, die von der heißen Temperatur meiner Dusche völlig beschlagen war. Ich sah in den Spiegel und blickte zwei abgestumpften, braunen Augen entgegen. Dunkle Ringe zeichneten sich unter ihnen ab. Sie lagen in tiefen Furchen und instinktiv fragte ich mich, ob meine Augen schon immer derart leer und ausdruckslos aussahen oder ob sie erst seit Anfang der Sommerferien diesen traurigen Blick angenommen hatten.

Ich wandte mich vom Spiegel ab, da ich mein eigenes Abbild nicht mehr ertragen konnte und schlüpfte in meine Lieblingsjeans. Nach einem prüfenden Blick in den Schrank, entschied ich mich für ein schwarz-weiß gestreiftes Shirt.

Die Kleidung, die mir vor zwölf Wochen noch gepasst hatte, als wäre sie für mich maßgeschneidert worden, schlotterte nun an meinem knochigen Körper, als wäre sie mir mehrere Nummern zu groß. Ich war einmal hübsch gewesen, vor den Sommerferien um genau zu sein. Doch dann hatte mein Freund Danny sich urplötzlich nach zwei Jahren Beziehung von mir getrennt. Keine drei Stunden später war mein Dad nach Hause gekommen. Ich hatte es kaum erwarten können, mich in seine vertrauten Arme zu werfen, die mir schon von klein auf in schwierigen Zeiten Trost gespendet hatten.

Als ich allerdings in sein Gesicht geblickt hatte, wusste ich, dass etwas nicht stimmte, dass etwas passiert sein musste. Falten bildeten sich auf seiner Stirn und seine Augen waren gerötet, als hätte er geweint. Er wirkte, als wäre er zehn Jahre gealtert.

In meinem Bauch braute sich eine böse Vorahnung zusammen und mit einem Mal wartete ich nur darauf, dass er die Lippen öffnete, um mir die schlechte Nachricht zu überbringen; meine Mutter hatte einen Autounfall. Sie starb noch an der Unfallstelle.

In den letzten zwölf Wochen hatte ich mich Tag für Tag gefragt, was um alles in der Welt ich getan hatte, um so ein Schicksal verdient zu haben. Immerzu streiften dieselben Fragen durch meinen Kopf. Warum bestrafte mich das Leben auf solch üble Weise? Warum wurde Mom unserer Familie entrissen? Und warum hatte Danny sich plötzlich von mir abgewandt? Nichts war mir geblieben, außer einem tiefsitzenden Schmerz.

Allerdings gab es eine Sache, die mich von meinem grauen Alltag ablenkte. Eine Tätigkeit, durch die ich in eine andere Welt schlüpfen konnte und ohne die ich meine Sommerferien wohl nicht überstanden hätte. Mein Blick fiel auf die Ausgabe von Sturmhöhe, die auf meinem Bett lag.

Unzählige Male hatte ich mich in den Ferien in dieses Buch geflüchtet, in eine andere Person. Eine Person, die genauso unter dem Tod eines geliebten Menschen und der verlorenen Liebe litt, wie ich. Mit schnellen Schritten ging ich zu meinem Bett und stopfte das abgenutzte Buch in meine Schultasche. Ich wollte es unbedingt dabei haben. Auf unerklärliche Weise spendete es mir Trost und ich hoffte, dass es mir auch die Kraft verlieh, den heutigen Tag zu überstehen.

Der erste Schultag nach den Ferien. Ich war nicht bereit dafür. Jede Faser meines Daseins schien sich vehement dagegen zu wehren. Und doch setzte ich einen Fuß vor den anderen und stieg die Treppe hinab. Mir blieb nichts anderes übrig, als weiter zu machen. Wie genau wusste ich jedoch noch nicht.

In der Küche angekommen waren mein großer Bruder Lukas und mein Dad Cedric bereits am Aufräumen. Sie hatten gewusst, dass ich zum Frühstück nicht erscheinen würde. Dennoch stand wie an jedem Tag in den letzten Wochen ein frisch zubereitetes Frühstück für mich bereit, das ich letztendlich doch wieder nicht anrühren würde.

Meine kleine Schwester Mia saß auf dem für sie viel zu großen Stuhl und rührte seelenruhig mit der bloßen Hand in ihrem Essen herum. Mit ihren vier Jahren konnte sie natürlich noch nicht begreifen, dass ihre Mutter nicht mehr da war, dass sie nie mehr zurückkommen würde.

Mein Blick schweifte auf den leeren Platz am Küchentisch, wo meine Mom jeden Morgen gesessen und in aller Ruhe die Tageszeitung gelesen hatte. Kurz stellte ich mir vor, sie wäre noch da. Ich stellte mir vor, sie würde noch immer an ihrem Platz am Kopfende des Tisches sitzen. Sie würde an ihrem Kaffee nippen und mir einen mahnenden Blick aus ihren strahlend blauen Augen zuwerfen, der besagte, dass ich wieder einmal zu spät dran war für die Schule.

Ich fühlte ein erdrückendes Gefühl in der Brust und schnell verdrängte ich diese Erinnerungen. Mom war nicht mehr da.

»Guten Morgen, Drea«, grüßte mein Dad mich aus müden Augen. Auch ihm saß der Schmerz noch schwer ums Herz. Jedes Mal, wenn ich ihn ansah, spiegelte sich meine eigene Trauer in seinen Augen. Schnell sah ich wieder weg und murmelte ebenfalls ein Guten Morgen.

Mein Bruder Lukas gab mir lediglich einen Kuss auf die Wange und machte sich dann auf den Weg zur Arbeit. Er und Dad führten gemeinsam unser erfolgreiches Familienunternehmen. Eine Immobilienagentur, die Dad bereits in jungen Jahren alleine aufgebaut hatte.

Schon auf der High School hatte mein Bruder fleißig in der Firma ausgeholfen und hart dafür gebüffelt, einmal in unser Unternehmen einsteigen zu können. Ich dagegen konnte dem nur wenig abgewinnen. Von klein auf vergrub ich meine Nase lieber in Büchern.

Da Dad selbstständig war, begann er erst später mit der Arbeit und konnte sich so noch um unsere kleine Schwester Mia kümmern, ehe er sie in den Kindergarten brachte. Für gewöhnlich war dies Moms Aufgabe gewesen und nur ein weiteres Indiz dafür, wie sehr sie fehlte.

»Ich muss los. Bis heute Abend«, informierte ich Dad, bevor ich mich auch schon umdrehte, um das Haus zu verlassen.

»Drea, warte!«, rief er und folgte mir zur Haustür. Ich wandte mich ihm zu, konnte mich aber nicht überwinden, ihm in die großen braunen Augen zu schauen, die meinen so sehr ähnelten.

»Ich habe dir etwas eingepackt«, er räusperte sich und ich spürte sein Unbehagen. »Ohne Frühstück bekommst du sicher Hunger bis zur Mittagspause.«

Er streckte mir eine Brotbox entgegen und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. Für einige Augenblicke sagte ich nichts und starrte nur auf die Box in seinen Händen. Mir war durchaus bewusst, dass es ein Wink mit dem Zaunpfahl war. Mein Dad machte sich Sorgen um mich. Natürlich war ihm und Lukas mein Gewichtsverlust nicht verborgen geblieben.

Da ich meinen Dad nicht noch mehr belasten wollte, nahm ich das Essen dankend an und machte mich auf den Weg zu meinem Auto, einem Ford Fusion. Mom und Dad hatten ihn mir zu meinem achtzehnten Geburtstag vor einigen Monaten geschenkt. Kurz vor Moms schrecklichem Unfall.

Ich unterdrückte den Wunsch aussteigen zu wollen, um zurück in mein Zimmer zu laufen, mich unter der warmen Bettdecke zu verkriechen und in den Schlaf zu weinen. Stattdessen startete ich den Motor und fädelte mich in den morgendlichen Berufsverkehr von Seattle ein.

Es war nur eine zehnminütige Fahrt, wobei mir jedoch von Minute zu Minute übler wurde. Schließlich bog ich auf den kleinen Parkplatz der Garfield High ein und suchte mir einen geeigneten Platz.

Ich krallte meine Hände in die Riemen meines Rucksacks, während ich über den Parkplatz auf die einladende Steintreppe zuging. Vor den Stufen blieb ich stehen und blickte hinauf auf das alte, rote Ziegelsteingebäude, das meine Schule war.

So viele Erinnerungen waren mit diesem Ort verbunden. Schöne Momente sowie auch schlechte. Und jetzt war alles anders, so vieles hatte sich verändert.

Ich nahm einen tiefen Atemzug, ehe ich mich in Bewegung setzte und die Treppen zur Tür hinaufstieg. Als ich im Eingangsbereich ankam wimmelte es nur so von Menschen. Es war buchstäblich die Hölle los.

Neue Schüler, neue Lehrer und überall hingen Informationstafeln aus. Ich schlängelte mich durch die Masse hindurch und als ich aufblickte, spürte ich ein Stück meiner früheren Normalität zurückkehren. Das lag nicht an der überfüllten Aula, in der sich die Schüler nun lautstark über ihre Ferien austauschten oder sich über die neuen Lehrer und Stundenpläne ausließen. Nein, es lag an meinen besten Freunden, die einige Meter entfernt standen und auf mich warteten, wie sie es schon seit Jahren taten.

Mein erster Blick fiel auf Poppy, die mit ihrer grau gefärbten Mähne überall herausstach. Poppy war schon immer etwas ungewöhnlich gewesen. Sie war anders als die meisten Mädchen auf der High School. Genau aus diesem Grund mochte ich sie so sehr. Sie war offen, ehrlich und vor allem aber war sie vorlaut, auch Lehrern gegenüber. Poppy war dafür bekannt, niemals ein Blatt vor den Mund zu nehmen.

Selbst aus dieser Entfernung konnte ich erkennen, dass ihre dunklen Augen vor Wärme nur so strahlten, als sie mich in der Menschenmenge ausfindig machten.

In den Ferien hatte sie mich täglich besucht. Anfangs versuchte ich sie zu vergraulen, hatte sie angeschrien, ignoriert, doch rasch wurde mir klar, dass sich Poppy so schnell nicht abwimmeln ließ. Sie blieb. Selbst wenn wir nicht ein einziges Wort miteinander wechselten, uns anschwiegen. Sie blieb. Täglich kam sie vorbei und langsam aber sicher hatte ich mich an ihre Anwesenheit bei mir Zuhause gewöhnt.

Neben ihr stand Timmy und auch auf seinem Gesicht war ein leichtes Lächeln zu erkennen, als ich mich ihnen näherte. Seine rostbraunen Haare standen ihm wirr vom Kopf und seine blassen Augen folgten mir durchs Getümmel. Das erste, das ich wahrnahm, waren Poppys graue Strähnen, als sie mich in eine stürmische Umarmung zog.

»Willkommen zurück, Drea«, flüsterte sie und drückte mich noch etwas fester, bevor sie mich schließlich wieder freigab. Ich erwiderte ihr Lächeln, wenn auch etwas gezwungen.

Lächeln war etwas, das mir fremd geworden war und es fühlte sich merkwürdig an meine Mundwinkel nun so zu verziehen. Es war, als wären sie für lange Zeit eingerostet gewesen, als hätte ich das Lächeln verlernt.

Timmy grinste mich breit an und auch er zog mich in eine wilde Umarmung, wobei meine Füße fast vom Boden abhoben.

»Bonjour ma cherié«, sein französischer Akzent war kaum zu überhören. Timmy war zwar hier in Amerika geboren und aufgewachsen, jedoch waren seine Eltern aus Frankreich, daher wuchs er zweisprachig auf.

»Hey«, grüßte ich meinerseits zurück und wusste noch nicht so ganz, wie ich mich verhalten sollte. Es war nicht so, dass ich mich unwohl fühlte, im Gegenteil. Meine Freunde wieder um mich zu haben war ein schönes Gefühl.

Allerdings war es merkwürdig in meinen Alltag zurückzukehren, wo sich doch so vieles verändert hatte. Poppy schien mein Unbehagen zu spüren und begann über unseren neuen Stundenplan zu fluchen. Ein liebevoller Versuch mich abzulenken. Sofort nahm ich den Rettungsring an und spürte Erleichterung darüber, dass mich keiner der beiden auf zwei bestimmte Themen ansprach; der Tod meiner Mom und Danny.

Wenn ich daran dachte, Danny heute in der Schule sehen zu müssen, was sich zwangsläufig nicht vermeiden ließ, wurde mir speiübel und ich bekam feuchte Hände.

Wie sollte ich mich bloß verhalten? Nach der Trennung hatten wir uns nicht mehr gesehen, geschweige denn miteinander gesprochen. Zwar hatte er am nächsten Tag, als er erfuhr, dass meine Mutter bei einem Unfall verunglückt war, angerufen und mir unzählige SMS geschrieben, allerdings hatte ich alle ignoriert.

Mir war bewusst, dass ich Danny nicht egal war, schließlich waren wir zwei Jahre lang miteinander gegangen, kannten uns so gut wie kein anderer. Aber er liebte mich nicht mehr. Und diese Erkenntnis schmerzte noch immer, sehr sogar.

Ich zwang mich dazu, diese trübseligen Gedanken beiseite zu schieben und konzentrierte mich auf Poppy und Timmy, mit denen ich gerade auf dem Weg zu unseren Schließfächern war. Es schien mir eine Ewigkeit her zu sein, als ich mit Poppy, Timmy und Danny die Schulflure entlang gelaufen war. Doch so lange lag es noch gar nicht zurück. Heute waren es genau zwölf Wochen. Mit dem einzigen Unterschied, dass wir nur noch zu dritt waren. Ohne Danny.

Ich öffnete meine Spindtür und wollte gerade meine Bücher verstauen, als mein Blick auf ein Bild von Danny und mir fiel, das noch immer an der Innenseite klebte. Augenblicklich spürte ich den Schmerz zurückkehren. Ich erstarrte und fühlte ein Stechen in der Brust.

Poppy, die meine Reaktion bemerkte, riss das Bild herunter und zerknüllte es. Die Wut in ihren Augen war unübersehbar. Sie war ebenfalls aus allen Wolken gefallen, als ich ihr von Dannys Trennung berichtet hatte. Denn auch Poppy war mit ihm befreundet gewesen und hatte nicht die geringste Ahnung, weshalb er plötzlich keine Gefühle mehr für mich empfand.

Ich warf ihr einen dankbaren Blick zu. Im Augenblick aber wünschte ich mir nur noch alleine zu sein. Selbst dies schien Poppy nicht zu entgehen.

»Timmy und ich gehen schon mal vor. Du weißt ja wo der Saal ist«, sie lächelte mir noch einmal aufmunternd zu und strich mir mitfühlend über den Arm, bevor sie und Timmy sich auf den Weg machten. Erleichtert stieß ich die angehaltene Luft aus und legte meine Bücher in das Fach.

Ich war wirklich froh, eine so gute Freundin an meiner Seite zu wissen. Dies war mir in den letzten Monaten noch einmal umso deutlicher geworden.

Gedankenverloren drehte ich mich um und war gerade im Begriff, das Buch für die nächste Unterrichtsstunde in meiner Tasche verschwinden zu lassen, als ich mit jemandem zusammenstieß. Meine Tasche glitt mir aus der Hand, der gesamte Inhalt rutschte heraus und verteilte sich auf dem Fußboden.

Na klasse. Dieser Tag konnte wohl kaum noch schlimmer werden. Ich murmelte eine kurze Entschuldigung an mein Gegenüber, ohne ihn anzusehen. Dann ging ich in die Hocke, um meine Schulsachen zurück in die Tasche zu stopfen. Als ich nach meiner heiß geliebten Ausgabe von Sturmhöhe griff, traf meine Hand auf eine andere Hand. Eine männliche, mir fremde Hand.

Überrascht sah ich auf und für einen klitzekleinen Moment stand die Welt still.

Stahlblaue Augen blickten unter dichten schwarzen Wimpern hervor und hielten meinen Blick für mehrere Sekunden lang gefangen.

Aus einem mir unerfindlichen Grund setzte mein Herzschlag kurz aus. Ich hielt die Luft an und schluckte schwer. Erst dann bemerkte ich, dass ich den Mann mir gegenüber regelrecht anstarrte. Doch ich war nicht imstande wegzuschauen. Ich nahm markante Gesichtszüge wahr, die perfekter nicht hätten sein können und von goldenen, wirren Haaren umrahmt wurden. Einige Strähnen hatten sich gelöst und fielen ihm locker auf die Stirn.

Mit einem Mal wurde mir bewusst, dass sich unsere Hände noch immer berührten und ich fühlte ein Kribbeln. Verzweifelt versuchte ich meine Gedanken zu sammeln.

Ich spürte, dass mein Gegenüber sich langsam aufrichtete, was mich aus meiner Trance riss. Ich tat es ihm gleich und erhob mich. Als ich aufsah, bemerkte ich erst, wie hochgewachsen er war, gut einen Kopf größer als ich. Er trug ein weißes Hemd mit Krawatte und einen grauen Pullunder, unter dem sich der regelmäßige Besuch im Fitnessstudio deutlich erkennen ließ.

Ich gab mir alle Mühe meinen Puls, der aus einem mir unerfindlichen Grund zu rasen begann, zu beruhigen.

»Emily Brontë?«, seine Stimme war tief, melodisch und rau. Sie jagte mir einen gewaltigen Schauer über den Rücken. Erst jetzt bemerkte ich, dass er meinen Roman in den Händen hielt und diesen betrachtete. Dann hob er seinen Blick und sah mir direkt in die Augen. Mein Herz machte einen Satz.

»Schullektüre?«, fragte er nochmals und sein rechter Mundwinkel verzog sich zu einem wunderschönen, schiefen Lächeln. Ich räusperte mich, da ich das Gefühl hatte, meine Stimme erst wieder finden zu müssen.

»Ähm, nein. Ich lese es in meiner Freizeit«, ich richtete meinen Blick auf den Roman, um mich wieder einigermaßen zu sammeln.

»Mein Lieblingsroman«, merkte ich an, in der Hoffnung, er würde mir das Buch endlich wieder zurückgeben, sodass ich von hier verschwinden konnte.

Diese Begegnung verwirrte mich zutiefst.

Im Augenwinkel sah ich, wie er die Brauen hob.

»Ein solch düsterer Roman weckt Ihre Liebe zur Literatur?«, er wirkte erstaunt.

»Scheint so«, erwiderte ich und sah wieder in seine stahlblauen Augen.

»Was ist mit Jane Austen? Stolz und Vorurteil?«, neugierig musterte er mich. Leicht lächelnd blickte ich zu Boden. Natürlich hatte ich Stolz und Vorurteil gelesen - und geliebt. Doch das war, bevor ich all diese schweren Schicksalsschläge hatte erleiden müssen.

»Ich schätze ich gehöre zu der anderen Sorte.«

»Sie mögen kein Happy End?«, ein überraschter Ausdruck legte sich über sein Gesicht.

»Doch«, flüsterte ich. »Ich glaube nur nicht mehr daran.«

Bevor ich überhaupt darüber nachdenken konnte, was ich da sagte, waren die Worte bereits über meinen Lippen. Erschrocken schaute ich auf. Er hatte die Brauen zu einem schmalen Strich zusammengezogen und sah mir tief in die Augen. Für einen kurzen Moment schien etwas in seinem undurchdringlichen Blick aufzuflackern.

War es Neugierde? Wissen? Möglicherweise sogar Verständnis? Es schien als versuchten seine eisblauen Augen in meine Seele zu schauen, an einen Ort, der in Schutt und Asche lag.

Bevor ich diesen Ausdruck jedoch deuten konnte, nuschelte ich eine kurze Verabschiedung und machte auf dem Absatz kehrt. Ich stürmte regelrecht davon. Auf halbem Weg zum Unterricht fiel mir auf, dass der Fremde noch immer meine Ausgabe von Sturmhöhe hatte. Ich kehrte jedoch nicht zurück.

In der ersten Stunde hatte ich amerikanische Geschichte. Mein Platz befand sich zwischen Poppy und Timmy und nun saß ich hier inmitten der beiden und war noch immer verwirrt über das vorherige Gespräch mit diesem Mann. Ärger sammelte sich in meinem Bauch, da ich meinem Kummer nachgab und ihn nach außen getragen hatte. Ich hatte einem Fremden für einen kleinen Moment meine Trauer offenbart, ihm einen Einblick in meine Seele gewährt.

Wer war er überhaupt? Ein neuer Schüler wohl kaum. Sein Kleidungsstil entsprach nicht gerade dem eines Jungen hier auf der High School. Sehr wahrscheinlich war er ein neuer Lehrer.

Zugegeben, er sah noch relativ jung aus. Ich schätzte ihn auf Mitte zwanzig. Allerdings gab es selbst in diesem Alter bereits Lehrkräfte, was noch peinlicher war in Anbetracht dessen, dass ich ihn zuerst angestarrt hatte, wie eine Ertrinkende, um ihn danach auch noch zum Zeuge meiner schwarzmalerischen Weltanschauung zu machen. Ich konnte nur hoffen, ihn in der Schule so wenig wie möglich sehen zu müssen. Jedoch war er noch im Besitz meines Romans, den ich mir wohl oder übel zurückholen musste.

Seufzend warf ich einen Blick auf die Uhr. Noch ein paar Minuten und die erste Stunde war überstanden. Poppy sah mich besorgt von der Seite her an und ich spürte die unausgesprochene Frage auf ihrem Gesicht. Ich rang mir ein Lächeln ab, um ihr mitzuteilen, dass alles okay war.

Endlich klingelte es zur nächsten Stunde und ich begab mich zusammen mit ihr auf den Weg zu unserem Englischsaal. Timmy dagegen hatte leider einen anderen Kurs.

Kurz vor dem Saal umfasste Poppy mich plötzlich am Handgelenk und warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu. Zuerst verstand ich nicht, was sie mir mitteilen wollte. Als sie jedoch mit einem Nicken nach vorne wies, sah ich Danny vor dem Englischsaal stehen.

Er lehnte mit dem Rücken an der Wand, die Hände lässig in den Taschen seiner Collegejacke versteckt und lachte gerade über etwas, dass seine Freunde ihm erzählten. Wie immer war er umringt von einer Gruppe aus Schülern. Danny gehörte zu der High Society an unserer Schule. Dies rührte wohl daher, dass er Captain des Football Teams war.

Mein Blick wanderte. Blonde Locken umschmeichelten die klaren, geraden Linien seines Gesichtes, das ich in- und auswendig kannte. Sehnsucht packte mich und erinnerte mich an die vielen gemeinsamen Momente und die Wärme, die sich in mir ausgebreitet hatte, wenn ich in diese vertrauten schokoladenbraunen Augen gesehen hatte.

Sofort verkrampften sich meine Hände und mein Herz gefror zu Eis. Mein Blick wurde starr und ich musste tief einatmen, um den Schmerz zu vertreiben.

»Du schaffst das, Drea. Wir ignorieren ihn einfach.«

Ich nickte, sah zu Boden und folgte Poppy zu unserem Saal. Ich zwang mich, nicht aufzuschauen, ihn einfach links liegen zu lassen. Stark sein, Drea. Doch im nächsten Moment vernahm ich auch schon den Klang seiner bekannten Stimme hinter mir.

»Drea… Hey.«

Erschrocken zuckte ich zusammen und fuhr herum. Danny stand direkt vor mir und blickte auf mich hinab. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen.

Auch er schien sich sichtlich unwohl in seiner Haut zu fühlen. Seine Augen wanderten ruhelos umher. Verlegen kratzte er sich am Hinterkopf und ließ die Hände dann in den Hosentaschen seiner Jeans verschwinden.

Sofort wurde mir wieder übel, als ich den Ausdruck von Mitleid in seinem Gesicht lesen konnte. Ich wollte sein Mitgefühl nicht, ich brauchte es nicht.

Mir war natürlich klar, dass Danny nichts für seine Gefühle konnte. Wenn er schlicht und ergreifend nicht mehr ausreichend für mich empfand, dann war das so. Ich gab ihm keine Schuld, nicht im Geringsten. Doch der Schmerz war trotzdem da und ich hatte es satt, ihn ertragen zu müssen.

»Ich habe versucht dich zu erreichen. Ich habe angerufen und geschrieben«, sprach er und sah dabei beschämt zu Boden. Die Situation war ihm mehr als unangenehm. Ich schluckte schwer und riss mich zusammen, um eine vernünftige Antwort zustande zu bringen.

»Ja, ich weiß«, ich wollte nicht mit ihm darüber reden, nicht zwischen Tür und Angel. Und schon gar nicht vor den anderen Schülern, die das Geschehen offenbar mehr als interessant fanden und nun alle leise tuschelnd ihre Köpfe in unsere Richtung drehten. Generell wollte ich gar nicht mehr mit ihm sprechen. Es schmerzte einfach zu sehr und rief Erinnerungen in mir wach, die lieber verschlossen blieben.

Er hob den Kopf und sah mich erneut voller Mitleid an. Wie ich diese Blicke hasste. Sie erinnerten mich daran, dass meine Mutter tot war und nie wieder zurückkommen würde. Als müsste man mich mit Samthandschuhen anfassen.

»Wie geht es dir?«, fragte er schließlich. Ich konnte die Unsicherheit förmlich von seinem Gesicht ablesen, als wäre sie ihm auf die Stirn geschrieben.

Ich wollte diese Frage nicht beantworten. Nicht schon wieder. So oft hatte ich sie in den letzten Wochen schon gestellt bekommen. Doch im Grunde interessierte es niemanden wirklich, wie es mir ging. Man fragte nur aus reiner Höflichkeit. Und jedes Mal antwortete ich mit gut. Was gelogen war. Aber was sollte ich schon sagen?

Meine Mutter war gestorben, mein Freund hatte mich verlassen. Mein Leben glich einer einzigen Katastrophe?

Plötzlich hörte ich, wie Poppy neben mir ein spöttisches Lachen ausstieß. Ich sah zu ihr rüber. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt. Wut verzerrte ihr Gesicht und ihre gesamte Körperhaltung drückte pure Ablehnung aus. Dann trat sie einen Schritt vor mich und sah Danny mit Augen an, in denen ein Sturm hätte toben können.

»Was denkst du wohl wie es ihr geht? Dass du dich überhaupt wagst, sie auch noch anzusprechen! Lass Drea gefälligst in Ruhe, sonst garantiere ich für nichts, Danny.«

Ich war schockiert über Poppys Wutausbruch und warf ihr einen entgeisterten Blick zu. Danny schien es offenbar nicht anders zu ergehen. Doch in seinen Augen lag noch etwas anderes, er wirkte auf gewisse Weise verletzt. Was nur natürlich war. Schließlich hatte Poppy auch zu Dannys Freunden gezählt und nun stieß sie ihn derart vor den Kopf. Wegen mir.

Ich verspürte Gewissensbisse.

»Poppy...«, setzte ich an, um sie zu beruhigen, aber sie ließ mich nicht zu Wort kommen.

»Nein, er hat kein Recht dazu«, fuhr sie nun auch mich an. »Er…«, mit einem Mal hielt sie abrupt inne und stoppte ihre Erzählung.

»Was ist?«, ich musterte sie argwöhnisch. Normalerweise konnten keine zehn Pferde Poppy aufhalten, wenn sie in Rage war. Verwirrt kniff ich die Brauen zusammen und warf nun auch Danny einen misstrauischen Blick zu, dessen Kopf hochrot angelaufen war.

»Ich…«, Danny räusperte sich geräuschvoll. »Ich werd’ dann mal reingehen.«

Beschämt wandte er sich ab und verschwand schnellen Schrittes in unserem Englischsaal. Ich drehte mich wieder zu Poppy um und musterte sie erwartungsvoll.

»Was sollte das denn eben?«

Sie schüttelte lediglich den Kopf, während sie hektisch in ihrer Tasche zu wühlen begann.

»Ach nichts. Ich kann nur nicht glauben, dass er sich rausnimmt, dich auch noch anzusprechen, nachdem er dich so mies abserviert hat«, Poppy vermied es mir in die Augen zu schauen, während sie sprach. Nach einem letzten prüfenden Blick, beließ ich es jedoch dabei. Ich vertraute Poppy. Wenn es etwas gab, das ich wissen sollte, hätte sie es mir schon längst gesagt. Ich atmete tief ein und wieder aus, um mich zu beruhigen. Dann schüttelte ich den Kopf, um all diese wirren Gedanken beiseite zu schieben und um den Schmerz, der mir noch immer nach diesem Gespräch in den Knochen steckte, zu vertreiben.

Es wäre besser, wenn ich von nun an auf Abstand zu Danny ging. Es würde zwar schwierig werden, da wir einige Kurse zusammen hatten, aber nicht unmöglich.

Poppy und ich folgten dem Beispiel der anderen Schüler und traten in den Saal. Sofort ließen wir uns auf einem Platz möglichst weit hinten nieder, in der Hoffnung, Danny würde sich nicht in unsere Nähe setzen. Im Augenwinkel bemerkte ich, dass er sich ein paar Reihen weiter vorne einen Tisch suchte.

Erleichterung machte sich in mir breit und das Atmen fiel mir etwas leichter, was sich jedoch sofort wieder ändern sollte. Ich nahm gerade meine Bücher aus der Tasche, als ich eine Bewegung an der Tür wahrnahm und aufblickte.

Ich sah einen jungen Mann mit einem grauen Pullunder, weißem Hemd und Krawatte herein schlendern. Mein Herz klopfte für ein paar Augenblicke etwas schneller, beruhigte sich aber sogleich wieder. Es war der Mann, mit dem ich vorhin zusammengestoßen war. Und allem Anschein nach handelte es sich bei ihm um meinen neuen Englischlehrer.

Noch hatte er mich nicht entdeckt, also rutschte ich etwas tiefer in meinen Stuhl und warf mein braunes Haar nach vorn. Vielleicht würde er mich ja nicht gleich erkennen, was jedoch sehr unwahrscheinlich war. Leider hatte ich nicht dieses Allerweltsgesicht. Meine Lippen waren etwas zu üppig, mein Kiefer etwas zu ausgeprägt und meine Augen waren zu groß. Eindeutige Erkennungsmerkmale, die ich nicht sehr mochte.

Poppy bemerkte meinen Versuch mich unsichtbar machen zu wollen und hob eine Braue. Schnell sah ich nach vorne, was sich jedoch ebenfalls als Fehler erwies. Denn genau in diesem Moment nahm unser neuer Lehrer die Tasche von seinen Schultern, ließ sie aufs Pult fallen und blickte auf. Direkt in meine Richtung.

Die Intensität seines Blickes lähmte mich und ich konnte das Blut in meinen Ohren rauschen hören. Es kam mir vor, als wäre eine Ewigkeit vergangen, während wir uns einfach nur ansahen. In Wahrheit waren es wohl nur ein paar Sekunden, bevor diese Intensität wieder verschwand und er den Blick flüchtig über die Klasse wandern ließ.

Meine Wangen begannen zu glühen und mein Herz klopfte noch immer in einem beunruhigend schnellen Tempo. Ich spürte Poppys Augen auf mir. Als ich zu ihr rüber sah, schaute sie schnell weg und ein schelmisches Grinsen umspielte ihre Lippen. Mit verschränkten Armen stierte sie stur nach vorn, während der neue Lehrer mit federnden Schritten auf die Klasse zukam, um sich vorzustellen.

»Ich heiße Logan Black und wie Sie sich sicher alle denken könnt«, ein seichtes Lächeln umspielte seine Lippen. »Werde ich Sie im Fach Englisch unterrichten.«

Mir entging nicht wie einige der Mädchen gebannt an seinen Lippen hingen oder ihre Haare zu zwirbeln begannen. Sie starrten ihn an, als stand Adonis höchstpersönlich vor ihnen. Poppy hob bei diesem Anblick die Brauen und warf mir einen vielsagenden Blick zu. Jedoch konnte ich es diesen Mädchen kaum verdenken, Mr Black war mehr als attraktiv.

»Mr Black?«, ertönte eine schrille Stimme. Madison Lively. Ich hatte nicht viel mit ihr zu tun, aber hörte man auf die Gerüchteküche, so war sie als die typische Barbie und Oberzicke der Schule bekannt. Selbstverständlich musste jede High School eine eingebildete Schnepfe haben, die immer im Mittelpunkt stehen wollte. Sonst wäre es ja nicht die High School. An Poppys abfälligem Schnauben konnte man deutlich erkennen, dass die beiden sich nicht sonderlich gut ausstehen konnten.

»Was werden wir denn bei Ihnen lernen? Nur, dass wir uns natürlich schon einmal auf den Unterricht vorbereiten können?«, sie klimperte ein paar Mal mit den Wimpern, während sie ihre Beine übereinanderschlug.

»Nun,« begann Mr Black mit tiefer Stimme. »Wir werden uns hauptsächlich mit dem Thema Literatur im neunzehnten Jahrhundert beschäftigen. Hierzu werden Sie leider auch einige Werke lesen müssen.«

Meine Mitschüler stöhnten laut auf, woraufhin Mr Black nur leise lachte. Sein Lächeln war unglaublich schön und zog mich sofort in seinen Bann.

Anschließend ging er die Kursliste durch und wir sollten bei unserem jeweiligen Namen Handzeichen geben, sodass er sich die Gesichter besser einprägen konnte. Er begann zu lesen und mit jedem weiteren Namen, den er erwähnte wurde ich nervöser, mein Herzklopfen setzte wieder ein und mein Mund fühlte sich völlig trocken an.

»Drea Dupree?«

Ich hob lediglich den Arm und fixierte die Liste, die er in den Händen hielt, um nicht in das fesselnde Blau seiner Augen sehen zu müssen.

»Alles klar«, nachdem er die Liste überprüft hatte, legte er diese neben dem Pult ab und ließ seinen Blick über die Kursteilnehmer schweifen.

»Dann können wir zum Einstieg auch gleich schon mit der Frage beginnen, welche bekannten, englischen Werke von welchen Schriftstellern im neunzehnten Jahrhundert entstanden sind?«

Jane Austen, Charles Dickens, Emily Brontë, Thomas Hardy ...

Natürlich kannte ich sie alle, aber ich meldete mich nicht. Ich hatte mich noch nie groß an der Mitarbeit beteiligt, selbst wenn mir das Thema lag. Ein paar meiner Mitschüler meldeten sich und nannten einige bekannte Werke mit ihren Künstlern. Doch niemand nannte meinen Lieblingsroman. Kurz erwog ich es, mich zu melden. Und bevor ich den Gedanken wieder verwerfen konnte, wurde mir die Entscheidung abgenommen.

»Drea? Wissen Sie vielleicht noch ein bekanntes Werk aus dem neunzehnten Jahrhundert?«

Ich konnte nicht anders und sah perplex auf, geradewegs in seine klaren, blauen Augen, die mich nun erwartungsvoll anstarrten. Ich war erstaunt darüber, dass er sich meinen Namen bereits eingeprägt hatte. Diese Tatsache brachte mich für ein paar Sekunden aus dem Konzept. Schnell versuchte ich meine Gedanken zu sammeln, um mich an seine Frage zu erinnern. Denn es schien, als wollte er auf etwas Bestimmtes hinaus und ich wusste auch genau, worauf.

»Sturmhöhe«, meine Stimme sollte fest klingen, doch es war kaum mehr als ein Flüstern.

»Emily Brontë«, beendete er meinen Satz und seine Lippen verzogen sich erneut zu einem kleinen Lächeln. Jäh fühlte ich mich an das vorherige Gespräch auf dem Flur mit ihm zurückerinnert, als er meinen Roman in den Händen gehalten hatte. In diesem Moment wusste ich, dass er an genau dasselbe dachte und wie aus dem Nichts erschien ein Lächeln auf meinem Gesicht.

Es fühlte sich echt an.

Kapitel 2

Poppy starrte mich an, als wäre ich ein Marsmensch. Ihr blieb aber auch wirklich nichts verborgen. Für den Rest des Unterrichts schwieg ich und kritzelte stattdessen irgendwelche Dinge in meinen Notizblock.

Als es zur Pause klingelte, packte ich meine Sachen zusammen und wollte Poppy gerade nach draußen folgen, als mich jemand an der Schulter zurückhielt.

»Drea? Hätten Sie noch eine Minute für mich?«

Überrascht sah ich zu Mr Black herüber. Gleichzeitig spürte ich Poppys bohrenden Blick auf meinem Rücken.

»Ähm, ja natürlich«, ich räusperte mich und schaute kurz zu Poppy, um ihr verständlich zu machen, dass sie draußen auf mich warten sollte. Sie nickte und ging hinaus auf den Flur.

Nervös begann ich meine Hände zu kneten und sah auf meine Schuhspitzen hinab. Was wollte Mr Black mit mir besprechen? Ich spürte wie er näherkam, bis er schließlich vor mir stehen blieb.

Ohne es verhindern zu können wurde ich von Nervosität übermannt. Mein Puls begann zu rasen. Selbst meine Handflächen fühlten sich kalt und schwitzig an. Zögernd sah ich zu ihm auf und es geschah schon wieder. Seine Augen zogen mich regelrecht in einen Bann, dem ich mich nicht entziehen konnte. Gebannt beobachtete ich das Licht, welches durch die Fenster hereinströmte und sich in dem blauen Farbenspiel seiner Augen zu brechen schien.

»Ich glaube Sie haben das hier vorhin vergessen«, er lächelte mich an und streckte mir meinen Roman entgegen.

Natürlich, mein Buch.

Ich hatte es total vergessen. Mein Heiligtum. Mein Fluchtort, der mich in den letzten Wochen so einige Male gerettet hatte.

»Oh…«, ich stockte kurz. »Dankeschön.«

»Keine Ursache.«

Als er mir den Roman zurückgab, streiften sich unsere Finger erneut, wie am heutigen Morgen schon einmal. Mehrere Stromschläge erschütterten meine Hand. Das Gefühl strömte durch meinen Körper wie ein Lauffeuer. Schlagartig sah ich hoch in seine Augen.

Auch Mr Blacks Blick war zunächst auf unsere Hände gerichtet. Dann hob er das Gesicht und sah mich an. Etwas flimmerte in seinem Blick, ein merkwürdiger Ausdruck, den ich nicht zuordnen konnte.

Blitzartig zog ich meine Hände, mitsamt dem Buch, zurück. Dies schien ihn aus seiner Starre zu lösen. Er räusperte sich, zog die Brauen zusammen und wirkte für einen kurzen Moment verwirrt.

Gleich darauf jedoch sah er mich wieder mit klaren, undurchdringlichen Augen an. Dann ging er ein paar Schritte rückwärts und brachte somit etwas Distanz zwischen uns. Eine merkwürdige Spannung lag in der Luft.

»Ähm... Danke nochmal«, murmelte ich schnell, um diese seltsame Stimmung zu durchbrechen. Allerdings wagte ich es nicht, ihm noch einmal in die Augen zu schauen.

»Gern geschehen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Drea«, mit schnellen Schritten lief er zurück zum Pult und packte seine Tasche.

»Ihnen auch, Mr Black«, erwiderte ich hastig und eilte zur Tür, vielleicht etwas zu schnell, doch ich musste aus diesem Raum raus. Als ich die Tür hinter mir schloss, atmete ich zuerst einmal tief ein und wieder aus. Die ganze Zeit über, hatte ich das Gefühl gehabt, keine Luft mehr zu bekommen.

Ich schloss die Augen und versuchte mein wild klopfendes Herz zu beruhigen. Ich war wahrscheinlich nur etwas durcheinander. Das war alles. Der heutige Tag war lediglich zu viel für mich gewesen. Der erste Schultag ohne Mom, die Auseinandersetzung mit Danny… Es war nur natürlich, dass meine Gefühle da etwas durcheinander kamen. Ich schüttelte den Kopf und ordnete meine Gedanken wieder neu.

»Sag bloß, Mr Adonis hat dir den Kopf verdreht?«, Poppy stand mit vor der Brust verschränkten Armen vor mir an der Wand und schmunzelte schelmisch.

»Was meinst du damit?«, verständnislos blickte ich sie an. Poppy begann zu kichern.

»Tu nicht so, ich habe genau gesehen wie du ihn angestarrt hast, du bist rot geworden wie eine verdammte Tomate«, sie grinste, während ihre dunklen Augen belustigt aufblitzten. Poppy war wirklich hübsch. Sie hatte wunderschöne braune Augen, die außen leicht nach unten deuteten. Doch am schönsten war noch immer ihre Stupsnase, die perfekt ihre sanften Gesichtszüge ergänzte.

Sogar ihre grauen Haare standen ihr überirdisch gut, wenngleich ich ihr anfangs davon abzuraten versucht hatte. Poppy war jemand, der sehr zufrieden mit sich war. Das Einzige jedoch, was sie an sich selbst nicht mochte, war ihre Größe. Mit ihren gerade mal ein Meter fünfzig war sie mit Abstand die Kleinste auf der ganzen High School und dennoch war sie unverkennbar. Sie stach aus der Menge heraus, wie ein kleiner, tobender Tornado.

»Was wollte er von dir?«, fragte sie mich und schenkte mir einen neugierigen Blick.

»Nichts«, antwortete ich knapp, da ich über dieses Thema nicht mehr sprechen wollte.

»Wie nichts?«, sie hob die Brauen und noch immer zierte dieses dämliche Grinsen ihre Lippen. Die Augen verrollend setzte ich mich in Bewegung und lief vor zu den Spinden, um meine Bücher für die nächste Stunde zu holen. Poppy schloss trotz ihrer Größe schnell auf und lief neben mir her.

»Du stehst definitiv auf ihn«, feixte sie und betrachtete dabei ihre Nägel, als wären sie das Interessanteste auf der Welt.

»Tue ich nicht!«, keifte ich zurück. So langsam ging mir dieses Gespräch gehörig auf den Zeiger. Gut, ich hatte schwitzende Hände und ein klein bisschen Herzklopfen gehabt, mehr aber nicht. Und selbst das rührte nur daher, dass ich heute einfach etwas durcheinander war. Morgen wäre das schon ganz anders.

»Hey, ich bin der letzte Mensch, der dich deswegen verurteilt. Ich gebe dir ja recht, er sieht echt heiß aus«, sie grinste breit und lehnte sich neben mir an das Schließfach.

Ich seufzte resigniert und gab den Versuch, sie von diesem Thema ablenken zu wollen, auf.

»Lass uns einfach zur nächsten Stunde gehen, ja?«

Poppy lachte laut auf, folgte mir aber und beließ es, Gott sei Dank, dabei.

Als die Schule sich endlich dem Ende neigte, schlenderte ich durch den Ausgang in Richtung meines Wagens. Ich konnte es kaum erwarten mich in meinem Zimmer zu verkriechen. Zuhause angekommen spülte ich zuerst die leere Brotbox, damit mein Dad Notiz davon nahm, dass ich etwas gegessen hatte. Dafür hatte ich allerdings das Essen in der Mittagspause ausfallen lassen, da ich der Gefahr, Danny in der Cafeteria zu begegnen, aus dem Weg gehen wollte. Von dieser Tatsache musste Dad jedoch nichts erfahren.

Ich begann in der Küche etwas aufzuräumen und zu putzen, um Dad etwas Arbeit abzunehmen. Schweigend entfernte ich Mias Essensreste vom Boden, die sie durch das Spielen mit ihrem Frühstück hinterlassen hatte. Danach bereitete ich ein Abendessen für Dad und Lukas vor, welches sie sich später aufwärmen konnten.

Nach dem Aufräumen der Küche stieg ich die Treppen nach oben in mein Zimmer und erledigte meine Hausaufgaben. Gerade als ich das Heft zuschlug, hörte ich die Haustür ins Schloss fallen.

Lukas.

Ich ging erneut nach unten, um ihn zu begrüßen. Als ich ihn ansah, erkannte ich Erschöpfung auf seinem Gesicht. Er war der Einzige in der Familie, der Moms blaue Augen geerbt hatte und wie so oft, wenn ich ihn ansah, sah ich auch Mom.

»Hey. Ich habe dir und Dad Auflauf gemacht. Steht im Kühlschrank«, informierte ich ihn und war schon wieder im Begriff nach oben zu flüchten, als Lukas mich auf der ersten Stufe plötzlich am Handgelenk packte. Er hielt mich zurück. Fragend wandte ich mich ihm zu. Seine Züge hatten sich zu einer besorgten Grimasse verzogen.

»Was ist mit dir? Hast du schon gegessen?«, wollte er wissen und ich spürte, wie er meine Statur musterte.

»Nein, ich habe keinen Hunger.«, ich wollte mich losmachen, doch Lukas hielt mich nach wie vor mit eisernem Griff fest.

»Drea... Du musst etwas essen. Sieh dich doch mal an«, erneut streiften seine Augen über mich hinweg. Die Sorge in ihnen war kaum zu übersehen und sorgten dafür, dass ich schließlich einlenkte.

»Na schön«, seufzend folgte ich ihm in die Küche, wo ich uns beiden etwas von dem Auflauf auf einen Teller gab.

»Wo ist Dad?«, fragte ich, da die beiden eigentlich stets zur selben Zeit nach Hause kamen.

»Er ist mit Mia zum Arzt. Sie bekommt irgendeine Impfung oder so«, erwiderte er und machte sich über das Essen her. Er wirkte wirklich sehr müde.

Seit die Erziehung einer vierjährigen allein auf Dads Schultern lastete, hatte er weniger Zeit, um in der Firma zu agieren. Daher war es nur logisch, dass Lukas einige von Dads Aufgaben übernahm, was auch der Grund für sein überarbeitetes Erscheinungsbild war.

Mit der Gabel schob ich mein Essen hin und her, zwang mir jedoch einige Male einen Bissen herunter, um meinen Bruder zufriedenzustellen. Nachdem er mich noch ein paar Mal mit mahnenden Blicken dazu aufgefordert hatte, meinen Teller aufzuessen, war ich satt. Früher hatte ich alles Mögliche in mich herein stopfen können, doch seit den Sommerferien fiel es mir schwer überhaupt etwas anzurühren.

»Hey. Ich gehe am Wochenende mit ein paar Freunden weg. Magst du nicht mitkommen?« Er warf mir einen hoffnungsvollen Blick zu. Unbehagen machte sich in mir breit. Seit dem Unfall war ich nicht mehr unter Menschen gewesen und im Grunde wollte ich das auch gar nicht.

Alles was ich brauchte, um mich abzulenken war ein gutes Buch und meine Ruhe. Wenn ich daran dachte auszugehen, etwas zu trinken oder gar zu tanzen, fühlte ich mich furchtbar unwohl in meiner Haut. Es erschien mir oberflächlich, nach allem was wir durch Moms Tod erlitten hatten.

»Ich weiß nicht …«, erwiderte ich und schob eine Erbse auf meinem Teller hin und her.

»Komm schon, Drea. Es ist schon ewig her, dass wir zusammen etwas unternommen haben …«, mit einem Mal wurde sein Blick trüb. »Mom hätte nicht gewollt, dass du dich im Haus verkriechst und keinen Spaß mehr am Leben hast.«

Meine Hände verkrampften sich. Eine altbekannte Übelkeit stieg in mir auf. Der Schmerz kehrte zurück und kratzte an meinem Herzen, drohte es zu zerreißen. Ich spürte wie Lukas nach meiner Hand griff und mir tief in die Augen sah. Für einen kurzen Moment dachte ich, in Moms Augen zu blicken. Ich unterdrückte die Tränen, die mir unweigerlich in die Augen stiegen.

»Drea. Bitte...«, flüsterte er und sein Griff um meine Hand wurde fester, bittender.

Erneut seufzte ich und nahm einen tiefen Atemzug, um mich etwas zu beruhigen. Es war schier unmöglich Lukas etwas auszuschlagen, wenn er mich so ansah.

»Na schön«, widerwillig gab ich nach und sofort erschien ein Lächeln auf seinem traurigen Gesicht.

»Aber nur unter einer Bedingung«, entgegnete ich.

Lukas hob die Brauen und ich erntete einen misstrauischen Blick. »Die da wäre?«

»Ich darf Poppy mitnehmen«, äußerte ich meine Bitte und sogleich erschien ein breites Grinsen auf Lukas’ Gesicht.

»Natürlich darfst du sie mitbringen.«

Lukas war ganz vernarrt in Poppy. Er lachte über jeden ihrer Witze und die beiden waren ununterbrochen dabei, irgendwelchen Unfug anzustellen. Manchmal fragte ich mich sogar, ob er sie nicht etwas zu sehr mochte.

Während wir aufräumten, berichtete Lukas mir von dem Club, in den wir vorhatten zu gehen. Kurze Zeit später hörte ich erneut die Haustür und schon stand Dad im Türrahmen mit Mia auf seinem Arm.

Wir begrüßten ihn und ich machte mich gleich daran, sein Abendessen aufzuwärmen. Ich sah, wie sein Blick über die beiden Teller und die Brotbox schweifte, die auf der Theke standen. Ein erleichternder Ausdruck huschte über sein Gesicht.

Offenbar schien Dad genauso erfreut darüber zu sein, dass ich etwas gegessen hatte, wie Lukas. Auch wenn ich das fade Essen hatte herunter zwingen müssen, der befreite Ausdruck auf Dads Gesicht war es mir wert.

Lukas erzählte Dad von unseren Plänen am Wochenende. Ich erwartete schon halb, dass Dad mir verbieten würde weg zu gehen. Dann hätte ich mich wenigstens, so wie ich es eigentlich vorgehabt hatte, in mein Zimmer zurückziehen und ein gutes Buch lesen können. Doch weit gefehlt. Stattdessen schien ihn das Vorhaben meines Bruders regelrecht zu beflügeln, mehrmals betonte er, wie gut er es fand, dass ich mal wieder rauskam.

Nachdem er mit Lukas noch kurz über das Geschäft redete, mich nach der Schule fragte und Mia ihr Abendessen gab, schnappte ich mir die Kleine und machte sie fertig für die Nacht. Ich half ihr in den mit Häschen bedruckten Pyjama und ging dann mit ihr ins Bad, um ihr die Zähne zu putzen.

Erst weigerte sie sich natürlich vehement, das Zähneputzen war ja so verdammt langweilig! Nach einem kurzen hin und her gab sie jedoch nach und so brachte ich sie danach wieder zurück in ihr Zimmer. Sie krabbelte auf ihr kleines Bettchen und klemmte sich ihren Plüschhasen unter den Arm. Ich musste schmunzeln, es gab drei Dinge, deren Mia sich verschrieben hatte; ihrem Plüschhasen, Pizza und der Farbe Pink.

»Also dann, kleine Motte. Schlaf gut und hab süße Träume«, ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn und zog die Decke über ihren kleinen zerbrechlichen Körper. Gerade als ich im Begriff war, das Licht auszuschalten und die Tür zu schließen, setzte sie sich wieder auf.

»Drea?«, sprach sie mit leiser Stimme und blickte mich aus ihren kugelrunden Rehaugen an.

»Ja, Motte?« Ich blieb im Türrahmen stehen.

»Ist Mommy wirklich nicht mehr da?«, fragte sie mit einer so traurigen Kinderstimme, dass es mir sofort das Herz brach. Der Schmerz meldete sich wieder und ich spürte den Kloß in meinem Hals. Hier saß sie nun, meine süße Schwester von vier Jahren, klein und einsam und fragte nach ihrer Mutter. Ich ging zurück an ihr Bett und setzte mich, um nach ihrer kleinen, kindlichen Hand zu greifen, die nicht einmal halb so groß war, wie meine eigene.

»Weißt du Mia, Mom wird immer da sein. Sie sitzt oben auf den Wolken und sieht auf unsere Familie hinab. Auf dich, Lukas, Dad und mich. Sie beschützt uns von jetzt an.«

»Aber kann sie uns nicht auch von hier unten aus beschützen?«, wollte sie wissen und ich spürte die Sehnsucht in ihrer Stimme. Ich konnte meine Tränen nicht zurückhalten und unweigerlich liefen sie mir über die Wangen, doch ich versuchte stark zu bleiben.

Für Mia.

»Nein, das geht leider nicht, Süße«, erwiderte ich und schluckte den Kloß in meinem Hals herunter. Es fühlte sich an, als hätte ich einen dicken Wattebausch verschluckt.

»Ich vermisse sie echt doll«, flüsterte Mia und ihre Augen wirkten unendlich traurig.

»Ich auch, Mia. Ich auch ...«, meine Stimme klang erstickt und schnell strich ich Mia über ihr seidiges Haar. Ich drückte sie an mich, damit sie meine aufsteigenden Tränen nicht sehen konnte. Nachdem ich mich wieder einigermaßen im Griff hatte, gab ich ihr noch einen Kuss auf die Wange und ließ sie alleine in ihrem Bett zurück. Sobald ich ihr Zimmer verlassen hatte, liefen die Tränen unaufhaltsam meine Wangen herunter. Ich stürmte in mein Zimmer, ließ mich aufs Bett sinken und weinte mich in den Schlaf.

Wieso hast du uns alleine gelassen Mom? Wieso nur?

Als ich am nächsten Morgen in den Spiegel sah, bereute ich sofort, dass ich meinen Gefühlen gestern Abend freien Lauf gelassen hatte. Meine Augen waren derart angeschwollen, dass ich sie kaum öffnen konnte. Ich spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht, in der Hoffnung die Schwellung würde etwas zurückgehen. Doch keine Chance. Irgendwann gab ich es auf und zog mich nach einer heißen Dusche an. Ich schnappte mir meine Schultasche und schleppte mich nach unten in die Küche, wo Dad mir wieder eine Brotbox hingelegt hatte. Ich steckte sie gerade ein, als er mit Mia auf dem Arm in die Küche kam.

»Guten Morgen, Schatz«, er gab mir einen Kuss auf die Stirn und kümmerte sich um Mias Frühstück. Entweder überging mein Dad einfach die Tatsache, dass ich aussah, als hätte ich die Nacht durchgeweint oder es fiel ihm durch den Trubel mit Mia nicht auf. Wie auch immer, ich war dankbar dafür, dass er mich nicht darauf ansprach. Mir graute es bereits vor meinen Mitschülern, denen es mit Sicherheit nicht entgehen würde.

»Könntest du heute Mittag nach der Schule vielleicht etwas einkaufen gehen?«, fragte Dad und zückte seinen Geldbeutel.

»Ja, natürlich«, erwiderte ich und nahm das Geld entgegen. Kurz darauf machte ich mich auf den Weg in die Schule. Bereits in der Aula erwarteten mich Poppy und Timmy. Ein breites Grinsen lag auf den Gesichtern der beiden, doch als sie mich näherkommen sahen, schwand ihr Lächeln. Sehr wahrscheinlich hatten sie meine verweinten Augen bemerkt. Ich blieb vor ihnen stehen und niemand sagte etwas. Ein unangenehmes Schweigen herrschte zwischen uns. Irgendwann durchbrach Poppy die Stille und räusperte sich.

»Also, ich habe Timmy gerade davon berichtet, dass er etwas verpasst hat. Unser neuer Englischlehrer ist 'ne totale Granate oder was meinst du, Drea?«

So war Poppy. Sie bemerkte, dass ich nicht über meine Gefühle reden wollte und warf mir einen Rettungsanker zu. Wenngleich es auch etwas verdächtig war, dass dieser ausgerechnet unser neuer Englischlehrer sein musste. Timmy dagegen schien kurz mit sich zu ringen. Nachdem Poppy ihn jedoch mit dem Ellbogen in die Seite stieß, überlegte er es sich anders und spielte ihr Spiel mit.

»Euer Englischlehrer interessiert mich recht wenig«, schnaubte er und schulterte seine Tasche.

»Ach? Du bist also nicht schwul?«, Poppy grinste ihn breit an.

»Nur weil der Großteil meiner Freunde weiblich ist, heißt das noch lange nicht, dass ich vom anderen Ufer komme«, er hob eine Braue und warf Poppy einen bösen Blick zu. Sie dagegen kicherte und wir machten uns auf den Weg zum Unterricht. Zum Englischunterricht.

Vor dem Saal blieben wir stehen und ich widerstand dem Drang, zu Danny zu schauen, der sich ein paar Meter weiter mit seinen Freunden unterhielt. Selbst seine Stimme zu hören, schmerzte in meinem Herzen und ich schloss meine müden Augen, um mich auf etwas anderes zu konzentrieren. In diesem Moment rempelte mich jemand an.

»Hey, pass doch auf!«, eine bekannte Stimme zickte mich von der Seite her an. Als ich die Augen wieder öffnete, begegnete ich Madison Livelys gehässigem Blick. Sie strich sich ihre rote Lockenmähne über die Schulter und erdolchte mich mit ihren Augen.

»Pass du lieber auf wo du hingehst. Drea hat einfach nur hier gestanden«, fauchte Poppy und schoss beschützerisch wie ein Pitbull nach vorne.

»Tja, ich kann auch nichts dafür. Würde die Heulsuse da«, sie deutete mit ihrem perfekt manikürten Zeigefinger auf mich, »mal ihre Augen öffnen, dann hätte sie mich bemerkt. Aber stattdessen trauert sie die ganze Zeit nur ihrem Ex hinterher, der sie einfach nicht mehr will.«

Madisons Worte trafen mich. Es fühlte sich an, als hätte mir jemand einen Hieb in die Magengrube verpasst. Unerwarteter Weise, kam Danny auf Madison zu und legte ihr eine Hand auf die Schulter.

»Maddy, es reicht.«

Fassungslos stand ich da. Die Tatsache, dass Danny bei ihr stand, anstatt mich zu verteidigen, sie sogar berührte, verwirrte mich. Nein es verletzte mich. Mein Herz gefror und splitterte in tausend Teile. Seit wann waren die beiden befreundet?

»Nein, es ist doch wahr. Sie soll aufhören, sich wie ein armes Hündchen aufzuführen, nur weil du sie abserviert hast und ihre Mutter ins Gras gebissen...«, doch weiter kam sie nicht, da Poppy vorschoss und Madison mit ihrem gesamten Gewicht gegen die Wand stieß.

»Wag es ja nicht!«, brüllte Poppy und war erneut im Begriff auf Madison loszugehen, aber irgendjemand schien sie zurückzuhalten. Ich konnte es nicht genau erkennen, da die aufsteigenden Tränen mir die Sicht vernebelten. Nichts um mich herum nahm ich mehr wahr. In meinem Kopf begann es zu rauschen und Übelkeit stieg in mir auf.

Mit aller Mühe unterdrückte ich den aufkommenden Würgereiz und krallte meine Fingernägel in die Handflächen. Dann ging ich einige Schritte rückwärts, bis ich an die Wand hinter mir stieß. Ich musste hier weg. Sofort.

Das letzte, das ich wahrnahm, bevor ich in die entgegengesetzte Richtung rannte, war die tiefe Stimme von Mr Black, die meinen Namen rief.

Ich eilte durch die Flure, ignorierte alles und jeden um mich herum und trat durch die Doppeltür hinaus auf den leeren Pausenhof.

Während ich lief, spürte ich nichts, außer den Wind, der mir die Haare ins Gesicht peitschte und die Tränen auf meinen Wangen trocknete, ehe schon wieder neue über mein Gesicht kullerten.

Erst als ich die Tribüne unseres Footballfelds erreichte, drosselte ich mein Tempo und steuerte auf eine Bank zu.

Ich setzte mich und ließ mein Gesicht in die Hände sinken. Hatte Madison womöglich recht? Verhielt ich mich wirklich wie ein armes Hündchen? War es für mich so langsam an der Zeit, meine Trauer zu besiegen? Doch wie sollte ich das schaffen? Ich konnte noch nicht einmal über meine Mom nachdenken, ohne gleich in Tränen auszubrechen. Wieder geisterten Madisons Worte in meinem Kopf herum und krampfhaft versuchte ich, den Schmerz in meinem Innern zu unterdrücken.

Nun war genau das geschehen, was ich unter allen Umständen zu vermeiden versucht hatte, nämlich ein Zusammenbruch vor aller Augen. Jeder konnte sehen wie sehr ich litt, jeder hatte mitbekommen wie ich in Tränen ausgebrochen war. Mein Leben glich einem einzigen Albtraum.

Unerwartet vernahm ich Schritte auf der Tribüne neben mir. Erschrocken zuckte ich zusammen, als ich Mr Black erkannte. Wortlos ließ er sich auf dem Platz neben mir nieder und hielt mir ein Taschentuch hin. Verwundert von dieser netten Geste, nahm ich es dankend an.

Dennoch wagte ich es nicht, hoch zu schauen. Ich wollte nicht, dass mein Lehrer mich in dieser Verfassung sah. Es hatten ohnehin schon genug Leute mitbekommen.

»Falls Sie jemanden zum Reden brauchen, Drea, habe ich immer ein offenes Ohr für Sie.«

Ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter. Hatte er etwa gesehen, was sich soeben vor seinem Saal abgespielt hatte? Hatte er meine Demütigung mitangehört? Nun konnte ich doch nicht mehr an mich halten und blickte zu ihm auf. Seine goldenen Haare tanzten im Wind und umspielten seine markanten Gesichtszüge, während sein durchdringender Blick schweigsam auf mir ruhte. Doch anders als bei allen anderen, konnte ich nicht das geringste Mitleid in seinem Gesicht erkennen, lediglich die Aufrichtigkeit seiner Worte. Und zum ersten Mal seit langem sah jemand in mir nicht das arme, traurige Mädchen, das ihre Mutter verloren hatte und von ihrem Freund verlassen wurde.

»Danke«, brachte ich atemlos über die Lippen, noch immer gefangen von dem intensiven Blau seiner Augen. Sein Mund verzog sich zu einem kleinen Lächeln. Für ein paar Minuten saßen wir einfach nur schweigend da, genossen den Wind, der die Laubblätter vom Boden aufwirbelte und durch die Bäume peitschte. Ich wusste nicht warum, aber ich fühlte mich mit einem Mal nicht mehr unwohl in seiner Gegenwart. Ich empfand seine Gesellschaft nun sogar als angenehm, obwohl wir nichts miteinander sprachen.

»Ich habe Ihnen übrigens etwas mitgebracht, Drea«, durchbrach seine Stimme plötzlich die Stille. Überrascht sah ich zu ihm rüber, als er bereits in das Innere seiner Tasche griff, die noch immer um seine Schulter hing. Er wandte sich mir wieder zu und ich erkannte, dass er ein kleines Buch in den Händen hielt. Er streckte es mir entgegen. Überrascht sah ich zu ihm auf und erneut umspielte dieses leise Lächeln seine Lippen.

»Vielleicht kann ich ihre Meinung über Happy Ends ja noch ändern«, mit diesen Worten stand er auf und ließ mich alleine auf der Bank zurück. Ich verfolgte ihn mit den Augen, bis er im Schulgebäude verschwand. Erst dann blickte ich auf den Roman in meinen Händen und las den Titel.

Jane Austen,Verstand und Gefühl.

Kapitel 3

Als ich schließlich nach einem langen Einkauf nach Hause kam, machte ich mich wie bereits am Vortag daran, etwas für Dad und Lukas zu kochen. Ich deckte gerade den Tisch, als Dad mit Mia im Türrahmen erschien. Sofort kam Mia auf mich zu gerannt und klammerte sich an meinem Shirt fest.

»Gibt es etwa Spaghetti?«, fragte sie mit großen Augen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um in die Kochtöpfe spitzeln zu können, wofür sie allerdings definitiv noch zu klein war.

»Hallo kleine Motte«, begrüßte ich sie und strich ihr eine dunkle Locke aus dem Gesicht. Dann hob ich sie hoch auf meinen Arm, damit sie in die Töpfe lugen konnte. Ihre Augen begannen zu strahlen und fröhlich klatschte sie in die Hände. In diesem Moment wünschte ich mir, auch noch einmal so jung sein zu können wie Mia. Man freute sich über die kleinsten Dinge, war behütet und unwissend über all das Leid und Grauen, das einem mit dem Älterwerden bevorstand.

Ich begrüßte nun auch meinen Dad und Lukas, während ich begann das Essen zu servieren. Erneut zwang ich mich dazu, ein paar Happen zu essen, was Dad und Lukas freudig zur Kenntnis nahmen.

Nach dem Essen zogen die beiden sich in Dads Arbeitszimmer zurück, um ein paar Dinge bezüglich der Firma besprechen zu können. Da ich sowieso nicht viel zu ihren wirtschaftlichen Diskussionen beitragen konnte, beseitigte ich währenddessen das Chaos in der Küche und erledigte meine Hausaufgaben.

Anschließend schnappte ich mir Mia und steckte sie in die Badewanne. Bereits im dampfenden Wasser legte sich ein schläfriger Ausdruck über ihr Gesicht. Kaum hatte ich sie in ihr Bett gebracht, dauerte es keine Minute ehe sie schon im Land der Träume versank.

In meinem Zimmer warf ich mich zuallererst aufs Bett, wobei mein Blick auf das Buch auf dem Nachttisch fiel. Es war der Jane Austen Roman, den Mr Black mir heute Morgen mit der Absicht gegeben hatte, meine Einstellung Happy Ends gegenüber ändern zu wollen.

Warum machte er sich überhaupt die Mühe? Schließlich war ich nur eine seiner Schülerinnen. Eine von vielen.

Nun ja, es war gut möglich, dass er lediglich mein Interesse zur Literatur bemerkt hatte. Sicherlich war er wohl auch positiv überrascht davon, dass sich eine Schülerin tatsächlich und aufrichtig dafür interessierte. Doch ich konnte mir nicht vorstellen, dass er einfach an beliebige Schüler seine Bücher verlieh.

Plötzlich wurde mir bewusst, welche Richtung meine Gedanken einschlugen und ich war schockiert. Machte ich mir tatsächlich Gedanken darüber, was Mr Black von mir dachte? Sofort kamen mir Poppys Worte in den Sinn. Du stehst auf ihn.

Na gut, wenn ich ehrlich zu mir selbst war, hatte seine Gegenwart eine gewisse Wirkung auf mich, was jedoch kein Wunder war. Immerhin schien es den anderen Mädchen in meinem Kurs nicht anders zu ergehen. Mr Black hatte einfach diese Art Präsenz, die alle Blicke auf sich zog, sobald er den Raum betrat. Und offenbar stellte auch ich in diesem Fall keine Ausnahme dar.

Aber stand ich deswegen gleich auf ihn? Nein, das war absoluter Schwachsinn. Ich fand ihn attraktiv und sympathisch, aber das war es auch schon. Obendrein hatte ich noch immer an dem Ende meiner zweijährigen Beziehung mit Danny zu knabbern.

Zwölf Wochen hatten gewiss nicht ausgereicht, um den Tod meiner Mutterunddas Beziehungsaus zwischen Danny und mir zu verarbeiten.

Je mehr ich darüber nachdachte zwei geliebte Menschen verloren zu haben, desto intensiver fühlte ich den Schmerz in meinem Herzen wieder. Schnell schluckte ich den Kloß hinunter und verdrängte die Gedanken an die letzten Monate. Stattdessen griff ich nach dem Buch, das auf dem Nachttisch lag und begann zu lesen. Ich flüchtete mich an einen anderen Ort, in einer anderen Zeit.

Der Rest der Woche verlief Gott sei Dank ereignislos. Poppy hatte mir erzählt, dass Mr Black die Auseinandersetzung mit Madison wohl von Anfang an mitbekommen hatte. Sie berichtete mir, dass er Madison anschließend vor dem kompletten Kurs zusammengestaucht und sie zu einer Stunde Nachsitzen verdonnerte hätte.

Zwar hatte auch Poppy die Schulbank eine Stunde länger drücken dürfen, da sie Madison gegenüber handgreiflich geworden war, doch das war es ihr, wie sie mir mit einem breiten Grinsen mitteilte, wert gewesen.

Später informierte ich sie noch über Lukas' Vorhaben, am Wochenende auszugehen. Natürlich war sie von der Idee hellauf begeistert. Wobei ich mir nicht so ganz sicher war, ob ihre Freude womöglich mehr daher rührte, dass mein Bruder mit von der Partie sein würde.

Als die Woche endlich vorüber war und Freitag vor der Tür stand, war Poppy einem Nervenzusammenbruch nahe. Sie wusste schlichtweg nicht, was sie für den Abend in der Diskothek tragen sollte. Mein Handyspeicher platzte aus allen Nähten, da sie mir im Minutentakt ein neues Outfit simste. Irgendwann schrieb ich ihr zurück, wann sie wohl endlich gedachte zuzugeben, dass sie auf meinen Bruder stand.

Ich bekam keine Antwort mehr.

Den Freitagabend verbrachte ich damit, Mia beim Spielen Gesellschaft zu leisten und Mr Blacks Roman zu lesen, bis mich die Müdigkeit schließlich übermannte.

Nun war es Samstagnachmittag, ich war gerade am Lernen, als die Zimmertür mit einem lauten Knall aufschwang und Poppy, mit mehreren Taschen auf dem Arm balancierend, mein Zimmer betrat. Ich hob lediglich eine Braue und warf einen prüfenden Blick auf ihre Taschen, der meine dunkle Vorahnung bestätigte; sie schleppte ihren halben Kleiderschrank mit sich herum.

»Aha. Und du willst mir weis machen, dass du nicht auf meinen Bruder stehst?«, argwöhnisch beäugte ich ihren mühsamen Versuch, all ihre Taschen zu meinem Bett zu bugsieren.

»Wie geht es eigentlich Mr Black?«, parierte sie daraufhin, grinste mich über den Berg von Kleidern auf ihren Armen hinweg an und ließ schwer atmend den Ballast auf mein Bett fallen. Bei ihren Worten verzog ich grimmig das Gesicht. Poppys spitze Zunge hatte ich fast schon vergessen.

»Na schön, dann lass mal sehen, was dein Kleiderschrank zu bieten hat«, mit einem ergebenen Seufzen ließ ich von meinen Schulsachen ab und machte es mir auf dem Bett bequem. Poppys Lippen verzogen sich zu einem breiten Lächeln. Einen Augenblick später war sie auch schon zur Musikanlage getänzelt und startete ihre Playlist.