Politik ist Dienst -  - E-Book

Politik ist Dienst E-Book

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Beschreibung

Die Maxime »Politik ist Dienst« kann als Leitmotiv des Lebens und Wirkens von Bernhard Vogel gelten. Als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und Thüringen und Vorsitzender sowie Ehrenvorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung hat er die politische und gesellschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik und des vereinigten Deutschlands seit mehr als fünf Jahrzehnten nachhaltig mitgeprägt. »Politik ist Dienst« - Zitate wie dieses hat Bernhard Vogel in seiner langen wissenschaftlichen und politischen Laufbahn gerne geprägt oder genutzt. In dieser Festgabe würdigen Freunde und Wegbegleiter den Jubilar ausgehend von dessen besonders markanten Äußerungen. In thematischen Blöcken wie Bildung, Familie, soziale Marktwirtschaft, Globalisierung, deutsche und europäische Einigung, Föderalismus, Demokratie und Verfassung, Menschenwürde, Wertebewusstsein sowie der Idee der Christlichen Demokratie nähern sich die Beiträge der vielgestaltigen Person Bernhard Vogels und seiner beeindruckenden Lebensleistung. Einführende Gedanken von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel und dem Präsidenten des Deutschen Bundestages Dr. Norbert Lammert sowie persönliche Eindrücke von Weggefährten und literarische Würdigungen runden den Band ab, der auch ein Schriftenverzeichnis des Jubilars seit 2007 enthält.

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Bernhard Vogel

POLITIK IST DIENST

Festschrift für Bernhard Vogel zum 80. Geburtstag

Herausgegeben von Hans-Gert Pöttering

zusammengestellt und bearbeitet von Michael Borchard und Hanns Jürgen Küsters

2012

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.

Herausgegeben von Hans-Gert Pöttering

zusammengestellt und bearbeitet von Michael Borchard und Hanns Jürgen Küsters

Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.

Wissenschaftliche Dienste / Archiv für Christlich-Demokratische Politik

Rathausallee 12

53757 Sankt Augustin bei Bonn

Tel 02241 / 246 2240

Fax 02241 / 246 2669

e-mail: [email protected]

Internet: www.kas.de

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Umschlagabbildung:

Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. | Medienarchiv

Fotograf: Marco Urban

© 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar

Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes

ist unzulässig.

Satz: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, Bielefeld

Druck und Bindung: freiburger graphische betriebe GmbH & Co. KG, Freiburg

Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier

Printed in Germany

ISBN 978-3-412-21087-8 (Buch)

ISBN 978-3-412-21647-4 (eBook)

Inhalt

Cover

Impressum

VORWORT

Hans-Gert Pöttering

Zum Geleit

BERNHARD VOGEL – GEDANKEN ZUM 80. GEBURTSTAG

Angela Merkel

Bernhard Vogel – Eine Stiftung. Zwei Länder. Und fünf Kopiermaschinen

Norbert Lammert

„Demokratie heißt, sich in die eigenen Angelegenheiten einzumischen.“ (Max Frisch)

WORTE VON DICHTERN

Wulf Kirsten

landstieg

Arnold Stadler

Was ist der Mensch, dass Du an ihn gedacht hast Für Bernhard Vogel zum Geburtstag – Ad multos Annos feliciter

Uwe Tellkamp

Der archimedische Punkt

DIE IDEE DER CHRISTLICHEN DEMOKRATIE

Alois Glück

„Wer das christliche Verständnis vom Menschen als ein Geschöpf Gottes für konservativ hält, der nennt uns zu Recht konservativ.“ (Bernhard Vogel)

Hermann Gröhe

„Das ‚C‘ wurde als Verpflichtung und nicht als Anspruch verstanden.“ (Bernhard Vogel)

Wilfried Härle

„State in fide – Steht fest im Glauben“ (1. Brief an die Korinther)

Volker Kauder

„Die christlich demokratische Idee ist von Menschen in den Luftschutzkellern, in den Schützengräben, in den Konzentrationslagern entwickelt worden.“ (Bernhard Vogel)

Friedrich Kronenberg

„Kirche muss Flagge zeigen.“ (Reinhard Marx)

Hans Maier

Antinomien der Freiheit

„Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Ding und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Ding und jedermann untertan.“ (Martin Luther)

Erwin Teufel

„Ein Christ ist ein Mensch, dem die Wahrheit so schmeckt, wie sie tatsächlich ist.“ (Papst Johannes XXIII.)

MENSCHENWÜRDE

Michael Albus

Pragmatismus ist keine Alternative

„Wir müssen die Menschen so nehmen wie sie sind: Wir kriegen keine anderen.“ (Konrad Adenauer)

Karl Lehmann

Über die menschenfreundlichen Grenzen der Selbstbestimmung

„Der Mensch entscheidet nicht, ob er geboren wird. Er sollte auch nicht über das Ende seines Lebens entscheiden. Das Sterben ist wie die Geburt Teil der menschlichen Existenz, zu einem Leben in Würde gehört auch ein Tod, der seiner Würde entspricht.“ (Bernhard Vogel)

Klaus Naumann

„Das Gewissen ist nicht beliebig und nicht jede Frage ist eine Gewissensfrage.“ (Bernhard Vogel)

Hans Zehetmair

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie auch im Sterben zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ (Verfassung des Freistaates Thüringen, 1993)

DEMOKRATIE, STAAT UND VERFASSUNG

Kurt Beck

„Erfolgreiche Landespolitik braucht die Kenntnis der Landesgeschichte.“ (Bernhard Vogel)

Wolfgang Bergsdorf

Über politische Führung in der freiheitlichen Demokratie

„Gefolgschaft beruht auf Vertrauen.“ (Bernhard Vogel)

Roman Herzog

„Ein Jurist muss sein.“ (Bernhard Vogel)

Horst Möller

„Gegen erklärte Feinde muss die Verfassung verteidigt werden, das ist patriotische Pflicht.“ (Dolf Sternberger)

Gerd Schuchardt

„Eine Koalition ist dann erfolgreich, wenn beiden das Land wichtiger ist als die eigene Partei.“ (Bernhard Vogel)

Dieter Stolte

„Große Selbständigkeit, große Selbstverantwortung, ein hohes Berufsethos sind notwendig, um den Beruf des Journalisten als Berufung erfüllen zu können. Nur sein Gewissen und allenfalls die Leserschaft kontrollieren ihn.“ (Bernhard Vogel)

Peter Struck

„Demokratie braucht Demokraten!“ (Friedrich Ebert)

DIE BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND UND DER FÖDERALISMUS

Dieter Althaus

„Bundesländer gibt es nicht, denn die Länder sind keine Ländereien des Bundes.“ (Bernhard Vogel)

Andreas Rödder

„Wer die Vergangenheit nicht kennt, wird die Zukunft nicht in den Griff bekommen.“ (Golo Mann)

Hans-Peter Schwarz

„Die letzten sechzig Jahre haben uns mehr Frieden, Freiheit, Wohlstand, Sicherheit und Stabilität beschert als je zuvor in unserer Geschichte.“ (Bernhard Vogel)

DDR, DEUTSCHE EINHEIT UND EUROPÄISCHE EINIGUNG

Mike Mohring

Die Begriffe und das Begreifen

„Es war eine Revolution, keine Wende, wie die letzten Machthaber der DDR verharmlosend formulierten.“ (Bernhard Vogel)

Beate Neuss

„Deutsche Einheit und europäische Einigung sind zwei Seiten derselben Medaille.“ (Helmut Kohl)

Günter Rinsche

„Es gibt keinen anderen Weg zur Wiedervereinigung als diesen durch die europäische Integration, es sei denn, man wäre bereit, auf die Freiheit zu verzichten.“ (Konrad Adenauer

Richard Schröder

„Wir hatten alles geplant, wir waren auf alles vorbereitet, nur nicht auf Kerzen und Gebete.“ (Erich Loest)

Arnold Vaatz

„Die DDR war ein Unrechtsstaat, daran besteht kein Zweifel.“ (Bernhard Vogel)

Dorothee Wilms

„Es gab ein Ministerium für gesamtdeutsche Fragen, ein Ministerium für gesamtdeutsche Antworten hat es nicht gegeben.“ (Bernhard Vogel)

GLOBALISIERUNG UND ENTWICKLUNG

Horst Köhler

Bernhard Vogel und die christliche Tiefenschärfe seines Engagements für Afrika

„Entwicklung, der neue Name für Frieden.“ (Papst Paul VI.)

Peter Molt

Bernhard Vogels Engagement für die Armen in Afrika

„Seht, ich habe es Euch gesagt, wir müssen den Armen Freude bereiten.“ (Elisabeth von Thüringen)

Gerhard Wahlers

„Kein Land der Welt wird in der Lage sein, die Grundlagen einer globalen Ordnungspolitik zur verantwortlichen Gestaltung des laufenden Globalisierungsprozesses alleine durchzusetzen.“ (Bernhard Vogel)

SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT

Wolfgang Gerhardt

Wettbewerb, Marktwirtschaft und Verantwortung

„Wir wollen die solidarische und soziale Kraft des Wettbewerbsgedankens, die sich in der Sozialen Marktwirtschaft mit der Verantwortung für den Menschen verbindet, ins Bewusstsein rufen.“ (Bernhard Vogel)

Klaus-Peter Müller

Wirtschaft und Verantwortung

„Das Maß der Wirtschaft ist der Mensch; das Maß des Menschen ist sein Verhältnis zu Gott.“ (Wilhelm Röpke)

Ingrid Sehrbrock

„Sozial ist, was Arbeit schafft.“ (Bernhard Vogel)

GESELLSCHAFTLICHE ENTWICKLUNG: GENERATIONEN, FAMILIE, KINDER, ALTER

Kurt Biedenkopf

Zur Unfähigkeit unserer Demokratie, Gerechtigkeit zwischen den Generationen zu üben

„Wir bekennen uns zur wechselseitigen Verantwortlichkeit der Generationen. Die Alten wollen nicht auf Kosten ihrer Kinder und Enkel leben.“ (Bernhard Vogel)

Rita Süssmuth

„Kinderhaben ist in wachsendem Maße nichts Selbstverständliches mehr, sondern etwas, wozu sich Eltern bewusst entschließen.“ (Bernhard Vogel)

KULTUR, BILDUNG, UNIVERSITÄT, UNTERRICHT

Wolfgang Jäger

Humboldt Plus

„Mit Humboldt alleine war keine neue Universität zu machen.“ (Bernhard Vogel)

Birgit Lermen

„Den Dialog zwischen Literatur und Politik zu fördern: das ist das Ziel der Kulturarbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung.“ (Bernhard Vogel)

Annette Schavan

„Keine Wohltat ist größer als die des Unterrichtes und der Bildung.“ (Adolph Freiherr von Knigge)

ZUR PERSON BERNHARD VOGEL

Franz Peter Basten

„Die alten Unterscheidungen – ‚Wohlgeborene‘ und ‚Missgeborene‘, Eigene und Fremde, Kulturmenschen und ‚Barbaren‘ fallen mit der Zeit dahin.“ (Hans Maier)

Georg Gölter

„Suchet der Stadt Bestes und betet für sie zum Herrn, denn wenn’s ihr gut geht, so geht’s euch auch wohl.“ (Jeremia 29,7)

Julia Klöckner

„Gott schütze Rheinland-Pfalz!“ (Bernhard Vogel)

Christine Lieberknecht

Vom Münchner Wirtshaus zur Hommage auf Thüringen

„Hoaßt hia oana Vogl?“ (Ausruf einer Kellnerin in München)

Heinrich Oberreuter

„Quidquid agis prudenter agas et respice finem.“ (Äsop, Fabel 78)

Hanns-Eberhard Schleyer

Eine Würdigung

„Was Du ererbt von Deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.“ (Johann Wolfgang von Goethe)

Michael Thielen

„Mein Vogel heißt Bernhard“ (Wahlkampfmotto Landtagswahl Rheinland-Pfalz 1979)

Hans-Joachim Veen

„Nie geraten die Deutschen so außer sich, wie wenn sie zu sich kommen wollen.“ (Kurt Tucholsky)

Hans-Jochen Vogel

„Erst das Land, dann die Partei, dann die Person.“ (Erwin Teufel)

LEBENSLAUF PUBLIKATIONEN

Lebenslauf

Publikationen 2007 – 2011

Autoren und Herausgeber

Backcover

VORWORT

Zum Geleit

Hans-Gert Pöttering

„Eigentlich habe ich gar nichts anderes getan, als zu versuchen, meine Pflicht zu tun.“ Mit diesen Worten hat der Jubilar, dem diese Festschrift zur Vollendung seines 80. Lebensjahres gewidmet ist, bereits vor zehn Jahren seinen Lebensweg beschrieben.

Immer wieder hat Bernhard Vogel sich in die Pflicht nehmen lassen. Jeden Dienst, zu dem er sich verpflichten ließ, hat er in außerordentlichem Maß erfüllt. „Politik ist Dienst“ gilt für Bernhard Vogel in besonders treffender Weise. ­Politik ist für ihn Dienst – Dienst für die Menschen, Dienst für das Gemeinwohl, Dienst aus Überzeugung für das Wohl der Menschen.

Bernhard Vogel verbindet auf unnachahmliche Weise Politik mit Menschlichkeit. Er führt Menschen zusammen, bringt sie einander näher, erklärt und erläutert ihnen Politik, nimmt sie auf dem Weg der Politik mit, bietet ihnen Orien­tierung und Richtung. Das christliche Menschenbild und die Unantastbarkeit der Menschenwürde, die Katholische Soziallehre sowie die Grundwerte unserer Verfassung sind Fundament seiner Überzeugungen und Entscheidungen. Daran orientiert sich sein Denken und Handeln, darauf gründen seine Pflicht­erfüllung und Leidenschaft, seine Weitsicht verbunden mit Zuversicht, sein Optimismus verbunden mit Realismus, seine Grundsatz- und Prinzipientreue. Sie haben Bernhard Vogel zu einem außergewöhnlichen Politiker werden lassen.

Dabei hat der Politische Wissenschaftler Bernhard Vogel nie beschlossen, Politiker zu werden. Er hat seinen Weg in die praktische Politik nie geplant. 1965 kandidierte er erfolgreich für den Deutschen Bundestag. Er war der Auffassung: Vier Jahre Praxis in der Politik könnten nicht schaden. Bekanntlich kam es anders: Nach nicht einmal zwei Jahren wurde er Kultusminister von Rheinland-Pfalz. Spätestens jetzt war die Politik zu seinem Dienst geworden.

Zahlreiche politische und gesellschaftliche Ämter und Funktionen folgten, manche davon mehr als einmal. Zweimal war er CDU-Landesvorsitzender – in Rheinland-Pfalz und Thüringen; zweimal Landtagsabgeordneter – in Mainz und Erfurt. Vor allem aber war er: Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und Ministerpräsident des Freistaates Thüringen. Der Regierungschef mit der längsten Amtszeit in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland; der erfahrenste, der populärste und der einzige, der in zwei Ländern – einem west- und einem ostdeutschen Land – die Regierungsverantwortung inne hatte. Augenzwinkernd sage ich gerne zu Bernhard Vogel – auch öffentlich: Ministerpräsident in zwei Ländern gewesen zu sein – dazu im Westen wie im Osten unseres Landes – sei „mehr als Bundeskanzler“.

[<<17] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe

Die Landespolitik ist das Betätigungs- und Wirkungsfeld Bernhard Vogels. Ob als engagierter Kultusminister von Rheinland-Pfalz oder zweimaliger Minister­präsident, zweimaliger Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz oder zweimaliger Präsident des Bundesrates: Die deutschen Länder, ihre histo­rischen und kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Besonderheiten, ihre landsmannschaftlichen und landschaftlichen Eigenheiten sind dem vehementen Streiter für den Föderalismus seit jeher ein Herzensanliegen.

Auch persönlich ist er mit vielen Ländern eng verbunden. Von Göttingen in Niedersachsen, seinem Geburtsort, über Gießen in Hessen, wo er aufwuchs, München in Bayern, wo er sein Abitur ablegte, und Heidelberg in Baden-­Württemberg, wo er studierte und promovierte, bis nach Speyer, wo er seit bald 50 Jahren lebt: Lang ist die Liste der Orte, an denen er sich zu Hause fühlt. Und wo er sich zu Hause fühlt, so sagt er, dort ist für ihn Heimat. Deutschland – sein Vaterland – ist seine Heimat.

Er weiß um die Bedeutung des Begriffes Heimat – auch für Europa. Europa werde nur gelingen, wenn die Bürgerinnen und Bürger ein europäisches Bewusstsein erlangen – und dabei zugleich ihre heimatliche Verbundenheit bewahren, wenn die kulturelle Vielfalt in Europa gewahrt bleibe. Dafür engagierte er sich unter anderem auch als Bevollmächtigter der Bundesrepublik Deutschland für kulturelle Angelegenheiten im Rahmen des Vertrags über die deutsch-franzö­sische Zusammenarbeit sowie als Vizepräsident der Europäischen Demokratischen Union. Er verkörpert in besonderer Weise den so wichtigen Dreiklang „Heimat – Vaterland – Europa“. Als Niedersachse, als Deutscher und als Europäer schließe ich mich diesem Denken Bernhard Vogels vorbehaltlos an.

Schon als junger Politiker hat mich das Wirken Bernhards Vogel sehr beeindruckt. Mit großem Interesse habe ich seinen Weg aufmerksam verfolgt. Beim Ring Christlich Demokratischer Studenten an der Universität Bonn sind wir uns während meiner Studienzeit zum ersten Mal begegnet. Damals habe ich mir nicht vorstellen können, dass sich unsere Wege eines Tages überschneiden würden, dass ich einmal sein Nachfolger in einem seiner unzähligen Ämter werden würde. Vor allem hätte ich nie zu hoffen gewagt, dass es das Amt des Vorsitzenden der Konrad-Adenauer-Stiftung werden könnte.

Bernhard Vogel hat mir den Weg in die Stiftung geebnet, die den Namen des ersten deutschen Bundeskanzlers trägt. Es ist mir eine Ehre, sein Nachfolger als Vorsitzender dieser außergewöhnlichen Institution, einer an Werten und Überzeugungen orientierten Gemeinschaft von Persönlichkeiten sein zu dürfen. Das gilt auch für unsere Zusammenarbeit. Ich kann sagen: Seit dem ersten Tag arbeiten wir gut und erfolgreich, ja freundschaftlich, zum Wohl der Konrad-Adenauer-Stiftung zusammen.

Dabei wird mir immer wieder bewusst, wie sehr Bernhard Vogel die Stiftung und wie sehr ihm vor allem die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich tagtäglich in ihr und für sie engagieren, am Herzen liegen. Ohne ihn, ohne

[<<18]

seine unermüdliche Arbeit und sein Pflichtbewusstsein würde die Stiftung heute anders aussehen, hätte sie nicht das Gesicht, welches sie in Deutschland, Europa und der Welt unverwechselbar macht. Wir sind mit unserer Arbeit und unserem Engagement heute an vielen Orten in der Welt willkommen. Daran trägt Bernhard Vogel maßgeblichen Anteil. Sein Name wird auch in Zukunft mit der Konrad-Adenauer-Stiftung verbunden bleiben.

Die Stiftung kann sich glücklich schätzen, dass er als ihr Vorsitzender viele Jahre Verantwortung für sie getragen hat. Wir sind dankbar, dass er als Ehrenvorsitzender mit Rat und Tat, mit seinem Wissen und seiner Erfahrung unverändert an unserer Seite steht.

Wir, die Konrad-Adenauer-Stiftung, und die über 50 Autoren – Freunde, Kollegen, Wegbegleiter – sagen mit dieser Festschrift für alles, was er für die Stiftung, für unser Land und für Europa, geleistet hat, herzlichst „Danke, ­Bernhard Vogel!“

Ungezählt sind die Reden, die er in den vergangenen Jahren gehalten hat, ebenso ungezählt die Zitate anderer, die er darin verwendet hat – viele einmal, manche mehrmals. Einige der Zitate, die er gerne und häufig wiedergibt, sind Ausgangspunkt der Beiträge dieser Festschrift. Jeder Beitragende hat zu einem ausgesuchten Zitat seine Gedanken zu Papier gebracht. Die Festschrift weist damit den im Vorhinein gewünschten hohen persönlichen Bezug zum Jubilar auf. Sie spiegelt die Vielfalt und die Reichhaltigkeit seines politischen und gesellschaftlichen Engagements, seines Denkens und Handelns auf besondere Weise wider.

Als Herausgeber gilt mein herzlicher Dank allen Autorinnen und Autoren, die mit ihren lesenswerten Beiträgen zum Gelingen dieses Bands beigetragen haben und auf diesem Weg ihre Wertschätzung gegenüber Bernhard Vogel zum Ausdruck bringen. Verständlicher- und gleichwohl bedauerlicherweise bedurfte es der zahlenmäßigen Begrenzung des Autorenkreises. Es war nicht möglich, jeden, der eng mit Bernhard Vogel über die Zeit verbunden ist, aufzunehmen. Eine mehrbändige Festschrift wäre andernfalls erschienen. Für das Erscheinen dieses Bandes danke ich herzlich dem Böhlau-Verlag.

In der Konrad-Adenauer-Stiftung sind Professor Dr. Hanns Jürgen Küsters und Dr. Michael Borchard maßgeblich verantwortlich für das Entstehen der Festschrift. Für Idee, Konzeption und Umsetzung gilt ihnen und ihren Hauptabteilungen – Wissenschaftliche Dienste/Archiv für Christlich-Demokratische Politik sowie Politik und Beratung – mein ganz besonders herzlicher Dank! Ebenso herzlich danke ich unserem Generalsekretär, Michael Thielen, der diese Festschrift mit Rat und Tat begleitet hat. Für die redaktionelle Bearbeitung sei Dr. Wolfgang Tischner, Dr. Kordula Kühlem, Denise Lindsay M.A. und Jenny Kahlert vielmals gedankt.

Bernhard Vogel vollendet sein achtes Lebensjahrzehnt: Es steht nicht zu befürchten, dass er sich weniger zu Wort meldet, weniger einbringt, weniger

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engagiert, dass er sich zurücknimmt und in den Ruhestand verabschiedet. Er wäre hochverdient. Doch das Gegenteil dürfte der Fall sein: Er wird an dem Tag nach seinem 80. Geburtstag mit Sicherheit nicht weniger aktiv sein, als an dem Tag davor. Wir haben die berechtigte Hoffnung, dass dies für sein gesamtes neuntes Lebensjahrzehnt gelten wird.

Körperliche und geistige Gesundheit sind ein Geschenk für jeden Menschen. Ein wertvolles Geschenk, welches mit jedem weiteren Lebensjahr und erst recht mit jedem weiteren Lebensjahrzehnt an zusätzlichem Wert gewinnt. ­Bernhard Vogel wird seine körperliche und geistige Gesundheit als ein besonderes Geschenk annehmen. Für die Konrad-Adenauer-Stiftung ist es ein Geschenk, dass er sich für uns engagiert.

Herzlichen Glückwunsch, Bernhard Vogel!

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BERNHARD VOGEL – GEDANKEN ZUM 80. GEBURTSTAG

Bernhard Vogel – Eine Stiftung. Zwei Länder. Und fünf Kopiermaschinen

Angela Merkel

In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat Bernhard Vogel ein Alleinstellungsmerkmal: Außer ihm hat es noch niemand vollbracht, in zwei Bundesländern zum Ministerpräsidenten gewählt zu werden. Ihm ist das in Rheinland-Pfalz und in Thüringen gelungen. Beide Bundesländer hat er politisch, wirtschaftlich und kulturell geprägt, in beiden Bundesländern wurde er von den Bürgern wiedergewählt, im Amt bestätigt und ist bis heute den Menschen als geschätzter und verehrter Landesvater in Erinnerung.

Auch hat es in der Konrad-Adenauer-Stiftung noch niemanden gegeben, der – nachdem er den Vorsitz der Stiftung einmal niedergelegt hatte – erneut zum Vorsitzenden berufen wurde. Auch diese Auszeichnung ist Bernhard Vogel vorbehalten.

Ministerpräsident in zwei verschiedenen Bundesländern, zweimal Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung – allein dies zeigt, dass Bernhard Vogel eine außerordentlich hohe Wertschätzung über die Parteigrenzen hinweg genießt.

Man kann zu Recht behaupten: Bernhard Vogel hat in seiner Partei, der Christlich Demokratischen Union Deutschlands, große Spuren hinterlassen. Als er vor über 50 Jahren in die CDU eintrat, konnte niemand wissen, wie sehr er diese Partei in ganz verschiedenen Ämtern und Funktionen mit gestalten würde. Es waren die prägende Kraft des christlichen Menschenbildes und die katholische Soziallehre, die Bernhard Vogel 1960 in die Christlich Demokratische Union geführt haben. Vertrauen schaffen, Vertrauen entgegen bringen – das zeichnet die Arbeit Bernhard Vogels aus. Bei ihm steht der Mensch im Mittelpunkt. Der Mensch, dem die Freiheit gegeben ist und die er in Verantwortung nutzen soll. Der Mensch, der nach diesem Verständnis nicht das Maß aller Dinge ist, sondern der um seine Fehlbarkeit und um seine Verantwortung vor Gott weiß.

Im Wissen um diese Verantwortung hat Bernhard Vogel unserem Land und der CDU in zahlreichen Funktionen gedient. Sein erstes Mandat für die CDU übernahm er 1963, als er in den Heidelberger Stadtrat einzog. Er war Kultusminister in Rheinland-Pfalz und insgesamt 23 Jahre Ministerpräsident. Über 30 Jahre war er Mitglied des Vorstands der CDU Deutschlands.

Meine ersten Begegnungen mit Bernhard Vogel hatte ich nach dem Fall der Mauer, kurz nachdem Bernhard Vogel die Stiftungsleitung übernommen hatte. Damals, als das Brandenburger Tor in Berlin wieder offen war, entschied Bernhard Vogel, dass sich in einem ersten Schritt fünf Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in der damaligen DDR engagieren sollten. Sie sollten helfen, die entstehenden demokratischen Strukturen aufzubauen.

[<<23] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe

Diese Vertreter der Stiftung führten viele Gespräche mit den örtlichen Organisationen des „Neuen Forums“, des „Demokratischen Aufbruchs“, der „Deutschen Sozialen Union“ oder mit Kreisverbänden der CDU. Die Hilfe war oft ganz praktischer Natur: Es ging um Papier, um Kopiermaschinen, also um Infrastruktur, die benötigt wurde, um als Organisation in einer Demokratie wirken zu können. Es wurden engagierten Bürgern Grundausstattungen für die politische Arbeit – beispielsweise in Form einer kleinen Bibliothek – zur Verfügung gestellt. Danach kamen Lehrgänge, Seminare, Diskussionsveranstaltungen und vieles mehr.

Heute ist die Konrad-Adenauer-Stiftung nicht nur in Berlin, sondern in allen neuen Bundesländern mit ihren politischen Bildungswerken vertreten. Es war Bernhard Vogel, der schnell und beherzt entschied, mit der Konrad-Adenauer-Stiftung beim demokratischen Neuanfang in den neuen Bundesländern mitzuwirken. Ihm und den vielen Mitarbeitern der Stiftung gebührt Dank für ihren großen Einsatz. Sie haben in mittlerweile mehr als zwei Jahrzehnten Großes beim Aufbau der demokratischen Strukturen in den neuen Bundesländern geleistet.

Ebenso entschlossen wie Bernhard Vogel die nationale Arbeit der Stiftung auf die veränderten politischen Rahmenbedingungen ausgerichtet hat, hat er auch die Neuausrichtung der internationalen Zusammenarbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung vorangetrieben. Die Stiftung nahm daher nach dem Ende des Kalten Krieges ihre Arbeit in Polen sowie in Ungarn, in Tschechien und danach in vielen weiteren Ländern Mittel- und Osteuropas auf. Überall wurden mit unzähligen Veranstaltungen, Workshops und Diskussionsrunden Beiträge zur Entwicklung der parlamentarischen Demokratie und zur Integration in die europäischen und transatlantischen Strukturen geleistet. Auch in Russland und in der Ukraine arbeitet die Stiftung weiterhin an dem Ziel, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Zivilgesellschaft zu stärken.

Im Februar 1992 wurde Bernhard Vogel Ministerpräsident in Thüringen, wo er ein Jahr später auch zum Vorsitzenden der CDU gewählt wurde. Deshalb musste die Konrad-Adenauer-Stiftung einige Jahre ohne sein Engagement an der Spitze auskommen. Gründe dafür, dass Thüringer Abgeordnete mit Bernhard Vogel einen Speyerer Bürger zum Ministerpräsidenten wählten, waren seine langjährige Erfahrung als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und nicht zuletzt sein unermüdliches Engagement als Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung in den neuen Bundesländern. Die Thüringer kannten ihn und hatten Vertrauen zu ihm.

Diese Akzeptanz bei den Menschen in zwei doch ganz unterschiedlich geprägten Bundesländern lässt sich nur mit der Persönlichkeit Bernhard Vogels erklären. Er versuchte nicht, sich über Nacht vom Pfälzer zum Thüringer zu wandeln. Vielmehr stürzte er sich 1992 zwar mit großer Hingabe auf seine neue Aufgabe und ließ sich auf Thüringen und die Thüringer ein, aber er ist dabei immer er selbst geblieben.

[<<24]

Die Bürger im Westen wie im Osten unseres Landes haben gespürt: Hier ist ein Mann mit Überzeugungen, der auf einem festen Wertefundament steht. Mit anderen Worten: Eine echte Persönlichkeit. Ein Politiker, der offen auf die Menschen zugeht, ihnen zuhört und mit ihnen spricht, aber ihnen nicht nach dem Munde redet. Jemand, dem man vertrauen kann und der selbst Vertrauen in die Menschen hat. Diese Haltung ist Bernhard Vogels Erfolgsgeheimnis, als Politiker, als Stiftungsvorsitzender, als Mensch.

Im Frühjahr 2001 übernahm Bernhard Vogel erneut den Vorsitz der Konrad-Adenauer-Stiftung. Unter seiner Leitung wurde die Begabtenförderung deutlich ausgeweitet. Dabei hat die Stiftung an ihren strengen Auswahlkriterien festgehalten und damit das hohe Niveau der Förderung und der Geförderten gehalten. Die Stiftung leistet einen wesentlichen Beitrag zur Gestaltung der Bildungsrepublik Deutschland. Das Archiv für Christlich-Demokratische Politik, gleichsam das Gedächtnis der CDU, wächst stetig. Dort werden heute so viele Nachlässe aufbereitet und verwahrt wie nie zuvor. Nicht zuletzt wurde der Bereich Politik und Beratung zu einem „Think Tank“ ausgestaltet, der die politischen Debatten in Deutschland immer wieder maßgeblich mit beeinflusst.

Ich habe Bernhard Vogel gerade in seiner zweiten Amtszeit als Stiftungsvorsitzender noch intensiver kennen und schätzen gelernt als zuvor schon. Besonders in Erinnerung ist mir sein entscheidender Beitrag zum aktuellen Grundsatzprogramm der CDU „Freiheit und Sicherheit. Grundsätze für Deutschland“, das 2007 in Hannover verabschiedet wurde. Damit hat er an allen drei Grundsatzprogrammen der CDU mitgearbeitet, ein Wirken, das für sich spricht.

Bei der Erarbeitung unseres aktuellen Grundsatzprogramms trug er die Verantwortung für die ersten Kapitel zur Identität der Christdemokraten und zu den Grundwerten Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit. Er erinnerte in den programmatischen Diskussionen immer wieder an die Vorstellungen der Sozialethiker insbesondere aus dem Bereich der katholischen Kirche. Mit großer Umsicht hat Bernhard Vogel auch bei der Arbeit an diesem Text gezeigt, was uns als CDU stets auszeichnen sollte: Dass wir immer das rechte Maß finden müssen zwischen Bewahren und Verändern. Offen sein für Neues und Bewährtes bewahren – auch dafür steht Bernhard Vogel.

2009 gab Bernhard Vogel zum zweiten Mal den Vorsitz der Konrad-Adenauer-Stiftung ab. Es freut mich deshalb umso mehr, dass er sich nach insgesamt 14 Jahren an der Spitze der Stiftung bereit erklärte, den Ehrenvorsitz der Stiftung zu übernehmen. Er bleibt so mit seinem unschätzbar wertvollen Erfahrungsschatz, seinem Wissen und mit all seinen menschlichen Gaben, die ihn immer besonders ausgezeichnet haben, Teil der Stiftung und damit auch der christdemokratischen Familie.

Bei allen großen Aufgaben, denen sich Bernhard Vogel im Laufe seines Lebens gestellt hat, waren und sind es einerseits das Vertrauen in Gott, das ihm Kraft gibt, andererseits sein Frohsinn und sein Optimismus, die ihn auch durch schwierige Phasen tragen.

[<<25]

Bernhard Vogel war und ist ein großer Brückenbauer. Wie kaum ein anderer versteht er es zuzuhören, durch argumentative Stärke zu überzeugen und Gräben zu überwinden. Das waren gute Voraussetzungen, um als Ministerpräsident in zwei unterschiedlich geprägten Bundesländern zu wirken, und das sind gute Voraussetzungen, um eine Stiftung zu führen, die weltweit im Einsatz für Demokratie, Menschenrechte und die Soziale Marktwirtschaft ist. Eine Stiftung, die sich für das Gemeinwohl in der globalisierten Welt einsetzt. Eine Stiftung, die geistige Brücken baut.

Ich kann aus eigener Erfahrung sagen: Bernhard Vogel ist ein ansteckend fröhlicher Mensch. Sein christlicher Glaube gibt ihm Halt und Gelassenheit. Wir können froh sein, ihn in unserer Mitte zu haben und viel von ihm zu lernen.

[<<26]

„Demokratie heißt, sich in die eigenen Angelegenheiten einzumischen.“

(Max Frisch)

Norbert Lammert

I.

Als mich die Anfrage erreichte, ob ich einen Beitrag für die Festschrift zum 80. Geburtstag von Bernhard Vogel beisteuern könnte – was ich gerne mit mindestens so viel Freude wie Respekt vor einer der großen politischen Persönlichkeiten unseres Landes tue – war das mit der Bitte der Redaktion verbunden, in diesen Beitrag zwei ausgewählte Zitate aufzunehmen. Beiden mir vorgegebenen Sätzen ist gemeinsam, dass sie mühelos zu mancherlei Gedanken inspirieren: zu Demokratie und demokratischer Beteiligung, zu Politik und Politikern, vor allem aber: zu Bernhard Vogel und seinen herausragenden Verdiensten um unseren Staat und unsere Demokratie.

II.

„Demokratie heißt, sich in seine eigenen Angelegenheiten einzumischen.“ Dies ist ein Zitat von Max Frisch, es könnte allerdings genauso gut von Bernhard Vogel stammen, der diesen Gedanken in dieser oder leicht variierter Formulierung immer wieder vorgetragen hat. Zu Recht, denn das Sich-Einmischen, das Sich-Einbringen ist nun mal die unverzichtbare Voraussetzung einer funktionierenden Demokratie. Selbstverständlich ist es deshalb noch lange nicht, im Gegenteil: Bernhard Vogel hat immer wieder auf die Gefahr einer wachsenden politischen Enthaltsamkeit der Bürger hingewiesen, auf eine Haltung, das politische Geschehen gewissermaßen nur noch von den Zuschauerrängen aus zu betrachten, ohne sich selbst als Akteur zu beteiligen. Diese Distanz beobachten wir schon auf der kommunalen Ebene, wo es auch immer schwieriger wird, Menschen für die politische Mitgestaltung zu gewinnen und zu motivieren – vor allem zu einem auch auf Dauer angelegten „Mitmachen“. Zu dem bewussten „Raushalten“ auf der einen Seite gesellt sich komplementär die Neigung, sich als Leidtragender einer politischen Entscheidung zu begreifen, was den Verdruss über „die Politik“ und „die Politiker“ befeuert.

Auch wenn es paradox klingt: Einer insgesamt eher geringer werdenden Bereitschaft, sich politisch zu engagieren, steht auf der anderen Seite ein wachsendes

[<<27] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe

Bedürfnis nach mehr Beteiligung gegenüber. Laut einer Allensbach-Umfrage sind viele Bürger überzeugt, sie verstünden mehr von der Politik als Politiker. Der Aussage: „Ich denke mir oft, die Politiker haben keine Ahnung, das könnte ich besser“, stimmen laut dieser Umfrage 48 Prozent der Befragten zu. Unter den Anhängern der Piratenpartei sind es sogar 61 Prozent. Konkreter Ausdruck einer solchen „Ich-weiß-es-besser-Haltung“ waren u. a. die Proteste um Stuttgart 21. Nicht nur dieses besonders populäre, ebenso irritierende wie ermutigende Exempel um den Stuttgarter Bahnhof hat uns zwei Einsichten gebracht.

Erstens, was die Planungsprozesse angeht, brauchen wir offenkundig Korrekturen, mindestens aber Ergänzungen in unserem Planungs- und Baurecht. Der Deutsche Bundestag berät zurzeit einen Gesetzentwurf der Bundesregierung, der für öffentliche Planungen eine frühere und bessere Beteiligung vorsieht, um Konflikte schon im Vorfeld zu vermeiden.

Zweitens, wir müssen über die Möglichkeiten wie die Grenzen von direkten Bürgerentscheidungen neu nachdenken. Nicht im Sinne einer Ablösung repräsentativer Demokratie durch eine plebiszitäre Demokratie, sondern vielmehr im Sinne einer neuen Balance zwischen der repräsentativen Demokratie als „Normalzustand“ politischer Willensbildung und den vermeintlichen oder tatsächlichen Sondersituationen, für die man vielleicht solche besondere Verfahren braucht. Dass repräsentative Verfahren unersetzlich sind, wurde übrigens auch bei Stuttgart 21 schon daran deutlich, dass die große Zahl von Tausenden Protestierenden zunächst ihrerseits Repräsentanten bestimmen mussten, um den geforderten Dialogprozess überhaupt möglich zu machen. Und man tritt niemandem zu nahe, wenn man darauf hinweist, dass die Auswahl und die Bestellung dieser Repräsentanten mit Blick auf ihre demokratische Legitimation den Repräsentanten auf der anderen Seite – freundlich gesagt – nicht überlegen war.

Die überschwängliche Begeisterung derer, die plebiszitäre Verfahren gegenüber parlamentarischen Entscheidungen bevorzugen, teile ich nicht:

Erstens glaube ich, dass wir für politische Entscheidungen das gleiche Mindestmaß an Professionalität sicherstellen müssen, wie man es für jeden anderen Lebensbereich, von der Autowerkstatt bis zum Zahnarzt, für unverzichtbar hält. Es ist schon erstaunlich, dass der moderne Bürger sich zunehmend in allem und jedem vertreten lässt, nur wenn es um den Bau von Bahnhöfen, Flughäfen oder Kraftwerken geht, meint er, es selbst besser zu können.

Zweitens muss es klare Verantwortungen für getroffene Entscheidungen geben. Für Volksentscheide ist aber niemand verantwortlich zu machen. Dagegen kann man Regierungen und Abgeordnete für Entscheidungen, mit denen man nicht einverstanden ist, bei der nächsten Wahl durch die Verweigerung der Stimme sanktionieren.

Drittens muss man fragen, welche der großen Richtungsentscheidungen dieser Republik wohl ein Plebiszit überstanden hätte – vom Beitritt der Bundesrepublik zur NATO über die Einführung der Wehrpflicht, den NATO-Doppelbeschluss

[<<28]

bis zur Einführung des EURO. Von der Serie der Reformverträge der EU und den Rettungsmaßnahmen für den EURO gar nicht zu reden. Diese Republik sähe jedenfalls anders und vermutlich nicht unbedingt besser aus, wenn sie plebiszitär organisiert wäre. Das Grundgesetz kennt deshalb aus gutem Grund – mit ganz engen Ausnahmen – keine plebiszitären Elemente. Auf Landes- und Kommunalebene gibt es diese Formen direkter Beteiligung sehr wohl, und dass diese Möglichkeiten vielfach genutzt wurden und werden, zeigt eine veränderte Bedarfslage. Schon deshalb plädiere ich dafür, dass man beide Formen nicht als konkurrierende und sich ausschließende Alternativen ansieht, sondern als sich wechselseitig ergänzende Varianten. Eine direkte Entscheidung durch Bürger erscheint mir jedenfalls in solchen Fällen sinnvoll, wenn es sich um lokal oder regional begrenzte Themen handelt, die noch dazu mit einem klaren Ja oder Nein zu beantworten sind. Von dieser Möglichkeit wird in Deutschland auch seit langem und in zunehmendem Ausmaß Gebrauch gemacht: Auf kommunaler Ebene gab es bislang (Stand: Anfang 2012) rund 6.000 Bürgerbegehren, von denen rund 40 Prozent erfolgreich waren.

III.

„Wer die eigene Überzeugung für das Maß aller Dinge hält, taugt zum Fanatiker und Fundamentalisten, aber gehört nicht in ein Parlament.“ Das zweite mir vorgegebene Zitat stammt von Bernhard Vogel selbst. In diesem Satz kommt sein persönliches Verständnis von Politikgestaltung zum Ausdruck: Für die persönlichen Überzeugungen eintreten und streiten, natürlich ja, wenn nötig leidenschaftlich, aber sie für die absolute Wahrheit halten – nein. Die Haltung eines aufgeklärten Demokraten.

Bernhard Vogel hat über viele Jahre Politik mitgedacht und mitgestaltet, in Legislative wie Exekutive. Er war Abgeordneter im Deutschen Bundestag wie im Landtag von Rheinland-Pfalz, er war Kultusminister und – bislang beispiellos und wohl nicht wiederholbar – Ministerpräsident in einem alten und in einem neuen Land. Er kennt das politische System also wie kaum ein anderer von innen. Deshalb kann er auch gut beurteilen, wie Politik sich im Laufe der Zeit verändert hat. Politik heute sei – so hat er es Anfang 2011 gesagt – „nicht unbedingt schwieriger, aber anders“. In diesem Zusammenhang wies er darauf hin, dass wir viele Probleme nicht mehr vor uns haben, die „wir vor 50 Jahren noch für unlösbar hielten: Die Teilung Deutschlands, der drohende Atomkrieg, der sowjetische Machtblock“. An deren Stelle sind allerdings neue, andere Probleme getreten – vom Klimawandel über die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus bis zur demographischen Herausforderung.

Abgesehen von unterschiedlichen Themen gibt es aber durchaus einen sehr gravierenden Unterschied zwischen dem früheren und dem heutigen Politik­betrieb:

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Politik hat es heute mit einem massiven Vertrauensverlust zu tun. 1972 – damals war Bernhard Vogel gerade in den Landtag von Rheinland-Pfalz gewählt worden – genossen Abgeordnete noch eine bemerkenswerte Wertschätzung. 1972 äußerten 63 Prozent der Befragten, man brauche „große Fähigkeiten, um Bundestagsabgeordneter zu werden.“ Heute sind nur noch 25 Prozent dieser Meinung. Auch bei der zugeschriebenen Fachkompetenz schneiden Politiker im Jahre 2012 schlecht ab. 51 Prozent der Befragten schreiben zwar Regierungsberatern eine hohe Kompetenz zu, 47 Prozent den Richtern und 35 Prozent den Vertretern von Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International. Von solch einem Ansehen können Parlamentarier nur träumen: Gerade einmal 21 Prozent der Befragten gehen davon aus, dass Bundestagsabgeordnete eine hohe Fachkompetenz haben. Und die können sich nicht wirklich damit trösten, dass noch weniger, nämlich nur 8 Prozent der Bürger, Fachkompetenz bei Parteivorständen vermuten. Auch wenn diese Zahlen neu sind, sind sie nicht wirklich überraschend. Sie bestätigen lediglich andere, ähnliche Umfragen, die das Bild von einem massiven Vertrauensverlust illustrieren, der Parteien, Parlamente, Regierung und Opposition ergriffen hat. Und tatsächlich reicht er noch viel weiter – das Misstrauen umfasst längst auch andere gesellschaftliche Bereiche – Kirchen, Gewerkschaften, Medien und Wirtschaft. Ja, man möchte fast sagen, dass das durchgängige Kennzeichen im Selbstverständnis dieser Gesellschaft ein massiver wechselseitiger Vertrauensverlust ist.

Sicherlich ist ein Teil der Politik- und Parteienkritik, die sich in schlechten Ansehenswerten manifestiert, nicht von der Hand zu weisen. Allerdings gibt es auch viel überzogene und unzutreffende Kritik, die zum einen mit einem höchst widersprüchlichen Bild von der Politik und von Politikern zu tun hat und zum anderen mit unrealistischen Erwartungen an die Demokratie. Vermutlich drückt sich im Vertrauensentzug auch die Enttäuschung darüber aus, dass eine immer komplizierter werdende Welt keine einfachen Lösungen bereithält. Aber – und hier zitiere ich nochmals Bernhard Vogel – „Probleme sind lösbar, und da empfehle ich der jungen Generation ein wenig mehr Selbstbewusstsein“. Ich ergänze: Und Zutrauen in die Lösungskompetenz unserer Demokratie, die in den vergangenen gut 60 Jahren immer wieder bewiesen hat, dass sie sehr wohl in der Lage ist, die anstehenden Aufgaben zu lösen, auch wenn sie nicht die tiefe Sehnsucht nach einer schnellen „Hauruck“-Lösung befriedigt. Demokratie ist eben ein zäher und mühsamer Prozess. Max Weber und seine dicken Politikbretter sind in diesem Zusammenhang schon so oft zitiert worden, dass ich mir hier nur den Hinweis erlaube, dass Politik aus viel Handwerk und wenig Glamour besteht.

Auch wenn sich im Politikbetrieb manches verändert hat, eines scheint über die Jahre konstant zu sein: Die Menschen erwarten von Politikern Zuverlässigkeit. Die Aussage: „Die Bürger wollen nicht jemand, der ihnen nach dem Mund redet, sondern jemand, der ihnen Orientierung gibt“ wird von 87 Prozent der

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befragten Bürger bestätigt, außerdem wünschen sich die Bürger von Politikern Verlässlichkeit (87 Prozent) und Aufrichtigkeit (83 Prozent). Zuverlässigkeit, Aufrichtigkeit, Verlässlichkeit: Das ist genau der Dreiklang von Attributen, der mir zu Bernhard Vogel einfällt, und der das hohe Ansehen begründet, das er heute genießt – bei Bürgern genauso wie bei politischen Weggefährten, und zwar nicht nur bei denen aus den eigenen Reihen.

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WORTE VON DICHTERN

landstieg

Wulf Kirsten

Verehrter, lieber Bernhard Vogel,

auch wenn für unsere Jahrgänge die Zeit der großen Fußwanderungen zu Ende geht oder schon zu Ende gegangen ist (von wegen Rudolstadt – Weimar in zehn Stunden mit nur zwei kurzen Pausen), grüße ich Sie aus gegebenem Anlass mit einer Einladung nach Thüringen. Dorthin, wo es für mich am schönsten ist, ins Vorland des Thüringer Waldes, zwischen Ilm und Saale zu ergründen. Inmitten der toskanisch anmutende Reinstädter Grund bei Kahla. Angesichts schroffer Felswände bis hinauf zu dem Weiler Beckers Kirchhof (nach dem Dreißigjährigen Krieg blieb da nur das eine Gehöft) und imposanter Bergzacken „abendlich wohlgeschmiedet“ (Hölderlin).

Herzlich

Ihr Wulf Kirsten

[<<35] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe

landstieg

auf baumpfaden im nirgendwohin,

graslilien flächendeckend

hangunter in voller blüte,

wie zart, wie filigran

dieser grundton der erde

und woher nur genommen?

grasspringer inmitten,

augenscheinlich nachgerade,

was weiß ich, unterwegs

auf ausgedientem landstieg,

der sich verirrt hat

und nicht mehr weiß, wohin

sich winden und wenden,

weithin beiläufig tagesglanz

uns freimütig überlassen,

allgegenwärtig ausgewitterte

felsbrocken, ausgewürfelt

von abschüssigem felsengurtband,

augenfällig laubflecken im schattenwurf,

und du fragst mich entgeistert,

efeugewandet, in welcher welt

leben wir hier unter soviel

ungebändigter krächzender einsamkeit?

was da so flimmrig schwirrt,

sei das licht der natur, nicht

zu ergründen, nimm diesen landstieg an,

so wie er uns trägt, als sei er

schlichtweg das mundum seiner selbst.

[<<36]

Was ist der Mensch, dass Du an ihn gedacht hast Für Bernhard Vogel zum Geburtstag Ad multos Annos feliciter

Arnold Stadler

Ich schaue hinauf zu den Bergen:

Aus welcher Richtung wird die Hilfe kommen?

Meine Hilfe kommt von Ihm her,

der Himmel und Erde gemacht hat.

Er wird dich nicht stolpern lassen.

Jener, der über dir wacht, schläft nicht.

Der Wächter Israels schläft und schlummert nicht.

Auch dein Wächter ist er.

Er gibt dir Schatten.

Er ist dein Geleitschutz.

Am Tag wird dir die Sonne nichts antun

und nicht der Mond in der Nacht.

Vor dem Bösen schützt er dich.

Er hüte dein Leben.

Er behüte dich beim Kommen und Gehen,

heute und immer.

(Psalm 121)

1.

Beten ist Danken für das Gewährte und Bitten um das Zukünftige.

So hörte ich einst einen Großvater sagen, seine Enkelin wollte wissen, was Beten sei. Wahrscheinlich hat der Großvater das auch schon so gesagt und erklärt bekommen, im alten Katechismus. Und ich fand diesen Erklärungsversuch einer Zehnjährigen gegenüber durchaus geglückt und empfand, dass auch mir damit weitergeholfen war und ist.

Gedichte sind gelagert an der Nahtstelle von Himmel und Erde. Die Psalmen sind ganz besonders solche Gedichte, die es mit Gott und Mensch zu tun haben.

Nach wie vor sind die Psalmen, ein Buch der Heiligen Schrift des Ersten, des Alten Testaments, des meistübersetzten, meistverbreiteten und wohl auch meistgelesenen Gedichtbuchs der Weltliteratur, von einem unvergleichlichen Einfluss auf die Poesie der orientalischen und christlichen Völker, auf das Morgen- wie

[<<37] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe

auf das Abendland, wie man noch vor nicht allzu langer Zeit sagte. Und mehr als dies: Die Psalmen sind das wohl auch schönste Gebet- und Gesangbuch der Welt. Auch in der Welt von heute, nach wie vor.

Sie bringen die Conditio Humana zum Vorschein, die Freude und den Schmerz des Menschen als lebendige Gegenwart aus Vergangenheit und Zukunft, unsere Verbindung als ein Weg unserer Vergänglichkeit im Licht der Unvergänglichkeit des Ewigen.

Sie sind auch Dank für ein Leben, das als Geschenk Gottes erfahren wird.

Gedichte sind Nahtstellen von Himmel und Erde. Besonders die Psalmen sind solche Gedichte und Brücken von Zeit und Ewigkeit. Sie währen und haben sich immer wieder bewährt, seit David, der etwa 1000 vor unserer Zeitrechnung, die ja von Bethlehem an gerechnet wird, lebte, dichtete und sang. David wird seit biblischen Zeiten mit den Psalmen so sehr in Verbindung gebracht, dass manche auch einfach vom Psalter Davids sprechen. Dieser Name taucht ja in so vielen der 150 einzelnen Lieder im Buch der Psalmen auf: „L’David“ – das „l“ kann aber: „von“, „für“ und „zu“ David heißen.

Bethlehem ist die Stadt Davids und seines Nachfahren Jesu. So steht es auch im Evangelium. Und das Buch der Psalmen, der Psalter Davids, war das Gebet- und Liederbuch Jesu, der ein gleiches Buch der Psalmen vor sich hatte wie wir. Es gab die Psalmen zu Jesu Zeiten ja alle schon so wie heute, auf Hebräisch, 150 Psalmen sind es an der Zahl. Dieselben Verse wie wir konnte schon Jesus lesen, beten und singen.

Daher sind die Psalmen gerade auch für Christen die ehrwürdigsten Gedichte und Lieder überhaupt. Den berühmten Psalm 22 „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ vergegenwärtigt der Sterbende ja noch am Kreuz, wenigstens den ersten Vers. Man muss aber wissen, dass dieser Psalm in einer jubelnden Gottgewissheit gipfelt, in den das ganze Universum einbegriffen ist:

Aufleben soll euer Herz, für immer!

Von Ihm werden sie der Welt erzählen, die Menschen,

den Menschen das, was er getan hat, dieses Heil verkünden.

Er hat es vollbracht.

Es ist also keine Aufgabe des Glaubens Jesu, sondern – ganz im Gegenteil – eine Treue zum Wort Gottes bis zuletzt. Das Sterbegebet Jesu, der 22. Psalm, zeigt uns auf beispielhafte Weise, was ein Psalm ist: Er verbindet den Menschen de Profundis mit Gott, dessen schönster Name vielleicht: der Ewige, der Allerbarmende ist.

[<<38]

2.

Der Psalm ist ein Schmerz, der gesungen werden kann. Und eine sangbare Freude. Und die sogenannten Weisheitspsalmen, die dritte Gruppe neben den Klageliedern und den Hymnen des Psalters, sind ein Nachdenken über Gott und seine Welt, der am schönsten auf die Weise des Gesangs vernehmlich wird, ein Dank, der im Rühmen gipfelt.

Es ist ein Reichtum der Töne und der Stimmen, die wir im Buch der Psalmen finden.

Es ist der ganze Mensch, der hier zum Vorschein kommt.

Vom De Profundis bis zum Hallelujah: Alles, was Odem hat, lobe den Herrn, Hallelujah.

Die Vielschichtigkeit der Stimmungslagen in den Psalmen und ihre zu Zeiten auch extremen Erfahrungen sind aber immer ein Ausdruck des einen Menschen.

Besonders dann auch, wenn die Wörter versagen, im Jubel und im Schmerz, hilft vielleicht der Gesang weiter.

Zum Beispiel: das Klagelied: Das Klagelied ist ein Schmerz, der gesungen werden kann: Da beginnt einer erst einmal mit einer menschlichen Erfahrung:

Mir verschlug es die Sprache, als ich erfahren musste:

Die Menschen lügen. Alle.

Ach hilf doch

Es gibt bald keine Menschen mehr.

Bald gibt es nur noch Unmenschen

Einer lügt dem anderen ins Gesicht

So werden die Schwachen klein gehalten

Die Armen lässt man vor die Hunde gehen

Reiß mich heraus! Du kannst es doch!

Ich werde immer weniger. Du kannst mich retten. Rette mich!

Besonders dann auch, wenn die Wörter versagen, hilft oftmals noch der Gesang weiter. Ein Verfolgter singt:

Ich lebe von Tränen Tag und Nacht

Die anderen fragen mich ständig:

wo ist er denn nun, dein Gott?

Wann endlich darf ich dein Gesicht sehen?

Es zerreißt mich vor Schmerz.

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Oder:

Als ich am Ersticken war, warst du mein Atem

Warum toben die Heiden?

Warum sagen sie: „wir sind frei!

Wir brauchen diese Verbindung nicht!“?

Da kann der Ewige doch nur lachen!

Und auch:

Ja, jeder Tag war ein Grauen, jeder Morgen eine Strafe.

Und dann der Schmerz, die Nieren.

Mir tat alles weh. Ich war am Ende.

Ich verstand die Welt nicht mehr. Es war eine Qual.

Mein Schmerz war alles.

Und dann die Erkenntnis, Frucht von Erfahrung und Nachdenken über sie:

Unsere Hilfe und unser Heil kommt von ihm, der Himmel und Erde gemacht hat.

Er hörte mich, genau an dem Tag, an dem ich zu ihm schrie.

Ich war vom Tod umschlungen.

Die Todesangst beherrschte mich. Ich saß im Dreck.

Da schrie ich zu Gott: Rette mich! schrie ich.

Er hat Mitleid mit uns.

Er rettet uns.

Gerade die einfachen Herzen, zum Beispiel mich:

ich war ganz hilflos, da hat er mir geholfen.

Ja, mein Leben dem Tod entrissen hast du.

Ich muss nicht mehr weinen.

Der Mensch vermag singend zu beten, so dass, wenn schon vorerst an der konkreten Lage eines Menschen in Not nichts zu ändern ist, es doch einen rettenden Trost bedeutet, wenn der Mensch von seiner Lage zu Einem beten kann, von dem es heißt:

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Nah ist er den zerbrochenen Herzen, er wird sie umarmen in ihrer Angst.

Er will, dass der Mensch ein Mensch ist.

In seinem Licht sehen wir das Licht.

Denn er weiß ja, was wir sind.

Eine Andeutung nur, ein gewisses Nichts ist der Mensch.

Ein Schatten an der Wand entlang, der Mensch, der geht.

Und dann zerstörst du seinen Glanz wie Motten,

die sich in das schöne Kleid hineinfressen.

Unsere Zeit hauchen wir aus wie ein aufstöhnen. Das ist alles.

Wir blühen ja nur, sind einmal nur da, wie auf der Wiese.

Und dann weiß der Psalmist vor allem auch noch, und darum singt er es:

Ich werde nicht sterben, sondern leben.

3.

Das kann also alles nicht nur gelesen und gebetet werden, sondern auch gesungen.

Freilich immer vor Gott. Sängerinnen und Sänger, Beterinnen und Beter sollten schon „religiös musikalisch“ sein. Etwas glauben. Ja sagen wollen. Und glauben, dass der Glaube schöner ist als der Unglaube. In dieses alte Lied einstimmen und es zu einer Gegenwart machen, die eine lebendige Verbindung immer wieder neu herstellt.

Es wird zu allen Zeiten Menschen gegeben haben, die nicht glaubten, beteten und sangen, die nicht glauben beten und singen konnten. So auch heute. Trotz allem – der Psalmist kannte die Welt ja auch, und wir kennen die Welt auch – am Ende erscheint ein großes Ja.

Das sind die Psalmen: eine Summa: Ein Ja-Sagen. Unser Dank für das schöne Leben. Ein Hallelujah.

Deutsch: Ja, hebräisch Ja – wie in: Hallelu-Ja. Welch schöner Gleichklang!

Ja – ist der nur im Kompositum „hallelujah“ auszusprechende Name Gottes.

Lob und Preis sind das große Einmaleins des Singens und Betens.

Das Rühmen steht am Ende jedes Klagelieds, zumindest wird da ein großes TE DEUM in Aussicht gestellt, jeder Psalm mündet im Hallelujah des letzten Psalmverses:

Alles, was Odem hat, lobe den Herrn!

Hallelujah

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[<<42]

Der archimedische Punkt

Uwe Tellkamp

Der Charakter eines Menschen zeigt sich in Extremsituationen. Im gemeinsam mit seinem Bruder Hans-Jochen Vogel verfassten Buch „Deutschland aus der Vogelperspektive. Eine kleine Geschichte der Bundesrepublik“ beschreibt Bernhard Vogel, wie er am 5. September 1977 gegen 17 Uhr in der Mainzer Staatskanzlei mit Hanns Martin Schleyer telefoniert, der ihn für eine Tagung gewinnen möchte. Kurz nach 18 Uhr erfährt Vogel von der Entführung Hanns Martin Schleyers, der Ermordung seines Fahrers und dreier Beamter seines Begleitschutzes durch ein Kommando der RAF. In Bonn werden Krisenstäbe gebildet. Der Entführung Hanns Martin Schleyers vorausgegangen waren die Ermordung von Generalbundesanwalt Siegfried Buback und seinem Fahrer Wolfgang Göbel am Gründonnerstag 1977 in Karlsruhe und der Mord an ­Jürgen Ponto, Vorstandssprecher der Dresdner Bank, im Juli 1977. An den Sitzungen des Krisenstabs in Bonn ist Bernhard Vogel nicht beteiligt. Doch auch ihn betrifft das Ereignis unmittelbar – er ist mit Hanns Martin Schleyer und seiner Familie befreundet. Die Freunde des Entführten treffen sich in der Wohnung eines Stuttgarter Unternehmers, um sich auszutauschen und zu beraten, sechs schreckliche Wochen lang.

Die RAF fordert die Freilassung von elf verurteilten Terroristen, darunter Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe. Der Konflikt, den ­Bernhard Vogel beschreibt, muss unerträglich gewesen sein. Einerseits teilt er die Auffassung der Krisenstäbe, dass die Bundesrepublik nicht erpressbar sein darf und die Rechtssicherheit der Bürger gewährleistet werden muss. Andererseits weiß er, dass das Leben des Freundes gefährdet ist. Ich lese die drama­tischen Szenen und frage mich: Was hättest du getan? An seiner Stelle und an Stelle eines Mitglieds des Krisenstabs? Und was, wenn es ein Mitglied deiner eigenen Familie gewesen wäre?

Ich muss antworten: Bei Gott, ich weiß es nicht. Es gibt keine einfache Antwort. Ein Menschenleben ist unersetzlich, und die rechtsstaatlichen Prinzipien sind Papier, abstrakt im Vergleich zum konkreten Fall. Kann man nicht eine Ausnahme machen, wenn es gilt, ein Menschenleben zu retten? Lassen wir doch diese Terroristen frei, die kriegen wir schon wieder, die werden uns nicht entkommen. Sagen innere und gewiss auch äußere Stimmen. Am 13. Oktober 1977 wird gemeldet, dass nahöstliche Terroristen die Passagiermaschine „Landshut“ entführt haben und mit den deutschen Terroristen paktieren. Der Sohn Hanns Martin Schleyers erhebt im Namen seines Vaters am 15. Oktober Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht mit dem Antrag,

[<<43] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe

es möge die Bundesregierung mittels einstweiliger Anordnung verpflichten, den Forderungen der Entführer stattzugeben. Grundlage der Beschwerde ist der Artikel 2 Absatz 2 Grundgesetz, der das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit benennt: „Die Freiheit der Person ist unverletzlich.“ Der Antrag wird abgelehnt, das Urteil bejaht die Verpflichtung der staatlichen Organe zum effektiven Lebensschutz, lässt ihnen aber Entscheidungsspielraum, wie sie im konkreten Fall diese Verpflichtung ausfüllen.

Am 18. Oktober wird durch ein Kommando der GSG 9 die entführte „­Landshut“ in Mogadischu erfolgreich gestürmt. Hans-Jürgen Wischnewski meldet Helmut Schmidt: „The work is done.“ Aber am gleichen 18. Oktober wird Hanns Martin Schleyers Tod zur traurigen Gewissheit.

Und nun stelle ich mir die schwarzen Fragen, die aufkommen, wenn ich mich nicht in die Situation der Vermittler, sondern in die Situation der Familien­angehörigen versetze: Was nützen mir Paragraphen und hehre Worte, wenn der liebste Mensch entführt wird und ermordet zu werden droht? Der Staat darf nicht erpressbar sein – aber ist er nicht für den Menschen da? Was geht mich der Staat an, wenn ein Mensch stirbt? Ein Mensch meiner Familie, ein Freund? Und was gehen mich die in den Rechts-, Gesetz- und Prinzipformulierungen berücksichtigten anderen Menschen an, deren Leben gefährdet sein soll, wenn der Staat in einem Fall, in diesem, in meinem Fall, nachgibt? Würden die Anderen an meiner Stelle auch so handeln, wie es von mir gefordert wird?

Diese Fragen wird sich auch Bernhard Vogel gestellt haben. Und nicht nur damals. Politik ist oft die Konfrontation mit dem Unlösbaren, dem Ambivalenten, der Wahl zwischen Scylla und Charybdis.

Ich weiß nicht, ob es mir gelänge, in rechtsstaatlichen Bahnen zu bleiben, wenn jemandem aus meiner Familie so etwas zustieße wie der Familie Schleyer. Hanns-Eberhard Schleyer, der älteste Sohn Hanns Martin Schleyers, gab seine Arbeit in einer Stuttgarter Anwaltskanzlei auf und engagierte sich für den Staat, der das Leben seines Vaters nicht retten konnte. Wäre ich zu dieser Haltung fähig? Ich weiß es nicht. Vielleicht würde ich mir Waffen besorgen und nach alten biblischen Prinzipien reagieren. Ich weiß nicht, ob ich die Größe aufbrächte, auf Rache und Vergeltung zu verzichten. Damit nicht aus der Saat von Gewalt und Gegengewalt wieder nur Gewalt und neues Leid erwächst.

Ich frage mich, was Hanns-Eberhard Schleyer und Bernhard Vogel zu diesen Entscheidungen der gütigen Vernunft befähigt hat, einer Vernunft, die keine Herzenskälte ist, sondern das genaue Gegenteil, weil das Leben „der Anderen“ ihnen eben keine rhetorische Figur, sondern ebenfalls Gewicht auf der Waage ist, die alle unsere Handlungen gegen die unterlassenen und gegen andere Handlungen wiegt. Über zehn Jahre nach Hanns Martin Schleyers Tod spricht Bernhard Vogel die erste Begnadigung eines zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten RAF-Terroristen aus. Begnadigung. Dieses Wort ist es, das mich umtreibt, und das mir, soweit ich das beurteilen kann, das Wesen des Menschen

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und des Politikers Bernhard Vogel auszudrücken scheint wie kein zweites. Für mich besagt dieser Begriff, dass der, der ihn gebraucht, indem er ihn anwendet, sich nicht als selbstsicherer Machtmensch, sondern in der Verantwortung vor Gott und den Menschen sieht. Er bezieht sich auf einen Punkt außerhalb seiner selbst, er ist in der Lage, von sich abzusehen und das Ich, diesen dunkelsten aller Despoten, in die Reihe der anderen Ichs und so in den Dienst des Gemeinwesens zu stellen – die wohl entscheidende Voraussetzung von Zivilisation überhaupt. Zum einen kennzeichnet diese Haltung den im christlichen Sinn Handelnden, zum anderen bezeichnet sie einen Idealismus, der ja gerade der auf dem Grundgesetz fußenden demokratischen Verfassung der Bundesrepublik Deutschland gern abgesprochen wird. Aber was ist idealistischer als der Bezug auf diesen unsichtbaren Polarstern und den Wertbegriff von der Einordnung des Persönlichen ins Gemeinwesen, die gleiche und unter Umständen sogar stärkere Gewichtung des Anderen gegenüber dem Eigenen? Von einem, der diese Haltung lebt und somit auszufüllen imstande ist, wird unter Umständen gefordert, dass er seinen eigenen Sohn an den Hindukusch schickt, da er andere Söhne dorthin schickt, um an diesem fernen und uns scheinbar wenig angehenden Ort die zerbrechliche Pflanze Demokratie einpflanzen zu helfen. Und wenn der eigene Sohn stirbt? So wie Hanns Martin Schleyer starb, weil Terroristen ihn töteten und der Staat sich nicht erpressen lassen darf?

Am zehnten Todestag von Hanns Martin Schleyer, am 18. Oktober 1987, bespricht sich Bernhard Vogel mit dem Chef seiner Staatskanzlei, Hanns-­Eberhard Schleyer. Es geht um die Begnadigung von Klaus Jünschke, der zum harten Kern der RAF gehörte; er überfiel eine Bank in Kaiserslautern und tötete einen Polizisten. Das Gnadenrecht lag, da ein Landes- und nicht ein Bundesgericht die Strafe verhängt hatte, nicht beim Bundespräsidenten, sondern in diesem Fall bei Bernhard Vogel, dem Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz. Beide Persönlichkeiten, Bernhard Vogel und Hanns-Eberhard Schleyer, sprechen sich für einen Dialog mit ehemaligen Terroristen aus und wenden sich gegen jede Art von staatlicher Rache. Klaus Jünschke wird begnadigt. Diese Begnadigung wird kontrovers diskutiert, stößt aber ein Tor auf. Vermutlich ist er hinter einem solchen Tor, der archimedische Punkt, der uns frei machen kann von unseren ganz im eigenen Ich und seinen Schmerzen verharrenden Grenzen. So zu handeln wie Bernhard Vogel und Hanns-Eberhard Schleyer damals, verrät eine Größe, die man nicht genug bewundern kann. Denn die hier niedergeschriebenen Worte bleiben Worte, mögen mir und uns allen die Taten dazu erspart bleiben.

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DIE IDEE DER CHRISTLICHEN DEMOKRATIE

„Wer das christliche Verständnis vom Menschen als ein Geschöpf Gottes für konservativ hält, der nennt uns zu Recht konservativ.“

(Bernhard Vogel)

Alois Glück

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Der erste Satz unseres Grundgesetzes beschreibt den innersten Kern unserer Werteordnung, ist der Dreh- und Angelpunkt unseres Rechtswesens. Diese Festlegung im Grundgesetz ist unumstößlich, sie ist durch keine Mehrheit veränderbar.

Warum steht dieser Satz am Anfang der Werte- und Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland?

Das jeweilige Menschenbild ist das Fundament und die Kursbestimmung für die Werteordnung einer Gesellschaft und eines Staates. Den Vätern und Müttern unseres Grundgesetzes war wohl bewusst, dass die Quelle für den menschenverachtenden Nationalsozialismus, den Rassenwahn, die Euthanasie mit der Tötung von Menschen mit Behinderung, den Terror gegen Andersdenkende, das Menschenbild der Nationalsozialisten war. Die Bedeutung des Menschenbildes für die innere Entwicklung von Gesellschaft und Staat ist unverändert wichtig. Bevor wir uns aber dieser Frage zuwenden, ist danach zu fragen, was die Quelle dieser Position ist. Ohne einen „Alleinvertretungsanspruch“ der Christen zu reklamieren, ist doch eindeutig, dass die jüdisch-christliche Tradition die starke Quelle und für Christen zeitlos gültige Orientierung für das Bild vom Menschen ist.

Im „Kompendium der Soziallehre der Kirche“1 ist die christliche Position unter Bezugnahme auf weitere Quellen so beschrieben: „Die grundlegende Botschaft der Heiligen Schrift besagt, dass die menschliche Person ein Geschöpf Gottes ist (vgl. Psalm 139,14 –18), und macht das für sie charakteristische und unterscheidende Merkmal daran fest, dass sie nach dem Bild Gottes geschaffen ist: ‚Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie‘ (Genesis 1, 27). Gott stellt das mensch­liche Geschöpf in die Mitte und auf den Gipfel alles Geschaffenen…“.

„Weil er nach dem Bilde Gottes geschaffen ist, hat der Mensch die Würde, Person zu sein: er ist nicht bloß etwas, sondern jemand. Er ist imstande sich zu erkennen, über sich Herr zu sein, sich in Freiheit hinzugeben und in Gemeinschaft mit anderen Personen zu treten, und er ist aus der Gnade zu einem Bund mit seinem Schöpfer berufen, um dies und eine Antwort des Glaubens und der Liebe zu geben, die niemand anderer an seiner Stelle geben kann.“2

Unabhängig davon, ob dies „konservativ“ ist – das ist die zeitlos gültige Botschaft in ihrem christlichen Selbstverständnis: Die Würde des Menschen

[<<49] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe

begründet sich für den Menschen darin, dass Gott ihn als sein Ebenbild geschaffen hat. Das ist die Kernaussage der christlichen Anthropologie. „Jede Person ist von Gott geschaffen, geliebt und in Jesus Christus erlöst, und sie verwirklicht sich, in dem sie vielfältige Beziehungen der Liebe, der Gerechtigkeit und der Solidarität mit anderen Personen knüpft, während sie ihre mannigfachen Aktivitäten in der Welt entfaltet. Wenn das menschliche Handeln danach strebt, die Würde und die umfassende Berufung der Person, die Qualität ihrer Lebensbedingungen und die Begegnungen und Solidarität der Völker zu fördern, entspricht es dem Plan Gottes, der es nie versäumt, seinen Kindern seine Liebe und Fürsorge seiner Vorsehung zu erweisen.“3

Dieses christliche Verständnis der Würde des Menschen kann nicht für alle verpflichtend sein, sie ist aber der Beitrag zu der Entwicklung, die letztlich zum Satz 1 im Grundgesetz geführt hat. Ein markantes, ja das wohl markanteste Beispiel für die epochale Aussage des früheren Bundesverfassungsrichters Wolfgang Böckenförde, wonach der Staat von Grundlagen lebt, die er selbst nicht schaffen kann.

In der aktuellen Debatte, worin der spezifische Beitrag der Christen zu den Themen unserer heutigen Zeit besteht, ist dieses Menschenbild der christlich-europäischen Wertetradition der Wichtigste. Die Unantastbarkeit der Würde des Menschen ist von zentraler Bedeutung für eine humane Zukunft. Dem christ­lichen Menschenbild und dem Maßstab des Grundgesetzes zufolge, besitzt jeder Mensch diese unveräußerliche Würde allein deshalb, weil er Mensch ist. Es bedarf keiner weiteren Begründung. Die Würde muss der Mensch sich nicht erwerben wie eine Staatsbürgerschaft, nicht durch Wohlverhalten und Leistung. Darin gründet auch der Anspruch aller Menschen auf die gleichen Freiheiten und Rechte sowie auf Gleichheit vor dem Gesetz, unabhängig von Herkunft, ­Sprache, Hautfarbe, Geschlecht oder Religion, unabhängig von körperlichen oder geistigen Stärken und Schwächen. Dieser Maßstab gilt für das Zusammenleben im eigenen Lande und weltweit. Er muss gelten gegenüber den Menschen mit anderen kulturellen Prägungen in unserem eigenen Land, den Fremden, den Ausländern. Wer sich auf das christliche Menschenbild beruft, muss sich ­diesem sehr aktuellen Maßstab stellen. Das Menschenbild des Grundgesetzes und erst recht für Christen der Maßstab nach ihrem eigenen Glaubensverständnis steht somit für den notwendigen Respekt der Menschen voreinander, gegen die Anwendung von Gewalt im Zusammenleben, gegen eine Reduzierung des Menschen auf seine Nützlichkeit, für freie Entfaltung seiner vielfältigen Solidaritätspotentiale. Es steht für den Schutz des Lebens in seinen vielfältigen Erscheinungsformen, für die Bewahrung der Menschenwürde auch in Grenzsituationen des Lebens – gleichgültig, ob es sich um eine Behinderung, schwere Erkrankung, das Leben vor der Geburt oder die Situation des Sterbens handelt. Es steht für Vergebung und Barmherzigkeit, weil nach diesem Maßstab der Mensch auch in seiner Fehlerhaftigkeit akzeptiert ist. An der Wirkkraft dieser Botschaft im privaten,

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