Poly - Helen Klaus - E-Book

Poly E-Book

Helen Klaus

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Beschreibung

Berlin & München. Als Evi noch frisch mit Klaus zusammen war, hat sie ihn für seinen Freigeist bewundert. Mittlerweile läuft es zwischen den beiden aber nicht so. Sie streiten sich häufiger, vor allem, seitdem sie ihre Beziehung geöffnet haben. Klaus quält die Eifersucht, denn er spürt: Evis Zweitpartner Jan wird von Tag zu Tag wichtiger für sie. Dass Jans Primärpartnerin Lore auch Evis beste Freundin ist, macht die Situation nicht unbedingt leichter...

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Helen Klaus

Poly

Erste Auflage 2021

Gestaltung und Satz: rombach digitale manufaktur, Freiburg

Lektorat und Korrektorat: Lisa Helmus

Covergestaltung: Kai Kraehmer

ISBN: 978-3-945431-67-2

eISBN: 978-3-945431-68-9

© Copyright kladdebuchverlag – Freiburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm und andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert, digitalisiert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

www.kladdebuchverlag.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Über die Autorin

1

War ihre Liebe im Strom der ewigen Streitereien ersoffen wie ein kranker Fisch? Die stickige Luft in der U-Bahn drückte auf Evis Kopf. Klaus saß ihr gegenüber. Die ungewaschenen Locken seines viel zu langen, schütteren Haares fielen in sein Gesicht. Er wischte sich die schweißnassen Hände an seiner abgewetzten Jeans ab.

Müde stützte sie ihren Ellenbogen auf dem schmalen Streifen Gummi unter der Scheibe ab. Nur noch fünfzehn Minuten bis zum Bahnhof. Nur noch dreißig Minuten bis zur Abfahrt seines Zuges. Danach würde sie zu Jan fahren, ihrem anderen Partner.

Sie lebten polyamor. Evi war hin und her gerissen. Sie freute sich darauf, endlich mit Jan unbeschwert den Abend zu verbringen, konnte sich nichts Schöneres vorstellen, und doch wollte sie Klaus genauso wenig verabschieden. Sie blickte zu ihm auf. Wie er dasaß, den Rücken durchgestreckt, die Finger voller Tuscheflecken. Wie ein kleines Kind, das mit dem Füller nicht umgehen konnte. Dann wanderte ihr Blick weiter nach oben, und sie sah in seine Augen. In diese ungeduldigen, klugen, tiefbraunen Augen. Leise seufzte sie. Vor acht Jahren hatte sie sich in ihn verliebt. Damals, in der Schule, er eine Klasse über ihr. Und jetzt war alles furchtbar kompliziert. In der Liebe und der Kunst und dem Leben. Seine Sturheit bewunderte und verabscheute sie. In letzter Zeit hatten sie so viel gestritten, dass ihnen die Worte ausgegangen waren. Sie konnten nur noch schweigen. Jetzt, da er nach Berlin fuhr und für drei Monate weg war. Drei Monate ohne ihn in München, so hatten sie es ausgemacht. Drei Monate waren sie auf Pause. Drei Monate hatten sie beide Zeit zum Nachdenken. Es erschien ihr furchtbar kurz und viel zu lang zugleich.

„Können die das nicht zu Hause machen?“ Klaus rieb seine Handfläche über den hellblauen Jeansstoff. Er starrte an ihr vorbei. Evi drehte sich um. Was meinte er?

„Ich hoffe mal, dass die Leute im Zug ihre Klappe halten.“ Er zog sein Telefon aus der Hosentasche. Das Display leuchtete auf.

Bestimmt meinte er die Großfamilie, die auf der Bank hinter ihnen diskutierte. Eine korpulente Frau, ein bärtiger Mann, zwei Mädchen, die miteinander tuschelten. „Bestimmt.“ Sie drehte sich wieder zu ihm um. Kurz sah sie ihn an, dann starrte sie aus dem Fenster. Graue Betonwände zogen an ihnen vorbei, zwischendurch braune staubbedeckte Kabel.

„Nicht, dass wieder so ein Kind die ganze Zeit bei voller Lautstärke Videos glotzt. Muss ja nicht sein.“ Mit dem Daumen der linken Hand strich er sich die Locken zurück. Seinen Haaren konnte man beim Ausfallen zusehen. Langsam, aber beständig zogen sie sich zurück. Als hätten sie keinen Bock mehr auf ihn. Wie oft sie ihm schon gesagt hatte, er solle sie abschneiden. Aber dann würde er aussehen wie sein Vater. Geheimratsecken im Reihenmittelhaus, mittleres Management im Mittelstand. Es gab nichts, was er mehr verabscheute als Mittelmaß. Nichts, wogegen er sich mehr wehrte. Evi starrte auf den graumelierten Linoleumboden der U-Bahn, mit dem Zeigefinger drückte sie an ihre Schläfe. Ein Schweißtropfen löste sich von ihrer Stirn und lief an ihrem Finger vorbei die Wange hinab. Sie hatte sich damit abgefunden, dass man mit einem normalen Job Geld verdienen musste. Er sträubte sich mit allem dagegen, was er hatte.

„Ich hoffe nur, ich hab alles.“ Seine Handfläche scheuerte über den Stoff.

„Wenn du etwas vergessen hast, schicke ich es dir. Du bist ja nicht aus der Welt.“ Das blaue Polster drückte in ihren Rücken. Sie verschränkte die Arme, hielt sich an ihren Ellenbogen fest, die rechte Hand am linken, die linke am rechten. „Ich bin mir sicher, das wird eine spannende Zeit für dich.“

„Ich fürchte, es wird nur Zeitverschwendung.“ Er starrte auf das schwarze Display des Telefons.

Evi lehnte ihren Handrücken gegen die kühle Plexiglasscheibe, atmete langsam ein.

„Ich kann meine Arbeit nicht vorantreiben.“ Er starrte sie an.

Seine Arbeit? Evi seufzte. Wie oft sollten sie sich noch im Kreis drehen? War es nicht irgendwann genug? „Das hatten wir schon“, murmelte sie. „Ich bin mir sicher, das bringt dir mehr, als alleine in deinem Zimmer zu sitzen.“

„Es bringt mir mehr, an dem zu arbeiten, was ich selbst voranbringen will. Anstatt mich mit dem zu beschäftigen, was andere von mir sehen wollen. Ich brauche nicht den nächsten Namen auf meinem Lebenslauf. Ein Name noch dazu, von dem ich nichts halte.“

„Auf jeden Fall gibt es viele junge Galerien in Berlin … Und ist nicht auch eine Ausstellung am Ende geplant?“ Hinter breiten Betonsäulen rauschte eine Bahn in die Gegenrichtung. Grellgelbes Licht fiel auf anonyme Stadtgesichter. Die Mundwinkel auf Kinnhöhe.

„Eine Ausstellung, Galerien … Alles derselbe neoliberale Mist. Wer sind die Käufer?“ Er lehnte sich zurück, machte dabei eine ausladende Handbewegung. „Firmen, die sich gegenstandslosen Müll in ihre Korridore hängen, um ihre Mitarbeiter zu verblöden. Der Markt verlangt …“

„Nach dem Bequem-Politischen“, vervollständigte Evi seinen Satz. Wie oft hatte sie das schon gehört. Erfolgreiches war bequem und Bequemes erfolgreich. Er aber wollte unbequem sein. Sie starrte in die betongraue Leere vor ihr. Der Zug blieb stehen, die Hydraulik schnaufte, die Türen öffneten sich.

„Du solltest es gut finden, dass ich mein Ding durchziehen will.“

Sie nickte. Sie war es leid. Sie hatte keine Worte, keine Kraft mehr. Sie blickte nach oben, ihr schräg gegenüber hing der U-Bahn Fahrplan. Noch drei Stationen.

„Nicht wahrgenommen zu werden ist nichts, worüber man sich Sorgen machen sollte. Weißt du, wie viele Künstler erst nach ihrem Tod bekannt wurden? Cézanne, Van Gogh … Man muss sich entscheiden. Will man seinen Prinzipien treu sein oder tun, was gefällig ist. Zu seiner Zeit hielt man die Impressionisten für Schmierer.“

Die Hitze hatte ihren Kopf in eisernem Griff. Es war Zeit für ein Gewitter, dachte sie.

Passagiere stiegen aus und ein. Sie blickte nach oben, in die ihr fremde Menge, in das glatzköpfige Gesicht eines hageren Mannes in Jeans und Bomberjacke. Ausgezehrt. Ausgespuckt von der Gesellschaft. Dunkle Ringe unter den Augen.

Klaus schwieg, die Arme vor der Brust verschränkt. Es war immer dasselbe mit ihm, dachte sie. Wieder dieselbe Diskussion, nie kamen sie weiter. Und dann waren da die schönen Momente. Die Momente, in denen sie sich mit ihm so verbunden fühlte wie mit keinem anderen Menschen.

Auf dem Bahnsteig drängten sich die Leute. Paare lagen sich in den Armen, als würden sie für immer auseinandergehen. Als wäre es nicht Berlin, sondern Peking oder Chicago oder der Mond und ein Abschied für immer, irgendwohin weit weg, nicht vier Stunden Zugfahrt. Er stapfte voran, Wagen 23, Platz 87, und blieb schließlich vor der Tür stehen. Seine Schultern senkten sich. Dann drehte er sich um.

Langsam glitt ihre Hand vom Griff des Koffers.

„Ich wünsche dir eine schöne Zeit in Berlin.“

Er sah sie an, ein Lächeln auf den Lippen. „Dann sehen wir uns in drei Monaten“, sagte er, hielt ihr seine Hand hin.

„Ruf mich an, wenn was ist. Ja?“ Evi nahm seine Hand, drückte sie, spürte seine von den Lösungsmitteln raue Haut unter ihren Fingerkuppen. Sie wollte ihn nicht gehen lassen, auch wenn sie wusste, dass es besser war. Sie sah nur ihn, ihre erste Liebe, den Jungen mit den struppigen Haaren und den irren Gedanken. Er beugte sich zu ihr hinab, küsste sie. Für einen Moment versank sie in ihm, schmeckte ihn, spürte seine Lippen. Sein Bart kitzelte ihr Kinn.

Er nickte, lächelte sie spitzbübisch an. Es könnte so schön sein, dachte sie. Sie und Klaus und Jan.

„Pass auf dich auf“, flüsterte er.

Sie nickte.

Durch die blaugetönten Zugscheiben beobachtete sie, wie er zu seinem Platz ging. Sie sah dem Zug hinterher, als er aus dem Bahnhof in den Regen fuhr. Eine kühle Brise strömte über die Gleise zu ihr, sie atmete die frische Luft tief ein. So roch also Freiheit, dachte sie. Als sie zur U-Bahn ging, durchbrach der Donner das Geräuschgewirr der Bahnhofshalle.

Evi stieg am Bonner Platz die Betonstufen der U-Bahn hinauf. Er war fort. Das erste Mal seit Monaten, seit Jahren, nachdem sie mit Klaus nach München gezogen war, fühlte sie sich frei. Sie blickte nach oben, die Wolkendecke riss auf, dahinter blauer Himmel. Sie ließ die Schultern sinken. Keine Diskussionen mehr, keine Ausflüchte, keine nervenzehrenden Streitereien. Kein leeres Schweigen. Warum brauchst du das mit Jan? Bin ich dir nicht genug? In dunklen Stunden immer dieselben Fragen, in hellen Momenten Zustimmung durch zusammengebissene Zähne. Klar, mach doch. Ich freue mich für euch. Er weigerte sich zu verstehen, dass sie nicht anders konnte, als beide Männer zu lieben. Dass es für sie keine andere Möglichkeit gab. Sie hatten gemeinsam damit angefangen, hatten die Keksdose geöffnet. Den Deckel konnte man nicht einfach wieder draufschrauben.

Oben auf der Treppe blieb sie stehen. Ein zitronengelber Käfer fuhr an ihr vorbei. Sie blinzelte in die Sonne, ein einzelner Regentropfen fiel ihr auf die Stirn. Mit der Hand wischte sie ihn fort. In der Luft lag der Geruch von feuchtem Gras und heißem Asphalt. Sie wollte schon immer etwas Besonderes sein. Ihr volles Potential ausschöpfen. Doch entgegen wilder Prophezeiungen ihrer Mutter war nie etwas Besonderes aus ihr geworden. Sie hatte nicht die besten Noten geschrieben, hatte nicht als Konzertpianistin das Publikum bewegt, und war Meilen von jeglicher Universitätsprofessur entfernt. Stattdessen stand ihr ein bürgerliches Durchschnittsleben als Lehrerin am Gymnasium in Aussicht. Schon früh hatte sie sich Männer gesucht, von denen sie dachte, sie würden Großes leisten, sie würden anders leben wollen. Klaus, der Künstler mit Visionen, der Freigeist, dem gesellschaftliche Konventionen egal sein sollten. Und der mittlerweile den Biedermeier wiederaufleben ließ. Jan, der Physikdoktorand am Max-Planck-Institut, der genauso überzeugt war vom Poly-Leben wie sie. Nur, dass es bei ihm keine politische Überzeugung war.

Die Blätter der Bäume leuchteten in sattem Grün. Tausend Wassertropfen klebten auf Autodächern, glitzerten im Sonnenlicht wie Rohdiamanten. Evi atmete einmal noch durch, bevor sie weiterging.

„Da bist du ja.“

Als Evi die Wohnungstür aufschloss, stand Lore schon im Gang. Lore, ihre beste Freundin und Partnerin von Jan. Das Shirt hing locker über ihrer Yoga-Hose.

„Na, wie war es?“ Lore fiel ihr um den Hals.

Evi drückte ihre Freundin an sich, und für einen Moment standen sie in stummer Umarmung im Flur. Wie lange hatten sie einander schon nicht mehr gedrückt, fragte sich Evi. Sie atmete den Geruch ihrer Freundin tief ein. Sie roch nach Lavendel und Rosen.

Langsam ließ Lore Evi los.

„Du bist ja ganz kalt. Willst du einen Tee?“ Leichtfüßig ging Lore in die Küche, drehte den Wasserhahn auf. Ihre WG-Küche war ein länglicher, schmaler Raum. Links offene Holzregale, rechts die Arbeitsplatte mit den tiefen Kerben, darüber die Küchenschränke mit den abgeschlagenen Ecken. Auf dem Herd standen die verkrusteten Töpfe vom Vorabend. „Grün? Ich hab auch Bio Roibuschtee gekauft. Wenn du da Bock drauf hast.“

Lore war der gute Geist der WG. Wegen ihr war der Kühlschrank gefüllt. Nur Bio natürlich, alles vegetarisch.

„Roibusch klingt gut.“ Evi folgte ihr in die Küche. Das Fenster zum Balkon stand offen. Kühle, feuchte Luft drückte herein.

„Also, wie war es?“

Das Wasser im Wasserkocher rauschte, als sich Lore zu Evi an den Tisch setzte.

„Er ist wirklich weg.“ Evi ließ ihre Schultern sinken.

„Ja. Aber ich bin mir sicher, das ist nicht schlecht. Ihr habt euch so oft gefetzt.“

Langsam nickte Evi. Sie hatten ihre guten und ihre schlechten Momente. Acht Jahre war eine lange Zeit.

„Ich hab manchmal nachts wachgelegen, wenn ihr euch gestritten habt.“

Evi sah zu ihrer Freundin auf, sah in ihre großen grünen Augen, die halb vom Pony verdeckt waren. „Das hast du mir nie erzählt“, flüsterte sie.

Lore nahm Evis Hand. „Es war ja auch nicht so schlimm.“ Ihr blondes Haar schimmerte in der Sonne. „Ich meine ja nur, manchmal habt ihr eben nachts lange diskutiert. Das haben wir halt mitbekommen. Es wurde ab und an auch etwas lauter … Die Wände sind dünn …“ Mit Bedauern in den Augen sah Lore Evi kurz an, dann ließ sie ihre Hand los und stand auf. Schon jetzt vermisste Evi die Berührungen ihrer Freundin.

„Es tut euch sicher gut. Ihr habt beide nochmal die Chance über alles nachzudenken“, schob Lore hinterher.

Der Schalter des Wasserkochers schnappte in die Stille, die sich zwischen ihnen ausgebreitet hatte. Dann war Lore froh, dass Klaus weg war? Konnte Evi das so interpretieren? Früher hatte Lore ihr alles erzählt. Seit sie mit Jan zusammen war, lag ein Graben zwischen ihnen. Evi hätte nichts lieber gemacht, als einen Spaten zu nehmen und ihn zuzuschütten.

„Wie geht es dir denn jetzt damit?“ Lore stand mit dem Rücken zu Evi, als sie das kochende Wasser in die Kanne goss.

„Ich weiß noch nicht so recht“, sagte Evi. „Vielleicht liegt es auch daran, dass wir schon so lange zusammen sind. Seit acht Jahren. Das ist eine lange Zeit. Mit Jan ist es erst …“

„Ein Jahr und zwei Monate.“ Lore drehte sich zu ihr um. Ihre Lippen umspielte ein sanftes Lächeln.

„Ja.“ Evi nickte. Vor einem Jahr und zwei Monaten hatten Jan und Evi beschlossen, dass sie mehr waren als nur Mitbewohner und Freunde. Sie hatten auf der Couch gesessen und eines ihrer langen Gespräche über Wirtschaft und Philosophie geführt. Wie aus dem Nichts war Jan auf das Thema Polyamorie gekommen. Was sie denke? Ob sie es sich vorstellen könnte? Sie läse ja die ganzen Bücher, käme schon länger mit zum Stammtisch. Er interessiere sich für sie. So hatte er es damals genannt. Interessieren. Ihr Herz war fast stehen geblieben, und als er sie schließlich küsste, war ein Feuerwerk in ihrem Bauch explodiert. Tausend Schmetterlinge, die sich nicht mehr hatten setzen wollen. Es hatte sich so richtig angefühlt, und das tat es auch heute noch. Denn für Evi war Poly nicht nur Lebenseinstellung und Notwendigkeit, es war die ultimative Konsequenz eines linksfeministischen Lebens. Wenn alle in der Gesellschaft gleichgestellt sein sollten, durfte es auch in der Liebe keine Hierarchien geben. Seitdem konnte sie sich nicht mehr vorstellen, nur einen Menschen zu lieben. Es kam ihr egoistisch vor von einem Menschen alles zu erwarten.

„Klar ist es mit Jan etwas anderes.“ Lore stellte die Teekanne auf den Küchentisch. Das Teeei schwamm auf der Oberfläche des Wassers wie ein kopfloses Quietsche-Entchen, das nach einem Ausweg suchte. „Aber so ist das eben. Jan und du … ihr seid noch frisch verliebt. Ihr habt so viel New Relationship Energy.“ Lore stützte ihre Hände auf der Tischplatte auf und ließ sich langsam auf den Stuhl sinken, als wäre sie eine gebrechliche alte Frau und nicht Mitte zwanzig und drei Mal die Woche beim Yoga. „Klaus und du, ihr kennt jeden Winkel des anderen. Jeden Gedanken.“ Lore zuckte mit den Schultern. „Da kommt es eben zu Reibereien. Und dann ist er auch noch ein Dickkopf. Ihr seid beide Dickköpfe.“

Evi nickte stumm.

„Es ist so viel passiert im letzten Jahr. Ihr habt euch wahnsinnig entwickelt“, fügte Lore an.

„Ich weiß nicht“, sagte Evi. „Ich glaube, ich habe ihn abgehängt.“ Das Glas der Teekanne fing das Sonnenlicht ein, der Tee schimmerte bernsteinfarben. Sie hatte ihren neuen Lebensentwurf angenommen und ihn dabei zurückgelassen. Und das war nicht gut, das wusste sie. Wenn sie etwas bereute, wenn etwas ihre Schuld war, dann das. Aber hätte er sich nicht mehr einbringen müssen, hatte sie sich immer wieder gefragt. Hätte er nicht mehr mitmachen können? Sie hatte nie verstanden, warum er die Bücher nicht las, die sie ihm extra auf den Schreibtisch gelegt hatte. Sie hatte nie verstanden, warum er so selten auf die Stammtische ging, so wenig darüber reden wollte. Sie hatten doch beide gemeinsam die Entscheidung getroffen, ihre Beziehung zu öffnen. Sie glaubte noch immer daran, dass sie es schaffen konnten. Wenn er mitzog.

Langsam ging Lore zum Schrank und nahm zwei Tassen heraus. „Ich glaube, er braucht einfach Zeit. Zeit darüber nachzudenken, was er will. Und deswegen ist es gut, dass ihr die Pause macht.“

Ja, die Pause. Ein Kloß steckte in Evis Hals. Sie hoffte, dass Lore Recht hatte. Hoffte, dass es die richtige Entscheidung war.

Gemeinsam tranken sie noch eine Tasse Tee, dann stand Lore auf. „Ich muss los“, stellte sie fest. „Ich wünsche euch einen schönen Abend heute.“

„Ja.“ Evi blickte sie von unten herauf an. „Danke.“

„Nicht dafür.“ Lore lächelte.

„Doch.“ Evi folgte ihrer Freundin, Kommilitonin und Mitbewohnerin in den Gang und umarmte sie. „Genau dafür.“

Nachdem die Wohnungstür hinter Lore zugefallen war, war sie schließlich allein. Allein mit sich und den leeren Zimmern.

Evi stellte sich in die Mitte des Ganges, senkte die Augenlider, lauschte in die Stille. Sie ging zu Lores Zimmer, lehnte sich an den Türrahmen. Auf der Kommode gegenüber dem mit orientalischen Kissen vollgeräumten Bett stand eine Kommode. Darauf thronte die Statue des indischen Elefantengottes Ganesha. Beweglicher Tänzer, gelenkiger Liebhaber und Beseitiger von Hindernissen, wie Evi von Lore wusste. Die Statue blickte aufs Bett, die Beine im Yogi-Sitz gefaltet, links und rechts daneben Kerzen. Sie hatte ihn auf dem Tollwood gekauft, Evi war dabei gewesen. Stickige Hitze zwischen den Ständen, staubiger Boden, und eine strahlende Lore, die viel zu viel für die Statue gezahlt hatte. Evi betrat das Zimmer, trat vor Ganesha. Vor ihm stand eine flache Wasserschale, in der abgerissene Blumenköpfe schwammen, halb verwelkt. Lore hatte ihre Art der Spiritualität gefunden. Seitdem Evi aus ihrem Heimatdorf in der christlichen Provinz weggelaufen war, war ihr jede Art Spiritualität suspekt.

In der Ferne rauschten Autos auf dem nassen Asphalt. Evi wanderte zurück in den Gang, zu dem Zimmer, das für alle tabu war und jetzt für drei Monate verwaiste. Klaus’ Arbeitszimmer. Sie ging in seinen Raum, der Schreibtisch aufgeräumt. Alles, was von ihm zeugte, war eine vollgekritzelte Schreibtischunterlage. Lose Satzfragmente, hingeschmiert mit schwarzer Tusche. Traurige Augen. Bäume in der Dunkelheit. Sie legte ihre Hand auf das Papier, strich mit dem Finger über die für sie bedeutungslosen Worte. Manchmal war es ihr ein Rätsel, wie sein Kopf arbeitete. Wie er diese düsteren wunderbaren Kunstwerke hervorbrachte, die ihr nachts Angst machten. Seine Skizzen lagen in Mappen im Regal. Seine Materialien, Farben, Pinsel, Tuschefederhalter fuhren mit ihm nach Berlin. Die Leinwände lehnten an der Wand, abgedeckt mit einem Baumwolltuch. Die Metallbox, in der er sonst seine Stifte aufbewahrte, war leer bis auf den alten Radiergummi mit dem Drachenaufdruck, den er seit der Schule hatte, aber nicht mehr benutzte und nur aus Nostalgie aufbewahrte. Evi drehte die vollgekritzelte Schreibtischunterlage um. Ein weißes Blatt Papier starrte sie an. Sie ließ die Schultern sinken. Drei Monate. Sie würde ihn vermissen. Wahrscheinlich mehr, als sie gedacht hatte.

Es gab einen Lichtblick. Etwas, worauf sie sich jede Woche aufs Neue sehr freute. Jan käme bald. Jan war großartig. Er war intelligent, er sah gut aus. Sie wusste nicht, was er an ihr fand, konnte es sich nicht erklären. Sie war nicht besonders schlau oder hübsch. Ihre Oberschenkel fand sie zu breit, das übliche Problem mit der Körperwahrnehmung, auch wenn ihr Verstand es besser wusste. Wenn Jan sie ansah, dann waren alle Gedanken an dicke Schenkel weggezaubert durch seine leuchtenden Augen. Dieses Leuchten, das in Klaus’ Augen schon längst der Realität gewichen war. Einmal hatte Jan ihr vorgerechnet, dass sie erst zwei Monate zusammen wären, denn mit den vier Tagen im Monat, die sie miteinander verbrachten, teilte sich ihre Brutto-Beziehungszeit durch sieben, und aus dem Jahr würden zwei Monate, aus einer langen Zeit eine zu kurze. ‚Typisch Physiker‘, dachte sie, ‚typisch Jan‘. Sie schmunzelte.

Im Wohnzimmer ließ sie sich auf die abgenutzte Ledercouch fallen. Die stand seit ihrem Einzug hier, Lores Eltern hatten sie für die WG beigesteuert. Daneben ein dunkelblaues Veloursofa, es war erst später dazugekommen. Altbestand aus Klaus’ Elternhaus. Der Stoff kratzte und die Polsterung war zu hart, sie saß nie darauf. Gegenüber ein grün-blau karierter Ohrensessel, ein Relikt vom Vormieter. Sie schloss die Augen. In drei Stunden käme er nach Hause. In ihrem Bauch breiteten die Schmetterlinge wieder ihre Flügel aus. Sie streckte sich nach der Fernbedienung, schaltete den Fernseher an. Es lief nichts, auf Phoenix kam eine Politik-Diskussion über Kopftücher. Gelangweilt schaltete Evi das Gerät wieder aus. Hinter ihren geschlossenen Augenlidern sah sie den Zug, wie er hinter dem Regenschleier aus dem Bahnhof fuhr. Immer und immer und immer wieder.

Sie wachte auf, als die Haustür ins Schloss fiel. Autoscheinwerfer malten im Vorbeifahren Schatten an die rau verputzten Wohnzimmerwände.

„Evi?“ Jans Stimme draußen im Flur.

Sie drehte sich zur Seite, sah auf die Uhr. Halb acht. „Im Wohnzimmer.“ Evi rieb sich die Augen.

„Hi.“ Die Couch wippte leicht, als er sich auf die Armlehne setzte. Der Geruch von Haargel und Stadt und Schweiß stieg ihr in die Nase. Aus müden Augen sah sie zu ihm auf. Er trug sein übliches Outfit, wie immer ein hellblaues Hemd zur dunkelblauen Jeans. „Hast du geschlafen?“ Er beugte sich zu ihr hinab. Kurze Bartstoppeln kratzten über ihre Lippen.

„Ein bisschen.“ Sie rieb sich die Augen, versuchte, die Müdigkeit loszuwerden.

Er küsste sie. Seine braunen Augen schwarz in der Dunkelheit. Sie lächelte ihn an. Langsam richtete sie sich auf. Endlich war er da. Sie streckte sich nach einem weiteren Kuss. Doch er stand schon vor der Couch. „Ich hab echt Hunger“, sagte er. Dann ging er ihr voran in die Küche, öffnete den Kühlschrank. Die kühle Innenraumbeleuchtung war das einzige Licht im sonst dunklen Raum. Sie tastete die Rauputzwand nach dem Lichtschalter ab. Mit einem Klacken legte sie ihn um. Der Lampenschirm aus rotem Krepp tauchte die Küche in sein schummriges Licht. Lore hatte ihn zusammengebastelt, als sie eingezogen war. Damals, vor Evi und Jan.

„Was haben wir da?“ Es war eine rhetorische Frage, die er sich gleich durch einen Blick in den Kühlschrank selbst beantworten würde.

„Ich war ewig nicht mehr einkaufen.“

Aus der Hocke sah er sie an. „Wie geht’s dir denn?“

Dann erzählte sie ihm, was sie Lore schon erzählt hatte. Dass Klaus jetzt tatsächlich fort war, und sie nicht wusste, ob die Pause die richtige Entscheidung gewesen war.

„Vielleicht lernt er jemanden kennen.“ Jan zuckte mit den Achseln und zog den Deckel einer Frischhaltebox ab.

„Meinst du?“, sagte sie nachdenklich und starrte auf die weiße Wand hinter ihm. Wirklich vorstellen konnte sie es sich nicht. Klaus und eine Andere. Eine Zweitfreundin … „Dann würde er mal sehen, wie es so ist“, murmelte sie. Bisher war immer nur sie diejenige gewesen, die herumexperimentierte, wie Klaus es so abschätzig nannte.

„Hast du auch Hunger?“ Aus der Besteckschublade nahm er eine Gabel, dann sah er sie an. Sie schüttelte den Kopf. Irgendwas lag ihr im Magen.

„Es sind drei Monate. In der Zeit kann viel passieren. Er hat Zeit sich Gedanken zu machen, was er wirklich will. Ich meine“, er steckte die Gabel in die kompakte Masse in der Dose, „so richtig dabei war er nicht.“ Er schob sich eine Portion Reis-Gemüse-Mischung in den Mund.

„Was meinst du?“ Sie wusste, was er meinte. Sprach die Frage trotzdem aus.

„Na, er hat sich nie für jemand anderen geöffnet.“

Sie hatte Klaus abgehängt. Vielleicht würde er in den drei Monaten auch aufholen. Wenn es ihm gelang, dann wäre alles perfekt. Sie wären eine große Familie. Aufgebaut aus Vertrauen und Liebe, alle gleichberechtigt. Evi seufzte leise.

„Ich fände es gut.“ Sie starrte auf den im Licht der Lampe rötlich schimmernden Linoleumboden und nickte schließlich. „Ja, ich glaube, ich fände es gut.“ Sie sagte es mehr zu sich selbst als zu Jan.

Jan wischte sich die Hände am Küchentuch ab, das neben dem Kühlschrank auf der Arbeitsplatte lag. Dann kam er auf sie zu, streckte die Hände nach ihr aus, zog sie an sich.

Sie sah zu ihm auf, in seine Augen, erlaubte sich für einen Moment darin zu versinken.

„Ich liebe dich“, sagte sie.

Er vergrub sein Gesicht in ihren Haaren, küsste ihren Nacken.

„Ach übrigens, Lore besucht am Sonntag ihre Großmutter. Wir könnten also was machen.“

„Was meinst du? Fährst du nicht mit?“ Überrascht sah sie ihn an. Normalerweise begleitete er Lore. Ihre Großmutter war dement, mal ging es ihr besser, mal schlechter. Sonst legte Jan großen Wert darauf, Lore zu unterstützen. Würde er jetzt wegen Evi nicht mitfahren?

„Nein, beim nächsten Mal wieder. Ihre Mutter fährt mit. Und danach wollten sie noch irgendwas regeln, etwas essen. Wir haben also den ganzen Tag.“ Er lehnte sich zurück.

Es klang wundervoll. Evi grinste.

„Was meinst du?“ Jan zog sie an sich heran.

„Wenn es Lore nichts ausmacht. Wenn sie dich aber lieber dabei haben will …“

„Ihr macht es nichts aus. Mach dir da mal keinen Kopf. Sie freut sich, dass wir eine schöne Zeit miteinander verbringen können.“ Er strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht, streichelte ihre Wange.

„Ich fände es gut, den Kopf frei zu bekommen. Jetzt, wo Klaus weg ist.“ Sie nahm seine Hand, ihre Finger glitten zwischen seine, als gehörten sie dorthin. Seine Hand war warm, seine Haut weich. Sie hielt sich an ihm fest, streichelte seine Knöchel mit ihrem Zeigefinger, ihr Gesicht ganz nah vor seinem.

„Wunderbar.“ Er grinste. „Was willst du machen? Kino? Theater?“

„Nichts mit Kunst.“ Sie sah ihm tief in die Augen.

„Wir könnten auch schwimmen gehen.“

„Im Schwimmbad?“ Das war normalerweise gar nicht sein Ding. Er ging ins Fitnessstudio, um effektiv seinen Trainingsplan abzuarbeiten.

„Ja.“ Er zuckte mit den Achseln. „Warum nicht?“

Evi grinste ihn breit an. Sie liebte es, zu schwimmen. Wenn sie einen Ort nennen sollte, an dem sie sich wirklich zuhause fühlte, dann war es in der Mitte eines Sees. Sie wusste, er schlug es wegen ihr vor. Um ihr eine Freude zu machen.

„Klar, dann gehen wir schwimmen. Und was machen wir jetzt?“

Er strich ihre Haare zurück. „Wir können machen, was wir wollen. Wir haben die Wohnung für uns.“

Sie biss sich auf die Unterlippe.

„Ich hab was dabei.“ Er löste seine Hand von ihrer, dann stand er auf und ging in den Flur. Er kramte in seinem Rucksack, eine Plastiktüte raschelte unter seinen Fingern. Als er zurückkam, legte er ein kleines, in Plastik eingeschweißtes Päckchen auf den Tisch. Auf dem Karton war eine nackte Frau abgebildet. „Was meinst du?“ Erwartungsvoll sah er sie an.

Mit spitzen Fingern nahm sie den Karton auf, drehte ihn. Nippelklemmen. Sie zog die Lasche auf, eine Kette mit zwei schwarzen gummierten Klemmen daran fiel auf den Esstisch.

„Wir hatten das doch letztens in dem Porno gesehen. Der hat dir doch gefallen. Oder nicht?“

Typisch Jan. Er hielt sich an Nullen und Einsen. Entweder etwas war gut oder schlecht. Dazwischen gab es nichts. Dass sie etwas, nur weil sie die Vorstellung vielleicht erregend fand, nicht gleich ausprobieren musste, lag jenseits seiner Vorstellungskraft.

Er kuschelte sich von hinten an sie, küsste ihren Nacken. Sie lagen zusammen eingewickelt unter der Bettdecke in einem Kokon. Die kleine Box mit der Frau darauf und den Nippelklemmen darin lag neben ihrem Nachtkästchen auf dem Stapel Outlander-Romane. Der bläuliche Schein des Fernsehers beleuchtete ihre Gesichter. Es lief eine Tierdoku über Urwaldaffen. Ein Affenweibchen hüpfte rastlos von Ast zu Ast, genauso wie die Gedanken in Evis Kopf. Sie dachte an Klaus, wie er im Zug davonfuhr. Ob er in Berlin tatsächlich jemanden kennenlernen würde? Es erschien ihr so surreal. Klaus und eine andere Frau. Tief in ihrem Inneren zog sich etwas zusammen. Nie war das Thema gewesen. Und jetzt? Jetzt erschien es plötzlich wie eine realistische Option. Sie drückte sich nach hinten, näher an Jan, näher an seine Wärme, atmete durch. Wenn er wirklich jemanden kennenlernen würde, dann würden sie einen Weg finden, damit umzugehen. Dann würden sie lange Gespräche führen und gemeinsam herausfinden, wie sie alle damit glücklich würden. Jeder neue Partner war anders. Jede neue Beziehung war anders. Sie schloss die Augen. Jans Atem streichelte sanft ihren Nacken. Jans Arm umschlang sie, Jans Wärme hüllte sie ein. Er war für sie da. Er würde sie auffangen, sie würden sich gegenseitig auffangen. Das war das Wunderbare am Poly-Sein. Und es wäre schön, wenn Klaus jemanden finden würde, wenn er eine zweite Partnerin hätte, die ihm die gleiche Geborgenheit, das gleiche Gefühl des Angekommen-Seins geben könnte, wie Jan es ihr gab. Sie wünschte es sich für ihn. Sie atmete langsam ein und wieder aus, versuchte, dieses diffuse Gefühl von Eifersucht weg zu atmen. Aber was, wenn er die Neue lieber mochte als sie? ‚Nein‘, dachte sie. Eifersucht war Egoismus. Eifersucht war das selbstzentrierte Gefühl, nicht loslassen zu können. Einen lieben Menschen an sich ketten zu wollen, weil man Angst hat, ihn zu verlieren. Aber man kann einen Menschen nicht festhalten, er bleibt bei einem oder geht. Aus freien Stücken. Eifersucht war ihr Problem, sie musste sich damit konfrontieren, an sich arbeiten und sie überwinden.

Sie drehte sich auf den Rücken, sah in Jans Augen. „Hey“, flüsterte sie. „Ich …“

Das Geräusch des Schlüssels im Schloss der Haustür zerriss ihre Gedanken. Machte allem ein jähes Ende. Im Gang sprang das Licht an, fiel durch den kleinen Türspalt in ihr Zimmer, mischte sich mit dem bläulichen Schein des Fernsehers. Lore war zu Hause. Jan küsste Evis Nacken, sein Atmen streichelte ein letztes Mal ihre Haut.

„Wir sprechen später, ja?“ Er küsste sie auf die Stirn. Dann rief er „Hallo“ in Richtung Gang.

„Hi.“ Vorsichtig machte Lore Evis Zimmertür auf, als wollte sie nicht stören. ‚Überflüssig‘, dachte Evi, sie störte doch sowieso. Das rosarote Sport-Top drückte ihre Brüste nach oben, der weite Hoodie schlackerte um ihre Hüften. Die blonden Haare klebten an ihrer Stirn.

„Wie war Yoga?“ Jan stützte sich auf. Kalte Luft streifte über Evis Rücken, wo er gerade noch gelegen hatte. Sie fröstelte.

„Gut.“ Lore betrachtete erst ihn, dann sie.

„Komm doch her.“ Er streckte die Hand nach ihr aus. Immer wollte er sie in ihre Höhle einladen. Nie kroch sie unter die Decke. Evi lächelte Lore an.

Und die schüttelte den Kopf. Natürlich. „Ich sollte duschen. Ich bin ganz verschwitzt. Wie war euer Abend?“

,Vorbei‘, dachte Evi. Jetzt war er vorbei. Dabei hatte sie mit Jan sprechen wollen. Über Klaus, über die Eifersucht, die sie auf einmal beschäftigte.

„Schön. Entspannt“, sagte Jan.

Lore nickte. „Schön“, murmelte Lore und sah Evi dabei an. Dann drehte sie sich zu ihm: „Kommst du dann? Ich geh ins Bad. Ich bin hundemüde.“

„Klar.“ Er schlug die Decke zurück, kletterte aus dem Bett.

Nachdem Lore verschwunden war, sagte Evi zu Jan: „Du musst jetzt gehen?“ Von unten herauf sah sie ihn an. Er war nicht mehr bei ihr. Kaum rief Lore, war er weg, und sie allein. Konnte er sie nicht ignorieren? Für eine Weile nur? Bei ihr bleiben, obwohl Lore auf ihn wartete?

Er zuckte mit den Achseln.

„Kannst du nicht dableiben? Nur eine Nacht?“

Er beugte sich zu ihr hinab. Mit dem Daumen strich er über ihre Wange. „Heute nicht“, wisperte er. „Sicher ein anderes Mal. Ich spreche mit Lore.“

Sie seufzte und nickte. Natürlich musste er es mit Lore abklären und Grenzen neu verhandeln und es brauchte alles seine Zeit. Sie betrachtete ihn. Der nachdenkliche Blick. Sein Lächeln. Manchmal fühlte sich das alles nur wie eine Hürde an, nicht wie eine Bereicherung. Es gab Momente, die waren so wundervoll, so voller Liebe, so perfekt. Und dann gab es diese Herausforderungen, die einen auf die Probe stellten und einen hinterfragen ließen, warum man das alles machte. Doch die Antwort war klar: für die schönen Momente. Die Momente, in denen sie von Klaus zu Jan ging, und sich von beiden so sehr geliebt fühlte.

Er küsste sie ein letztes Mal, dann war er fort und sie allein. Wirklich allein. Sie und der Gedanke an Klaus und Jans Geruch, und irgendwo noch Klaus, tief vergraben in Kissen und Matratze. Sie dachte an den Kuss am Bahnsteig, an Klaus’ Lippen, an seine klugen tiefbraunen Augen, an seine tintenfleckigen Finger, und musste schmunzeln. Wie er immer in seinem Arbeitszimmer saß, die Augenbrauen in tiefer Konzentration zusammengezogen. Im Alter würde er über der Nase sicher eine tiefe vertikale Denkerfalte haben. Sie drehte sich auf den Rücken, starrte an die Decke. Dann tastete sie nach den Nippelklemmen. Sie setzte sich auf, schüttete den Inhalt der Box auf die Bettdecke. Mit dem Zeigefinger schob sie die Kette über den Baumwollstoff, die schwarzgummierten Klemmen kleine Gewichte, die ihrer Bewegung mit Verzögerung folgten. Sie nahm eine Klemme auf und steckte sie sich auf ihren Finger. Erst war da nur der leichte Druck auf ihr Nagelbett, auf die Fingerspitze. Die Haut unterm Fingernagel färbte sich rot, dann weißlich. Es schmerzte nicht mehr, als wenn sie sich beim Wäscheaufhängen gedankenverloren eine Wäscheklammer auf den Finger setzte. Sie zog die Klammer vom Finger und legte die Kette wieder aufs Bett. Dann zog sie sich ihr T-Shirt über den Kopf. Sie setzte sich auf und steckte die erste Klemme auf ihren linken Nippel. Es baute sich Druck auf, er zog von ihren Brüsten hinein in ihren Bauch. Sie lehnte sich zurück und betrachtete ihren geklemmten Nippel. Sie dachte darüber nach, ob sie das Gefühl geil fand oder nicht. Es war, als betrachtete sie nicht ihre Brust, sondern den Busen einer anderen. ‚Ah, so sieht das also aus‘. Unentschlossen öffnete sie die Klemmen wieder. Ein spitzer, heller Schmerz, dann war es vorbei. Aber geil? Sie legte die Klemmen zur Seite, streifte ihr T-Shirt wieder über, rutschte auf dem Bett nach unten und zog sich die Bettdecke bis ans Kinn. Dann hörte sie in die Stille der Wohnung hinein, hörte auf die Geräusche der anderen.

Als Evi sich am nächsten Morgen im Bett aufrappelte, war die Luft geschwängert vom Geruch nach frischem Toast und Ei. Ihre Beine waren schwer wie Blei, sie hievte sie über die Bettkante, stützte sich mit den Ellbogen auf den Knien auf, legte den Kopf in die Hände. Wann war sie schlussendlich ins Bett gefallen? Um drei Uhr? Langsam drückte sie sich hoch. Sie nahm den dicken Strickcardigan vom Schreibtischstuhl und zog ihn über.

In Hotpants und Spaghettiträger-Top tanzte Lore in der Küche zu poppiger Radiomusik. Sie rührte in einer Pfanne, neben dem Herd lag ein Holzbrett, darauf kleingeschnittener Schnittlauch. Die Sonne schien durch das Küchenfenster. Mit den Hüften wippte Lore im Takt der Musik hin und her.

„Morgen“, sagte Evi und setzte sich an den Küchentisch. Drei Gedecke. Teller, Messer, Gabel, geblümte Servietten. Dazu Erdbeermarmelade, Butter, Brot, bräunlich angelaufene Apfelspalten.

„Morgen. Hast du gut geschlafen?“ Lore grinste sie breit an. Vom Holzbrett ließ sie Schnittlauch auf das Rührei regnen.

„Ja.“ Evi zog einen der Stühle nach hinten, ließ sich auf die Sitzfläche fallen. Ihr Körper fühlte sich an wie ein nasser Sack.

Lore sang den Text mit, mit dem Pfannenwender schabte sie das Ei vom Rand. Ihr Hintern wippte von links nach rechts, von rechts nach links.

Evi nahm sich ein Brot aus dem Korb. „Du bist aber gut gelaunt heute.“

„Ja.“ Lore sah sich über die Schulter zu ihr um und zuckte mit den Achseln. „Manchmal, da geht es mir einfach gut. Hat keinen besonderen Grund.“

Mit dem Messer schälte Evi die Butter in dicken Scheiben ab und legte sie eine nach der anderen aufs Brot. Dann begann sie alles zu einer hellgelben Schicht zu verstreichen. Sie wünschte sich, sie hätte Lores gute Laune. Evi legte das Messer zur Seite. ‚Vielleicht beim nächsten Mal‘, dachte sie. Beim nächsten Mal würde er bei ihr bleiben, statt zu Lore zu gehen. Wo war er eigentlich? Sie lehnte sich zurück und sah durch den Türspalt hinaus in den Gang.

Die nassen Haare glatt nach hinten gestrichen kam Jan aus dem Bad, ein Handtuch um die Hüften geschlungen, barfuß. Er grinste Evi an, als er die Küche betrat, aber Lore küsste er.

„Hey“, quietschte Lore. „Du bist ganz nass.“ Mit der flachen Hand schlug sie ihm spielerisch auf die Brust.

„Nur frisch geduscht.“ Er grinste breit, drehte sich zu Evi um. „Meine beiden Schönheiten.“ Er roch nach Granatapfel und Zimt. Das Duschgel hatte Evi vor ein paar Tagen gekauft. Evi sah ihm hinterher, als er aus der Küche ging. Seine rechte Hand hielt den Handtuchknoten zusammen. Bestimmt sammelte er mit seinen feuchten nackten Füßen wieder den Staub vom Linoleumboden auf. Sein Hintern zeichnete sich unter dem weißen Frotteestoff ab. Sonntag, dachte sie. Schon morgen. Sonst hatte sie immer eine ganze Woche warten müssen bis zum nächsten Date. Sie hatten in der Vergangenheit zu wenig Zeit miteinander verbracht.

„Und, was hast du heute vor?“, fragte Lore.

„Ich glaub ich kauf mir neue Bettwäsche.“

„Ja? Warum das?“

„Mal was anderes. Meine Bettwäsche ist uralt. Ich hab Lust auf was Neues.“

„Wann willst du los?“ Lore nahm die Pfanne vom Herd, stellte sie in die Mitte des Tisches.

„Gleich nach dem Frühstück.“

„Und heute Abend? Hast du Pläne?“

„Therese kommt vorbei.“ Früher waren sie das Trio infernale gewesen, Therese, Lore und Evi. Nichts hatte sie trennen können, immer hatten sie über die Gesellschaft und die großen Fragen des Lebens diskutiert. Lore war mittlerweile kaum noch dabei.

„Ach stimmt. Das hattest du gesagt.“ Lore setzte sich neben Evi, faltete die Blumenserviette auf und legte sie sich über die Oberschenkel.

„Wenn du dazukommen willst …“, sagte Evi, doch sie wusste, Lore würde ablehnen. Aus dem Trio infernale war ein Duo geworden. So schade es war, sie musste es akzeptieren. Auch wenn sie dem hinterhertrauerte, was einmal gewesen war.

„Ich kann leider nicht.“ Lore schaufelte sich mit dem Pfannenwender Rührei auf den Teller. „Wir treffen Jule und Chris.“

„Dann sag den beiden schöne Grüße von mir.“

„Klar, mach ich.“

Schließlich schwiegen sie. Sie saßen nebeneinander und aßen, während Evi darüber nachdachte, was sie sagen sollte. Uni? War das gerade echt ihr einziges Thema? Aus dem Bad erhob sich das Aufbrausen des Föns über die Stille zwischen ihnen. Evi hob einen Pfannenwender voll Rührei auf ihren Teller. Dann sah sie Lore dabei zu, wie die sich Frischkäse auf einen Pumpernickel schmierte. Wegen der ganzen Ballaststoffe, sagte Lore immer.

Am Nachmittag kuschelte sich Evi in ihre Kissen. Das Buch, das sie lesen wollte, lag auf ihrer Brust. Claire suchte Jamie, wie es schien für immer und ewig – unerfüllte Liebe, Outlander. Sie mochte die Bücher, mochte sie trotz der Vergewaltigungssymbolik, trotz der Unterdrückung der Frau durch das Patriarchat. Es störte sie weniger als Therese, die konnte sich stundenlang darüber aufregen. Als ob es keine anderen Möglichkeiten gäbe, die männliche Dominanz in der Gesellschaft zu kritisieren. Es gab subtilere Mittel. Doch für Evi war es die Romantik, die die Bücher ausmachte. Auch beim zweiten Mal lesen fieberte sie mit, ob Jamie und Claire alle Herausforderungen meistern würden. Es klingelte. Evi tastete nach dem Lesezeichen, steckte es zwischen die Seiten und klappte das Buch zu. Dann sprang sie aus dem Bett. Die Klingel piepte erneut in schrillem Dreiklang, als sie zur Tür eilte. „Ja ja“, murmelte sie vor sich hin. „Ich komm ja gleich.“

Im Gang stand, die roten langen Haare hinters Ohr geklemmt, Therese, ein breites Lächeln auf den Lippen. Sie trug ein schwarzes Shirt und eine schwarze Hose, bei ihren roten Doc Martins hatte sie nur jedes zweite Loch geschnürt. Evi fiel ihr um den Hals. „Therese. Hallo“, sagte sie, als sie sie nach einer innigen Umarmung losließ.

„Du bist ja gut drauf.“ Therese machte einen Schritt in die Wohnung. „So hab ich dich ja selten erlebt.“ Sie hatten sich am ersten Tag des Studiums kennengelernt, und vom ersten Moment an hatte Evi gewusst, dass Therese ihr als Freundin erhalten bleiben würde.

„Wie geht es dir?“

„Ich habe mit Jakob Schluss gemacht.“ Therese ging auf die Knie, öffnete den seitlichen Reißverschluss ihrer Stiefel. Dann stand sie wieder auf, und schob mit dem rechten Fuß die Schuhe ins Eck. Sie sah in die Leere des Ganges. „Sind wir allein?“

„Ja“, sagte Evi. Und dann: „Schon wieder?“. Jakob war Thereses aktuelle On-Off-Beziehung. Sie war selbsterklärte Serien-Monogamistin.

Therese kramte in ihrer Tasche herum, zog ihr Smartphone heraus und steckte es gleich wieder weg. „Willst du Tee?“, rief Evi auf halbem Weg in die Küche.

„Tee klingt gut. Aber vielleicht später noch was anderes. Ein gutes Glas Whiskey …“ Therese folgte Evi in die Küche. „Und wie geht es dir? Ist Klaus schon in Berlin?“

„Ich habe ihn gestern zum Zug gebracht.“

„Und, wie ist es?“ Therese lehnte sich an die Küchenarbeitsplatte.

„Gut.“ Evi nahm die Tee-Box aus dem Regal. Es hatte keinen Sinn, mit Therese ihre Zweifel breitzutreten. Die hatte eine Meinung, und die war: Klaus und Evi passten nicht zusammen. Evi war es leid, das alles zu diskutieren.

„Nun sag schon, wie ist es so … ohne Klaus?“, sagte Therese.

„Ich weiß nicht“, antwortete Evi. „Es ist anders … Mal sehen.“ Der Wasserkocher zischte leise. Evi schälte die Teebeutel aus ihrer Papierverpackung und hängte sie in die Teekanne.

„Es wird höchste Zeit, dass du mal für dich bist. Ich meine, wie lange wart ihr zusammen?“

Evi sah zu Therese, während sie sich nach dem Holztablett auf dem Küchenschrank streckte. ‚Sie kann es einfach nicht lassen‘, dachte Evi. Mit dem Zeigefinger hob sie das Tablett an, zog es nach vorne, bis es ihr entgegenkam. Sie brauchten endlich mal einen anderen Platz für das Ding. Sie stellte das Tablett auf die Arbeitsplatte. „Acht Jahre. Und wir sind immer noch zusammen.“

„Dann warst du sechzehn, als ihr zusammengekommen seid. Sechzehn …“ Das heiße Wasser dampfte aus der Kanne, als Evi den Tee aufgoss. „Das ist quasi dein ganzes Leben.“ Therese stand mit verschränkten Armen neben ihr.

„Siebzehn“, korrigierte Evi. „Ich war siebzehn.“ Evi stellte Teekanne, Tassen und Zucker aufs Tablett. Der Tee schwappte über den Rand der Kanne, als sie es hochhob. Eine Pfütze Wasser formte sich auf dem unbehandelten Holz.

„Ihr habt die ganze Zeit aufeinander gehockt.“ Therese ging Evi voran ins Wohnzimmer. „Die Pause“, sie malte Gänsefüßchen in die Luft, „ist das Beste, was dir passieren konnte. Endlich hast du den Kopf für was anderes frei.“ Das Leder knarzte, als sich Therese auf die Couch setzte. Sie schlug die Beine übereinander und sah Evi von unten herauf mit gehobenem Kinn an. Sie hatte diese Fähigkeit, immer überlegen zu wirken, immer von oben herab, immer schlagfertig. Wie konnte man sie nicht dafür bewundern?

„Zucker?“ Evi beugte sich nach vorn, stellte das Tablett in der Mitte des dunkelbraun lasierten Eichenholz-Couchtisches ab.

„Nein. Mit Zucker habe ich aufgehört.“ Therese schlug die Beine übereinander, lehnte sich zurück.

Evi nahm Therese gegenüber in dem alten Lesesessel Platz. Sie beugte sich vor, schenkte ihnen beiden ein. Der heiße Tee-Dampf stieg aus den Tassen auf. Es roch nach Minze und Süßholz. „Es ist schön, mehr Zeit zu haben. Zeit für Jan.“

„Ja …“, Therese nahm einen Schluck von ihrem Tee, „Jan …“ Sie zog seinen Namen unmöglich in die Länge, das n löste sich in ihrem Mund auf wie ein Stück Würfelzucker. „Du könntest auch einfach mal alleine sein“, schlug sie vor. „Oder dich nach was Neuem umsehen …“ Über den Rand ihrer Teetasse sah sie Evi an.

Die schaufelte sich einen Löffel Zucker in den Tee, rührte um. Sagte nichts dazu. Das Thema war zwischen ihnen nicht neu. Jan hatte Lore und sie dürfte nicht zu viel erwarten von ihm, sie kannte ihn doch. Bla, bla, bla. Das mit der Polyamorie wäre ja schön und gut, sie sei aber seine Zweitpartnerin, das müsse sie sich merken – und überhaupt, wenn sie das unbedingt machen wolle, war das ihre Sache, nur politische Gründe waren die falschen, es ging hier um das persönliche Glück, nicht um einen Kampf gegen das System oder die Kleinfamilie oder was auch immer, auch wenn Therese natürlich ihre Einstellung respektierte. So oder so ähnlich lief die Argumentationskette ab. Gerade eben konnte sie drauf verzichten.

„Es spricht nichts dagegen, dass du dich umsiehst.“ Therese zuckte mit den Achseln. „Ich meine, du wirst immer die Nummer Zwei sein. Reicht dir das wirklich?“

„Wir haben keine Hierarchien.“ Evi richtete sich in ihrem Stuhl auf.

„Naja, also …“ Therese verzog ihr Gesicht.

Evi schüttelte den Kopf. Was wusste Therese schon? Sie hatte doch keine Erfahrung mit Polyamorie. Sie immer mit ihren wechselnden Typen und On-Off Beziehungen. Im Grunde war Therese doch unfähig, sich länger zu binden. Und Evi hatte es gleich mit zwei Männern geschafft. Wenn, dann sollte sich Therese was von ihr abschauen, nicht umgekehrt. „Wir haben keine Hierarchien“, wiederholte Evi.

„Also“, Therese atmete tief ein, „ich kenn mich ja nicht aus. Aber wenn ich mir das so ansehe, wie ihr vier das hier organisiert habt …“ Sie betrachtete Evi mit ihrem skeptischen Blick. „Ich will einfach nicht, dass du in dein eigenes Unglück läufst. Ich habe das Gefühl, dass du dich in einen Tagtraum reinsteigerst. Jan wird nie die Hälfte seiner Zeit mit dir verbringen. Er wird dich nie seinen Eltern vorstellen. Du wirst nie die Feiertage mit ihm verbringen. Und das hoffst du doch, oder?“

So hatte sich Evi ihren Abend nicht vorgestellt. Therese konnte nicht in ihre Beziehung reinschauen. Was wusste sie schon? Evi kniff die Lippen zusammen. „Was ist jetzt eigentlich mit Jakob?“, fragte sie und stellte ihre Tasse auf den Tisch. Es war ja gut und schön, wenn Therese sich um sie kümmern wollte. Nur manchmal schlug sie über die Strenge. Gerade war der Punkt erreicht. Es war ihre Beziehung, ihre Liebe, ihr Leben, und Therese konnte ihr raten, was sie wollte: Die Entscheidung lag bei ihr und alleine bei ihr und sie hatte sie schon längst getroffen. Es gab Jan und das war gut so.

„Ach, Jakob. Er ist mir einfach zu anhänglich.“ Therese zuckte mit den Schultern und nahm einen großen Schluck vom Tee.

„Schade. Ich fand, ihr habt gut zusammengepasst“, sagte Evi mit spitzer Zunge.

Therese betrachtete Evi für einen Moment. „Was meinst du?“

„Na, ihr habt so harmonisch gewirkt.“ Evi hatte die beiden nur ein paar Mal zusammen erlebt. Aber das war egal, jetzt konnte es ruhig um Thereses Beziehung gehen. Nicht immer nur um Jan und dass er nie werden würde, was sie sich wünschte. Ja, vielleicht hatte Therese Recht. Und vielleicht hing Therese auch nur ihrem eigenen Klischee hinterher. Poly war eben anders.

Nachdenklich nickte Therese. „Wir sollten anstoßen“, schlug sie vor.

„Worauf?“ Evi klammerte sich an ihrer Teetasse fest.

„Darauf, dass wir in fabelhaften Zeiten leben, dass wir uns unsere Partner frei aussuchen können, dass wir tun und lassen können, was wir wollen“, sagte Therese. Sie sprach langsam, nachdenklich. „Hätten wir vor hundert, zweihundert Jahren gelebt, wir wären längst verheiratet und schwanger und studiert hätten wir sowieso nicht. Das darf man nicht vergessen.“

Evi nickte.

„Frauen kämpfen seit Jahrhunderten um ihre Rechte. Und das werden sie auch noch ein Weilchen tun. Aber nichtsdestotrotz können wir trotzdem anstoßen und uns freuen, dass wir unsere Männer einfach verlassen können, wenn wir es wollen. Viele Frauen auf der Welt haben diese Freiheit nicht, das ist eine Schande. Umso mehr müssen wir unsere Freiheiten feiern und nutzen und mit denen solidarisch sein, denen es schlechter geht.“

„Mit Tee können wir schlecht anstoßen.“ Evi stand auf. „Sekt?“

„Whiskey. Hast du einen guten da? Ich hab dir doch letztens einen mitgebracht.“

„In der Küche.“

Evi füllte den Whiskey in Wassergläser, etwas Besseres hatten sie nicht. Schon als sie die Flasche mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit zur Seite stellte, nahm Therese ihr Glas in die Hand, hielt es gegen das Licht.

„Dann lass uns anstoßen.“ Sie kniff ein Auge zu, schwenkte die Flüssigkeit im Glas, als suche sie nach Verunreinigungen in einem Diamanten. „Auf unsere Freiheiten“, rief Therese feierlich aus und hob ihr Glas in die Höhe.

„Auf unsere Freiheit.“ Halb im Stehen stieß Evi ihr Glas gegen das von Therese.

„Hast du das Buch gelesen, das ich dir gegeben hatte?“

Evi zog die Schultern hoch, setzte ihr Glas an ihre Lippen. Wenn sie das zweite Mal mit Outlander durch war, würde sie damit anfangen. Es klang anstrengend. Totalitärer Staat, Unterdrückung von Frauen, die als Gebärmaschinen benutzt wurden. Sie schluckte den Whiskey runter, auf ihrer Zunge hing ein trockener schwerer Geschmack.

„Du solltest es echt lesen. Wir besprechen es auch in meinem feministischen Lesezirkel. So stelle ich es mir beim IS vor.“ Thereses Blick driftete ab, sie blickte irgendwo in die Ferne, durch die Küchenwand hindurch. „Die Unterdrückung. Was junge, intelligente Frauen dazu bringt, freiwillig dieses Regime zu unterstützen … Ich werde es nie verstehen.“ Therese fokussierte ihren Blick, starrte dann in ihr Glas. „Wir müssen über sowas reden. Wir sind viel zu schnell wieder in der Steinzeit.“

„So wie ich es verstanden habe, ist es das Gefühl, etwas aufbauen zu können. Etwas Neues schaffen zu können.“ Sie zuckte mit den Schultern. Früher war sie oft bei Diskussionsrunden dabei gewesen. Doch die Beziehung zu Jan und die ewigen Diskussionen mit Klaus hatten ihre ganze Zeit verschlungen. Etwas hatte weichen müssen, und das war das feministische Engagement gewesen.

Kurz nach Mitternacht kamen Jan und Lore nach Hause. Sie verschwand gleich im Bad, er grinste breit, als er Therese sah, zog sich auf dem Weg zum Wohnzimmer seine Jacke aus und schmiss sie auf die ungenutzte Velourscouch. Er setzte sich neben Evi auf die Armlehne des Lesesessels, beugte sich zu ihr hinab für einen schnellen Kuss.

„Na, ihr beiden?“ Für einen Moment noch hingen seine Augen an den ihren. Sollte Therese doch denken, was sie wollte. Evi liebte es, wie er sie ansah, liebte diese Momente, in denen nichts außer ihm existierte. Diese Momente, in denen die Welt auf das Wesentliche zusammenschrumpfte.

„Hattet ihr Spaß?“, fragte sie.

„Es war nett. Wir haben … Was haben wir gleich nochmal gespielt, Schatz?“, richtete er sich an Lore, ohne seine Augen von Evi abzuwenden.

„Pandemic.“ Lore stand in der Tür. Dunkle Ringe gruben sich tief unter ihre Augen. „Hallo, Therese.“

„Hallo, Lore“, sagte Therese, als sie aufstand und Lore in die Arme schloss. „Es ist ja ganz wunderbar, dich mal wieder zu sehen.“ Therese ließ sie los und setzte sich wieder auf die Couch. „Sag mal, hast du schon ein Thema für deine Arbeit?“ Sie setzte ein Lächeln auf, das Evi nur als unverbindlich beschreiben konnte.

„Ich hatte mir überlegt etwas über das Frauenbild Aldous Huxleys zu schreiben.“ Therese streckte sich nach vorne, umfasste die Flasche Whiskey am Hals und schenkte sich nach. Zum zweiten, zum dritten Mal? Therese war noch nie jemand gewesen, der einen guten Alkohol links liegenließ.

„Ach“, sagte Jan. „Ein Freund von mir hat sich damit beschäftigt. Ich kann dir seinen Kontakt geben.“

„Das klingt gut.“ Therese nickte, nahm einen großen Schluck der goldbraunen Flüssigkeit, und presste die Augen zusammen, als sie schluckte. „Und du?“ Sie wandte sich an Lore.

„So weit bin ich noch nicht. Ich habe überlegt, ob ich über ein zeitgenössisches TV-Format schreiben soll. Vielleicht analysiere ich eine Folge des Tatorts“, sagte Lore achselzuckend. Als gäbe es nichts Unwichtigeres als das Thema ihrer eigenen Masterarbeit.