positiv - Masande Ntshanga - E-Book

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Masande Ntshanga

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Beschreibung

Ein mutiges, freches Portrait der jüngeren Generation im heutigen Südafrika. Lindanathi ist HIV positiv. Auf einem der neuen HIV- und Drogenberatungstreffen lernt er Cecilia und Ruan kennen. Die drei werden ein unzertrennliches Team, dealen mit illegalen Pharmaka und dröhnen sich auf ihren Streifzügen durch Kapstadt voll mit allem, was sie in die Finger bekommen. Lindanathi, persönlich verstrickt in den Tod seines jüngeren Bruders, hat der Familie den Rücken gekehrt, bis er eines Tages eine SMS erhält, die ihn an ein vor Jahren gegebenes Versprechen erinnert ... Als ein rätselhafter, maskierter Mann in ihr Leben tritt, steht Lindanathi vor der Entscheidung, sein Leben in Kapstadt fortzusetzen oder zu seiner Familie zurückzukehren ...

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Reihe für zeitgenössische afrikanische LiteraturHerausgegeben von Indra Wussow

MasandeNtshangapositiv

Roman

Deutsch von Maria Hummitzsch

Die Übersetzung aus dem Englischen wurde mit Mitteln des Auswärtigen Amts unterstützt durch Litprom e.V. – Literaturen der Welt

Titel der Originalausgabe: The Reactive

Erschienen bei Umuzi / Random House

Copyright © 2014 Masande Ntshanga

© 2018 Verlag Das Wunderhorn GmbH

Rohrbacherstrasse 18, D-69115 Heidelberg

www.wunderhorn.de

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Autorenfoto auf S. 2: © Masande Ntshanga

Gesamtgestaltung: sans serif, Berlin

ISBN 978-3-88423-584-3eISBN 978-3-88423-585-0

INHALT

1. TEIL

2. TEIL

3. TEIL

4. TEIL

5. TEIL

VOR ZEHN JAHREN HALF ICH einer Handvoll Männer, meinen kleinen Bruder zu töten. Ich war nicht dabei, als es passierte, aber von mir wusste Luthando, wo er sie finden würde. In dem Jahr damals hatten mein Bruder und ich abgemacht, unsere Initiationsriten zusammenzulegen.

Das war 1993.

LT war da gerade mal siebzehn. Er hatte breite Schultern, galt an der Ngangelizwe High aber als Schwächling. Mein Bruder sah auf schräge Weise gut aus, was ihm nicht groß half, genauso wie ich wurde er von den älteren Typen im Viertel oft ibhari genannt: Abschaum. Mit den Mädchen lief es auch mies für LT, die meisten hatten sich schon ziemlich früh gegen uns entschieden. Keine Ahnung, vielleicht ist es eigenartig, dass ich mich ausgerechnet daran erinnere. Ich nehme an, mein Bruder war genauso übel dran, wie alle anderen Typen aus unserer Familie; bis auf Vater, der uns im Abstand von einem Jahr in zwei verschiedenen Gebärmüttern abgeladen hatte. Wir hatten Cousins, denen es ähnlich ergangen war. Letztlich hatten wir schon Winter, als Luthando in die Hügel ging, um die Sache für sich in Ordnung zu bringen. Er ist da im Glauben rauf, ich würde nachkommen.

Es regnete, als er hinten auf den Bakkie stieg, um die Piste hoch zu fahren. Im Camp stellten sie ihn mit ein paar Jungen aus seinem Klassenzimmer in einer Reihe auf. Dann holten sie die Messer raus. Als es vorbei war, kümmerten sie sich eine Woche lang um ihn, zwei weitere trat er nach ihnen und beschimpfte sie. »Screamer« nannten sie ihn, erzählten sie uns später, als wir zusammen kamen, um ihn in die Erde zu legen. Vielleicht war es zärtlich gemeint, dachte ich, auf die Weise zärtlich, wie es Männer in den Hügeln untereinander zulassen können.

Eines Morgens, sagten sie, habe Luthando nicht den üblichen Lärm gemacht, für den er mittlerweile bekannt war. Zwei Tage später habe er rauskommen sollen. Der Himmel sei ein einziges wolkenloses Blau gewesen, günstig für die Kocharbeiten am eziko, und sie hätten sein typisches Geschrei vermisst. Als sie nacheinander seine Hütte betraten, hätten sie nur noch eine Erinnerung an den vorgefunden, den sie aus ihm hatten machen wollen. Da drinnen lag mein kleiner Bruder – tot mit siebzehn. Und nie vergesse ich, dass ich es war, der dich ihnen ausgeliefert hat, LT.

Nach seiner Beerdigung bin ich nie mehr zurück nach Hause. Diese Geschichte hier ist keine über mich und meinen Bruder aus der Transkei, die Mda-Jungs aus eMthatha oder aus dem Dorf Qokolweni, in dem die blank polierten Knochen meiner Großmutter neben denen ihrer Ma begraben liegen. Ich will euch lieber erzählen, was mir in Kapstadt passiert ist, nachdem Luthando sich den Tod geholt hat. Ich bin da zur Schule gegangen und habe versucht, was aus mir zu machen. Da habe ich dann auch darüber nachgedacht, was ich mit meinen Händen getan hatte. Wie es zu dem Bruch kam, ist schnell erzählt.

Zwei Mal in meinem Leben habe ich eine Hochschule besucht. Ich könnte also einfach damit anfangen, wie’s dort für mich lief. Zuerst war ich an der Universität in Rondebosch, unweit der Haupteinkaufsmeile. Nachdem ich das Journalistik-Studium an den Nagel gehängt hatte, schrieb ich mich an der Technikon im Zentrum ein, wo ich meinen Fachabschluss und meine Krankheit bekam. Ich hatte ein equity-Stipendium – von denen damals viele an Leute vergeben wurden, die aussahen wie ich. Und wie die meisten anderen Typen in meinem Kurs schlug auch ich mich mit mittelmäßigen Noten durch. Als das Jahr zu Ende ging, standen viele von uns wieder bei der Gebührenstelle an, um all die Formulare auszufüllen, die für Jungs meiner Hautfarbe vorgeschrieben waren. Zu der Zeit war es kein großer Akt, umsonst zu studieren, beziehungsweise mithilfe des Pigments, mit dem wir ausgestattet sind. Ich glaube, ich habe es insgesamt ganz gut gemacht und schließlich mit einem B-Schnitt abgeschlossen. Irgendwo in meiner Wohnung in Observatory muss noch die Urkunde rumliegen.

Tja, und sonst? Zwischen Uni und Tech verbrachte ich fast ein halbes Jahr bei Bhut’ Vuyo. Zwei Wochen, nachdem ich die Uni geschmissen hatte, wollte ich nach Hause gehen, konnte das Haus meiner Mutter aber nicht mehr betreten. Was seit Kindheitstagen mein Zuhause gewesen war, war mir jetzt versperrt. Als ob an diesem Tag ein Feuerteppich alle Wände überzogen hätte. Und selbst das ist noch untertrieben, wenn ich heute daran zurückdenke.

Meine Mutter empfand es als Schande, dass ich die Universität und den Abschluss in Rondebosch hatte sausen lassen. Völlig überstürzt, schimpfte sie erst am Telefon und dann, als wir uns sahen. Für einen kurzen Moment wollte sie noch nicht einmal zu mir aufschauen. Dafür brachte sie mich im Haus eines entfernten Verwandten unter.

Bhut’ Vuyo war bekannt als hervorragender Mechaniker, trockener Alkoholiker und rühriger Stiefvater des kleinen Bruders, den ich mit getötet hatte. Als Bhut’ Vuyo meine Tante Sis’ Funeka kennenlernte, war Luthando gerade mal zehn. Weil er seine Hände gern in rostige Motorhauben steckte, hatte es ihn mit knapp zwanzig nach Okinawa verschlagen. Angelockt von einem lukrativen Toyota-Stipendium war er mit vierundzwanzig nach Kyoto gegangen, bevor er dann zurückkam und in einer Kneipe namens Silver’s zu viele Drinks »aufs Haus« nahm. Das war in Bisho, in der Zeit, als es mit den Homelands zu Ende ging, und wenn er sich morgens an seinen Tisch setzte, bekam er alles auf einem stoffbezogenen Tablett serviert. Die Leute sagten, mein Onkel wäre nach weniger als einem Monat erledigt gewesen. Dann folgten Jahrzehnte, die ihn fast völlig zu Fall gebracht hätten: Bhut’ Vuyo, wie er sich beim Streifzug durch die Nachbarschaft kaum auf den Beinen halten konnte; und Bhut’ Vuyo, wie er in Mdantsane an Straßenecken in der Nähe des Highways herumtorkelte. Oft sah man ihn mit löchrigen schwarzblauen Gummistiefeln, aus denen die Zehen hervorlugten, den Kopf so zerbrechlich auf den Schultern räkelnd wie ein altes Hornissennest.

Meine Mutter erzählte, dass Bhut’ Vuyo jetzt, wo er sich trocken gelegt hatte, vielleicht für immer, mit seiner zweiten Frau in Du Noon lebte. Sie hatten zwei kleine Kinder und einen älteren Sohn aus ihrer ersten Ehe, alle drei mit wachen Augen und starken Zähnen geboren, vor Gesundheit strotzend. Meine Tante hingegen war gestorben, kurz nachdem wir ihren Sohn beerdigt hatten. Sis’ Funeka hatte einen Krebs, der ihr die Kehle zerfraß, und ich schätze mal, im Würgegriff der Trauer hat er noch wilder um sich gebissen als ohnehin schon.

Rauf nach Du Noon geschickt zu werden, war letztlich eine Strafe, das wusste ich auch damals schon, aber als ich an meinen kleinen Bruder Luthando dachte, fand ich mich damit ab. Und so ging ich nach Du Noon, wie meine Mutter es wollte, und blieb schließlich volle sechs Monate. Ich schätze mal, es ist auch einiges passiert, als ich da draußen war, das mich den Leuten, die mich aufgenommen haben, hat näher kommen lassen. Wie erwartet kam das Gespräch irgendwann auf Luthando, und weil ich ihnen so dankbar war, gab ich Bhut’ Vuyo und seiner Familie ein Versprechen.

Heute, fast acht Jahre später bekomme ich von meinem Onkel eine SMS, die mich an das Gespräch damals erinnert, und an das Versprechen, das ich ihm an einem Abend gegeben habe, der so lange her ist, dass ich mich kaum noch an ihn erinnere.

1. TEIL

ALS ICH HEUTE MORGEN DIE Augen öffnete, lullte erneut einer dieser warmen Samstage die Halbinsel ein. Irgendwer hatte schon wieder Cissies Wohnzimmerfenster offen gelassen, das nach Osten raus, über der Kopie von Rothkos No 4, die sie letzte Woche für uns drei gemalt hat. Als ich da vor der Glasscheibe stand, wusste ich nicht, wer von uns das mit dem Fenster verbockt hatte, wusste aber, dass der Wind, der unter dem Holzschiebefenster entlang pfiff, mir das Gefühl gab, allein hier zu sein. Eine dicke Smogdecke schob sich bis an die Ränder der Metropole, und alles sah zugleich aufgebläht und ausgelaugt aus. Mir ging durch den Kopf, was es alles gab in dieser Stadt, und wie sich alles veränderte, kaum dass man sich an etwas gewöhnt hatte. Und dann ging mir durch den Kopf, dass es mich auch noch gab.

Danach schloss ich das Fenster und kurz darauf die Augen.

Inzwischen ist es ein bisschen später. Der Himmel scheint bereit für ein weiteres nasses Wochenende, weitere drei Tage, an denen die Bäume sich im Krieg mit ihren Wurzeln befinden und später Winterregen die Scheiben vom Dreck befreit.

Ich atme leicht ein.

Muss husten.

Ich bin gerade hier in Newlands. Bei Cecilia. Und ich schätze, die Situation lässt sich einfach erklären. Bis ich sterbe, ist es noch lange hin, aber das mit der SMS von meinem Onkel ist erst drei kurze Stunden her, und alles andere läuft so, wie es auch sonst zwischen meinen Freunden und mir läuft. Wir drei, Ruan, Cecilia und ich wachen wie immer kurz vor zwölf auf und nehmen jeder zwei Ibuprofen. Dann schlafen wir weiter, wachen eine Stunde später wieder auf und nehmen noch mal zwei Tabletten aus der 800-mg-Packung. Später stellt Cissie den Herd an, um Kleister zu kochen, und wir schlurfen stumm durch die Wohnung, reiben uns den Schlaf aus den Augen und stolpern übereinander. Wir lassen uns hier bei Cissie durch den frühen Nachmittag treiben.

Heute Morgen habe ich am ganzen Körper Gänsehaut. Ich stehe mit dem einen Fuß auf kalten, abgeplatzten Fliesen, mit dem anderen auf nassem Beton. Ich gähne, reibe mir den Schlafsand aus den Augen, und irgendwie könnten diese Körnchen auch Tränen sein; besser, vor diesem Gedanken die Augen zu verschließen. Besser, das nicht zu wissen.

Jetzt öffne ich sie wieder.

Bei Cissie bin ich immer der Letzte im Bad. Weil der Fußhebel am Treteimer kaputt ist, schmeiße ich den Faden Zahnseide in die Kloschüssel, wo er jetzt schwimmt. Ich kann Ruan sehen, wie er Cissie vom anderen Ende der Küche zuschaut, während er Räucherstäbchen anzündet und flach auf die Arbeitsplatte legt. Er versucht, den Kleistergeruch zu überdecken, der vom Herd herüberzieht.

Die Wände hier sind übrigens fast alle fleckig, und die Böden rissig. Das ist nicht Cissies Schuld, sondern halt das Gebäude. Dadurch kann sie sich eine Wohnung in dieser Gegend überhaupt nur leisten. Als ich einmal allein auf ihrem Sofa saß, nüchtern, aber wahrscheinlich noch im Halbschlaf, versuchte ich, die Risse in den Dielen zu zählen. Sie erinnerten mich an das Lächeln von Sis’ Funeka an den Tagen vor ihrer Beerdigung, und irgendwie sieht es so aus, als würden sie das auch jetzt noch tun. Nach Luthandos Tod weigerte sich meine Tante, mich zu sehen, und obwohl ich nicht bei ihrer Beerdigung war, erzählten sie mir, dass sie mich im Krankenbett für ihn gehalten hat. Damals dachte ich, ich hätte Glück gehabt, ihren demenzbedingten Erkenntnissen entkommen zu sein. Vielleicht hätte sie mich als den entlarvt, der ihn getötet hat.

Stattdessen stehe ich hier.

Verkatert in Newlands, klapperdürre und klitschnasse 1,88 und tropfe mit rostigem Leitungswasser Cissies Türschwelle voll. Cissie, die in der Küche steht, hat das einzige trockene Handtuch in der ganzen Wohnung um die Hüften gebunden. Ich schaue von der Tür zu ihr rein. Dann huste ich extra laut, um sie zu ärgern.

Also echt, Cecilia, wenn das nicht typisch ist.

Cissie, die am Herd steht, antwortet nicht. Stattdessen fängt sie an zu lachen, vielmehr zu spotten. So ist sie zurzeit drauf: spöttisch.

Dann dreht sie sich in Zeitlupe zu uns um. Als ihre Show für Ruan und mich beendet ist, wirft sie mir ein zerknittertes Geschirrtuch zu, mit dem ich mich abtrocknen soll. Es ist dämlich von mir, dass ich es fange, aber genau das tue ich, und ehe ich protestieren kann, sagt sie, dass ich hingucken soll, was sie da macht. Ich schaue hoch, und Cecilia winkt mich zu sich rein.

Hey, sagt sie, siehst du nicht, dass ich voll die Brötchenverdienerin bin? Ich bin in diesem Scheißgebäude die einzige auf der vierten Etage, die pünktlich die Miete zahlt. Siehst du das nicht?

Erst seufze ich nur, aber weil sie Recht hat, nicke ich dann.

Ich trockne mir den Nacken und auch die Stellen hinter den Ohren ab. Im Bad schlüpfe ich in Shorts und finde im Wäschekorb ein trockenes T-Shirt. Es gehört ihr, aber es war mal meins, also ziehe ich es an. Dann rubble ich mir mit dem Geschirrtuch über die nassen Haare und lege es auf die Halterung des Duschvorhangs, ehe ich an Cissie vorbei marschiere, um die Küchenfenster zu öffnen. Ich bin mir sicher, dass wir jetzt alle ein bisschen frische Luft brauchen.

Nachdem ich sämtliche Schlösser der Wohnungstür entriegelt habe, gehe ich raus auf den Balkon. Ich lehne mich mit dem Rücken an das Geländer, atme aus und beobachte, wie Cissie sich seufzend über die Stirn wischt. Mit einem Holzlöffel schiebt sie die glibbrige Masse im Topf zusammen, bevor sie sie langsam in eine gelbe Schüssel tropfen lässt. Ich stehe da, und sie steht da. Eine Weile starren wir uns an.

Ich schätze mal, genauso wird es heute laufen: Als würde man auf dem Rücken eines riesigen sterbenden Säugetiers reiten. Es passt zu dieser drückenden Wärme, und ich verschließe vor all dem lieber die Augen. Versuche, nicht an Bhut’ Vuyos Nachricht zu denken. Versuche, nicht an das mit meinem toten Bruder Luthando zu denken, was ich in den Tagen, die sich zu Jahren zwischen uns ausgewachsen haben, verdrängen musste. Lieber denke ich daran, dass wieder Wochenende ist. Es ist Wochenende, und genau so was hier machen wir drei an Tagen wie heute.

Wir sitzen im Schneidersitz im Wohnzimmer, Ruan klappt seinen Laptop auf und schaltet den Drucker auf Cissies niedrigem Couchtisch ein. Er füttert das Gerät mit Papier und schaut zu, wie der Computer mit den üblichen Geräuschen hochfährt. Ich schätze mal, man könnte das hier unsere Arbeit nennen, unsere Art, an diesem Ort hier in Kapstadt ein bisschen was dazuzuverdienen.

Damit ihr es besser versteht, müsst ihr Cecelia kennenlernen.

Cissie ist hier in West Ridge unsere Haus-Chemikerin. Sie ist verantwortlich für den Kleister, mit dem wir unsere Poster anbringen. Um ihn so hinzukriegen wie Cissie braucht man Mehl, braunen Zucker und einen Schuss Essig. Das gibt man in eine Schüssel, fügt eine Tasse Wasser hinzu und mischt alles gründlich durch, bis keine Mehlklümpchen mehr übrig sind. Dann heizt man den Ofen auf 180 Grad vor, bringt den Topfinhalt zum Kochen und rührt, bis das Zeug die richtige Konsistenz hat. Es hilft natürlich ziemlich, wenn man weiß, wie man dabei so geduldig und aufmerksam bleibt wie Cecilia. Wenn man das nicht hinkriegt, sollte man zumindest versuchen, halb so anspruchsvoll zu sein wie sie, und was bei Cissie als halb durchgeht, bedeutet für den Rest von uns natürlich voll und ganz.

Ich weiß noch, wie ich mal sieben Monate lang keinen Job hatte. Damals verbrauchte ich gerade den letzten Rest der Abfindung, als Cecilia sich – frisch geduscht und die Hand kurz vorher am neuen, aber kaputten Sandwich-Grill verbrannt – zu mir aufs Bett setzte und wissen wollte, ob ich jemals darüber nachgedacht hätte, was in dem Moment, wo ich sterbe, tatsächlich mit mir geschieht. So war das damals vor rund zwei Jahren, und ich schätze mal, es ist heute noch fast genauso. Es war an einem warmen Oktoberabend. Der South-Easter fegte durch Kapstadt, um unsere Haut einer Trockenreinigung zu unterziehen, und Cecilia mit ihren tropfnassen Haaren und dem Geruch nach »Pick n Pay«-Spülung hinterließ dunkle, feuchte Flecken auf meiner Jobmail-Akte.

Ich antwortete, dass ich über so was nie nachdächte, weil mir solche Gedanken nicht erlauben würden, zu tun, was ich getan hatte.

Cissie, den Kopf geneigt, hörte zu und brauchte lange, bevor sie reagierte und einfach nur Okay sagte. Dann lehnte sie sich gegen meine Brust und schloss die Augen, wollte schlafen, und weil alles so still war um uns und sich die Wohnung anfühlte wie eine Gruft, beugte ich mich zu ihr runter, um den Teil ihres Fingers zu berühren, der gerade starb. Cissie steckte mir mit noch immer geschlossenen Augen den verbrannten Finger in den Mund und sagte, während sie mir langsam über die Zunge fuhr, ich solle an ihm lutschen, bis er wieder zum Leben erweckt wäre.

Das machte ich dann. Es machte mir nichts aus.

Ich beobachte jetzt, wie Cissie die Ofentür auf- und zuklappt. Wieder streicht sie sich einen ihrer aufmüpfigen Braids aus dem Gesicht und wedelt eine Rauchwolke weg. Sie sagt, am meisten stört sie an mir, dass ich mit meiner Aufmerksamkeit nie ganz bei meinem Gegenüber bin. Jedes Mal, wenn ich zulasse, dass sich jemand an meiner Schulter ausheult, gilt meine größte Sorge dem Schnodder, der dann womöglich an meinem T-Shirt klebt. Ich habe ihr gesagt, dass ich das gut finde, wie sie das ausdrückt.

Ich weiß noch, wie sie mir das erste Mal damit kam. Der Regen hatte gerade eingesetzt, und sie stand halbnackt von der Matratze auf, die wir drei uns manchmal teilten. Es war kurz vor Mitternacht, und das ganze Zimmer war in Dunkelheit gehüllt. Ich wartete eine Weile, dann leistete ich ihr auf dem Holzboden Gesellschaft. Keiner von uns schien besonders scharf darauf, bald wieder aufzustehen. Wir nahmen uns Zeit, saßen still da, und das erste graue Licht drang durch die Ritzen der Rollos.

Bevor sie unter die Dusche ging, sagte Cissie – vielleicht, weil ich ihr mit meinem Schweigen Recht gegeben hatte –, dass ich oft auf die Uhr schauen würde, wenn mir jemand von seinen Problemen erzählt. Ich sagte, ich würde daran arbeiten. Dann schaute ich auf die Uhr.

Ich arbeite immer noch daran.

Aber auch wenn ich Cissies Vorstellungen von ehrlicher Anteilnahme nicht gerecht werde, habe ich einen Freund, der noch schlechter wegkommt als ich. Dieser Freund heißt Ruan und macht sich über sowas keinen Kopf. Das weiß ich, weil ich ihn gefragt habe.

Ich meine, echt jetzt, ihr müsstet Ruan mal hören.

Er ist hier in West Ridge unser Haus-Drucker. Um so viele Tinte zu verdrucken, wie er, muss man eine normale HP 60 XL Patrone kaufen, sie mit nach Hause nehmen, drucken, bis sie halb leer ist und dann mit Wasserdampf den Deckel von der Kartusche lösen. Das muss man dem Hersteller als Mangel melden, zum Beweis ein Foto anhängen und mit der Antwortmail die halbleere Patrone im Laden gegen eine neue eintauschen. Die meisten Tintenhersteller werden die Geschichte als bedauernswerten Einzelfall abhaken. Für die Unternehmen ist es keine große Sache, für die einzelne Klage eines ausländischen Kunden den vollen Kundenservice zu bieten. Es hilft natürlich ziemlich, wenn man so oft und mühelos lügen kann wie Ruan.

Ich beobachte, wie er auf Cissies Couch sitzt und den Kopf nach hinten legt. Er hat einen Stoppelbart bis zur Halsmitte, und sein Adamsapfel hüpft, während der Drucker rattert und Berge von Papier einzieht, auf die schon die Tinte wartet, die er den Verkäufern in Kapstadt abgeluchst hat.

Summa summarum sind das dann wir: Die beiden plus meine Wenigkeit. Wir bilden ein Dreierteam, und wenn ihr euch für mein aktuelles Sozialleben interessiert, müsst ihr einfach die beiden im Blick behalten: Ruan und Cecilia.

Ich weiß schon, über Ruan hab ich noch nicht so viel erzählt. Ruan und ich sind seit Jahren, oder vielleicht auch noch länger, so eng wie Brüder. Für mich haut das letztlich so hin, schätze ich mal, und für ihn, wenn es sein muss, anscheinend auch. Wenn man ihn kennenlernt, merkt man, dass man erstens nie glauben darf, was er sagt, und zweitens, dass er einem, wenn er high ist, jedes Mal erzählt, dass seine erste Nahtoderfahrung ein Download war.

Echt wahr.

Wenn man ihn trifft, kommt er entweder gerade runter oder ist voll drauf. Dazwischen halten wir es meist beide nicht lange aus. Dann erzählt einem Ruan, dass jetzt, wo er seine Pflanzen mit diesem neuen Dünger gießt, den er im Netz bestellt hat, so viele Tauben zu seiner Wohnung kommen wie nie zuvor. Und wenn man ihn lässt, erzählt er einem, dass diese Vögel, bevor sie wieder auf seinem Fensterbrett in Sea Point landen, den ganzen weiten Weg zurück von den Philippinen mit nur einem kurzen Zwischenhalt in Maine geschafft haben. Am Anfang, als ich ihn kennenlernte, haben Ruan und ich viel Zeit damit verbracht, über diese Vögel zu reden. Er erzählte mir, dass er als Kind Asthma gehabt hätte und introvertiert gewesen sei, und ich nicht glauben solle, er habe sein ganzes Wissen über die Zugvögel von regelmäßigen Museumsbesuchen. Er erzählte Cissie und mir, wie viel ihm diese Vögel bedeuteten, und auch wenn wir das nicht ganz nachvollziehen konnten, glaubten wir ihm.

Und dann gibt es schließlich noch mich.

Ich habe, natürlich auch einen Namen, klar, einen Mädchennamen. Meine Mutter hatte eine Freundin, die in den 70ern durch die Arbeit in einer Textilfabrik fast blind geworden ist. Sie haben zusammen das Lovedale College besucht, meine Mutter hat dann an der Fort Hare weiterstudiert, bevor sie Jahre später unter dem Dach eines Fabrikladens im Osten von London wieder aufeinander trafen. Ihre Freundin flickte Kleider, um ihre Tochter Lindanathi zur Schule schicken zu können. Dieses Kind, das mit Kniestrümpfen und einem Rucksack voller Bücher still in einer Ecke saß, muss für meine Mutter ein Symbol der Hoffnung gewesen sein. Sie überredete meinen Vater, mir denselben Namen zu geben.

Lindanathi heißt ›warte hier mit uns‹. Worauf ich warten soll, oder mit wem ich warten soll, hat mir nie einer gesagt. Seit ich alle zehn Buchstaben meines Namens schreiben kann, versuche ich, ihn auf nur fünf Buchstaben abzukürzen. Ihr dürft das gern als Hinweis verstehen, wie ihr mich nennen sollt. Oder auch nicht. Ist mir egal, für mich macht es keinen Unterschied.

Das ist mein Name.

Ich bin Nathi und einer von uns dreien; ich bin der, der sterben soll. Um so viel herumzustehen wie ich, muss man einer der vierzig Millionen Menschen sein, die gegenwärtig mit dem menschlichen Immunschwächevirus infiziert sind. Man muss sich den Computer eines Freundes schnappen und voller Ironie ein Poster gestalten, das diesen Leuten sagt, dass man ihre Rettung ist. Dann muss man ihnen Details zukommen lassen – die bevorzugte Mailadresse oder Handynummer – und ihnen die eigenen Tabletten verkaufen.

Es hilft natürlich ziemlich, wenn man versucht, so wenig wie möglich darüber nachzudenken. So mache ich das auch.

Vielleicht ist es diese ganze Sache mit der Sklaverei, sagte Cissie.

Ich stehe mit dem Handy am Balkongeländer und versuche, auf ›Antworten‹ zu drücken, bleibe aber im Schwebemodus über den Tasten hängen. Meine Finger fühlen sich an wie Papiertrinkhalme. Ich starre auf den blinkenden Cursor.

In der Küche verrührt Cissie noch mal eine Kelle Wasser im Kleister. Wie so oft morgens hat sie ihre vielen Braids zu einem großen Haarball aufgerollt, ein neues Styling, das ihr, wie wir drei finden, am besten steht. Wenn sie sich bewegt, lösen sich ein paar der Braids heraus und hängen ihr wie Troddeln auf der Brust, die sie dann mit einer einzigen Schulterbewegung nach hinten schnippt. Cissie gehorchen selbst die kleinsten Dinge, und wie es aussieht, gehören Ruan und ich auch dazu.

Ich lege mein Handy weg. Zurzeit trägt Cissie ständig wechselnde Synthetikhaare auf dem Kopf. Mal entscheidet sie sich für schwarze, mal eher für schwarzbläuliche, dann wieder für eine Farbe, die ich nicht genau beschreiben kann – irgendwie silbrig oder eisblau oder blaugrün. Ruan und ich haben sie auch schon oft mit roten oder blonden gesehen. Cissie trägt sie den ganzen Tag, und sagt, die Dinger würden allesamt schneller Feuer fangen als eine paraffingetränkte Perücke. Sie sagt, wir sollen sie als lebendes Streichholz betrachten, dessen Flamme friedlich schlummert, solange es nicht durch zu viel Reibung zwischen den Hirnhälften entzündet wird, was eine nette Art ist, den Leuten zu verklickern, dass sie sich besser nicht mit einem anlegen sollen. Jedenfalls die netteste Art, die ich bisher gehört habe.

Das Handy drückt am Oberschenkel. Um besser runterzufahren, hole ich drei Mal tief Luft. Hier draußen auf dem Balkon spielt einem das Wetter einen Streich. Der Frühling vertröstet uns, noch über einen Monat ist nicht mit ihm zu rechnen, und trotzdem ist meine Haut von den Sonnenstrahlen so aufgeheizt wie das Wasser einer heißen Quelle. Lichthasen huschen über den leeren Flur.

Ruan und ich haben die letzten Nächte in einem Zustand zwischen Schlaf und Überdosis hier auf Cissies Sofa verbracht. Cissies Wohnhaus, ein unansehnliches graugelbes Gebäude mit sechs Stockwerken und dem Namen West Ridge Heights, war früher ein ebenerdiges Pflegeheim, das in den späten Achtzigern umgebaut wurde. Es steht hübsch platziert in Newslands, einem netten Außenbezirk, nur ein paar Straßen von der Hauptstraße entfernt, und ist einer der Orte, die Ruan und ich dieses Jahr unser Zuhause nennen. Oder vielmehr nur den Winter über, wenn man Ruan Glauben schenken will.

Jedenfalls kocht Cissie hier den Kleister für uns. Wenn man sich umschaut, sieht man ein Gebäude mit dem üblichen verwilderten Rasen, den üblichen fleckigen Decken und dem üblichen verdreckten Linoleum im Eingangsbereich, mit seinem einzigen Fahrstuhl. Außerdem hier und da fehlende Fliesen, einen gesplitterten, deckenhohen Spiegel und in fast jeder Ecke welke Grünpflanzen in irgendwelchen Plastiktöpfen. Von Wachschutz keine Spur.

Unten im Erdgeschoss spielt ein Mädchen allein in einem kleinen Hof, wo sie mit den abgeplatzten Betonstücken vom kaputten Brunnen Städte baut. Ich winke ihr immer, wenn Ruan und ich herkommen, um uns hinzuhauen. Oft schaut sie dann nur kurz mit leerem Blick hoch. Dann rennt sie zurück unters Vordach und verschwindet an Orten, die ich von hier oben im Vierten nicht erahnen kann. Irgendwann zwischen diesen kurzen Begegnungen habe ich mitbekommen, dass sie Ethelia heißt.

Drinnen höre ich wieder Cissie reden.

Ich meine es ernst, sagt sie. Komm schon, denk mal einen Augenblick darüber nach.

Ich versuche es.

Mittlerweile ist es schon fast ein festes Ritual zwischen uns. Wieder mal führen wir eines unserer Gespräche über mein Restleben und was ich damit anfangen soll. Restleben ist die Bezeichnung, die wir uns für das ausgedacht haben, was mir in meinem letzten Jahr auf der Erde noch passiert. Den Großteil vergangener Nacht haben wir wieder nur mit dieser Frage zugebracht. Erst haben wir den Wein geleert, dann haben wir uns die Flasche Benzol vorgenommen.

Ruan schaut hoch und sagt: Erklär mir diese Sklavereigeschichte doch mal. Er steht auf, um ein schmales Buch von der Küchenzeile zu nehmen, und lässt sich auf einen abgewetzten Sitzsack fallen. Dann liest er das Buch – Der glückliche Tod von Albert Camus – vom Ende her, vom Außen zum Innen der Sätze, so als hätte der französische Autor einen japanischen Manga geschrieben.

Cissie wiederholt nur das Wort noch mal:

Sklaverei.

Mit dem klebrigen Löffel zieht sie kleine Kreise über der Schüssel.

Ihr wisst schon, was ich meine, sagt sie. Wir drei sind im Grunde Sklaven.

Ich für meinen Teil schweige lieber, beobachte sie nur, wie ich es manchmal mache. Ich meine, jetzt mal im Ernst, sonst ist es Ruan, der uns mit solchem Pathoskram kommt.

Wir drei sind keine Sklaven. Ruan, Cissie und ich waren landesweit unter den Ersten, die mit dem Model Cs ihren Matric gemacht haben, um dann studieren zu können. Zu unserer Kindheit gehörten Bumerangs, die wir mit den Nachbarskindern warfen, Inlineskates und grüne Plastikflaschen mit Space Goo-Glibber, Klatschhände mit knallig bunten und angeblich super giftigen Wabbelfingern, an denen meist schon am ersten Tag Dreck klebte, weshalb wir sie in unsere grünen Pools warfen. Die Grow Monster, denen wir staunend dabei zusahen, wie sie sich in unseren Toilettenschüsseln aufblähten, und die Pisten, die wir für unsere Micro Machines bauten, bis der Tag mit dem orangenen Licht zu Ende ging, das auf die Nachbarschaft fiel und die Dächer in die Farbe von Glühfäden tauchte.

Lässigkeit. Genau das, was mein kleiner Bruder Luthando nie hatte.

All diese Jahre sehe ich LT mit freiem Oberkörper, einer Jeans-Shorts und einer zarten Silberkette vor mir. Luthando spielte mit Murmeln, das war, was er am ehesten mit seinen Händen anzufangen wusste. Mein Bruder war kein harter Typ, aber er betrachtete sich gern als Township-Ou. Ich erinnere mich noch, dass er nicht wusste, was ein Kreisel war, bis ich ihm meinen schenkte. Als Peitsche für den Kreisel benutzten wir die Schnürsenkel seiner Chucks, und als LT beim Essen am selben Abend das von meiner Mutter eingegossene Wasser nicht trinken wollte, damit – wie er mir später erklärte – der Rindfleischgeschmack nicht wegging, sagte ich nichts.