Praktische Erlebnispädagogik Band 1 - Annette Reiners - E-Book

Praktische Erlebnispädagogik Band 1 E-Book

Annette Reiners

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Beschreibung

Mit über 70 Spiele und Übungen. Mit über 100.000 verkauften Exemplaren ist dieses Buch zu einem Klassiker der erlebnispädagogischen Praxis geworden! Hier finden Einsteiger im Bereich der Erlebnispädagogik zuerst einige Hintergründe zur Interaktions- und Erlebnispädagogik, danach werden verschiedene Interaktionsaufgaben und erlebnispädagogische Spiele vorgestellt. Diese sind übersichtlich in verschiedene Stufen sowie Nachbesprechungshilfen strukturiert. Hinweise auf Ziel der Übung, das benötigte Material, die Gruppengröße, empfohlenes Alter der Teilnehmer sowie der Spieldauer sind sehr hilfreich für die praktische Umsetzung. Nützlich sind auch die Hinweise auf die Erfahrungen, die mit den Aufgaben gemacht wurden. Das Buch ist sehr empfehlenswert für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in Schule, Jugendarbeit und Freizeit, aber auch gut in der Erwachsenenbildung und Personalentwicklung einsetzbar.

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Dieser Titel ist auch als Printausgabe erhältlich

ISBN 978-3-96557-052-8

Sie finden uns im Internet unter

www.ziel-verlag.de

Wichtiger Hinweis des Verlags: Der Verlag hat sich bemüht, die Copyright-Inhaber aller verwendeten Zitate, Texte, Bilder, Abbildungen und Illustrationen zu ermitteln. Leider gelang dies nicht in allen Fällen. Sollten wir jemanden übergangen haben, so bitten wir die Copyright-Inhaber, sich mit uns in Verbindung zu setzen.

Inhalt und Form des vorliegenden Bandes liegen in der Verantwortung der Autorin.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-96557-053-5 (eBook)

Verlag:

ZIEL – Zentrum für interdisziplinäres erfahrungsorientiertes Lernen GmbHZeuggasse 7 – 9, 86150 Augsburg, www.ziel-verlag.de 10. überarbeitete Auflage 2019

Gesamtherstellung:

Friends Media Group GmbH www.friends-media-group.de

E-Book-Herstellung und Auslieferung:

HEROLD Auslieferung Service GmbHwww.herold-va.de

©

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Wenn ich mein Leben noch mal leben könnte, würde ich versuchen mehr Fehler zu machen. Ich würde mich entspannen. Ich würde bis zum Äußersten gehen. Ich würde alberner als bei diesem Trip sein. Ich würde weniger hygienisch sein. Ich würde mehr Chancen wahrnehmen. Ich würde mehr unternehmen. Ich würde mehr Berge besteigen, in mehr Flüssen schwimmen und mehr Sonnenuntergänge beobachten.

Ich würde mehr Eis und weniger Spinat essen. Ich würde mehr aktuelle Probleme und weniger eingebildete haben.

Wie du siehst, bin ich einer von den Menschen, die prophylaktisch und vernünftig und gesund leben. Stunde um Stunde, Tag für Tag. Oh, ich hatte meine Momente, und wenn ich noch mal leben könnte, hätte ich viel mehr. Eigentlich würde ich gar nichts anderes wollen. Einfach nur Augenblicke, einen nach dem anderen, anstatt so viele Jahre im Voraus zu leben und zu denken. Ich war eine von der Sorte Leute, die nirgendwohin ohne ein Thermometer, ein Gurgelwasser, einen Regenmantel und einen Fallschirm gehen. Wenn ich noch mal leben könnte, würde ich leichter reisen als bisher.

Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, würde ich im Frühling früher anfangen, barfuss zu laufen und im Herbst später damit aufhören. Ich würde öfters die Schule schwänzen. Ich würde gute Noten nur aus Versehen schreiben. Ich würde öfter Karussell fahren. Ich würde mehr Gänseblümchen pflücken.

Wenn du dich andauernd nur schindest, vergisst du sehr bald, dass es so wunderschöne Dinge gibt, wie zum Beispiel einen Bach, der Geschichten erzählt, und einen Vogel, der singt.

Nadine Stair (85 Jahre, Marathonläuferin)

Vorwort

Seit der 1. Auflage im Jahr 1991 haben die beiden Bände »Praktische Erlebnispädagogik 1 und 2« große Resonanz gefunden. Die jeweiligen Neuauflagen ermöglichten es, verschiedene Überarbeitungen vorzunehmen. Der bewährte Grundaufbau wurde aber stets beibehalten.

Die vorliegende 10. Auflage bietet wiederum die Gelegenheit, den Text zu aktualisieren.

Dies betrifft insbesondere die einführenden theoretischen Überlegungen. Sie versuchen die Fragen zu klären »Was ist Erlebnispädagogik?« und »Was sind Interaktionsspiele?«, um anschließend die Vorteile einer Verknüpfung untersuchen zu können. Der zweite praxisorientierte Teil bietet dem Leser eine Auswahl erprobter Interaktionsspiele mit ausführlichen Beschreibungen und Anwendungshinweisen.

Mein besonderer Dank geht in diesem Zusammenhang an Prof. Dr. F. Hartmut Paffrath und an Alex Ferstl vom ZIEL-Verlag. Sie haben die 10. Auflage mit unglaublicher Akribie und Fachkundigkeit besser überarbeitet, als ich es gekonnt hätte. Ebenfalls danken möchte ich meinem ehemaligen Schulkameraden Wolfgang Schmieder, der liebe- und humorvoll schon für die 1. Auflage den Großteil der spielbeschreibenden Zeichnungen für dieses Buch angefertigt hat.

Teil 1:

Im Mittelpunkt steht zunächst das Schlagwort »Erlebnispädagogik« – ein Begriff, der eng verknüpft ist mit den Gedanken Kurt Hahns, der als Vater dieses Ansatzes gilt. Dass er nicht der Erfinder einer neuen Pädagogik war, machte Prinz Max von Baden deutlich, als man ihn auf die Besonderheiten der von Hahn ins Leben gerufenen Schule in Salem ansprach: »Hier ist alles gestohlen, und das ist gut so, von Hermann Lietz, der wie kein anderer wagte, Jungen zu Mitträgern der Verantwortung zu machen, von Goethe, von den englischen public schools, von den Boy Scouts, von der deutschen Jugendbewegung nach den Freiheitskriegen, von Plato. Sie werden nichts finden, wovon wir sagen können: das haben wir entdeckt.«1 Die Erlebnispädagogik in der Konzeption Kurt Hahns ist daher als Teilbewegung der Reformpädagogik, die um die Jahrhundertwende einsetzte, zu sehen. Er gab mit ihr eine Antwort auf die Suche nach neuen Formen in der Erziehung, vor allem im schulischen Bereich. Dabei setzte er bereits vorformulierte Ideen anderer Pädagogen in die Tat um. In seiner Erziehung sollte nicht mehr die bloße Wissensvermittlung per Lehrbuch im Vordergrund stehen, sondern die Gesamtpersönlichkeit des Schülers, wobei die Betonung auf der Selbstentwicklung der schöpferischen Kräfte des Kindes lag (vgl. Kapitel 1.1).

Um die aktuelle Situation der Erlebnispädagogik und des erfahrungsorientierten Lernens geht es im Kapitel 1.2. Hier werden unter anderem Definitionsversuche und methodisch-didaktische Umsetzungsprinzipien des erlebnispädagogischen Ansatzes angesprochen.

Die Entwicklungen, die gerade in der heutigen Zeit Erlebnispädagogik als alternatives Erziehungs- und Lernmodell für unterschiedlichste Zielgruppen interessant erscheinen lassen, beschreibt das Kapitel 1.3. Hierbei spielt vor allem die Frage des Transfers eine wichtige Rolle (Kapitel 1.4).

Die Klärung der Frage: »Was sind Interaktionsspiele?« hat nicht unerhebliche Probleme bereitet. Es gibt dazu zwar unzählige praktische Beispiele in der Literatur, jedoch kaum theoretische Abhandlungen. Deshalb wird der Leser einen Schritt seitwärts geführt: Zur Interaktionspädagogik, die über die Funktionsbereiche des sozialen Lernens nach Harm Prior erschlossen werden. Beides ist in den Kapiteln 2.1 und 2.2 behandelt. Daran schließt sich eine theoretische Grundcharakterisierung der Interaktionsspiele an (Kapitel 2.3), deren konkrete und detaillierte Beschreibung im eigentlichen Praxisteil erfolgt. In Kapitel 2.4 werden die unterschiedlichsten Interaktionsspiele anhand der Funktionsbereiche des sozialen Lernens systematisiert. Der Schwerpunkt der Betrachtung liegt dabei in einer Kategorisierung der Interaktionsspiele hinsichtlich ihrer Komplexität. Als Grobraster dienen die drei aufeinander aufbauenden intrapersonellen, interpersonellen und institutionellen Ebenen des sozialen Lernens. Diese werden auf die Stufen der Interaktionspädagogik übertragen, wobei sich die Komplexität der Spielsituation von Stufe zu Stufe steigert. Bei der ersten Stufe steht die einzelne Person im Blickpunkt. Daher versuchen die Spiele hier, das Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl usw. der betreffenden Person zu steigern. Die zweite Stufe beschäftigt sich mit den zwischenmenschlichen Verhaltensmustern. Spiele dieser Stufe haben daher die Förderung der Kommunikationsfähigkeit und die Entwicklung von gegenseitigem Vertrauen zum Inhalt. In der dritten und letzten Stufe geht es um Lernprozesse, die eine Umsetzung der gewonnenen Handlungskompetenz in einer Welt außerhalb der Gruppe ermöglichen. Neben diesen stufenspezifischen Spielen werden auch stufenunabhängige Reflexionsübungen erwähnt, weil sie für den Transfer einen hohen Wert besitzen.

Nachdem die theoretische Beschreibung und Grundkategorisierung der Interaktionsspiele abgeschlossen ist, werden der erlebnispädagogische Ansatz und die Interaktionspädagogik miteinander verknüpft. Hieraus ergibt sich eine erstaunlich konstruktive Wechselwirkung: Einerseits haben erlebnispädagogische Maßnahmen für die Interaktionspädagogik großen Nutzen (Kapitel 3.1), andererseits sind auch Interaktionsspiele in der Erlebnispädagogik sinnvoll, ja fast unverzichtbar (Kapitel 3.2).

Die anschließende Zusammenfassung im vierten Kapitel bietet einen Gesamtüberblick und bezieht auch kritische Einwände mit ein. So geht es um den Widerspruch, den eine Verknüpfung des »Politischen Lernens« nach Prior und der »Erlebnispädagogik« in sich birgt. Es drängt sich dabei die Frage auf, ob gerade im Hinblick auf Jugendliche der Begriff »politische Teilhabe« zutreffend ist bzw. ob er nicht auf den übergeordneten Begriff »Kultur« erweitert werden sollte. Dieser Gesichtspunkt ist auch für die Gegenüberstellung der jeweiligen Schwerpunkte erlebnispädagogischer Angebote sowie der Stufen der Interaktionspädagogik bedeutsam.

Abschließend steht das Qualifikationsprofil eines Erlebnispädagogen im Focus. Welche Persönlichkeitsmerkmale zeichnen ihn aus? Welche fachlichen, pädagogischen, psychologischen und sozialen Kompetenzen sind notwendig, um verantwortungsvoll im Bereich der Erlebnispädagogik zu arbeiten?

Teil 2:

Im zweiten Teil dieses Buches dreht sich alles um die praktische Anwendung der Interaktionsspiele. Zunächst werden die Grundregeln der Spielanleitung besprochen, im Anschluss daran finden sich detaillierte Beschreibungen von Interaktionsspielen der zweiten und dritten Stufe. Diese Spiele haben weder den Anspruch, neue Spiele zu sein, noch habe ich sie selbst erfunden. Einen Großteil der Übungen habe ich in den erlebnispädagogischen Einrichtungen in Neuseeland kennen gelernt, der Urheber war für mich daher nicht feststellbar.

Die Beschreibungen der einzelnen Spiele gliedern sich in Ziele, Teilnehmerzahl, Altersgruppe, Materialien, Charakteristik des Spielablaufs, Variationsmöglichkeiten und Erfahrungen bzw. Tipps. Werden bei dem Abschnitt »Ziel« mehrere Angaben gemacht, so werden die Ziele entsprechend der Reihenfolge priorisiert. Bei den Teilnehmerzahlen und den Altersangaben berufe ich mich auf meine mit dem jeweiligen Spiel gemachten Erfahrungen, was aber nicht heißen soll, dass diese Daten nicht variabel wären. Auch bei dem verwendeten Material sind durchaus Änderungen möglich, sollten aber nur dann vorgenommen werden, wenn es die Sicherheit der Teilnehmer nicht gefährdet.

Bei der Übersicht über die Spiele im 2. Teil des Buches werden zu Beginn Interaktionsspiele der zweiten Stufe beschrieben. Zunächst Spiele, die als »warming up« dienen können (Kuschelfangen, Wäscheklammern, Rauslassen, Eingehängt, etc.). Danach folgen Spielbeschreibungen für Kommunikationsspiele (Tic Toc, Kommunikationschaos, Drunter und Drüber) und schließlich für Vertrauensspiele (Reise über Köpfe, Blind, Divergierendes Stahlseil, etc.).

Es schließen sich Beschreibungen von Interaktionsspielen der dritten Stufe (Problemlösungsspiele) an. Ihre obersten Ziele sind das Erlernen von Problemlösungsstrategien und die Zusammenarbeit.

Beispiele für spielerische Nachbesprechungsübungen enthält das Kapitel 2.3. Die ersten fünf Übungen (Metaplan, Wappen, Werbung, Teamarbeit, Effektive Arbeit) habe ich an den Anfang gestellt, da sie auch als Vorbereitungsübungen für Aktivitäten verwendet werden können. Die übrigen Spiele eignen sich vor allem als motivierender Anstoß für die kritische Betrachtung der eigenen Person wie auch der Gruppe in bestimmten Situationen, das Aufarbeiten von bestimmten Ereignissen und das Ausdrücken von Gefühlen.

Annette Reiners

Teil 1

Erlebnis- und Interaktionspädagogik

1. Was ist Erlebnispädagogik?

1.1 Das Hahn’sche Konzept

»Gebt den Kindern Gelegenheit, sich selbst zu entdecken … Lasst sie Triumph und Niederlage erleben …

Weist ihnen verantwortlich Aufgaben zu, bei denen zu versagen, den kleinen Staat gefährden heißt … Übt die Phantasie.«2

Dies forderten die »Salemer Gesetze«. Salem ist eine Schule am Bodensee, die von Kurt Hahn in Zusammenarbeit mit Prinz Max von Baden und Karl Reinhardt 1920 gegründet wurde. Seit dieser Zeit ist die erfahrungsgestützte Einheit von Erziehung und Unterricht, von Leben und Lernen, ob in sozialer, akademischer oder musisch-kreativer Perspektive, Leitvorstellung der Salemer Pädagogik. Nach wie vor stehen dort die »Salemer Dienste«, Handwerk, Sport, Musik, eine Vielzahl von Arbeitsgemeinschaften und nicht zuletzt das Erfahrungsfeld »Internat« zusammen mit dem schulischen Unterricht für den ganzheitlichen Erziehungs- und Bildungsanspruch Hahns.

An dem Namen »Hahn« kommt man selbst heute nur schwerlich vorbei, will man die historischen Wurzeln der gegenwärtigen Gedanken und Thesen, die sich mit erfahrungsorientiertem Lernen beschäftigen, begreifen. Jean-Jacques Rousseau, John Dewey, Hermann Lietz und andere wie Henry David Thoreau gelten ebenfalls als entscheidende Wegbereiter der modernen Erlebnispädagogik, jedoch bestand Hahns Leistung darin, das Ideensammelsurium der unterschiedlichen Vordenker zu einem handlungs- und erlebnisorientierten Gesamtkonzept zusammenzufassen. Aus diesem Grund schätzt die pädagogische Szene gerade ihn und sein Modell der »Erlebnistherapie« noch heute als Urvater der Erlebnispädagogik. Deshalb ist an ihn und sein beeindruckendes Lebenswerk zu erinnern.

Als Kind jüdischer Eltern musste Hahn die Leitung von Salem 1933 aufgeben und floh ins britische Exil. Dort entwickelte er mit der Schaffung des Internats in Gordonstown sein Salemer System erfolgreich weiter. 1941 gründet er die erste Outward-Bound-Schule in Aberdovey und rief damit die Kurzschulbewegung ins Leben.

Im Hintergrund der Kurzschule und ihrer Mitfinanzierung durch die Navy stand die Erkenntnis, dass während des Seehandelskrieges bei erlittenem Schiffbruch wesentlich mehr ältere Seemänner die Notlage überlebten, während die körperlich fitteren, aber jüngeren starben. Diese Beobachtung wurde dem Erfahrungsvorsprung mit Grenz- und Krisensituationen und dem damit verbundenen festen Überlebenswillen und der Überwindungskraft, den die alten Seebären gegenüber den jungen Seefahrern hatten, zugerechnet. Hahn entwickelte daraufhin das Konzept des erfahrungsorientierten und erlebnisintensiven Trainings, um bei den jungen Menschen in der Marine das Erfahrungsdefizit gegenüber den älteren Seemännern, das sich in mangelnder Charakterstärke, Selbstvertrauen und Durchhaltevermögen ausdrückte, auszugleichen. Weil die Erziehung von jungen Menschen zu charakterlich gefestigten Bürgern auch in Friedenszeiten für eine Gesellschaft attraktiv war, überlebte das Konzept der Kurzschule das Ende des Krieges.

Im Unterschied zu den Kriegszeiten hingegen gewann nun aber auch der Aspekt an Bedeutung, dass eine auf die Ausbildung des freien Individuums zielende Erziehung nicht den Privatmenschen im Blick haben darf, sondern den um des Gemeinwohl willens engagierten Staatsbürger.

Das pädagogische Grundkonzept der Hahn’schen Überlegungen hatte daher zwei Erziehungsziele im Blickfeld: Die Charakterförderung des Menschen zum einen und zum anderen die Erziehung des Menschen zum verantwortungsvollen Denken und Handeln in einer auf freiheitlich-demokratischer Grundlage aufbauenden Gemeinschaft durch eine Auseinandersetzung mit sich selbst und der Umwelt.

Nach Ansicht Hahns litt die Jugend der damaligen Zeit an modernen Verfallserscheinungen, die sich äußerten in dem Verfall der körperlichen Tauglichkeit, der Selbstinitiative, der Geschicklichkeit und Sorgfalt, und der Fähigkeit der Empathie.3 Er setzte diesen »Zivilisationskrankheiten« die bekannten vier Elemente seiner Erlebnistherapie entgegen, die erst in ihrer gegenseitigen Verzahnung ihre Wirksamkeit voll entfalten:

• Das körperliche Training, das Vitalität, Kondition, Mut und Überwindungskraft steigern sollte.4 Hier konnten die Schüler zweierlei Arten von Erfahrungen machen: zum einen durch Selbstüberwindung und zum anderen durch Selbstentdeckung.5

• Die Organisation von Expeditionen in der Natur, die die schwindende Initiative bekämpfen und die Entschluss- und Überwindungskraft fördern sollte.6

• Das Projekt als weiteres Element stellte eine Aufgabe im handwerklichen, technischen oder geistigen Bereich dar, die Sorgsamkeit und Geduld erforderte und eine Entfaltung der Selbstständigkeit, Kreativität und Musikalität fördern sollte.7

• Den Rettungsdienst, der dem Schüler durch den Einsatz seiner eigenen Existenz für das Wohl eines Nächsten ein ganz neues Lebensverständnis vermitteln sollte.

Alle vier Elemente standen unter dem gemeinsamen Motiv des Erlebens, da Hahn von einer unbewussten Wirkung des Erlebnisses auf das Verhalten, die Einstellung und das Wertesystem des Betroffenen ausging.

Hahn vertrat gemäß der Ansicht von William James, dass nicht die Dauer eines Erlebnisses für einen Lernerfolg entscheidend ist, sondern der Intensitätsgrad und ebenso das Maß des persönlichen Engagements und Handelns. Ein Erlebnis und der daraus resultierende Erfolg oder Misserfolg hat demnach nur dann lerntheoretisch Einfluss auf den Jugendlichen, wenn es prägend genug ist. Nur dann bleibt die Erfahrung in der Erinnerung und kann den Jugendlichen in entscheidenden Augenblicken seines späteren Lebens helfen.

Aus all diesen Überlegungen heraus entstand eine Methode, in der physische und psychische Extremsituationen simuliert und trainiert wurden, um mithilfe dieser außergewöhnlichen Erfahrungen junge Menschen für die Anforderungen und Krisen des Lebens zielgerichtet zu wappnen.

Hahn starb am 14. Dezember 1974 in Salem.

1.2 »Moderne« Erlebnispädagogik

Mit Ausnahme der bereits 1951 nach britischem Vorbild gegründeten Outward-Bound-Schulen in Deutschland, begannen sich die Pädagogen in der Bundesrepublik erst in den 70er Jahren wieder intensiver mit dem erlebnispädagogischen Ansatz zu beschäftigen. Zu tief saß bis dahin die Sorge, dass nicht nur das Gedankengut und die Philosophie, sondern auch die Methoden der Erlebnispädagogik faschistisch orientiert sein könnten oder gar schon missbraucht werden.

Mittlerweile gibt es kaum eine Bildungsstätte, die sich nicht dem Modell des erlebnisorientierten Lernens zugewandt hat. Und aus der defizitorientierten Therapie für Jugendliche hat sich ein wachstumsorientiertes Konzept erlebnispädagogischen Handelns für die unterschiedlichsten Zielgruppen entwickelt. Erlebnispädagogik liegt im Trend als Therapie, als Maßnahme der Jugendhilfe, als Training von Schlüsselqualifikationen für Auszubildende und Manager, als Integrationshilfe für Behinderte etc.

Zahlreiche Fortbildungen und Zusatzausbildungen vom »Ropes-Course-Trainer« über »City-Bound-Maßnahmen«8 bis hin zum waschechten »Erlebnispädagogen« werden von den unterschiedlichsten Trägern in selbstverständlich auch unterschiedlicher Qualität angeboten.

Seit den 1990er Jahren hat die Erlebnispädagogik einen rasanten Aufschwung erfahren. Neue Handlungsfelder und Zielgruppen wurden erschlossen, auch der Methodenkanon erweitert. Regelmäßig stattfindende Fachtagungen dokumentieren diesen Prozess und sind sichtbare Zeichen für die Fortentwicklung der Erlebnispädagogik.

Ein Beispiel ist der 1997 ins Leben gerufene Internationale Kongress »erleben und lernen«. Hier trifft sich die Szene, begegnen sich Theorie und Praxis. Es ist eine offene Plattform, die über den nationalen Raum hinausweist und den interdisziplinären Diskurs sucht. Diskutiert werden aktuelle Herausforderungen, Grundsatzfragen, Zukunftsperspektiven. Einblick in diesen lebendigen Prozess vermitteln die jeweiligen Kongressdokumentationen. Anfang und Aufbruch signalisiert mit seinem programmatischen Titel »Zu neuen Ufern« der erste Tagungsband.9 Spezielle Aspekte erlebnispädagogischer Arbeit schließen sich an, so z. B. die Macht der »Metaphern« (1999),10 »Ansätze konstruktiven Lernens« (2003)11 oder der »Nutzen des Nachklangs« (2004)12. Dass die Erlebnispädagogik nicht nur auf die Persönlichkeitsbildung des Einzelnen oder gar die bloße Vermittlung von Soft Skills ausgerichtet sein darf, verdeutlichen die thematischen Schwerpunkte der Kongresse: »Verantwortung für die globale Welt« (2008)13 sowie die Einbeziehung der »gesellschaftspolitischen Dimension« (2018).14

Eingang hat die Erlebnispädagogik inzwischen auch in den akademischen Raum gefunden und sich zu einer eigenständigen Teildisziplin bzw. einem Teilgebiet der Pädagogik entwickelt. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, wissenschaftlich zu forschen, die Praxis zu begleiten und zu fundieren.

Charakteristisch für die moderne Erlebnispädagogik ist ebenfalls die in den letzten Jahren fortschreitende Professionalisierung, nicht zuletzt, um dadurch dem zunehmenden Legitimationsdruck von Seiten der Öffentlichkeit zu begegnen. Dies zeigt sich u. a. an den Bemühungen um Standards der Qualitätsentwicklung und Zertifizierung.15

Bedeutende Marksteine auf diesem Weg sind weiterhin die Etablierung des Bundesverbands Individual- und Erlebnispädagogik e.V., die Entwicklung eines spezifischen Berufsbilds oder die Erstellung verbindlicher Standards für eine qualifizierte Ausbildung.16

Wesentlich erweitert und differenziert haben sich inzwischen auch die Angebote für die Aus-, Fort- und Weiterbildung, sei es bei verschiedenen Verbänden, Institutionen oder im akademischen Raum.17 Wer sich heute für Erlebnispädagogik interessiert, dem steht darüber hinaus ein beachtliches Spektrum spezieller Fachliteratur zur Verfügung: Einführungen, Übersichten, Dokumentationen, Fachzeitschriften, Handbücher.

Und doch ist es nach wie vor schwierig, eine allgemein gültige Definition des Begriffs Erlebnispädagogik zu finden.18 So haben B. Heckmair und W. Michl ihre ursprüngliche Definition inzwischen auch mehrfach überarbeitet: Insbesondere die Charakterisierung der Erlebnispädagogik als eine handlungsorientierte Methode sowie die Begrenzung der Zielgruppe auf junge Menschen als spezielle Zielgruppe wurde revidiert und erweitert.19

Einigkeit herrscht inzwischen darüber, dass die Erlebnispädagogik mehr ist als nur ein methodisches (Hilfs)Mittel für die Jugendarbeit. Sie stellt als theoretisches Konzept und pädagogische Praxis einen eigenen Erziehungs- und Bildungsansatz dar. Herausfordernde, nicht alltägliche, erlebnisintensive Aktivitäten (vornehmlich im Naturraum) dienen als Medium zur Förderung ganzheitlicher Lern und Entwicklungsprozesse von Personen und Gruppen mit dem Ziel, diese zur verantwortlichen Gestaltung ihrer eigenen Lebenswelt wie auch zur aktiven Mitwirkung in der Gesellschaft zu ermutigen und zu befähigen.20

Was an methodisch-didaktischer und was an pragmatischer Umsetzung aber verbirgt sich nun hinter solchen Definitionsversuchen? Wo liegt die Faszination des erlebnisorientierten Lernens für Lehrende und Lernende jenseits der spektakulären Aktion, von der es sich nur allzu gut erzählen lässt?

Allein schon die Zielsetzungen der Erlebnispädagogik sind attraktiv und zukunftsweisend, für Profis in der Jugendarbeit wie auch für Lernexperten in der Erwachsenbildung gleichermaßen:

• Persönlichkeitsentwicklung durch Unterstützung der Selbstwahrnehmung und Reflexionsfähigkeit, Klärung von Zielen und Bedürfnissen, Entwicklung von Eigeninitiative, Spontaneität, Kreativität und nicht zuletzt Selbstvertrauen, Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl etc.

• Soziale Kompetenz durch Unterstützung der Kooperations-, Kommunikations- und Konfliktfähigkeit etc.

• Förderung eines systemischen, ökologischen Bewusstseins, das u. a. einen proaktiven Einsatz für die Bewahrung von Naturräumen und -schönheiten verstärken kann.

Im Sinne des systemtheoretischen Denkansatzes, der das Individuum als autopoietisches System versteht, das lediglich perturbiert und somit zum Lernen aus sich selbst angeregt werden kann, kommen diese Versprechungen jedoch nur zum Tragen, wenn das teilnehmende Individuum diese Ziele auch selber verfolgen will. Deswegen geht es auf der methodischen Ebene der Erlebnispädagogik darum, für Lernende und Lehrende Gelegenheiten zu schaffen, in denen die eigenen Werte erfahrbar und überprüfbar werden.

Um diese »Gelegenheiten«, sprich Lernräume, optimal methodisch anzureichern, berufen sich die Experten der Erlebnispädagogik auf verschiedene grundlegende Prinzipien:21

• Im Vordergrund steht das ganzheitliche Erleben, d. h. die kognitiven, emotionalen und vor allem aktionalen Lernebenen werden angesprochen.

• Mithilfe der Medien werden komplexe Problemstellungen evoziert, die ein hohes Maß an Strategie, Flexibilität, Entscheidungskompetenz und Konfliktfähigkeit fordern. Neben der Zielerreichung steht vielmehr der Prozess der Problemlösung im Mittelpunkt des Interesses.22

• Die Aufgaben und Situationen werden passend zur Zielsetzung ausgewählt und in ihrer Struktur und ihrem Anforderungsprofil möglichst ähnlich zur Alltagsrealität konstruiert und präsentiert, sodass der Teilnehmer einen nutzbringenden Vergleich zwischen seinem Verhalten im Seminar und im Alltag ziehen kann. Dafür notwendig ist, dass in der Aktivität ein neues Verhalten überhaupt möglich ist, und dass dieses neue Verhaltensmuster auch einen anderen, sozialverträglichen, individuell positiv erlebbaren Ausgang zur Folge hat als das frühere.23

• Die gewählten Situationen müssen der Vielfalt und Heterogenität der Gruppe gerecht werden. Wenn möglich sollten im Rahmen einer Aufgabenstellung alternative Handlungsmöglichkeiten zur Zielerreichung bestehen.

• Die gewählten Elemente sollen einerseits einen hohen Aufforderungscharakter besitzen, der neugierig macht und zur Auseinandersetzung bzw. zum Handeln anregt; andererseits einen Ernstcharakter aufweisen, d. h. überprüfbare Konsequenzen nach sich ziehen.

• Die Situation wird so präsentiert, dass das subjektive Risiko als hoch bzw. die Lösbarkeit der Aufgabe als äußerst anspruchsvoll erlebt wird, jedoch nicht als unüberwindlich bzw. unlösbar wahrgenommen wird.

• Die Teilnehmer eines erlebnispädagogischen Seminars werden explizit aufgefordert, sich eigene (Lern-) Ziele zu stecken. Diese Ziele sind die Grundlage für ein selbstverantwortetes Lernen.

• Nach der Präsentation der Aufgabenstellung (inklusive der Sicherheitsregeln) wird der Gruppensteuerung und Selbstverantwortung der Gruppe soweit wie möglich freier Lauf gelassen. Der Verantwortungsspielraum der Gruppe bezieht sich auf Entscheidungen, wie beispielsweise das Ausmaß der persönlichen Beteiligung, auf die Planungs- und Entscheidungsprozesse während der Aufgaben etc. Potenzielle psychische und physische Gefährdungen der Teilnehmer begrenzen dieses Prinzip.

• Reflexionen nach Aktionsphasen haben in der modernen Erlebnispädagogik einen festen Platz und hohen Stellenwert.24 Aus dem Erlebten wird Erfahrung und Wissen, indem die Teilnehmer mit Unterstützung des Leiters die in der Aktion gemachten Beobachtungen sammeln, Hypothesen bezüglich der Ursachen und Zusammenhänge formulieren, die gewonnenen Ergebnisse bewerten und die daraus gewonnenen Erkenntnisse auf ihre Alltagstauglichkeit hin überprüfen. Zum einen dient die Reflexion der Rückschau auf die gemachte Erfahrung, zum anderen stellt sie eine Vorausschau im Sinne einer Integration und Nutzbarmachung der Erfahrung für zukünftige Situationen dar. Damit ein Erlebnis optimal verarbeitet werden kann, sollte die Reflexion sowohl inhaltlich als auch zeitlich möglichst dicht am Moment des Erlebens stattfinden.

Erlebnispädagogische Seminare sind also, verkürzt gesagt, dadurch gekennzeichnet, dass der Einzelne mit sich und/oder in der Gruppe intensive Erlebnisse erfährt, die den Kern seiner Persönlichkeit treffen und mit denen er sich zuerst handelnd und dann reflexiv auseinandersetzt.

1.3 Aktualität der Erlebnispädagogik

Betrachtet man die rasante Entwicklung der modernen Erlebnispädagogik, so stellt sich die Frage, warum sie in den letzten Jahren einen solchen Zuspruch erfahren hat. Dazu gibt es eine Reihe interessanter und aufschlussreicher Begründungen.

Aus sozialpsychologischer Sicht weist Fridolin Kreckl auf zwei Erscheinungsformen der industriellen Gesellschaft hin, die in der heutigen Zeit das Sozialverhalten bestimmen: