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Patricia Grotz

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Beschreibung

Die erste Opernpremiere der neuen Spielzeit sorgt für Aufregung. Der Intendant möchte in Zeiten des Regietheaters eine werkgetreue Aufführung präsentieren. Er holt dazu die junge Bühnen- und Kostümbildnerin Emma Bluhm, die sich mit zwei Ausstattungen an kleinen Theatern bereits einen Namen gemacht hat. Doch unerfahren im Umgang mit dem streng hierarchischen Opernbetrieb gerät Emma im Laufe der Proben immer mehr unter Druck und hadert zunehmend mit der geforderten Werktreue, die sich kaum mehr mit der heutigen Gesellschaft und dem Wunsch nach 'Political Correctness' vereinbaren lässt. Als sie sich auch noch von Gefühlen für zwei Männer lenken lässt, scheint ihr die Arbeit zu entgleiten. Emma droht zu scheitern…

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Patricia Grotz

PREMIERE

Emmas 'Faust'

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Widmung

Unnötiges Wissen

01. Der Anruf. 12.04.2017

02. Technischer Bühnenaufbau, der 'Faust', Montag, 24.09.2018

03. Herr Kammersänger

04. Frühstück für die Bühnentechniker

05. Der Intendant und die Walpurgisnacht

06. Die Pressekonferenz

07. Der schreckliche Sonntag

08. Szenische Proben mit 'Faust' und Mephisto

09. Margarethe

10. Eine folgenschwere Nachricht

11. Das Licht und die Verführungsszene

12. Kostüm für den 4. Akt

13. Das fertige Bühnenbild und die Tanzstunde

14. Orchesterprobe mit Sängern

15. Liebe

16. Erste Durchlaufprobe in Kostüm und Maske

17. Redaktion

18. Staatskanzlei und Apotheose

19. Die Kirmes und Guillermos nächtliche Probe

20. Dreharbeiten Prolog im Himmel

21. Hauptprobe und ein unerwarteter Besuch

22. Privates

23. Generalprobe

24. PREMIERE! Freitag, 02.11.2018

Worterklärungen / Fachbegriffe des Theaters

Zitate aus Goethes 'Faust'

Quellen

Danke

Impressum neobooks

Widmung

Für alle,

die immer schon wissen wollten,

was sich im Theater hinter dem roten Vorhang abspielt,

leidenschaftliche Romanzen mögen

und endlich den 'Faust' verstehen möchten.

Unnötiges Wissen

Schon als Kind war Emma keine begeisterte Frühaufsteherin, aber sie liebte das Licht der aufgehenden Sonne. Oft wachte sie im Halbdunkel des Morgengrauens auf, stellte sich mit Zeichenblock und Aquarellfarben ans Fenster und versuchte, diesen kurzen, vergänglichen Moment einzufangen. Sobald die intensiven Farben am Himmel verblassten, legte sich wieder hin und schlief weiter.

Emmas Kindheit war geprägt vom Wechsel der Wohnsitze – von einer medizinisch bedeutenden Metropole zur nächsten. Die Eltern operierten an Universitätskliniken, während Emma von Nannys erzogen und unterrichtet wurde. Zu jedem Fest wünschte sie sich Malfarben, zu jedem Umzug das Ostzimmer. Erst ihre Volljährigkeit brachte das ersehnte Ende dieses unsteten Lebens. Emma begann das Studium der bildenden Künste und durfte die familieneigene Altbauwohnung beziehen. Natürlich stellte sie ihr Bett vor ein Fenster mit Aussicht auf die Morgenröte.

01. Der Anruf. 12.04.2017

Kurz vor acht wurde Emma an diesem wolkenfreien Tag im April von den Sonnenstrahlen geweckt. Sie blinzelte, sprang aus dem Bett und lief in die Küche. Voller Freude schaltete sie den schwarzen Kaffeevollautomaten ein. Erst am Nachmittag zuvor hatte sie ihn erworben, sozusagen als Belohnung für ihre bestandenen Abschlussprüfungen. Nach nur einem Knopfdruck lief Kaffee mit einer ansehnlichen Crema in das doppelwandige Glas, danach floss Milch hinein, die in zeitlupenartigen Wellenbewegungen hinabsank und obenauf eine hübsche Schaumkrone hinterließ. Cappuccino war Emmas absolutes Lieblingsgetränk.

Mit dem Handy schaltete sie ihre Musikanlage ein, aus vier Lautsprechern erklang Mozarts Zauberflöte. Emma dirigierte, in der linken Hand das Glas, in der rechten einen schmalen, langstieligen Löffel, den sie im Takt der Melodie durch die Luft schwang. Etwas übermütig, wegen den bestandenen Prüfungen, tanzte sie zu dieser wunderschönen Musik, dabei drehte sie sich in Kreisen durch ihr großes Wohnzimmer. Nicht, dass sie eine so große Wohnung besaß, nein, es war eigentlich nur eine Zweizimmerwohnung in einem Altbau, die ihrer Mutter gehörte, aber Emma hatte die nicht tragenden Wände entfernen lassen, sodass ein scheinbar riesiger Raum entstanden war. Dessen Mittelpunkt bildete nun der Kamin, um den sich Wohn-, Arbeits- und Küchenbereich arrangierten.

Als Emma tanzend vor dem Kühlschrank angelangt war, fiel ihr Blick auf den Entwurf ihres Lebenslaufs, den vier kleine Magneten an der silbrig matten Tür hielten.

Name

Emma Bluhm

Geboren

19.04.1990 in Walchensee

Staatsangehörigkeit

Deutsch

Eltern

Mutter: Maria Bluhm, geb. 05.01.1959 in Berlin, Chirurgin

Vater: Luis Melo, geb. 03.12.1955 in Lissabon, Chirurg

Ausbildung

Abitur 2008, Kunsthochschule 2009 - 2012, Abschlüsse: M.F.A. in Bühnenbild und Bildhauerei

Beruflicher Werdegang

2012 - 2014 Bühnen- und Kostümbild und werkgetreue Inszenierungen der Opern 'Xerxes' von Georg Friedrich Händel und Johann Christoph Pepuschs'The Beggar's Opera'

Besondere Kenntnisse

EDV: Sicherer Umgang mit MS-Office, den Systemen CAD (Computer-Aided Design,

ERP (Enterprise Resource Planning) und fotorealistischen 3D Visualisierungen

Fremdsprachen: Portugiesisch, Französisch, Englisch fließend

Soziales Engagement

Betreuung von anerkannten Asylanten, vorwiegend alleinerziehender Mütter mit kleinen Kindern

Emma nahm einen Stift und ergänzte ihre Vita unter dem Punkt Ausbildung durch die jüngst abgeschlossenen Studiengänge Kunstgeschichte und Theaterwissenschaften. Plötzlich verstummte Mozarts Zauberflöte, stattdessen schallte aus dem Handy Amy Winehouse' berühmter Song 'Back to Black'. Emma sah auf das Display, es zeigte ein Foto des Opernintendanten. Unwillkürlich musste sie lächeln. Seine Anrufe kamen stets unerwartet, waren aber immer erfreulich. Er hatte sie damals nach ihrem Abschluss der Kunstakademie in sein neu gegründetes Förderprogramm für junge Nachwuchskünstler aufgenommen. In einem als kleines Werkstatttheater umgebauten alten Reitstall mit Platz für dreihundert Zuschauer ließ er Absolventen der Musikhochschule zusammen mit jungen Bühnen- und Kostümbildnern klassische Opern erarbeiten und zur Aufführung bringen. Die gesamte Technik wurde vom Opernhaus gestellt. Je nach Nachfrage gab es drei bis neun Vorstellungen, in denen die jungen Künstler das Ergebnis ihrer Arbeit präsentieren durften. Emma dachte oft an ihre erste Begegnung mit dem Intendanten. Er war ein sympathisch und verbindlich auftretender Mann in den Sechzigern, der den Eindruck vermittelte, vollkommen in sich zu ruhen und immun zu sein gegen jegliche Aufregung. Aber Emma hatte schnell begriffen, dass seine Freundlichkeit kein Zeichen von Schwäche war und es ein großer Fehler wäre, ihn zu unterschätzen. Ihr Vorstellungsgespräch hatte Stunden gedauert, es war weit über die Materie ihrer Studienfächer hinausgegangen. Der Intendant hatte ihr zwar das Gefühl gegeben, sie befänden sich in einer Diskussion auf Augenhöhe, aber ihr entging nicht, dass er sich kaum mit einer ihrer Antworten zufriedengab. Er hakte so lange nach, bis sie jede Einzelheit einer Thematik abgehandelt hatten, ließ keine Ermüdung erkennen und verlor nie die Gesprächsführung. Zudem besaß er die Gabe, seinem Gegenüber auf sehr geschickte Weise dessen Meinungen, Vorhaben und Ideen zu entlocken. Nachdem er Emma dazu gebracht hatte, all ihre Gedanken auszusprechen, lehnte er sich lächelnd zurück und teilte ihr mit, sie solle wegen ihrer fehlenden Teamfähigkeit nicht nur das Bühnen- und Kostümbild für Händels Oper 'Xerxes' übernehmen, sondern auch die Regie, dann könne sie zeigen, was hinter ihrer großen Klappe stecke. Diese letzten Worte, in gleichbleibend liebenswürdigem Ton vorgebracht, hatten ihr zugegebenermaßen für eine Sekunde den Atem stocken lassen.

Die Probenzeit hatte sich ähnlich gestaltet. Der Intendant beobachtete sie, hinterfragte ihre Vorgehensweise und brachte sie dazu, sich zu rechtfertigen. Manches Mal hatte er sie nur angesehen, ohne Wimpernzucken, mit leicht hochgezogenen Augenbrauen und dem Anflug eines Lächelns. Dann wusste sie, dass sie entweder ohne nachzudenken drauflosgeplappert oder jemanden unabsichtlich beleidigt hatte. Nach der Premiere gab es anstatt eines Lobes den Auftrag für eine weitere Produktion, Johann Christoph Pepuschs 'The Beggar's Opera'. Danach bot ihr der Intendant zweimal ein Bühnenbild am Opernhaus an. Doch sie kniff, oder besser gesagt, sie wusste, dass sie neben ihren geplanten Studien der Theaterwissenschaften und der Kunstgeschichte keine gute Arbeit würde abliefern können. Aber eines wurde ihr damals klar: Der Intendant förderte Talente, hielt sich nicht mit Kritik zurück und scheute sich auch nicht, auf persönliche Schwächen hinzuweisen. Kurz gesagt: Sie mochte ihn sehr. Es gab keinen Menschen, dem sie mehr vertraute.

Emma wischte mit dem Finger über das Display und da sie besonders gute Laune hatte an diesem Morgen, rief sie ins Telefon: »Welch angenehme Überraschung an diesem schönen Morgen. Was verschafft mir heute die Ehre?«

Auch wenn der Intendant vielleicht selbst gut gestimmt war an diesem Tag, er ließ es sich nicht anmerken. Spröde verkündete er: »Es klingt immer ironisch, wenn Sie versuchen, freundlich zu sein. Lassen Sie's, Sie haben kein Talent dafür.« Er hielt sich nicht weiter mit Höflichkeiten auf, sondern erläuterte den Grund seines Anrufs. »Ich habe mir die Termine Ihrer Prüfungen notiert. Die letzte war gestern. Wie ich Sie kenne, ist sie mindestens gut verlaufen. Ferner gehe ich nicht davon aus, dass Sie Ihre Karriere mit einem weiteren Studium unterbrechen. Also versuche ich es ein drittes Mal: Haben Sie Lust auf einen ernüchternden Tag nach einer Premiere? Auf eine schlaflose Nacht nach dem Adrenalinschock des Abends, gefolgt von einem Gefühl der Leere am Morgen?«

Emma musste lachen. Sie liebte seinen trockenen Humor. Die Antwort platzte einfach aus ihr heraus. »Nicht, wenn Sie mir wieder einen dieser alten Schinken anbieten, die fast unmöglich umzusetzen sind.« Leider sprach sie stets, bevor sie überlegte, dagegen konnte sie gar nichts machen; während sie noch überlegte, was sie sagen wollte, sollte oder könnte, hatte sie es schon gesagt, das führte oft zu Missverständnissen.

Der Intendant erwiderte ernst: »Ich könnte mich dazu durchringen, Sie diesmal zwischen drei geplanten Neuinszenierungen der übernächsten Spielzeit auswählen zu lassen.«

Das war neu. Bis zu diesem Tag hatte sie gar nichts aussuchen dürfen. Sie hörte sich sagen: »Ich gebe zu, ich bin neugierig.«

Der Intendant zählte lapidar die drei Werke auf und fragte, ob diesmal etwas für sie dabei sei.

Emma spürte ihr Herz höherschlagen. »Darf ich wirklich frei wählen?«

»Ja. Aber ich schicke gleich voraus, was ich von Ihnen erwarte: Werktreue. Die Sie genauso professionell abliefern wie die beiden Barockopern.«

Nun war Emma nicht mehr zu bremsen. »Werktreue auf der großen Opernbühne? Nach Jahrzehnten des Regietheaters? Das wollen Sie wagen? Die Presse wird uns in der Luft zerreißen.«

»Das Risiko gehe ich ein. Das Publikum wird auf unserer Seite sein, da bin ich sicher. Ganz unter uns: Dieses 'Regisseur-Theater' – Vergebung, ich dachte nicht, dass ich dieses Schimpfwort je in den Mund nehme – es zerrt inzwischen fast unerträglich an meinen Nerven. Ich weiß nicht, was ich schlimmer finde, unsere vermeintlichen Künstler, die Kritiker, die sich gebärden wie ihre Lobbyisten, oder das Einheitsbühnenbild, drei leere Wände, eine übergroße Tür, wahlweise ein Kamin.«

Jetzt kam wie automatisch das passende Goethe-Zitat aus Emmas Mund: »Ihr wisst, auf unsren deutschen Bühnen probiert ein jeder, was er mag. So schreitet in dem engen Bretterhaus den ganzen Kreis der Schöpfung aus und wandelt mit bedächt'ger Schnelle vom Himmel durch die Welt zur Hölle.« Ihr Unterbewusstsein hatte schon entschieden.

Jetzt endlich lachte auch der Intendant. »Es wird der 'Faust'? Unser Geschenk zu Gounods zweihundertstem Geburtstag. Warum der 'Faust'?«

»Jeder hat seine Lieblingsgeschichte. Der 'Faust' ist meine. Die gesamte Ausstattung ist in meinem Kopf, alle zehn Bilder, bis ins kleinste Detail. Das lässt mir Raum, mich mit den Abläufen am großen Haus vertraut zu machen.«

»Ich vernehme mit einer gewissen Erleichterung: Sie wissen, dass Sie noch zu lernen haben. Gut. Was heute nicht geschieht, ist morgen nicht getan. Gehen wir das Wagnis an. Bühnenbild und Kostüme. Damit werden Sie mehr als ausgelastet sein. Morgen um fünfzehn Uhr habe ich ein Gespräch mit einem Spielleiter, der für eine werkgetreue Regie bereit wäre. Die Auswahl ist ja nicht besonders groß. Wenn wir uns für ihn entscheiden, erwarte ich, dass Sie sich mit ihm arrangieren. Seien Sie um elf im Haus. Ich werde noch ein Gespräch mit dem technischen Direktor und dem Generalmusikdirektor organisieren. Bereiten Sie sich darauf vor. Und tun Sie sich selbst einen Gefallen: Lassen Sie Ihre Schnodderigkeit zu Hause, bringen Sie stattdessen etwas Entgegenkommen mit.«

Unwillkürlich konterte Emma mit Vers 216 aus Goethes 'Faust': »Indes Ihr Komplimente drechselt, kann etwas Nützliches geschehn.« Aber sie hatte auch ihren Stolz. Sie stellte klar: »Ich werde mich nicht verbiegen, nicht einmal für den 'Faust'.«

Der Intendant ließ sich nicht beirren. »Muss ich Sie an den Verriss Ihrer Beggar's Opera erinnern? Überladen und kitschig! Unreflektierte Reproduktion aus dem Jahr siebzehnhundertachtundzwanzig! Dagegen war Ihre erste Schöpfung mit den Worten Historischer Pomp noch relativ harmlos betitelt worden.«

»Was die Frage aufwirft, warum Sie nicht aufgeben, mich auf die große Bühne holen zu wollen.«

»Das liegt doch auf der Hand. Erstens: Niemand ist derart für die Werktreue entflammt wie Sie. Außer Ihnen hat keiner den Mut, für eine werkgetreue Inszenierung seine Reputation aufs Spiel zu setzen. Zweitens: Die schlechten Kritiken waren keine Beurteilung Ihres Werkes, sondern die Reaktion auf Ihr unüberlegt flapsiges Interview. Ich habe den Artikel seinerzeit an meine Pinnwand geheftet. Ich lese vor: Bühnenbildnerin Emma Bluhm behauptet, der Zusammenschluss ihrer Kollegen unter dem Schlagwort Political Correctness sei ein hilfloses Zurückweichen vor jeder Auseinandersetzung. Aus Angst zu diskriminieren, schwimme man mit nichtssagenden Bühnenbildern im Main Stream der Tatenlosigkeit...«

Emma kannte diesen Text natürlich. Aber dem Intendanten schien es große Freude zu bereiten, sie an ihre Aussage zu erinnern, also unterbrach sie ihn nicht.

»...Es werde profilneurotischen Regisseuren eine Plattform gegeben, die zwar von der schönen Musik der klassischen Oper profitieren wollen, aus den gesellschaftskritischen Themen aber belanglose Storys konstruieren, die von den Theaterkritikern in seitenlangen Lobeshymnen langatmig erklärt werden müssen, weil sie am Abend keiner verstanden hat. Das alles verkaufe man dann als modern, weltoffen und fortschrittlich.« Der Intendant gluckste vor Vergnügen.

Emma erwiderte ernst: »Überlegen Sie gut. Mit mir handeln Sie sich nur Ärger ein.«

»Da bin ich sicher. Ich wage nicht einmal, mir Ihren Umgang mit den Mitarbeitern am Haus vorzustellen. Sie haben nicht zufällig einen persönlichen Reifeprozess durchlebt, von dem ich nicht weiß?«

Emma musste wieder lachen. Sie hörte sich antworten: »Das mache ich täglich. Außerdem: Ich habe doch Frank.«

»Der Bühnenmeister fungiert wohl mehr als Schutzschild seitens der Bühnentechniker. Und wie bewahren wir die anderen Abteilungen vor Ihren Attacken?«

»Solange sie konstruktiv sind, gibt es keine.«

»Darüber werden wir noch sprechen müssen. Gewiss ist nur eines: Ihre Bühnenbilder gehören auf die große Bühne. Alles andere wird sich zeigen. Der Worte sind genug gewechselt. Wir sehen uns morgen.« Er hatte aufgelegt.

Da war sie plötzlich, die Chance, ihre Visionen zu verwirklichen. Sofort machte sich Emma auf die Suche nach ihren Entwürfen vom 'Faust', die sie schon vor vielen Jahren fabriziert hatte, nur so zum Spaß. In der obersten Schublade einer antiken Kommode wurde sie fündig. Dort drin lagen, zusammen mit dem Libretto, penibel beschriftete Skizzen der Schauplätze, an denen Gounods Oper 'Faust' spielte. Emma sortierte die Blätter auf dem Boden.

Es war alles da, von 'Fausts' Studierzimmer über die Walpurgisnacht bis hin zur Kerkerszene.

Erste Bühnenbild-Skizze, 'Fausts' Studierzimmer

Den ganzen Tag und weiter bis tief in die Nacht brütete sie über den Entwürfen, ergänzte Kleinigkeiten, formulierte technische Vorgänge. Zuletzt scannte sie alle Seiten ein und schickte sie via Mail an den technischen Direktor der Oper.

Auf dem Weg ins Theater am nächsten Morgen überkamen sie Zweifel. Vor dem Bühneneingang blieb sie stehen und sah an den massiven Mauervorsprüngen des gewaltigen Gebäudes empor. Welch ein Privileg es wäre, hier arbeiten zu dürfen. Trotzdem. Nein, sie war nicht bereit für Kompromisse.

Es war wohl mehr so etwas wie Schicksal, das ihr widerfuhr, oder einfach gesagt: Emma hatte Glück. Der technische Direktor erklärte all ihre Forderungen für machbar. Maestro Catiago, der Generalmusikdirektor, lachte schallend, als sie ihm erklärte, dass er den 'Faust' etwas schneller dirigieren müsste, um in der vorgegebenen Zeit alle zehn der im Libretto beschriebenen Bilder unterzubringen. Der Spanier äußerte amüsiert, dass sie offene Türen einrenne. Zuletzt war das Gespräch mit dem Regisseur zu bestehen. Hans Jesewitz war ein gut genährter Mitvierziger mit langem, naturkrausem Haar. Bedauerlicherweise versprühte er den Charm eines eitlen Machos, war aber erstaunlich kooperativ. Er stimmte all ihren Vorschlägen zu.

Die Entscheidung fiel am darauffolgenden Tag. Hans Jesewitz und Emma Bluhm wurden mit der Neuinszenierung des 'Faust' beauftragt. Allerdings mit einem, durch massive Subventionskürzungen verursachten, begrenzten Budget, darauf wies der Intendant explizit hin. Der Tag der Premiere wurde auf den zweiten November 2018 festgelegt.

Emma verlor keine Zeit, sie hatte nur wenige Wochen bis zum angesetzten Termin der Bauprobe. Das bedeutete, an diesem Tag würden Emmas Bühnenbilder mit einfachen Mitteln, Holzlatten und Stoffen, nachgestellt und auf Umsetzbarkeit geprüft – im Beisein der Intendanz und aller Abteilungsleiter.

Am Computer generierte sie eine virtuelle, dreidimensionale Drehbühne. Für den Bühnenmeister, ihren lieben Freund Frank Baum, bastelte sie ein maßstabgetreues Modell und Miniaturen der Möbel. Frank war mehr old school, er verweigerte sich dem digitalen Fortschritt.

Die Situation der Bauprobe war für Emma etwas einschüchternd, aber sie ließ sich keine Verlegenheit anmerken. Dazu kam noch, dass sich der junge Bariton Bernd Müller, der die Rolle des Valentin übernehmen würde, dreist in die erste Reihe des Parketts setzte und sie beobachtete. Emma empfand diesen Tag als echte Feuertaufe. Vor allen Vorgesetzten und auch noch vor einem Solisten ihre Ideen vortragen und rechtfertigen zu müssen, war, milde ausgedrückt, herausfordernd.

Das sich ein Sänger für die Planung eines Bühnenbildes interessierte, war ungewöhnlich. Aber Bernd Müller war überall anzutreffen. Emma verfolgte seine außergewöhnliche Karriere seit Jahren. Sie war genauso hingerissen von seiner Stimme wie so viele, sie verpasste keine seiner Vorstellungen – und jedes Mal, wenn sie ihn singen hörte, musste sie weinen, sein warmes Timbre drang auf direktem Weg tief in ihre Seele. Sie las auch jede Gazette, die über ihn berichtete. Sie hatte herausgefunden, dass der Bauernsohn Bernd Müller vor fünf Jahren völlig überraschend als einziger Examinand der Musikhochschule in eine Festanstellung übernommen worden war. Das Schicksal hatte ihm eine außergewöhnlich schöne und kraftvolle Stimme geschenkt. In beinahe jeder Vorstellung war er erst für die kleineren, bald aber schon für anspruchsvollere Rollen eingesetzt worden. Seine kindlich naive Interpretation des 'Papageno' in Mozarts Zauberflöte war in aller Munde. Mit Ehrgeiz und unerschöpflichem Fleiß erarbeitete er sich die italienischen und französischen Baritonpartien und erntete schnell Aufmerksamkeit und Anerkennung. Wegen seiner natürlichen Burschenhaftigkeit war er sehr beliebt bei den Mitarbeitern am Haus. Mit seinen prolligen Bauernwitzen sorgte er für Aufheiterung in den schweren Wochen vor einer Premiere und so manches Mal schon hatte er auf der Seitenbühne, nur Sekunden vor einem gemeinsamen Auftritt, die Kollegen mit Blondinenwitzen aus der Konzentration gebracht.

Eigentlich freute sich Emma über seine Anwesenheit – und seine offensichtliche Zuneigung. Er war ein sehr attraktiver, großer, kräftiger Kerl mit einem gewaltigen Oberkörper, ein optimaler Resonanzboden für seine begnadete Stimme. Da störte der Ansatz eines kleinen Bierbäuchleins kaum und der große Schnurrbart passte ganz ausgezeichnet in dieses jungenhafte Gesicht. Eine Sache, das bemerkte Emma gleich, hatten sie gemein, eine sehr direkte Art, die Dinge beim Namen zu nennen.

Erfreulicherweise bestand Emmas Konzept des Bühnenbaus vor den strengen Augen der Führungsriege.

Für Bariton Bernd Müller Anlass genug, Emma zum Essen einzuladen. Fröhlich stellte er fest: »Abgesehen von den Volontären sind wir die beiden jüngsten in dieser Produktion, wir sollten uns zusammentun. Du machst dein erstes Bühnenbild auf der großen Bühne und ich gebe mein Debüt als Valentin. Aber ich konnte mich gerade davon überzeugen, dass du mir weit voraus bist. So unerbittlich und selbstbewusst, wie du die Schreiner dirigiert hast – wie der Maestro sein Orchester. Das hat mich sehr beeindruckt.«

Emma hatte sich selbst gar nicht als so souverän empfunden, aber wenn man ihr die wenigen Unsicherheiten nicht angemerkt hatte, umso besser. In Bernd Müllers Gesellschaft fühlte sich Emma sofort wohl, sie verstanden sich auf Anhieb. Bernd war humorvoll, offen, verbindlich und immer gut gelaunt. Er erzählte aus seiner Kindheit, wie er zum Gesang gekommen war, wie er sich wehren musste gegen die Widerstände der Eltern, die wollten, dass er den Bauernhof übernimmt, die seinen Traum vom klassischen Gesang als unreife Spinnerei abtaten. Das alles berichtete er in einer Vertrautheit, als würden sie sich schon lange kennen, aber charmant und ausnehmend höflich. Was Emma besonders gefiel: Trotz seines Rufs als Frauenheld konnte sie niemals einen anzüglichen Blick feststellen oder eine verbale Entgleisung. Bernd verhielt sich wie ein Freund, es gab nicht die geringsten Anzeichen für Sexismus, geschweige denn eine derbe Anmache. Für Emma fühlte er sich an wie der große Bruder, den sie sich immer gewünscht hatte. Sie war froh, bei ihm Hilfe zu finden in der ihr noch fremden Arbeitsumgebung. Es würde lange dauern, bis sie diese Maschinerie durchblickte. Die Oper beherbergte über achthundert festangestellte Mitarbeiter, die freien Künstler nicht mitgerechnet.

Aber es blieb keine Zeit zur Eingewöhnung, Emma hatte nun jede Menge Arbeit vor sich. Der Zeitplan war straff, für Mitte September 2017 war bereits der Arbeitsbeginn für den Bau der Bühnenbilder angesetzt. Sie fertigte technische Zeichnungen der einzelnen Bauteile an. Parallel dazu begann sie mit den zeitintensiven Entwürfen der Kostüme. Allein für Margarethe waren es sechs Gewänder. Für Mephisto und 'Faust' fielen jeweils eine Grundausstattung an, ergänzt durch mehrere, unterschiedliche Umhänge. Dazu kamen Trachten, Uniformen, bürgerliche Kleidung sowie schwarze, bodenlange Capes für Nebenrollen und Chöre. Zuletzt widmete sie sich ihrer Lieblingsszene, der Walpurgisnacht. Auf dem Papier entstanden mondäne Roben für Göttinnen, Fantasiegestalten der Antike und eine für die Kleopatra. Emma zeichnete fast Tag und Nacht, um bis zum Sommer mit allen Figurinen fertig zu werden, später würde sie dafür keine Zeit mehr haben. Die folgenden zwölf Monate würde sie in den Werkstätten verbringen, vorwiegend in der Schreinerei und dem Malersaal. In dieser Zeit mussten dort alle Bühnenbilder angefertigt werden.

Jesewitz konnte freilich nicht helfen beim laufenden Herstellungsprozess. Als festangestellter Regisseur des Frankfurter Opernhauses hatte er dort seine Verpflichtungen zu erfüllen, er war erst ab dem Herbst des kommenden Jahres freigestellt, zum Beginn der szenischen Proben. Trotzdem reiste er oft an seinen freien Tagen an und verbrachte viele Stunden bei Emma in den Werkstätten. Diesen engen Kontakt hielten beide für wichtig, um nicht vom Weg ihres gemeinsam entwickelten Konzeptes abzukommen. Jesewitz verbrachte gerne seine Freizeit bei Emma – überließ sie ihm doch nach getaner Arbeit ihre Harley. Jesewitz liebte es, mit dem Motorrad übers Land zu fahren. Er entwickelte sich zum kollegialen Freund, war immer für sie da und förderte die gemeinsame Reflexion.

Genauso wie Bernd. Interessiert verfolgte er Emmas Fortschritte in den verschiedenen Gewerken. Sie musste Bauteile für zehn Bühnenbilder aus unterschiedlichsten Materialien produzieren, dazu kamen mehrere handbemalte, übergroße Dekorationswände. Die Entwicklung dokumentierte sie auf Fotos, die sie Bernd zeigte – meist während eines Billardspiels bei den abendlichen Treffen in der Eckkneipe, in der sie hinter der Bar ihr Studium finanziert hatte.

Pünktlich zum einundzwanzigsten September 2018 waren alle Bauteile und Dekorationswände fertiggestellt. Nur das Kirchengemälde war noch nicht ganz getrocknet. Bis zum letzten Moment hatte Emma daran herumgepinselt, nicht, weil es nicht schon vollkommen gewesen wäre, sondern weil sie nicht loslassen wollte. Sie war traurig, dass diese produktive Zeit zu Ende war. Mit Tränen in den Augen sah sie zu, wie all ihre handgefertigten Unikate eingepackt und zum Opernhaus abtransportiert wurden.

Der erste Schritt zur Realisierung ihres 'Faust' war abgeschlossen. Nun würde eine neue Phase beginnen. Emma wusste zwar nicht ganz genau, was sie nun erwartete, aber eines war ihr klar, die kommenden sechs Wochen würden ihr in jeder Hinsicht alle Fähigkeiten abverlangen – und all ihre Unzulänglichkeiten offenbaren.

02. Technischer Bühnenaufbau, der 'Faust', Montag, 24.09.2018

Gleich an ihrem ersten Arbeitstag im Opernhaus verschlief Emma. Entweder funktionierte der Wecker nicht, oder sie hatte vergessen, ihn einzuschalten. Sie wachte erst auf, als Mephistos höhnisches Lachen in ihr Schlafzimmer drang, hinterhältig, bösartig, verachtend. Emma schlug die Augen auf, horchte, dann fiel ihr ein, welch wichtiger Tag heute war. Sie sah auf die Uhr. Es war schon nach acht. Schlaftrunken wandelte sie hinaus, steuerte den Tisch an, auf dem sich ihr Handy vibrierend auf die Kante der Tischplatte zubewegte, während es unermüdlich dieses scheußliche Lachen ausspuckte. Anfangs hatte dieser unvergleichbar niederträchtige Ausdruck der Freude einen Schauder durch ihren ganzen Körper getrieben. Inzwischen war sie fast schon süchtig nach dem verführerisch warmen Klang dieser tiefen Männerstimme – und fasziniert von dem, was sie transportierte: abgrundtief bösen Zynismus, geistige Überlegenheit und Triumph. Diese teuflische Erscheinung, fähig, mit nur einer einzigen Intrige das Leben eines unschuldigen Mädchens zu vernichten, war nicht nur eine fiktive Theatergestalt aus Goethes 'Faust', für Emma stand sie vielmehr stellvertretend für das zerstörerische Element, das, tief verankert, in jedem Menschen schlummert.

Auf dem Display war das grinsende Konterfei des Bühnenmeisters Frank Baum zu sehen. Sie wischte mit dem Finger darüber. »Frank. Was ist passiert?«

»Ich wollte nur sichergehen, dass du nicht verschläfst. Du hast ja wahrscheinlich noch nicht mal Lampenfieber, so wie es sich eigentlich gehört für den Tag, an dem man seine Dekoration zum ersten Mal auf der großen Bühne präsentieren darf.«

»Ich fange erst am Tag der Premiere an zu zittern. Solange du bei mir bist, fühle ich mich sicher.«

»Du brauchst mich nicht, schon lange nicht mehr. Trotzdem. Ich werde früher ins Theater fahren.«

»Warum? Wir sind hundertmal alles durchgegangen. Sogar die Requisiten haben wir schon markiert. Es ist doch alles perfekt.«

»Arbeitsbeginn neun Uhr. Komm nicht zu spät.«

Frank war mit seinen vierzig Jahren Berufserfahrung einer der fähigsten Bühnenmeister, er hatte ihr all die Tricks des Bühnenbaus beigebracht. Noch nie hatte sie ihn so nervös erlebt.

Emma beeilte sich unter der Dusche. Ihre halblangen, schwarzen Locken frottierte sie nur, mehr Beachtung schenkte sie ihnen nicht, es hatte ohnehin keinen Sinn, diesen Haaren wäre nur mit viel Aufwand und Geschick beizukommen. Sie schlüpfte in Oma Stellas selbstgestrickte Socken, die sie regelmäßig mit einer Flasche Portwein aus Lissabon geschickt bekam, wählte die Boxershorts mit den Motiven bunter Herbstblätter, eine alte, abgetragene Jeans und ein Oversized-Shirt. Über all das zog sie die schwere Motorradmontur, schnürte die schwarzen Boots, griff Helm und Handschuhe, nahm einen kleinen Korb mit Süßigkeiten und verließ die Wohnung zur Terrassentür. Ihre Harley war im Hinterhof geparkt.

Die Fahrt von Emmas Wohnung zum Theater dauerte mit dem Motorrad gerade mal vier Minuten. Aber die kurze Zeit reichte, um ein Gefühl der Vorfreude aufkommen zu lassen.

Mit dem Pförtner am Bühneneingang wechselte sie immer ein paar Sätze, er war stets gut informiert und gab sein Wissen gerne weiter. Am Haus galt er als personifizierte Tageszeitung. Emma überreichte ihm den mitgebrachten Korb, seine ausgeprägte Schwäche für Süßes war bekannt. »Das ist für Sie.«

»Vielen Dank. – Frau Bluhm, Sie sollten etwas wissen. Im Haus ist ein Streit entbrannt. Und damit meine ich nicht die aktuellen Einsparungen. Seit raus ist, dass wir einen klassischen 'Faust' machen, spalten sich die Mitarbeiter in zwei Lager, die Anhänger der Werktreue gegen die...«

»Die Political Correctness Leute? Also, die Verfechter des Regietheaters?«

»Genau. Ist es nicht ziemlich ungewöhnlich, dass eine junge Frau wie Sie sich für ein traditionelles Konzept einsetzt?«

Emma freute sich darüber, dass sie für den Pförtner wohl schon 'dazugehörte' und er sie in die Tratschereien einweihte, obwohl er sie erst ein paar Mal gesehen hatte. Die Sache an sich überraschte sie nicht. »Diese Frage wird mir häufig gestellt. Meine Antwort lautet immer gleich: Klassische Opern sind das einzig Konventionelle, für das ich kämpfe. – Auf welche Seite haben Sie sich geschlagen?«

»Auf Ihre natürlich. Seit Jahren sieht jedes Bühnenbild gleich aus. Man weiß ja gar nicht mehr, in welchem Stück man sich befindet. Der Othello ist nicht länger ein schwarzer Feldherr, sondern trägt statt des imponierenden Umhangs jetzt einen blauen Overall. Er sieht darin aus wie ein weißer KFZ-Mechaniker. Wer soll das verstehen?«

»Gute Frage. Ich verstehe es auch nicht. Obwohl ich mich dem Argument mancher Kollegen nicht verschließen möchte, dass der böse Jago seinen eigenen verschrobenen Ansichten verfallen ist und auch ein Weißer auf seine Intrigen hineinfallen könnte.«

»Aber warum sollte Jago seinesgleichen hassen?« Der Pförtner schüttelte den Kopf. »Früher habe ich gerne die Kritiken gelesen. Aber heute... Die erklären Handlungen, die ich gar nicht gesehen habe.«

»Weil sie nicht zu sehen waren. Die meisten Szenen passen auch nicht zum Libretto des Originals. Das Publikum muss die Anspielungen des Regisseurs erahnen. Es liegt also nicht an Ihnen. Übrigens: Wie schätzen Sie die Spaltung der Mitarbeiter in Prozenten ein?«

»Sie meinen wie viel Leute auf jeder Seite? Ich würde sagen fifty-fifty.«

»Was sagen die Bühnentechniker dazu?«

»Denen ist das egal. Die haben mehr ein Problem damit, dass Sie eine Frau sind. Und sie trauen einer Anfängerin das Bühnenbild nicht zu, also vor allem die Technik.«

Das wunderte Emma ebenfalls nicht. Aber hätte sie Frank nicht an ihrer Seite gewusst, wäre diese Information weitaus beunruhigender gewesen.

Plötzlich öffnete sich schwungvoll die schwere Tür zur Straße. Hans Jesewitz betrat das Theater, der Kollege aus der Regieabteilung. Mit ihm hatte Emma heute überhaupt nicht gerechnet. Entsprechend fiel ihre Reaktion aus. »Jesewitz, was machst du hier? Ich dachte, du kommst erst nächste Woche zum Beginn der szenischen Proben?«

»Ich lass dich doch nicht allein an solch einem Tag. Ich bleibe auch. Ich will von Anfang an dabei sein.« Fröhlich drückte er Emma einen riesigen Blumenstrauß gegen die Brust. »Ich möchte mich bei dir bedanken. Dieses Jahr mit dir war – schöpferisch wertvoll. Es hat einen Riesenspaß gemacht, ungeachtet der Tatsache, dass du immer die besseren Ideen hattest.«

Emma war fast ein wenig gerührt, die Blumen legte sie in die Pförtnerloge. »Darf ich die hier parken? Ich hole sie später wieder ab. Danke.«

Der Pförtner lächelte. »Ich wünsche einen erfolgreichen ersten Probentag, Frau Bluhm.«

Jesewitz schob Emma durch die Glastür auf den Flur des Bühnenhauses. »Hör zu, ich habe um ein paar Ecken was erfahren.« Obwohl er flüsterte, vergewisserte er sich, dass sie nicht belauscht wurden. »Irmi Huber, die Tochter der Gewandmeisterin, hatte sich um das Kostümbild beim 'Faust' beworben. Das Gerücht geht um, du hättest sie mit unlauteren Mitteln ausgestochen.«

»Was sollen das für Mittel gewesen sein?«

»Das krieg ich auch noch raus. Du weißt doch, wie es ist, Intrigen spinnen, Gerüchte in Umlauf bringen. Ich wollte dich nur warnen.«

Emma nahm Jesewitz in den Arm. Sie sagte, was sie dachte. »Ganz ehrlich, ich bin froh, dass du da bist. Das gibt mir Sicherheit.«

»Das ist schön. Ich helfe, die Monitore aufzubauen, du willst sicher erst zu Frank.«

Emmas Handy summte. Als sie auf das Display sah, verdrehte sie die Augen. »Der Chef der Kostümabteilung.«

Jesewitz lachte, er wusste, dass Emma diesen Menschen nicht ausstehen konnte. »Herr Wichtig. Der Name ist Programm. Soll ich schon ohne dich anfangen? Das dauert ja bestimmt wieder länger.«

»Klar, wir sind doch ein Team.«

Emma wollte gehen, aber Jesewitz packte sie am Arm. »Hab keine Angst vor ihm. Lass dich nicht einschüchtern. Denk dran, du bist jetzt in der höheren Position. Er muss tun, was du verlangst, genauso wie alle anderen Mitarbeiter in diesem Haus. Es ist dein Bühnenbild, es sind deine Kostüme, du bestimmst. Du weißt ganz genau, was du willst, zieh es durch. Überlege nicht, was du sagst, sei spontan, dann bist du unbequem, aber gut. Behandle einfach alle so wie mich, taktlos und undiplomatisch. Dann werden dich alle hassen, aber keiner wird wagen zu widersprechen.«

Das war der längste Monolog, den Emma je von Jesewitz gehört hatte, er schien nervös zu sein und was er da sagte, war genau das Gegenteil von dem, was er ihr bisher immer gepredigt hatte. »Ich dachte, ich soll nicht verbal über Menschen trampeln.«

»Ich hab's mir anders überlegt.«

Emma fühlte sich noch relativ entspannt. Mephisto zitierend klopfte sie Jesewitz aufmunternd auf die Schulter. »Mein guter Freund, das wird sich alles geben. Sobald du dir vertraust, sobald weißt du zu leben.«

Jesewitz erwiderte mit einem 'Faust'-Zitat: »O glücklich, wer noch hoffen kann, aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen. Was man nicht weiß, das eben brauchte man, und was man weiß, kann man nicht brauchen.« Er zog die schwere Brandschutztür zum Bühnenbereich auf.

»Na, solange du noch Zitate aufsagen kannst.« Mit diesen Worten ließ Emma Jesewitz zurück, ging über die leere Bühne und kletterte durch die kleine Luke im Eisernen Vorhang, der zu dieser Tageszeit noch geschlossen war. Auf der Hinterbühne traf sie auf Frank, über sein bleiches Gesicht rannen Schweißperlen, er wirkte ungewohnt gebrechlich. Emma war besorgt. »Was ist mir dir? Du siehst gar nicht gut aus.«

Ihr lieber Freund winkte ab. »Nur schlecht geschlafen.«

Das konnte Emma nicht recht glauben. Aber sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er jetzt nicht darüber reden würde, was auch immer die Ursache war. Sie sah sich um. »Ist die Kirchenfassade für den zweiten Akt noch nachgeliefert worden aus dem Malersaal?«

»Ja, gerade eingetroffen. Die hast du prächtig hingekriegt, wirkt täuschend echt mit dieser Tiefenschärfe. Und die Farben, wunderschön.«

»Du würdest also sagen, die drei Monate Arbeit haben sich gelohnt?«

»Unbedingt. Und dein Plan mit der Drehbühne geht einwandfrei auf. Ich habe es gestern noch ausprobiert, nachdem du schon weg warst. Während vorn gespielt wird, räumen wir hinten ab und stellen das nächste Bild auf. Das geht mit deinen eingebauten Dämmungen sogar relativ geräuschlos.«

»Und die Walpurgisnacht?«

»Funktioniert. Während des Vorspiels fahren wir den kleinen Blocksberg mit 'Faust' und Mephisto auf der linken Seite nach vorn, gleichzeitig die Drehbühne nach hinten. Mit dem Chor der Irrlichter steigt Rauch auf. Unter den Paukenschlägen erhebt sich der prachtvoll glänzende Palast von der Unterbühne, während sich der Nebel langsam auflöst. Mit dem Ende des Vorspiels soll er oben einrasten. Das müssen wir noch üben, aber wenn es klappt, wird es ein zauberhaftes Spektakel.«

»Ich danke dir, Frank. Wir sehen uns später. Ich muss zu Herrn Wichtig.«

Die Uhr zeigte kurz vor neun. Wie Frank schon befürchtet hatte, würde Emma tatsächlich an ihrem ersten Tag nicht pünktlich zum Arbeitsbeginn auf der Bühne sein. Sie hetzte zum Pförtner.

Der überreichte ihr den Blumenstrauß. »Wieder für Frau Huber?«

»Ja. Außer, Sie möchten ihn Ihrer Frau mitbringen?«

»Danke. Aber wir haben noch die herrlichen Strelitzien von den Malern. Warum mögen Sie eigentlich keine Blumen?«

»Mag ich schon, im Garten oder auf der Wiese. Aber ich würde nie auf die Idee kommen, sie abzuschneiden.«

Emma sauste durch den langen Flur des Bühnenhauses. Am Ende angekommen wählte sie das Treppenhaus statt des Aufzugs, als Morgensport. Keine Stufe auslassend, trippelte sie alle Stockwerke nach oben bis unters Dach, hier war die Schneiderei untergebracht. Vor der Tür des Leiters der Kostümabteilung blieb sie stehen, legte die Blumen auf den Boden, holte tief Luft und betrat das Vorzimmer.

Die Sekretärin erwiderte ihren Gruß. »Sie können gleich hineingehen. Herr Wichtig erwartet Sie.«

Das kostete Emma einige Überwindung. Schon nach einem Schritt durch die offene Tür blieb sie wieder stehen. Eigentlich wollte sie gar nicht hineingehen in diesen Raum, dort drin herrschte für ihr Gefühl eine schier unerträglich abstoßende Atmosphäre. »Guten Morgen. Sie wollten mich sprechen.«

Der streng wirkende Herr hinter dem Schreibtisch zeigte auf den Stuhl ihm gegenüber. »Setzen Sie sich, wir haben einiges zu besprechen.«

Nur widerwillig setzte sich Emma, sie stand lieber während unangenehmer Gespräche und dies würde ein solches werden, das lag schon in der Luft.

Herr Wichtig hatte einen Bleistift in der Hand, mit dem er unablässig auf den Tisch klopfte. »Wir haben in der Damenschneiderei vier längerfristige Krankheitsfälle und drei Schwangerschaften. Wenn Sie die ganze Belegschaft beanspruchen wollen, müssen Sie Anträge für Aushilfen stellen.«

»Wie lange wird es dauern, bis die Anträge alle notwenigen Instanzen durchlaufen haben?«

»Bis zur endgültigen Entscheidung etwa zwei bis drei Wochen.«

»Das ist absurd. Alternativen?«

»Sie reduzieren Ihre Ansprüche. Zum Beispiel bei der Walpurgisnacht. Das sind zwanzig Komparsen. Wir können irgendwelche Umhänge aus dem Fundus nehmen. Und dieses teure, aufwendige Kostüm für eine Kleopatra, das ist lächerlich. Was wollen Sie mit der Kleopatra im 'Faust'? Die können wir streichen.«

Emma hatte keine Ahnung, wie sie das auf diplomatischem Weg lösen sollte, die aufsteigende Wut in ihr verursachte schlagartig einen hohen Puls, aber sie hörte sich sprechen. »Hätten Sie das Libretto gelesen, würden Sie diese Frage nicht stellen. Mephisto singt: Der Schönheit Königinnen, der Vorzeit Fürstinnen, Kleopatra voll Glanz, in Zauber hüllt uns ganz. – Also nein. Für das Bild der Walpurgisnacht wird nichts gestrichen. Es wird alles angefertigt, und zwar genauso, wie ich es gezeichnet und mit den Schneiderinnen besprochen habe. Ich war schon im Fundus. Dort habe ich nicht ein einziges passendes Kostüm für die Walpurgisnacht gesehen.«

»Was haben Sie nur mit diesem Bild? Es ist unwichtig und dauert keine zehn Minuten.«

»Für mich ist es wichtig und es ist sehr publikumswirksam. Aber ich muss mich nicht rechtfertigen dafür. Weiter. Was haben wir noch für Möglichkeiten, Personal einzusparen?«

Herr Wichtig zuckte lustlos mit den Schultern. »Sie vereinfachen die Kostüme des Chors. Sie wollten für das Kirmes-Bild sieben Mädchen in Tracht, sechs Matronen und zehn Bürgerinnen. Das sind dreiundzwanzig historische Kostüme. Dafür habe ich drei Schneiderinnen, das ist nicht zu schaffen. Und wir haben noch nicht einmal abschließend über die Umhänge für die Kirchenszene gesprochen, geschweige denn über die Engel für die Himmelfahrt. Ich habe im Kunstgewerbe nachgefragt, die haben noch nicht einmal die Figurinen der Flügel von Ihnen erhalten.«

»Es gibt keinen Modellentwurf von Flügeln, weil es keine Engel geben wird. Das habe ich Ihnen aber schon gesagt.«

»Und Sie wollen einen werkgetreuen 'Faust' abliefern? Ohne Engel? Das ist lächerlich!«

Emma versuchte, sich nicht provozieren zu lassen, sie rief sich die letzte Seite des Librettos ins Gedächtnis. Dort stand: Stimmen aus der Höhe. Das war die Lösung. »Sie haben völlig Recht. Die Himmelfahrt habe ich nicht bis zu Ende gedacht. Danke für die Anregung.«

Wichtig lehnte sich zufrieden zurück. Lächelnd drehte er den Bleistift zwischen seinen Fingern.

Emma entschied: »Wir streichen den Chor in der Kirche und bei der Himmelfahrt. Er wird von der Seitenbühne aus singen.«

Das Lächeln des Kostümchefs gefror, änderte sich schlagartig in einen Ausdruck voller Wut, dann überschlug sich seine Stimme. »Das ist nicht Ihre Entscheidung, sondern die des Regisseurs! Woher nehmen Sie eigentlich Ihre Arroganz! Alles, was Sie bisher vorzuweisen haben, sind ein Abschluss der Kunstakademie und zwei kleine Barockopern mit Nachwuchssängern der Meisterklasse!«

Emma ignorierte einmal mehr seine verbale Attacke, sie blieb gelassen. Zum Glück hatte sie eine Gabe, die bei Auseinandersetzungen oft hilfreich war, wenn ihr Gegenüber schrie, wurde sie ruhiger. Außerdem war keine Zeit für Streit. Emma konzentrierte sich auf die tatsächlichen Probleme. »Beim Kirmes-Bild könnten wir auch einsparen, das muss einfach nur bunt sein. Die Kostüme für die Matronen werden genäht, den Stoff habe ich extra bestellen lassen, aber die Trachten und die Kostüme für die Bürgerinnen können wir alle aus dem Fundus nehmen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dann noch viel anzufertigen ist.«

»So etwas haben wir noch nie gemacht! Das werden die Damen des Chors keinesfalls akzeptieren.«

»Ich weiß, jede von ihnen wollte eigentlich eine Solistin werden. Aber so kommen wir nicht weiter. Ich muss jetzt gehen.« Emma stand auf. »Ich werde der Gewandmeisterin sagen, was wir besprochen haben.«

»Das mache ich schon selbst!«

»Ich gehe sowieso hinüber, ich möchte Missverständnisse vermeiden.«

»Eines sollten Sie wissen, Frau Bluhm. Hier habe ich zu entscheiden. Solch ein großer Apparat, wie wir ihn hier haben, kann nur mit einer klaren Personalstruktur funktionieren. Hält sich jemand nicht daran, wird der Ablauf nachhaltig gestört.«

Sobald jemand mit Hierarchie anfing, reagierte Emma allergisch, sie fühlte ihr Herz nun bis zum Hals schlagen. Gut, dass Jesewitz ihr gerade die genaue Rangfolge erklärt hatte, sie selbst hätte nicht gewusst, dass die Kostümbildnerin einem Abteilungsleiter übergeordnet war. Beinahe wäre Herr Wichtig durchgekommen mit seinem Bluff – oder seinem Wunschdenken. Emma zwang sich zu einem neutralen Ton. »Sehr richtig, Herr Wichtig. Deswegen werden wir uns beide genau an die hier übliche Rangordnung halten. Sie informieren mich über die Möglichkeiten Ihrer Abteilung und ich sage Ihnen, wie wir vorgehen. Einen schönen Tag.«

Draußen im Flur lehnte sie sich an die Wand, bis sie sich beruhigt hatte, nahm den Blumenstrauß und machte sich, nun unbeschwerter, auf den Weg in die Damenschneiderei. Beim Eintreten in den großen Saal grüßte sie mit einem lauten »Hallo« in die Runde. Den Strauß legte sie auf den Tisch der Gewandmeisterin.

Frau Huber lächelte. »Schon wieder Blumen? Ich wünschte, ich hätte nur einen solchen Verehrer.«

Emma hatte kein Problem damit, Frau Huber die Wahrheit zu sagen. »Ich habe keinen einzigen. Die Blumen waren alle aus den Werkstätten. Je größer der Strauß, desto größer die Erleichterung, mich endlich los zu sein. Der größte kam aus der Schreinerei. Dort habe ich jede Lochbohrung nachgemessen und den Akkuschrauber selbst in die Hand genommen.«

Die Gewandmeisterin lachte. »Sie verzeihen mir, wenn ich sage, dass ich mir das lebhaft vorstellen kann?« Sie deutete auf die bunten Blumen. »Von wem ist dieser herrliche Strauß?«

»Von Jesewitz. Soll mich wohl milde stimmen. Was gibt es hier Neues?«

»Die Stoffe für die Kleider der Margarethe sind eingetroffen. Die Qualität ist gut, aber die Menge ist gerade ausreichend für jeweils ein Kleid der Größe zweiundvierzig, den Verschnitt sehr knapp berechnet. Ich zweifle, ob Sie hier an der richtigen Stelle gespart haben. Wir haben zwei neue Favoritinnen für die ausgefallene Titelpartie, eine Größe vierzig und eine zweiundvierzig. Wir sollten erst beginnen, wenn wir sicher wissen, wer die Margarethe singt.«

Emma ging zu den hohen Rundbogenfenstern, die den großen Raum mit Tageslicht durchfluteten, sah hinunter auf die belebte Einkaufsstraße und musste sich eingestehen, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Sie wandte sich der Gewandmeisterin zu. »Sie haben recht. Wir warten. Ich nehme es auf meine Kappe, wenn wir zur ersten Durchlaufprobe noch kein Kleid für die Margarethe haben. Wenn es die zweiundvierzig wird, vereinfachen wir den Schnitt. Es tut mir leid, aber ich muss mit jedem Euro rechnen. Was ist mit dem Stoff für die Matronen?«

»Den Crinkle?« Die Gewandmeisterin deutete auf einen Tisch mit bunten Stoffballen. »Ich kann mir nicht vorstellen, was Sie mit dem billigen Knitterstoffaus Synthetik-Garnen machen wollen. Für ein historisches Kleid ist er jedenfalls nicht geeignet.«

»Mit etwas Fantasie schon.« Emma nahm einen Stift vom Tisch und strich beherzt ihre Skizze des Matronen-Kostüms durch. Auf der Rückseite des Blattes zeichnete sie ein neues Gewand. Währenddessen erklärte sie ihre Idee. »Wir vergessen die Plissees, die sind zu zeitaufwendig. Wir nähen aus dem Crinkle zweiteilige Hänger mit überschnittenen Ärmeln. Wir arbeiten mit Seidenbändern, um ein Bustier zu bekommen. Dazu ein kontrastfarbiger Rock. Sie können ganz unterschiedlich sein.« Emma reichte der Gewandmeisterin das Papier. »Wir teilen uns die Arbeit, Sie drei, ich drei. Ich hole den Stoff später ab. Legen Sie mir bitte eine Liste mit Namen und Maßen der Chordamen bei. Vielleicht finden Sie für mich drei Damen der Größe vierzig, ich besitze nur eine Schneiderpuppe. Sie haben völlig freie Hand, lassen Sie Ihrer Fantasie freien Lauf. Alles, was ins Sechzehnte Jahrhundert passt, gilt. – Was sagen Sie dazu?«

Frau Huber war nicht leicht zu begeistern. »Wenn Sie es so wollen. Aber Sie müssen nicht selbst nähen.«

»Ich weiß.« Emma blickte in die Runde, hier war eindeutig Aufmunterung nötig. »Die Arbeit soll Spaß machen. Aus Freude entsteht Kreativität. Je freier Sie sich fühlen, desto wunderbarer werden die Kleider.«

Frau Huber beschäftigte etwas anderes: »Was ist mit den Trachten und den Bürgerinnen?«

»Das habe ich gerade mit Herrn Wichtig besprochen, die nehmen wir aus dem Fundus, alle. Außerdem gibt es eine wichtige Änderung: Alle Kostüme für den Chor in der Kirche und bei der Himmelfahrt entfallen. Wir lassen den Chor von der Seitenbühne aus singen. Was meinen Sie, ist die Arbeit, die dann bleibt, mit Ihrer dünnen Personaldecke zu bewältigen?«

Nun lächelte die Meisterin, sie schien beinahe erleichtert. »Sie haben soeben über siebzig Neuanfertigungen gestrichen. Jetzt ist es, ich würde sagen, sehr übersichtlich.« Frau Huber hatte noch ein Anliegen. »Ich habe eine Bitte, Frau Bluhm. Die Kolleginnen fragten mich nach dem Inhalt des 'Faust'. Ich konnte es ihnen nicht erklären. Würden Sie vielleicht?«

»Klar. Mir ist vor Kurzem ein altes Büchlein in die Hände gefallen, aus dem Jahr neunzehnhundertzweiunddreißig. Quasi ein Leitfaden durch die Lektüre des 'Faust', verfasst von einem Schweizer Sprachenforscher. Wenn ich je Zweifel gehabt hätte an meiner Interpretation, jetzt wären sie endgültig ausgeräumt. Wir kamen beide zu demselben Schluss.« Emma stellte sich vor die Nähtische, das laute Rattern der Maschinen verstummte. »Meine Damen, keine Angst vor dem 'Faust'. Das Libretto der Oper extrahiert das Wesentliche aus der deutschen Herzensgeschichte des Jahrhunderts, es verzichtet größtenteils auf die dichterischen Versreime, die Goethes 'Faust' zum Kunstwerk erhoben, für Schulkinder aber unverständlich sind. Wir alle begehen den Fehler, jedes Wort deuten zu wollen das im Grunde nur der Schönheit der Sprache dient, wir führen uns also selbst in die Irre. – Die Oper beschränkt sich im Wesentlichen auf die drei Hauptfiguren: Das naive Mädchen, den 'Faust' als ernsthaft ringenden, suchenden Geist und Mephisto, den Schalk, den sarkastischen Spötter, der skrupellos die Geschicke lenkt und die Liebenden in den Abgrund reißt.« Emma machte eine Pause und überlegte, wie der Inhalt möglichst kurz zu formulieren sei. Es war still im Raum. Die Schneiderinnen sahen Emma gespannt an. »Los geht's. Kurzfassung Gounods Oper 'Faust': Der alte Wissenschaftler Doktor 'Faust' ist des Lebens überdrüssig, er hat sein Leben lang studiert und doch nichts erfahren. Er will sich umbringen, doch das liebliche Klingen der Osterglocken hält ihn davon ab. In seiner Verzweiflung wendet er sich der Magie zu. Er beschwört die Geister herauf, Mephisto erscheint. Der bietet 'Faust' die Erfüllung all seiner Bedürfnisse, will allerdings als Gegenleistung seine Seele. Seine Seele wäre 'Faust' inzwischen schon gleichgültig, aber er glaubt nicht, dass Mephisto ihn zufriedenstellen kann. Der aber ist pfiffig und lässt mit seinen Zauberkünsten die schöne Margarethe erscheinen. 'Fausts' Begierde entflammt, er unterzeichnet den Vertrag mit seinem Blut und bekommt von Mephisto einen Verjüngungstrank, der ihn in einen attraktiven, jungen Mann verwandelt. 'Faust' trifft Margarethe, er verführt, schwängert und verlässt sie und zieht mit Mephisto weiter. Gretchen bereut, sie hat sowohl gegen die Regeln der Kirche verstoßen als auch gegen die Moralvorstellungen der Gesellschaft, sie wird sozial geächtet. Sie sucht Erlösung in der Kirche, aber da steht schon Mephisto als Kardinal verkleidet, verhindert ihr Gebet und verflucht sie mit seinem Chor der Dämonen. In ihrer Verzweiflung tötet sie ihr Kind und wird dafür zum Tode verurteilt. 'Faust' bereut jetzt auch. Er will sein Gretchen mit Mephistos Hilfe aus dem Kerker retten, aber sie will nicht mehr. Ihre letzten Worte: Heinrich, mir graut vor dir. – Fertig. Fragen?«

Für einen Moment herrschte betretenes Schweigen. Dann stand eine der jungen Frauen auf. »Was ist diese Gretchenfrage?«

Auch das war für Emma keine Herausforderung. »Heutzutage wird dieser Begriff oft benutzt, wenn es um den Kern eines Sachverhalts geht, dessen Frage danach, meist von Journalisten an Politiker gestellt, nicht beantwortet werden will, weil sie die eigene Gesinnung verraten würde. Ursprünglich fragte das naive, tiefreligiös erzogene Gretchen ihren 'Faust': Und wie hast du's mit der Religion? Er weicht aus, er glaubt ja an gar nichts mehr. Mephisto lenkt sie ab und hilft mit dem berühmten Schmuckkästchen nach. Gretchen glaubt, die Juwelen seien von 'Faust', und wenn er ihr dieses kostbare Geschmeide schenkt, liebt er sie wirklich. Ich sage nur: Achtung bei Schmuckgeschenken.«

Nachdem alle Fragen geklärt waren, machte sich Emma auf den Weg zum Zuschauerraum. Sie zwängte sich durch die Bestuhlung der achten Reihe des Parketts, die vollgestellt war mit Taschen, mehreren Computertürmen, Bildschirmen und einem Mikrofon. Jesewitz wollte wissen, wie es gelaufen war. Emma antwortete mit nur einem Wort: »Lösungsorientiert.«

»Von deiner Seite. Und der Wichtigtuer?«

»Wie immer, ich habe das Gespräch abgekürzt. Sag mal, Jesewitz, bin ich arrogant?«

»Du wirkst oft anmaßend, überheblich und eingebildet. Du wehrst dich gegen das Patriarchat, reagierst allergisch auf eitle Männer, hältst ihnen ihre Fehler schon auf nüchternen Magen vor. Aber wenn man das mal weiß...« Jesewitz feixte spöttisch, schloss dann aber ernst: »Du bist selbstbewusst, das verwechseln viele.« Er sah Emma nachdenklich an. »Was ich dich schon lange fragen wollte: Bist du eigentlich jüdisch?«

Emma setzte sich neben Jesewitz. »Wie kommst du jetzt darauf?«

»Der Name, die schwarzen Locken, die große Nase, deine schnelle Auffassungsgabe, deine ganze Art…«

»Jetzt weiß ich endlich, warum ich manchmal auf der Straße angepöbelt werde. Sehe ich echt so ausländisch aus?«

»Jedenfalls nicht wie ein Gretchen.«

»Jesewitz, du bist ein eitler Macho, der in Stereotypen denkt. Nein, ich gehöre überhaupt keiner Religion an. Ich muss mich keiner Gruppe mit abstrusen Theorien anschließen, mir reicht die Kraft, die ich aus mir selbst schöpfe.« Jetzt erst bemerkte Emma die falsche Dekoration auf der Bühne. »Was machst du da? Das ist die Schlussszene.«

»Ich sitze hier und warte darauf, dass du mir erklärst, wie du dir die Kerkerszene vorgestellt hast. Ich wollte Feuer. Aber es gib wohl keines.«

»Das mit dem offenen Feuer auf der Bühne war von Anfang an eine Schnapsidee. Es wurde feuerpolizeilich nicht genehmigt. Es gibt eine moderne Drei-D-Holografie mit Sound-Effekt. Beeindruckend, ungefährlich und nicht heiß.«

»Wann wolltest du mir das sagen?«

»Jetzt.«

»Kann es sein, dass du dir vielleicht nicht viel Mühe gegeben hast mit der Genehmigung des Feuers?«

Da mochte er recht haben, aber für Emma war dieses Thema längst erledigt, sie war verärgert über sein eigenmächtiges Handeln. Die Woche des technischen Bühnenaufbaus war schließlich ihre Sache. »Wieso lässt du dir die letzte Szene vorführen? Wir wollten chronologisch vorgehen.«

»Du warst nicht da und ich interessiere mich für die Kerkerszene. Noch weitere schlechte Nachrichten?«

»Ja. Für Margarethe wird es für die erste Probe kein einziges Kleid geben, weil wir noch gar keine Margarethe haben. Und übrigens: Den Chor in der Kirche und am Ende musst du streichen. Für den Damenchor gibt es überhaupt noch keine Kostüme.«

Jetzt drehte Jesewitz seinen ganzen Körper in Emmas Richtung. »Hast du was geraucht, oder was? Spinnst du? Du kannst doch nicht einfach was ändern.«

»Jesewitz, bitte, nicht wieder dieses blöde Chauvi-Gehabe. Die Ursache sind Sparmaßnahmen. Es fehlen sieben Schneiderinnen. Du sitzt hier träge rum und hast eine große Klappe. Oder hast du vielleicht geholfen, hunderte von Anträgen auszufüllen, um Requisiten aus Repertoirevorstellungen ausleihen zu dürfen, damit wir nicht neu anfertigen müssen? – Schau dir die Lichtshow an, bevor du sie ablehnst.«

Jesewitz zog die Stirn in Falten. »Wer von uns beiden die größere Klappe hat, ist ja wohl klar. Und was für eine Lichtshow? Ich wollte um Margarethe herum ein Feuer.«

»Das bekommst du. Und sie wird weder schwitzen noch angesengt werden und die beiden zusätzlichen Feuerwehrleute können auch eingespart werden.«

»Du willst mich doch auf den Arm nehmen.« Eingeschnappt verschränkte Jesewitz die Arme.

»Nein, diesmal nicht. Die Subventionen für die neue Spielzeit sind drastisch gekürzt worden, die Gehälter wurden eingefroren und freie Stellen nicht neu besetzt.«

»Was erzählst du da, das weiß ich doch alles. Worauf willst du hinaus?«

»Wir haben den Job bekommen, weil wir flexibel sind und zugesagt haben, das Budget einzuhalten, ohne Qualitätseinbußen. Also, wo können wir sparen, unsichtbar sparen. Das ist doch eine echte Challenge. Überleg doch, Jesewitz, der Chor in der Kirche ist viel wirkungsvoller, wenn die Stimmen aus dem Jenseits kommen. Wir brauchen die Leute nicht auf der Bühne. Sie stören nur und lenken ab von dem eindrucksvollen Auftritt des Teufels im Kardinalsgewand. Genauso am Schluss. Margarethe liegt einsam und verlassen im Kerker. Ihr Schicksal wird dadurch noch ergreifender. Und wir durchbrechen die Verbindung zwischen ihr und dem imposanten Schlusschor – wenn wir den Text schon nicht streichen dürfen.«

Jesewitz dachte nach. Das versöhnte Emma. Es gelang ihr meist, ihn zu überzeugen.

Laut sprach Jesewitz den Text der Apotheose, mit der die Oper endete: »Christ ist erstanden aus Tod und Banden, Heil er und Fried' verheißt, Euch beglückt. Ihr Welten, preist! – Wenn das vom Himmel oder sonst woher kommt, kann man das glauben oder eben nicht. Aber wir treten niemandem auf die Füße und die Schlussszene fällt gerade noch unter Werktreue. Warum sind wir nicht früher auf diese Idee gekommen?«

»Weil wir zu sehr am Libretto kleben. Für mich ist dieser Text unerträglich, er passt auch gar nicht.«

»Ein religiöses Überbleibsel aus der Zeit, ein Kompromiss, mit dem wir leben müssen. Es achtet doch sowieso niemand auf den Text. – Prima. Genauso machen wir's. Kann ich jetzt deine Lichtshow sehen?«

»Klar.« Emma sprach ins Mikrofon und bat darum, die Sequenz für das Feuer abzufahren.

Ihr Handy summte, sie hatte es auf dem Tischchen abgelegt. Jesewitz griff danach. »Eine Nachricht von Daniel. Er wünscht dir viel Glück. – Warum versteckst du deinen Freund eigentlich? Während des ganzen Jahres durfte ich ihn nicht ein einziges Mal sehen. Was ist mit ihm? Hat er ein Handicap?«

»Hat das nicht jeder, mehr oder weniger sichtbar? Es nervt langsam, Jesewitz, Merk dir endlich: Mein Handy ist für dich tabu.«

Jesewitz setzte ein fieses Lächeln auf. »Vielleicht. Wenn du mir von deinem Freund erzählst.«

»Ich habe keinen, jedenfalls nicht solch einen, wie du meinst. Daniel ist mein Tanzpartner – und ein wirklich guter Freund.«

»Dann erzähl mir von deiner letzten Liebschaft. Du wirst doch schon mal eine gehabt haben?«

Manchmal konnte Jesewitz sehr lästig sein mit seinem Herumgestochere in ihrem Privatleben, aber Emma mochte ihn trotzdem, er ließ sich immer schnell bändigen. Sie erzählte die Geschichte. »Während der Probenzeit zu meiner Bettleroper vor drei Jahren. Ein Bassbariton, jung, gutaussehend, gebildet, adrett. Er hat sein Leben den Befindlichkeiten seiner Stimmmuskulatur untergeordnet. Nüsse waren vom Speiseplan gestrichen, sie trocknen die Schleimhäute aus. Vor Proben war Sex ausgeschlossen, es nimmt dem Körper die Spannung. In seiner Gegenwart durfte ich weder Rauchen noch Alkohol trinken. Ich hab noch bis zur Premiere durchgehalten, damit er die Vorstellung nicht ruiniert.«

Plötzlich stand Frank auf der Bühne. »Wir sind technisch nicht vorbereitet auf das letzte Bild. Das dauert eine Weile. Der Kollege, der das macht, ist in der Kantine.«

Jesewitz sah Emma provozierend von der Seite aus an. Die stand auf, sprang die für die Proben angestellte Trittleiter hinauf, ging über den abgedeckten Orchestergraben und weiter auf die Bühne.

Frank war schweißüberströmt und leichenblass. »Nur noch ein paar Minuten.«

Schlagartig wurde Emma klar, dass Franks Zustand mehr war als eine kleine Schwäche. »Es geht dir gar nicht gut. Was ist los?«

»Geht schon gleich wieder. Ist nur der Stress.« Mit diesen Worten sackte er in sich zusammen.

Emma fing ihn auf, legte ihn behutsam auf den Boden und kniete sich neben ihn. Sie war so erschrocken, dass ihr selbst der kalte Schweiß ausbrach, aber sie musste ruhig bleiben. Sie zwang sich, leise zu sprechen. »Hey, Frank. Versuche, ruhig zu atmen. Tut dir etwas weh?«

Frank stammelte: »Ich hab einen Druck auf der Brust…« Er rang nach Luft, er schien kaum mehr atmen zu können. Mühsam brachte er heraus: »…Schmerzen im linken Arm – mir ist so schlecht.«

Die Sachlage war Emma sofort klar, sie rief den Inspizienten. »Herr Schulz! Rufen Sie bitte sofort einen Krankenwagen! Verdacht auf Herzinfarkt!« Sie beugte sich über den kraftlosen Freund. »Bleib ruhig, Frank. Es wird alles wieder gut. Versuche zu entspannen. Atme.«

Der Inspizient kam auf die Bühne, beugte sich hinunter und legte mitfühlend seine Hand auf die Schulter seines langjährigen Kollegen. »Der Krankenwagen ist unterwegs, Frank.«

Der alte Bühnenmeister versuchte, sich aufzurichten. »Ich muss weitermachen.«

Mit sanfter Gewalt hielt Emma ihn an den Schultern fest. »Nein, musst du nicht. Lieber Frank, bitte bleib liegen.« Verzweifelt überlegte sie, was jetzt zu tun sei. Sie bräuchte sofort ein EKG-Gerät, einen Blutdruckmesser und eine Beruhigungsspritze, nichts davon hatte sie.

Auch dem Inspizienten war die Lage klar. »Wir haben einen Arzt hier, er müsste gleich da sein, ich habe ihn angepiepst. Er ist in der Kantine.«

»Ich dachte, ein Arzt ist nur während der Vorstellungen im Haus?«

»Die Direktion hat angeordnet, dass bei den 'Faust'-Proben auch tagsüber ein Arzt anwesend ist. Ab dem ersten Tag, trotz aller Sparmaßnahmen.«

Das nahm Emma persönlich, trotz der Situation. »Warum? Weil mich alle für unfähig halten? Warum sollte bei meinen Proben mehr passieren als sonst bei allen anderen?«

Der Inspizient antwortete diplomatisch: »Der Arzt ist ein Freund des Intendanten. Er interessiert sich wohl für diese Inszenierung.«

»Hat ihm jemand gesagt, dass die nicht in der Kantine stattfindet?« Emma nahm Franks Hand, sie spürte, wie Tränen ihre Augen füllten.

Einer der Bühnenarbeiter schob vorsichtig ein Kissen unter Franks Kopf, ein anderer legte eine Decke über seine Beine.

Nur sehr stockend brachte Frank die Worte heraus: »Danke… Jungs… mir ist wirklich sehr kalt.«

Mit ihrem Ärmel tupfte Emma Frank den herunterrinnenden Schweiß von seiner Stirn. Sie spürte, wie die Angst um den Freund anfing, sie zu beherrschen, aber sie musste ihn beruhigen. »Das ist nur der Schreck, Frank, das ist ganz normal.«

Ein schlanker, junger Mann mit weißblondem Haar eilte auf die Bühne, stellte einen Arztkoffer auf den Boden, kniete sich neben Frank und lächelte ihn freundlich an. »Hallo, Frank. Ich bin Doktor Limbert. Wie geht es Ihnen?«

Bei dieser Frage schlug Emmas Angst in Wut um. Ohne nachzudenken, machte sie sich spontan Luft. »Unser Bühnenmeister hat einen Herzinfarkt! Messen Sie seinen Blutdruck, machen Sie ein EKG, legen Sie einen Zugang und spritzen Sie Diazepam!« Sie sah den Arzt auffordernd an. »Heute noch!« Jetzt erst fiel ihr auf, welch ebenmäßig schönes Gesicht er hatte. Sie wusste nicht, ob sie das jetzt beeindruckte oder sie vielmehr befürchtete, er sei der Lage nicht gewachsen.

Doktor Limbert ignorierte Emmas cholerischen Anfall. Behutsam legte er seine Hand auf Franks Brust, er schien in ihn hineinzufühlen. Dann sah er ihm ins Gesicht und sagte freundlich: »Frank. Ich werde jetzt Ihren Blutdruck messen.«

Frank reagierte nur mit einem merkwürdigen Verdrehen seiner Augen und verlor das Bewusstsein.

Doktor Limbert blieb besonnen, er holte den Blutdruckmesser und ein kleines portables EKG-Gerät aus seiner Tasche.

Emma musste irgendetwas tun, um nicht durchzudrehen. Ohne zu fragen, nahm sie eine Schere aus dem Arztkoffer, trennte erst den langen Ärmel von Franks Shirt unter der Achsel ab, danach schnitt sie es über der Brust von oben nach unten auf.

Doktor Limbert registrierte das, äußerte sich aber nicht. Er steckte die Enden des Stethoskops in die Ohren, legte die Manschette um Franks Arm, pumpte Luft mit dem kleinen Blasebalg hinein, sagte ganz leise: »Schreien ist kontraproduktiv.«, und konzentrierte sich auf die Blutdruckwerte. Er legte das Blutdruckmessgerät zur Seite und befestigte die Elektroden des EKGs auf Franks Brust.

Emma beobachtete ihn, seine Handgriffe wirkten sicher. Sie flüsterte: »Wie ist der Blutdruck?«

»Unauffällig.« Doktor Limbert startete die Messung. Ein Blatt Papier, auf dem Franks Herzaktionen in Form von Kurven aufgezeichnet wurden, ratterte aus dem Gerät. Emma musste sich nach vorn beugen, um freien Blick darauf zu haben. Es dauerte keine Minute, das Ergebnis war eindeutig. Doktor Limbert legte einen Zugang und injizierte eine Ampulle Diazepam. Dann klopfte er Frank sanft auf die Wange.

Frank öffnete die Augen. »Was ist?«

Limbert nahm Franks Hand. »Sie waren nur kurz weg. Ich habe Ihnen ein Beruhigungsmittel gespritzt, Sie werden sich gleich besser fühlen. Es sieht so aus, als hätten Sie einen Herzinfarkt erlitten. Aber keine Sorge. Das kriegen wir schnell wieder hin.«

In diesem Moment stürmten drei Rettungssanitäter mit einer Trage auf die Bühne. »Was haben wir?«

Doktor Limbert stand auf. »Verdacht auf Herzinfarkt. Wo ist euer Arzt?«

»Der steht noch im Stau.«

»Die Zeit haben wir nicht. Dann fahre ich selbst mit. Fragen Sie die Dioklinik an, das ist die nächste mit einer guten Kardiologie.« Er kniete sich wieder neben den Patienten. »Frank, Sie lassen sich jetzt bitte einfach umsorgen. Wir packen Sie schön warm ein und bringen Sie ins Krankenhaus. Ich bleibe bei Ihnen, ja?«

Frank reagierte kaum.

Für Emma war klar: »Ich fahre auch mit.«

Doktor Limbert reagierte sehr bestimmend. »Nein, Sie sicher nicht. Sie können seine Angehörigen informieren.« Mit diesen Worten drängte er Emma zur Seite, half, den Patienten auf die Liege zu heben und hinauszutragen.

Sekunden später waren sie verschwunden. Für einen Moment war es ganz still auf der Bühne. Emma fühlte sich plötzlich wie von allen verlassen.

Der Inspizient sah auf die Uhr. »Wir haben noch fünf Stunden.«

Emma schüttelte den Kopf. »Nein. Wir machen Schluss für heute.« Sie sah in den Zuschauerraum. Jesewitz saß immer noch auf seinem Platz. Emma war sauer auf ihn, sie hörte sich rufen: »Hättest du nicht den Ablauf geändert, hätte Frank keinen Stress gehabt!« Sie wandte sich an den Inspizienten. »Wir fangen morgen früh um neun noch einmal von vorn an.«

Schulz nickte. »Ich informiere den technischen Direktor.«

»Danke.« Emma verließ die Bühne und lief das eine Stockwerk hinunter zur Bühnenpforte. Ihr war elend zumute, so elend, dass sie sogar den netten Pförtner vergaß. Aber als sie die schwere Tür zur Straße aufschob, war es, als erfasse sie ein Orkan. Da war er plötzlich wieder, dieser einzigartige Moment, dieses überwältigende Gefühl, das sie jedes Mal beim Verlassen des Theaters aufs Neue ergriff. Der Verkehrslärm, der ihr abrupt entgegenschlug, erinnerte sie daran, dass es da draußen noch eine andere Welt gab. Die Bühnenpforte war für sie praktisch das Portal von einer Welt in die andere. Mit nur einem einzigen Schritt konnte sie in ihre geliebte Theaterwelt gelangen – in der ihr das Träumen so leichtfiel, ihre Fantasie auf ganz besondere Weise angeregt wurde – und mit dem Heraustreten auf die Straße wurde sie daran erinnert, dass es eben nur Fantasie gewesen war. Verblüffend aber war immer wieder, dass sie innerhalb der grauen Mauern die reale Welt vollkommen vergaß.

Auf der Straße war es schrecklich laut, es stank nach Autoabgasen. Sie drehte sich um und ging zurück ins Theater. Der Pförtner sprach sie an. »Frau Bluhm, wissen Sie, was mit Frank ist?«

Sie lehnte sich an die Tür zur Pförtnerloge, sie hätte heulen können. »Ja, er hat einen Herzinfarkt. Ich mache mir solche Vorwürfe. Aber am schlimmsten ist für mich, dass ich nicht mitfahren durfte. Wir haben die Probe abgebrochen. Ich weiß gar nicht, was ich jetzt machen soll.«

Der Pförtner versuchte, sie zu trösten. »Ich glaube nicht, dass es Ihre Schuld ist, Frau Bluhm. Frank hat schon lange mit einer Herzschwäche zu kämpfen.«

»Was? Er hat nie etwas gesagt. Das ist ja noch schlimmer. Wenn ich davon gewusst hätte – ich hätte ihn nie diesem Stress ausgesetzt.«