Aneurysma - Patricia Grotz - E-Book

Aneurysma E-Book

Patricia Grotz

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Beschreibung

Als Peter von seinem ersten Aortenaneurysma erfährt, ist er fünfundvierzig, erfolgreich im Beruf, glücklich verheiratet und stolzer Vater eines kleinen Sohnes. Die Veranlagung zu Aneurysmen liegt in der Familie, sein Vater war daran gestorben. Peter entscheidet sich für den beschwerlichen Weg lückenloser Kontrollen und gefährlicher Operationen. Spannend, packend und erschütternd, aber zugleich humorvoll berichtet dieses Buch über glückliche Zeiten der Familie, viele Momente voller Angst und Leid, neue Behandlungsmethoden und großartige Chirurgen.

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Seitenzahl: 230

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Patricia Grotz

Aneurysma

Leben mit der Bedrohung

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

COVER

Vorwort

Hilfreiche Kenntnisse

01. Die Diagnose

02. Erste Operation

03. Liebe auf den ersten Blick

04. Die Prothese sitzt

05. Tagesmutter

06. Fehlplanung

07. Neue Normalität

08. Wandernder Nierenstein

09. Irland

10. Das Leid beginnt

11. Falsche Entscheidung

12. Cor City

13. Gefährliche Fahrt

14. Zweite Meinung

15. Wohin jetzt?

16. Durchgangssyndrom?

17. Schwere Wochen

18. Kontrolluntersuchung mit Folgen

19. Leben oder nur Überleben

20. Veränderungen

21. Verbremst

22. Reduziertes Leben

23. Verflixtes Jahr

24. Schlimme Turbulenzen

25. Würzburg

26. Pfusch

27. Neue Passion

28. Desaster in Irland

29. Irrsinn am Flughafen

30. Schicksalsstunden

31. Notoperation

32. Koma

33. Aufpäppeln

34. Reflexion

35. Noch mehr Aneurysmen

36. Geniale Reparatur

37. Fröhliche Weihnachten

38. Ein ruhiges Jahr

39. Martin

40. Freud und Leid

41. Ungewöhnlicher Januar

42. Quälendes Warten

43. Cool-down

44. Therapie

45. Jonas

46. Abiturfeier

47. Mutig

48. Doktor Fortune fehlt

49. Schockzustand

50. Wechsel

51. Aufschub

52. Fünfundsechzig!

53. Nachtrag

54. Dank

Impressum neobooks

COVER

Abbildung: Mit Stents versorgtes Aortenaneurysma. (Arteria iliaca communis linksseitig.)

Vorwort

Dieses Buch folgt in Episoden dem chronologischen Krankheitsverlauf eines Aneurysma-Patienten. Es ist kein Fachbuch für Medizin, sondern eine Familiengeschichte und schildert aus Sicht der Ehefrau persönliche Erlebnisse mit Ärzten und Krankenhäusern, beschreibt Ängste und Hoffnungen des Patienten und was es für die Angehörigen bedeutet, an seiner Seite zu leben.

Dank des rasanten medizinischen Fortschritts kann man heutzutage vielerlei Aneurysmen überleben – und noch einiges mehr.

Mit Medizinern kann man gute und schlechte Erfahrungen machen, furchtbare, aber auch groteske Momente erleben – und darüber schmunzeln – solange man überlebt.

So unglaubwürdig manche Darstellungen auch klingen mögen, die folgende Handlung beruht auf wahren Begebenheiten.

Namen von Ärzten und Kliniken wurden geändert.

Hilfreiche Kenntnisse

Die AORTA ist das zentrale arterielle Blutgefäß im menschlichen Körper. Sie führt von der linken Herzhälfte hinab bis in den Bauch, hat eine Länge von ungefähr vierzig Zentimetern, einen Durchmesser von ungefähr drei Zentimetern und befördert sauerstoffreiches Blut über abzweigende Arterien in verschiedene Körperbereiche.

Ein ANEURYSMA ist die Aussackung eines Blutgefäßes, die krankhafte Erweiterung einer Gefäßwand, meist einer größeren Arterie, die ab einer bestimmten Ausdehnung reißen kann.

01. Die Diagnose

Es war Mitte der neunziger Jahre. Ich erinnere mich an den herrlichen Frühlingstag, an dem mein Mann Peter nur schnell zum Einkaufen fahren wollte, während ich begeistert unserem kleinen glucksenden Sohn Jonas zusah, wie er mit seinen acht Monaten gerade gelernt hatte, sich um sich selbst zu drehen.

Meine Freude wurde vom Klingeln des Telefons unterbrochen. Es war Peter. Er berichtete, ihm sei beim Fahren plötzlich schwarz vor Augen geworden und er habe das Auto eben noch am Straßenrand zum Halten bringen können, bevor er für kurze Zeit das Bewusstsein verlor. Er überlege, ob es nicht vielleicht sinnvoll sei, sich von einem Arzt durchchecken zu lassen. Dem konnte ich nur zustimmen. Praktischerweise parkte er ohnehin gerade vor einer Klinik.

Es dauerte mehrere Stunden, bis er zurück nach Hause kam. Zu essen gab es nichts, dafür eine Diagnose, zu der die Ärzte der Notaufnahme mittels Ultraschall gelangt waren:

Ein infrarenales Bauchaortenaneurysma im Anfangsstadium.

Was um alles in der Welt war das? Peter erklärte, ein Aortenaneurysma sei eine Aussackung der Hauptschlagader. Infrarenal bedeute unterhalb (inferior) des Abgangs der Arteria renalis, oder anders gesagt, unterhalb der Nieren gelegen. Bei ihm handle es sich ursächlich wohl, wie schon bei seinem Vater und seinem Onkel, um eine angeborene Bindegewebsschwäche der Gefäße. Vater und Onkel seien nach langen Leidensphasen schließlich an den Folgen geplatzter Aneurysmen gestorben.

Ich überlegte, ob er das vor unserer Hochzeit schon einmal erwähnt hatte.

02. Erste Operation

Das anfänglich kleine Säckchen an Peters Aorta wuchs stetig. Im Abstand von drei Monaten wurden Größe und Wachstum von unserer Hausärztin unter Zuhilfenahme des Ultraschalls kontrolliert.

Peters psychischer Zustand verlor während dieser Zeit etwas an Stabilität.

Nach einem Jahr der permanenten Unsicherheit, die sich für uns immer mehr zu einer seelischen Tortur entwickelt hatte, erreichte die Aussackung einen operationswürdigen Größendurchmesser von sechs Zentimetern.

Die Chance, dass das Gefäß unter dieser Spannung noch lange durchhielt, lag rein statistisch gesehen zu diesem Zeitpunkt bei etwa fünfzig Prozent, war also relativ unwahrscheinlich.

Das spontane Platzen eines Aneurysmas zieht in der Regel einen schnellen Tod durch inneres Verbluten nach sich. Peter war sich ganz sicher, diesen Moment nicht erleben zu wollen und stimmte einer Operation zu.

Unsere Hausärztin fand einen auf Aneurysma-Operationen spezialisierten Gefäßchirurgen. Der schlug vor, die erkrankte Stelle durch eine acht Zentimeter lange Prothese aus Kunststoff zu ersetzen. Allerdings wies er uns auf ein möglicherweise auftretendes, aber unvorhersehbares Problem bei diesem Eingriff hin, das Vernähen der beiden Prothesenenden. Die erfolgreiche Befestigung hinge entscheidend von der Qualität des Gefäßes zu beiden Seiten des Aneurysmas ab, die vor der Operation nicht beurteilt werden könne. Seien diese Stellen ebenfalls von einer Gewebeschwäche betroffen, würde das ein Fixieren unmöglich machen und die Operation scheitern lassen. Peter äußerte, in diesem Falle ein Sterben unter Narkose vorzuziehen, gab das Lesen der Operationsrisiken auf und unterzeichnete die Aufklärungsbögen.

Nach diesem Gespräch wurde mir abwechselnd heiß und kalt. Auch bevorzuge ich schnelle, klare Stellungnahmen und gebe gern den Satz meines ehemaligen Lehrers zum Besten:

»Man muss lernen, Entscheidungen zu treffen, auch wenn sie falsch sind.«

Aber plötzlich schien mir das äußert heikel zu sein. Peter hatte entschieden, mehr spontan als überlegt, und dafür bewunderte ich ihn. Aber ob er sich über die Dimension im Klaren war und die möglichen Folgen? Ausgerechnet ich, bekannt für meinen intuitiven Aktivismus, zweifelte und war weder vom Abwarten noch vom Operieren überzeugt, zu wenig kannte ich mich mit der Krankheit aus, zu wenig konnte ich die Risiken abschätzen.

Im Grunde genommen mag ich Probleme, weil ich sie gerne löse. Aber diese Sache lag nicht in meiner Hand und machte mir Angst.

03. Liebe auf den ersten Blick

In der Nacht vor der Operation konnte ich keinen Schlaf finden. Ich versuchte, mich zu entspannen, schloss die Augen und erinnerte mich an den Tag, an dem ich Peter kennengelernt hatte.

Es war im Sommer 1985 gewesen. Ich war sechsundzwanzig, von Beruf Maskenbildnerin und eigentlich glücklich. Ich hatte mich nur unlängst entschlossen, den Rest meines Lebens alleine zu verbringen, da es das, was ich mir unter einem Mann vorstellte, auf dieser Welt nicht zu geben schien. Für eine erkrankte Kollegin hatte ich einen Drehtag übernommen und war auf dem Weg zum Büro des Produktionsleiters, um mich vorzustellen. Ich erwartete das laute, geschäftige Treiben, das ich von Produktionsbüros kannte, klopfte kurz an die Tür, öffnete sie – und hatte das Gefühl, in eine andere Welt einzutreten. Es war vollkommen still. Ich stand in einem großen, hohen, halbdunklen Raum, der eine Atmosphäre ausstrahlte, die mich mit Wohlbehagen erfüllte. Rauchschwaden waberten durch die Luft, in denen sich die Sonnenstrahlen brachen, die zu dieser Tageszeit ihren Weg durch das Fenster fanden. Ein massiver dunkler Schreibtisch stand mitten im Raum – und dahinter stand er! Ein großer, kräftiger Mann mit dunkelblonden, halblangen, lockigen Haaren. Der melierte Dreitagebart gab dem weichen Gesicht einen perfekten Rahmen. Zwischen Mittel- und Zeigefinger seiner rechten Hand steckte eine brennende filterlose Zigarette, die Ursache der Rauchschwaden. Ich schätzte ihn auf Mitte dreißig. Er trug eine ausgewaschene Jeans, die seinen wirklich atemberaubenden Körperbau betonte. Ein weißes Hemd war locker in die Hose hineingestopft und fiel leger über den kräftigen Brustkorb.

Er stand nur da und sah mich an. Plötzlich dachte ich an meine Mutter, die mich erst neulich wieder besorgt gefragt hatte, wie denn ein Mann sein sollte, der mir gefallen würde, nachdem ich Männer als eine lästige Anhäufung von Machos bezeichnet hatte. Hier war die Antwort, liebe Mami, so, genau so stellte ich mir einen Mann vor. So sollte er aussehen und so sollte er sein, ruhig und zurückhaltend.

Er stand immer noch nur da und sagte nichts und ich hatte Zeit, sein Gesicht zu betrachten – in dem ich alles fand, was ich mir je gewünscht hatte in einem Gesicht lesen zu können: Wissen, Tiefgründigkeit und Bescheidenheit. Eigentlich sah ich alles in diesem Gesicht, das Leben und die ganze Welt.

Leider hielt ich dieses herrliche Kribbeln in meinem Körper nicht lange aus und quasselte los. Ich stellte mich vor und fragte nach den Maskenräumen. Er stellte sich ebenfalls vor und beschrieb mir den Weg. Er hieß Peter! In diesem Moment war das für mich der schönste Name der Welt. Ich sagte, ich würde nach Drehschluss noch einmal vorbeikommen, ging hinaus und schloss die Tür. Atemlos lehnte ich mich mit dem Rücken an die Wand. Offensichtlich hatte ich vergessen Luft zu holen, während mich diese tiefe, angenehm warme Stimme durchflutete. Die Beschreibung des Weges zum Studio dagegen war nicht bis in mein Gehirn vorgedrungen, ich fragte den nächsten Menschen danach, der mir begegnete. Am Ende des Arbeitstags ging ich wieder zu Peter. Er lächelte mich an, sagte, der Tag sei gut verlaufen, alle wären sehr zufrieden gewesen und ob er mich wieder buchen dürfe. Ich antwortete, wie immer spontan und ohne nachzudenken:

»Aber nicht für diese Gage.«

Peter zuckte mit den Schultern.

»Schade, ich hätte mich gefreut, wenn wir uns wiedergesehen hätten.«

Die Verabschiedung fiel kurz aus. Kopfschüttelnd wankte ich den Gang entlang. Was hatte ich getan! Ich war doch nicht ganz bei Sinnen! Könnte ich nicht einmal eine Ausnahme machen und etwas weniger verlangen, nur bei dieser Firma? Nein, das konnte ich nicht. Ich hielt an meinen Prinzipien fest, vor allem, was die Gagenforderung betraf, immer. Doch diesmal litt ich eine Weile darunter.

Ein Jahr später führte uns der Zufall wieder zusammen. Ich war, zu meiner normalen Gage, für einen einwöchigen "Auswärts-Dreh" gebucht worden. Der zuständige Produktionsleiter hatte keine Lust auf Hotels und wollte in heimischen Gefilden bleiben. Peter übernahm, er war gerne unterwegs und das am liebsten in Gesellschaft. Er rief mich an, war erfreut darüber, dass wir wieder zusammenarbeiten würden und lud mich ein, mit ihm zu fahren. Er versicherte mir, dass mein gesamtes Equipment in den Kofferraum seines alten Autos passen würde.

Auf der vierstündigen Fahrt ergaben sich interessante, offene und ungewöhnlich tiefgehende Gespräche, wie man sie nur selten mit einem Menschen führt, den man kaum kennt. Allerdings endeten sie abrupt am Ortsschild unseres Zielortes, bei dem Peter anhielt, um mir den Stadtplan zu reichen und mich bat, ihn zum Hotel zu lotsen. Ich wunderte mich, er war doch der Produktionsleiter! Ich hielt es für einen Test, ob ich eine Straßenkarte lesen konnte, hatte aber weder Zeit, darüber nachzudenken, noch darüber zu diskutieren. Wir standen an einer roten Ampel und Peter fragte, wohin er fahren sollte. Ich überflog die Straßenkarte, war aber doch neugierig.

»Ich glaube dir nicht, dass du den Weg zum Hotel nicht kennst.«

»Ich habe keine Ahnung. Gelb.«

»Was?«

»Grün.«

Die Autos hinter uns hupten. Peter blieb ganz ruhig hinter dem Steuer sitzen und wartete auf meine Ansage. Ich sah wieder auf die Karte.

»Links.«

Peter setzte den Blinker und bog ohne Eile nach links ab. Zumindest schien er links und rechts unterscheiden zu können.

»Hast du nicht vorhin erzählt, dass du letztes Jahr schon hier warst, im selben Hotel?«

Peter nickte.

»Ich habe keinen Orientierungssinn auf Straßen.«

So etwas hatte ich noch nie gehört. Ich erinnerte mich an jede Straße, auf der ich schon einmal gefahren war, auch wenn es Jahre her war.

»Findest du wenigstens nach Hause?«

Peter lächelte.

»Meistens.«

Er fragte mich an jeder Kreuzung, wohin er fahren sollte. Meine Verwunderung hielt noch bis zur dritten Ampel an, danach fand ich es komisch. Am Hotel angekommen, liefen mir vor Lachen die Tränen herunter. Ein orientierungsloser Produktionsleiter, wie sympathisch! Und ein Mann, der nicht daran dachte, ein Unvermögen zu verheimlichen, wie außergewöhnlich erfrischend!

In der folgenden Woche fand ich heraus, dass Peter Angst vor elektrischem Strom hatte, deswegen ungern Glühbirnen auswechselte und auch sonst kein begeisterter Handwerker war. Zum Austausch von Glühbirnen brauchte ich wahrlich niemanden und Männer, die vorgaben, alles zu können, langweilten mich. Ich interessierte mich eher für den Intellekt eines Menschen. Und was Peter an Scharfblick und Klugheit bot, übertraf noch meine Wunschvorstellung eines vollkommenen Charakters. Noch dazu besaß er, was mir fehlte: Demut und Belesenheit.

Am fünften Tag unseres Aufenthaltes rief ich meine Mutter an, um ihr zu sagen, dass sie mir keinen Mann mehr backen müsse, den, den ich immer gesucht hatte, gab es aus Fleisch und Blut.

Seit diesem Tag arbeiteten wir zusammen, lebten zusammen, unternahmen viele Reisen gemeinsam und ergänzten uns in allen Bereichen. Aber unsere anfängliche Lebensplanung, niemals zu heiraten oder Kinder bekommen zu wollen, stellte Peter nach neun Jahren in Frage. Wir waren erfolgreich im Beruf und verdienten genug für ein angenehmes Leben. Aber wir waren wohl zu sehr mit der Welt der Illusionen, dem Film, beschäftigt, um zu merken, wie schnell die Zeit verging. Irgendwann, so sagte Peter, würde uns die Oberflächlichkeit dieser glitzernden Scheinwelt nicht mehr zufriedenstellen. Irgendwann wollten wir vielleicht in der wirklichen Welt leben, und wenn es noch lange dauerte, das zu erkennen, würde es für ein eigenes Kind zu spät sein. Damit verblüffte er mich, aber ich musste ihm natürlich Recht geben. Seine nächste Idee dagegen überstrapazierte mein Entgegenkommen: Als ich schwanger wurde, wollte er mich auch noch heiraten! Ich versuchte, mich aus der Affäre zu ziehen, indem ich einfach nicht darauf reagierte. Aber Peter stocherte er verbal in meinem Gewissen herum. Ob ich ihm tatsächlich zumuten wolle, dass er sein eigenes Kind werde adoptieren müssen?

Mir wurde klar:

Das Zusammenleben mit einem anderen Menschen war ein einziger Kompromiss.

04. Die Prothese sitzt

Am Tag der Operation wanderte ich mit dem inzwischen zwanzig Monate alten Jonas auf dem Arm nervös durch die Wohnung. Lieber hätte ich direkt vor dem Operationssaal gewartet, aber das hatte Peter mir ausgeredet. Also wartete ich auf einen Anruf.

Ich wusste, dass ich jetzt auf alles gefasst sein musste, aber als das Telefon klingelte und ich den Hörer in die Hand nahm, war ich alles andere als gefasst. Für keine der Eventualitäten, die eintreten konnten, war ich bereit.

Überraschenderweise war Peter selbst am Apparat. Er war erst vor Kurzem aus der Narkose erwacht, klang noch sehr schwach, wollte mir aber unbedingt persönlich mitteilen, dass die Operation gelungen war.

Die Anspannung war so groß gewesen, dass es einige Zeit dauerte, bis wir uns richtig freuen konnten. Wir hatten Glück gehabt, der Professor hatte sich tatsächlich als ein Spezialist erwiesen und für seine perfekte Arbeit waren wir ihm unendlich dankbar.

An dieser Stelle gilt unser Dank ebenfalls unserer damaligen Hausärztin für ihre sorgfältigen Recherchen.

Bei meinem ersten Besuch im Krankenhaus am darauffolgenden Tag wurde mir schlagartig meine Unbedarftheit in diesem medizinischen Fachgebiet vor Augen geführt. Peters kompletter Rumpf war umwickelt, Mull-Stretch fixierte den Druckverband vom Brustbein bis zu den Lenden. Neugierig, wie ich bin, sah ich beim Verbandswechsel zu. Der Schnitt war über fünfzig Zentimeter lang und bildete um den Bauchnabel herum einen exakt gezogenen Halbmond. Ich fragte den Arzt, warum mein Mann von oben bis unten aufgeschnitten worden sei. Der lächelte mich mitleidig an, oder war das nur Einbildung? Ich kam mir mit einem Male so dumm vor, ließ aber nicht locker und erfuhr auf gezielte Nachfrage hin die grundsätzliche Vorgehensweise dieses Eingriffs: Um überhaupt erst einmal an die Operationsstelle zu gelangen, musste zunächst die komplette Bauchdecke aufgeschnitten und auseinandergeklappt werden, anschließend die inneren Organe beiseitegeschoben und in dieser Position mit Klammern gehalten werden. Danach war noch der Darm im Wege, der größere Teil davon musste für einige Stunden außerhalb des Körpers gelagert werden.

Peter lächelte mich an. Er hatte genau gewusst, worauf er sich einließ, mich aber mit diesen Details nicht beunruhigen wollen.

Ich hielt mich am Fenstersims fest, starrte hinaus und fühlte Übelkeit in mir aufsteigen. Aber ein anderes Gefühl war stärker als der Würgereiz: Der Ärger angesichts meiner Naivität. Wie konnte ich derart uninformiert in so eine wichtige Angelegenheit stolpern! Niemals wieder wollte ich mich so einfältig fühlen wie in diesem Augenblick. In Zukunft würde ich mich besser informieren und eingehend mit allen bevorstehenden Entscheidungen beschäftigen.

Doch zurück zum Zustand des Patienten. Der war laut Aussage der Ärzte den Umständen entsprechend gut. Die Computertomographie (kurz CT genannt), eine Röntgenuntersuchung, bei der Gefäße dargestellt werden, die implantierte Metallteile enthalten, belegte einen tadellosen Sitz der Prothese.

Schon nach drei Wochen wurde Peter mit der ausdrücklichen Empfehlung entlassen, in Zukunft nichts Schweres mehr zu heben.

Sein Allgemeinbefinden war noch sehr mäßig. Da wir aber wussten, was sein Körper durchgemacht hatte, beunruhigte uns das nicht über die Maßen. Weitaus übler war der Zustand seines Darmes. Der schien mit der Art und Weise, wie er zurück in den Körper gestopft worden war, ganz und gar nicht einverstanden zu sein und konnte sich mit seiner neuen Position nicht anfreunden. Er platzierte sich ständig neu – und Peter wand sich vor Schmerzen.

05. Tagesmutter

Peter war nach dieser Operation nicht sehr belastbar, arbeitete aber weiter. Meine Filme führten mich oft wochenlang ins Ausland. So schien uns die Betreuung unseres kleinen Sohnes im Moment nicht ausreichend abgesichert zu sein. Wir hatten keine Omas, die nur darauf warteten, dass der Enkel bei ihnen abgegeben würde.

Also machte ich mich auf die Suche nach einer Tagemutter und klapperte, immer mit Jonas auf dem Arm, den ganzen Landkreis ab. Doch das Kind klammerte sich beim Anblick der verschiedenen Damen ganz fest an mich – bis wir bei der letzten Adresse auf meiner Liste angelangt waren, die praktischerweise nur vier Autominuten von unserer Wohnung entfernt lag.

Wir standen vor einem großen Bauernhaus. Hier rasten fünf kleine Kinder durchs Haus, in den Garten und wieder zurück, sie spielten gerade Fangen. In der Tür stand eine freundliche, patent wirkende Frau, "Mama Desch". Sie sah den Kindern nach, wandte sich dann Jonas zu und lächelte ihn an.

»Ja, wer bist denn du?«

»Jonas.«, antwortet mein Sohn ohne zu zögern.

Er war angesehen und etwas gefragt worden, folglich antwortete er. Das war das ganze Geheimnis. Die anderen sogenannten Tagesmütter hatten mich angesehen, zu mir gesprochen und hatten das Kind ignoriert. "Mama Desch" hatte mich bisher nur mit einem Blick gestreift und mir zugenickt. Sie strahlte den kleinen blonden Jonas an, der strahlte zurück und begann, sich wie eine Schlange in meinen Armen zu winden und zeigte nach unten. Ich stellte ihn auf den Boden und sofort rannte er los. "Mama Desch" sah ihm hinterher, aber von Jonas war nichts mehr zu sehen und zu hören. Sie sah mich an und lachte.

»So was hab ich noch nie erlebt. Na dann kommen Sie doch auch herein.«

Jonas saß im Spielzimmer bei den anderen Kindern und inspizierte die Spielsachen. Es sah aus, als säße er immer schon da.

Ich folgte "Mama Desch" in die Küche. Sie setzte Kaffee auf.

»Na ja. Das sieht doch sehr gut aus. Ich biete Ihnen Folgendes an: Wir versuchen es, erst für Stunden, dann tageweise. Fühlt sich Jonas hier wohl und weint nicht, weil er Sie vermisst, kann er bleiben. Er scheint ja recht unkompliziert zu sein.«

Natürlich war ich einverstanden. Ich hätte nichts anderes gewollt. Ich bedankte mich und rief Jonas. Aber der versteckte sich hinter vielen großen, weichen Sitzkissen und die anderen Kinder stellten sich davor. "Mama Desch" wandte sich an die Kinder:

»Habt ihr vielleicht den Jonas gesehen?«

Alle fünf Kinder schüttelten ernst die Köpfe.

Ich trank drei Tassen Kaffee, aß zwei Stück Käsetorte und lernte die brillanteste aller Tagesmütter kennen. Nach zwei Stunden kam Jonas vergnügt aus dem Spielzimmer. "Mama Desch" fragte ihn, ob er wiederkommen wolle. Jonas nickte heftig mit dem Kopf.

»Dann ist´s abgemacht. Bis morgen also?«

Sie streckte ihm die Hand entgegen. Jonas lächelte, nickte und schlug ein.

"Mama Desch" betreut Tageskinder zwischen einem und drei Jahren, beziehungsweise bis zum Eintritt in den Kindergarten. Als Jonas sich von ihr verabschiedete, war er sieben Jahre alt und wurde eingeschult. Sie hatte eine Ausnahme gemacht.

06. Fehlplanung

Jonas verbrachte zunächst drei Tage in der Woche bei der Tagesmutter, zu der übrigens wirklich alle "Mama Desch" sagten, Kinder sowie Eltern.

An diesen Tagen ging Peter tapfer ins Büro, trotz seiner Bauchschmerzen. Die übrige Zeit konnte er von zu Hause aus arbeiten und sich um das Kind kümmern, während ich für Fernsehfilme durch Europa reiste.

Als sich für mich zwischen zwei Filmen eine freie Woche ergab, entschied ich mich spontan, sie mit Jonas zu verbringen, den ich seit langem kaum mehr zu Gesicht bekommen hatte. Kurzfristig buchte ich ein Zimmer in einem strandnahen Hotel auf einer kleinen Mittelmeerinsel.

Als Jonas am Flughafen merkte, dass sein geliebter Vater nicht mitkommen würde, streckte er die Arme aus und rief:

»Papa!«

Danach sprach er kein Wort mehr und fiel in eine Art Schockzustand mit hohem Fieber. Ich musste ihn ins Krankenhaus bringen. Die Ärzte traktierten das arme Kind mit Blutabnahmen, einem Ernährungsschlauch über einen Zugang im Arm, waren ansonsten ratlos und fanden keinerlei Erkrankung. Völlig verzweifelt rief ich Peter an und bat ihn, so schnell wie möglich zu kommen. Als Jonas seinen Vater sah, streckte er wieder die Arme aus, rief wieder:

»Papa!«, und war schlagartig gesund.

Ich hatte schlichtweg die Fakten missachtet. Ich war aufgrund meiner langen Phasen der arbeitsbedingten Abwesenheiten keine Bezugsperson mehr für meinen eigenen Sohn. Dieses dramatische Ereignis war eine bittere Lehre. In schlaflosen Nächten verfolgt mich das bis heute.

07. Neue Normalität

Drei Monate später, als sich Peters Darm gefühlte hundertmal um sich selbst gewunden hatte, wurden die Bauchkrämpfe erträglicher. Seit langer Zeit waren wir das erste Mal so richtig entspannt – für einen Tag. Am nächsten Tag krümmte sich Peter vor Schmerzen und bekam kaum mehr Luft zum Atmen.

Sofort rief ich den Notarzt, schilderte Peters Zustand, fügte hinzu, dass es sich um einen relativ frisch operierten Aneurysma-Patienten handle und teilte den Namen der Klinik mit, in der er operiert worden war, sowie den Namen des Chirurgen. Es war ja nicht auszuschließen, dass die eingesetzte Prothese an den Nähten gerissen war.

Peter stand, mit den Knien an die Couch gelehnt, vornübergebeugt, die gestreckten Arme auf die Rückenlehne gestützt und konnte seine Position nicht mehr verändern.

Bereits vier Minuten später klingelte es. Kaum hatte ich die Tür geöffnet, stürmte eine aufgeregte Truppe von vielen Männern mit großen Taschen an mir vorbei, von denen einige gleichzeitig riefen:

»Wo ist der Patient?«

Sie wurden angeführt vom örtlichen Feuerwehrkommandanten. Außer ihm trugen alle rote Anzüge. Ich streckte den Arm aus, zeigte stumm Richtung Wohnzimmer und blieb so stehen, denn der Strom von hereinstürzenden Menschen riss nicht ab und alle polterten am Kinderzimmer vorbei. Ich ließ die Eingangstür einfach offen stehen, holte den kleinen Jonas aus seinem Zimmer, nahm ihn auf den Arm und versuchte ihm ganz ruhig zu erklären, dass wir Besuch von ein paar Leuten in lustigen roten Anzügen hätten.

Unsere Wohnung war eigentlich gar nicht so klein, aber jetzt war sie voll und ich war überall im Weg.

Als Jonas das Treiben im Wohnzimmer sah, stellte er das Kauen auf seinem Schnuller ein. Ich erwartete einen seiner witzigen Kommentare, die er in ungewöhnlichen Situationen neuerdings von sich gab. Doch diesmal schien er wirklich überrascht. Sein Gesicht erstarrte mit offenem Mund und der Schnuller glitt unbemerkt zu Boden.

Leere Kanülen flogen durch die Luft, nicht benötigte Zugangsschläuche und Reste von Verbandsmaterial segelten auf den Boden. Die Sanitäter riefen sich hektisch Diagnosen und Anordnungen zu. Der Feuerwehrkommandant ging auf den Balkon und suchte prüfend den Himmel ab. Kurz darauf schrie er:

»Es kann losgehen!«

Sofort bediente einer der Männer sein Walkie-Talkie. Ja, der Krankenwagen, der den Patienten zum Rettungshubschrauber transportieren würde, stand vor dem Haus bereit. Ich vernahm die Geräusche eines Helikopters, die rasch lauter wurden. Jetzt wurde mir schlagartig klar, was der Kommandant der Feuerwehr eigentlich mit alledem hier zu tun hatte: Er war für die Sicherung des Landeplatzes und die Koordination verantwortlich!

Die fahrbare Trage war längst vorbereitet und wurde an Peter herangeschoben. Aus seinem Arm hing ein langer Schlauch, der in ein flaschenartiges Plastikgefäß mündete, das von einem der Sanitäter in die Höhe gehalten wurde. Vier andere hoben Peter auf die Trage, legten ihn vorsichtig hin und schnallten ihn fest. Nun bewegte sich alles Richtung Ausgang. Nachdem meine Person keinerlei Beachtung fand, rief ich der Gruppe hinterher:

»Wo bringen Sie ihn hin?«

Ich konnte nicht ausmachen, wer mir antwortete, war aber dankbar, dass überhaupt jemand auf meine Frage reagierte. Das Ziel war die Klinik, die ich am Telefon genannt hatte.

»Der Professor ist schon verständigt und auf dem Weg in den OP! Wir müssten es in sieben Minuten schaffen! Alles Gute für Sie!«

Dann eilte der Feuerwehrkommandant an mir vorbei und drückte kurz aber mitfühlend meine Hand.

»Scheiße, Scheiße! Das Herz! Alles Gute!«

Sekunden später war die Wohnung leer.

Diese letzten, eiligen Worte hallten in mir nach. "Scheiße, Scheiße! Das Herz!" Bisher hatte ich gedacht, Peters Herz wäre vollkommen in Ordnung. War ich jetzt beunruhigt? Nein, na ja eine Spur, aber nur ganz kurz. Ich wusste ja, dass Peters Herz gesund war. Verwechslungen von Aneurysmen mit Herzerkrankungen kamen oft vor. Meines Wissens nach verband die beiden Erkrankungen nichts, außer vielleicht ihre Bedrohlichkeit – und natürlich die Notwendigkeit einer schnellen Behandlung. (Wie ich später erfuhr, hatte der Feuerwehrkommandant aufgrund der gebotenen Eile auf einen Herzinfarkt geschlossen.)

Ich ging mit Jonas auf den Balkon. Drei Minuten später schwoll das Motorengeräusch an und der startende Hubschrauber stieg vor unseren Augen auf. Ich sah auf die Uhr und fasste zusammen: Vier Minuten vom Anruf bis zum Eintreffen der Notärzte, weitere vier für die Transportvorbereitungen des Patienten. Drei Minuten bis zum Hubschrauber, sieben Minuten Flug. Schätzungsweise weitere fünf Minuten bis in den Operationssaal. Wow! Was für eine Leistung! Was für ein perfekt ineinandergreifendes System! Ich war begeistert, dass so etwas möglich war! Dann addierte ich die Zeiten: dreiundzwanzig Minuten – Mist. Bei einem Platzen der Aorta hat man höchstens zwanzig Minuten Zeit, um das Leben des Patienten zu retten. Ich rechnete nochmal, ließ die fünf Minuten bis zum OP als Variable offen und hoffte auf Rückenwind beim Flug.

»Schau, Jonas, da fliegt der Papa.«

Ich winkte, bis der Hubschrauber über den Hausdächern verschwunden war. Jonas sah mich an, als sei ich nicht ganz bei Verstand, sprach aber noch immer nicht. Er wurde mir langsam schwer auf dem Arm, als ich jedoch das Chaos im Wohnzimmer betrachtete, umklammerte ich ihn noch fester. Die Möbel standen nicht mehr an ihrem Platz. Der Boden war übersät mit Infusionsnadeln, Schläuchen, Klebebändern, leeren Kanülen und aufgebrochenen Glasampullen, die sehr scharfe Kanten hatten. Die meisten hatten die gleiche Aufschrift: DIAZEPAM. Ich erinnerte mich. Die Ärzte hatten immer wieder eine Dosis injiziert, bis Peters Blutdruck und sein rasender Puls endlich gesunken waren. Für seine hundert Kilo Körpergewicht hatte es offensichtlich etwas mehr gebraucht.

Jonas streckte seine Hand aus und zeigte stumm auf seinen Schnuller am Boden.

»Weißt du was, Jonas. Heute ist dein Glückstag. Du bekommst einen neuen Schnuller.«

Ich ließ ihn zwischen zwei bunt verpackten Modellen auswählen, stülpte mir einen Handschuh über und stellte den Mülleimer mitten ins Wohnzimmer.

»Viele Leute mit schmutzigen Schuhen sind heute hier durchgegangen.  Wir werfen einfach alles weg, was auf dem Boden liegt und du passt auf, dass ich nichts übersehe.«

Als sein Schnuller im Müll landete, zuckte Jonas ein wenig, zeigte dann aber auf jeden noch so kleinen Glassplitter. Diese Prozedur dauerte.

Danach wusste ich nicht so recht, was ich anfangen sollte. Eigentlich wollte ich hinterherfahren. Aber Peter hatte sowohl das abgelehnt, als auch die Benachrichtigung seines Bruder. Er sagte, die Anwesenheit von Familienmitgliedern oder auch Freunden im Krankenhaus wäre sinnlos und für ihn nur eine Belastung. Ich würde sowieso telefonisch über alles informiert werden.

Gefühle der Angst durchfluteten mich. Ich wollte meinen Peter wiederhaben. Ich konnte mir ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen.

Um mich abzulenken, entschied ich mich für ein Spiel mit Jonas, bei dem man von verdeckt aufgelegten Karten jeweils zwei zusammengehörige finden und umdrehen musste.

Ich verlor.

08. Wandernder Nierenstein