GEMISCHTES DOPPEL - Patricia Grotz - E-Book

GEMISCHTES DOPPEL E-Book

Patricia Grotz

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Beschreibung

Hanna und Daniel sind seit Jugendtagen ein eingespieltes Trainingsteam. Als sie gemeinsam mit zwei befreundeten Tennisprofis zu einem Turnier nach Amerika reisen, schweißen sie die Herausforderungen dort zusammen, offenbaren aber auch Konflikte. Hartes Training, Disziplin und Leistungsdruck. Zuneigung, Begehren, Eifersucht. Eine Reise durch das Gefühlsleben der jungen Tennisspieler, die um ihre Karriere kämpfen – und um eine Liebe, die ihre Freundschaft zu zerstören droht…

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Seitenzahl: 456

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Patricia Grotz

GEMISCHTES DOPPEL

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorbemerkung:

01. Die Jugend

02. Gemischtes Doppel

03. Vier Jahre

04. Hamburg

05. Erwachsen

06. Wiedersehen

07. Das Versprechen

08. Vorbereitung auf den Davis Cup

09. Ein Abend mit Thomas Sander

10. Daniel ist beleidigt

11. Die Entschuldigung

12. Zweite Vorbereitungswoche

13. Der Davis Cup

14. Im Theater

15. Hannas Chopper

16. Eine Stunde der Klarheit

17. Ankunft in Monterey

18. Erster Trainingstag

19. Eifersucht

20. Hanna kann nicht spielen

21. Die Modenschau

22. Roberts mentales Training

23. Der erste Turniertag

24. Erfolge

25. Die ersten Achtelfinals

26. Joe Miller

27. Die letzten Achtelfinals

28. Tag des Mixed Viertelfinale

29. Suche nach einem Viertelfinal-Gegner

30. Die Halbfinals

31. Das Problem

32. Hanna fühlt sich nicht wohl

33. Hannas Gespräch mit Thomas

34. Roberts Halbfinale

35. Vorbereitung auf die Finals

36. Das Mixed

37. Der letzte Spieltag

38. Der Plan

Dank

Impressum neobooks

Vorbemerkung:

Sollten in diesem Buch Personen, Vereine oder Organisationen vorkommen, die tatsächlich existieren, entspringen deren Handlungen allein der Fantasie der Autorin.

01. Die Jugend

Daniel war an diesem heißen Apriltag gleich nach der Schule mit dem Fahrrad zur Rotdorn-Anlage gefahren. Wegen des außergewöhnlich warmen Winters war die Freiluftsaison früher eröffnet worden. Die Außenplätze konnten problemlos bespielt werden, es hatte auch seit Wochen keinen Nachtfrost mehr gegeben. Daniel war fünfzehn, blond, schlank, sportlich und mit eins siebzig normal groß für sein Alter. Er hatte sich schon früh für eine Laufbahn als Tennisprofi entschieden, Tennis war seine große Leidenschaft. Seit seiner Kindheit war er Mitglied im MTC-Rotdorn, der Münchner Club hatte über die Jahre bereits einige der großen Profis hervorgebracht.

Daniels Eltern waren weder vermögend noch arm, hatten keine Ahnung vom Tennissport, ermöglichten ihm aber dennoch ein umfassendes Training. Sie unterstützten seine Neigung – unter der Voraussetzung, er würde seine Schulzeit mit dem Abitur abschließen. Er sollte später noch die Möglichkeit haben, sich für einen 'normalen' Beruf zu entscheiden.

Daniel traf sich jeden Nachmittag mit seinem Coach auf der Anlage. Er wechselte seine Betreuer häufig, in kürzester Zeit hatte er sich immer wieder von ihnen getrennt, mit keinem fühlte er sich so richtig wohl, vor allem aber kam er mit seiner schwachen, beidhändig geschlagenen Rückhand nicht weiter, keiner seiner bisherigen Trainer hatte ihm dabei entscheidend weiterhelfen können. Das war aber nicht der Grund dafür, dass er seit Wochen direkt nach der Schule und ohne Mittagessen früher zum Tennisplatz fuhr. Der Grund dafür befand sich auf dem Nebenplatz. Daniel wollte Zeit haben, das Geschehen dort zu verfolgen. Er setzte sich auf die Bank am Rande des Platzes und tat, was er schon seit Wochen tat, er beobachtete. Auf dem Platz neben dem seinen trainierte seit Monaten ein Mädchen. Sie war groß für ihr Alter (Daniel hatte in der Mitgliederliste nachgesehen, sie hieß Hanna Peters und war vierzehn), trug immer weiße Kleidung, eine große Schildkappe auf dem Kopf und war stets umgeben von einem ganzen Tross von Männern. Zwei von ihnen schienen die Trainer zu sein, ein anderer stand meist direkt neben der Seitenlinie, hatte ein Buch in der Hand und fragte Hanna während des Spiels Vokabeln in Englisch und Französisch ab. Ein weiterer kam und ging, sagte manchmal etwas, meist aber inspizierte er nur die Lage, betrachtete Hanna aufmerksam und gab den anderen Männern Anweisungen, vor allem den zwei großen, kräftigen Kerlen, die den Eindruck machten, sich gar nicht für das Tennisspiel zu interessieren und ständig nur die Umgebung im Blick hatten. Es war ein ziemlicher Radau, den die Gruppe dort veranstaltete, es wurde ununterbrochen gesprochen und meist redeten alle durcheinander. Daniel wollte hinter die Strategie dieses Durcheinanders kommen, er konnte sich nicht vorstellen, wie sich Hanna bei dieser Unordnung auf das Spiel und die richtige Technik konzentrieren konnte. Aber, und das war genau das, was Daniel so faszinierte, das Mädchen, also Hanna Peters, schien der Situation absolut gewachsen; wie selbstverständlich widersprach und diskutierte sie mit den Trainern, haderte nie, probierte aus, was ihr vorgeschlagen wurde, ratterte nebenbei die gefragten Vokabeln herunter und spielte, wie beiläufig, ein nahezu perfektes Tennis. Am meisten bewunderte Daniel ihre Rückhand. Im Gegensatz zu ihm schlug Hanna sie einhändig, aber trotzdem hart, platziert und meist fehlerfrei.

Vor Wochen hatte Hanna an einem Wochenendturnier der U16 auf der Anlage teilgenommen. Daniel war extra hingefahren. Er wollte sehen, wie sie sich in einem Wettbewerb verhielt. Hanna hatte keinen einzigen Satz abgegeben, sie konnte auf den Punkt abliefern. Sie war souverän, fokussiert, aber völlig emotionslos gewesen. Auch nach dem Sieg konnte Daniel bei ihr keine Freude feststellen, sie bedankte sich eher neutral als überschwänglich und war sofort nach der Siegerehrung verschwunden.

Wer war dieses Mädchen, das so erwachsen wirkte, so abgeklärt, wo kam sie her, warum spielte sie derart gut? Das alles wollte Daniel wissen. Und vor allem wünschte er sich eines: Er wollte gegen sie spielen. Aber er wusste nicht so recht, wie er das anstellen sollte. In ihrer Nähe befanden sich einfach zu viele erwachsene Männer. Besonders einschüchternd fand Daniel nicht einmal die Trainer und den Mann mit den Vokabeln, sondern die zwei großen, kräftigen Burschen, von denen Daniel keine Ahnung hatte, wofür sie eigentlich gut waren. Also einfach hinüberzugehen und sie anzusprechen, kam wohl eher nicht infrage. Daniel war auch mehr der zurückhaltende Typ, nicht etwa, weil es ihm an Selbstvertrauen mangelte, nein, seine Zurückhaltung war, wie er es vom Elternhaus mitbekommen hatte, eine Art Überzeugung, ihm gefielen Eigenschaften wie Bescheidenheit und Unaufdringlichkeit, bei anderen sowie auch bei sich selbst. Er beobachtete lieber als sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen. Im Großen und Ganzen war Daniel zufrieden mit sich. Er empfand sich als normal aussehend, war dankbar für seinen makellosen, beigen Teint, der ihn sehr ästhetisch erscheinen ließ und hatte sich an die kleine Lücke zwischen seinen Schneidezähnen gewöhnt, sie gab ihm etwas sehr Individuelles. Nur seine hellen Augenbrauen entsprachen wohl nicht dem vorherrschenden Schönheitsideal. Überhaupt strahlte er nichts von einer dominanten Männlichkeit aus, er hatte etwas angenehm Androgynes an sich. Dennoch interessierte er sich für Mädchen, aber es war überhaupt nicht seine Art, sie grundlos anzusprechen. Bei Hanna hätte er einen Anlass gehabt, doch der hatte so rein gar nichts damit zu tun, dass sie, rein biologisch gesehen, ein Mädchen war. Daniel konnte sich nicht vorstellen, dass sie mit weiblichen Attitüden punkten konnte. Sie erschien nach außen hin nicht gerade freundlich oder gar verbindlich, nicht unbedingt unsympathisch, aber in der Tendenz doch eher abweisend. Sie war laut, bestimmend und hatte etwas sehr Burschikoses an sich, sie war also alles andere als ein Mädchen, das Beschützerinstinkte weckte. Daniel empfand ihre Art nicht direkt abstoßend, aber mindestens furchteinflößend. Allein ihr Spiel war anziehend – das aber umso mehr.

Daniel schlug die Beine übereinander, fuhr sich mit beiden Händen durch sein hellblondes, kurzes Haar, legte die Arme ausgestreckt auf die Lehne der Bank und machte es sich in der warmen Mittagssonne bequem. Er hätte Hanna ewig zusehen können bei ihrem kraftvollen Spiel. Er beobachtete sie genau, wie sie lief, wie sie sich flüssig und geschmeidig bewegte, wie sie zum Ball stand, wie sie den Schläger in der Hand drehte. Er versuchte vorherzusagen, ob sie sich für einen Stoppball oder einen Longline entscheiden würde.

Doch plötzlich unterbrach Hanna ihr Spiel und legte den Schläger weg. Einer der beiden großen, kräftigen Männer ohne erkennbare Aufgabe kam über das Feld (Daniel hatte gar nicht bemerkt, dass er den Platz verlassen hatte) und reichte Hanna zwei Teile von etwas, das in Aluminiumfolie eingewickelt war. Hanna nahm es an, bedankte sich leidenschaftslos, ging schnurstracks zu der Tür in der Umzäunung, die ihren Platz von Daniels trennte, öffnete sie und ging hindurch.

Daniel erschrak, Hanna kam direkt auf ihn zu. Er rührte sich nicht. Ungefragt setzte sie sich neben ihn.

»Hi. Ich bin Hanna Peters.« Sie streckte Daniel eine der Kugeln in Alufolie entgegen. »Döner? Ein halber. Willst du? Ich schaffe keinen Ganzen. Inzwischen schneiden sie ihn immer schon durch und bringen mir zwei Hälften.«

Unwillkürlich griff Daniel danach.

Hanna wickelte ihre Hälfte aus und biss so herzhaft hinein, dass die Joghurtsauce von ihrer Lippe zum Kinn hinunterlief. Sie wischte mit dem Handrücken darüber und leckte die Sauce ab. Sie fragte: »Spielst du Mixed?«

Daniel sah Hanna an. Er hatte sie noch nie aus der Nähe gesehen. Sie hatte große, strahlend blaue Augen, die unheimlich lebendig wirkten – und fordernd, sie waren umrahmt von dunklen, schwarzen Wimpern. Im Nacken quollen schwarze Locken unter der Kappe hervor. Daniel versuchte, Hanna mit seinen Mitschülerinnen zu vergleichen, die mit bunt bemalten Augen, langen, roten Fingernägeln und Miniröcken auf ihre Reize aufmerksam machten. Nein, Hanna hatte nichts, rein gar nichts mit ihnen gemein. Soweit Daniel das beurteilen konnte, war Hanna überhaupt nicht geschminkt. Er sah auf ihre wohlgeformten Hände, sie trug nur einen glänzenden, farblosen Lack auf den kurzen Fingernägeln. Sie war ganz anders, als er gedacht hatte. Er hatte Ablehnung erwartet und ein, so wie es aus der Entfernung gewirkt hatte, eher strenges Äußeres, aber Hanna hatte weiche Gesichtszüge und sie war, auf eine aufregende Art, direkt und natürlich.

Daniel löste seinen Blick von Hanna, er spürte durch die Alufolie die Wärme in seiner Hand. Er sagte: »Danke.«, und packte das mit Grillfleisch gefüllte Fladenbrot aus.

Wieder biss Hanna in ihren Döner, sie schien richtig Hunger zu haben, diesmal fielen einige Salatstücke auf den Boden, sie sammelte sie ordentlich auf, schnippte sie in den Mülleimer neben der Bank und wischte sich die Finger an ihrer kurzen, weißen Hose ab. »Was ist jetzt? Spielst du Mixed?«

»Nein.«

»Willst du?«

Daniel sah auf seinen Döner, er traute sich nicht, hineinzubeißen, er hatte Respekt vor der heraustropfenden Joghurtsauce. Er war nicht der Typ, der sich während eines Gesprächs mit dem Handrücken übers Gesicht fuhr, also würde es bei ihm auch weniger natürlich und selbstverständlich wirken als bei Hanna. Er packte den Döner wieder ein. »Vielen Dank, aber ich esse ihn gerne später.« Nun widmete er sich der Frage nach dem Mixed. Was sollte er antworten? Natürlich wollte er. Aber sofort Ja zu sagen, würde ihn vielleicht verraten. Er zögerte. Doch er hatte Hanna unterschätzt.

Während sie kaute, sagte sie: »Du hast mich lange genug beobachtet, um wenigstens zu wissen, ob du es versuchen willst. Ich meine, mit mir zusammen ein Mixed-Turnier zu spielen.«

Daniel fühlte sich ertappt. Unüberlegt antwortete er: »Ich weiß nicht, ob wir zusammenpassen würden.« Kaum hatte er es gesagt, ärgerte er sich darüber, auf keinen Fall wollte er abweisend wirken.

Aber Hanna interessierte dieser Einwand nicht. »Klar passen wir zusammen, in der Spielweise zu hundert Prozent. Sonst würde ich dich nicht fragen.« Wieder biss sie in ihren Döner, diesmal legte sie den Kopf in den Nacken, damit nichts hinunterfiel. »Du hast eine schwache Rückhand. Entweder landet sie im Aus oder im Netz. Durch das Umgreifen scheinst du den richtigen Schlägerwinkel nicht zu finden. Aber das nur nebenbei. Wir sind beide Rechtshänder. Ich könnte auf deiner linken Seite spielen, ich liebe die Rückhand. Und du punktest mit deiner Vorhand, da bist du richtig gut, Longline und Cross. Das passt doch perfekt. Ich suche schon lange jemanden wie dich. Ich würde gerne Mixed spielen, aber ich habe keinen Partner.«

Daniel war perplex von diesen treffenden Ausführungen, aber er wollte sich seine Überraschung nicht anmerken lassen. Nur ihrem Vorschlag, sie würde auf seiner linken Seite spielen, musste er widersprechen. »Wir müssen die Seiten wechseln.«

»Ja, ich weiß schon, scheiß Regeln.«

Daniel dachte nach, sie hatte vollkommen recht, in seiner beidhändigen Rückhand fehlte ihm die Stabilität, er konnte den richtigen Winkel in der Schlägerhaltung nicht finden – und vor allem nicht halten. Er fragte: »Wie ist dein Aufschlag?«

Hanna antwortete sofort. »Das weißt du. Entweder er geht aus oder ich treffe zufällig. Da nehmen wir uns nicht viel. Wegen unserem Service werden wir nicht gewinnen. Das wird eher unser Handicap.«

Ein wenig Selbstironie konnte nicht schaden. Daniel musste darüber lächeln, aber er sagte nichts.

Daniel hatte ein Lächeln an sich, das so vielerlei ausdrücken konnte, dabei zogen sich seine Mundwinkel leicht nach unten, was verzweifelt oder manchmal sogar schuldbewusst aussah, aber auf den Wangen bildeten sich hübsche Grübchen, die eher fröhlich wirkten.

Hanna reagierte nicht darauf, sie aß weiter, ließ in der Sache aber nicht locker. »Bitte. Lass es uns wenigstens versuchen, nur ein paar Tage. Wenn du denkst, es passt nicht, lassen wir es. Wir haben doch nichts zu verlieren.«

Da hatte sie recht. Daniel vermutete sich nun plötzlich im Vorteil, sie bat ihn, das fühlte sich gut an. Vielleicht war das die Gelegenheit, endlich mehr über sie erfahren zu können. Daniel legte den Döner beiseite, lehnte sich zurück und sah Hanna an. »Wo kommst du her? Warum spielst du so gut?«

»Was willst du hören? Meine Lebensgeschichte?« Diese Antwort wiederum klang beinahe patzig.

Daniel ließ sich dadurch nicht verunsichern, er hatte Hanna oft genug zugehört, um zu wissen, dass solche Sätze vorkamen, aber nicht so gemeint waren. Er sagte: »Ja. Die Kurzform, wenigstens.«

»Von mir aus, kein Problem, warum nicht.«

Daniel deutete auf den Nebenplatz. »Und ich will wissen, wer diese ganzen Typen sind. Wenn ich mit dir trainiere, dann ohne die.«

Hanna presste die leere Alufolie zusammen und warf sie in den Müll. Nun neutral im Ton, antwortete sie: »In der Nähe werden sie immer sein, aber nicht zwangsläufig auf dem Platz, soweit können wir dir bestimmt entgegenkommen. Die beiden Teflons passen auf mich auf.«

»Was sind Teflons? Die in den Anzügen?«

Ohne belehrend zu klingen, sagte Hanna: »Na, sowas wie Bodyguards, Bauchmuskeln so hart wie Teflon.«

Daniel lächelte wieder, auf seinen Wangen bildeten sich die süßen Grübchen. Langsam fühlte er sich wohler in diesem Gespräch, es versprach, amüsant zu werden. »Und warum brauchst du die?«

»Meine Mutter ist in der Politik, sie ist Diplomatin, und sie ist unbequem, es gab Drohungen, E-Mails, dass ihre Kinder entführt würden und so was.«

Daniel wurde ernst, er sah Hanna an. Ganz plötzlich empfand er sie nicht mehr als unnahbar, sie tat ihm fast leid, solch ein Leben konnte nicht angenehm sein.

Und Hanna sagte es. »Ich lebe in einem Gefängnis.« Sie erwiderte Daniels Blick. »Aber ich will kein Mitleid. Reicht das?«

Daniel wollte so viel wie möglich über Hanna erfahren. »Nein. Die ganze Geschichte bitte.«

Hanna seufzte genervt. »Sonst was? Spielst du nicht mit mir?«

Hanna hatte eine starke körperliche Präsenz, wenn sie dazu noch gereizt war, konnte das ziemlich bedrohlich wirken und man wollte am liebsten davonlaufen. Nicht so Daniel, er blieb unbeeindruckt, im Gegenteil, er fühlte sich nun mindestens gleichauf. Es war die Liebe, die ihn resilient machte gegen solch ein einschüchterndes Gegenüber, die Liebe, die er vom Elternhaus bekam, sie hatte ihm ein gesundes Selbstbewusstsein mitgegeben. Er blieb ruhig auf der Bank sitzen, legte die Arme wieder lässig auf die Lehne und antwortete mutig, aber knapp: »Ganz genau.«

Hanna verdrehte die Augen, begleitet durch ein kurzes Stöhnen, sagte dann aber: »O.K.«, und berichtete. »Früher ist die ganze Familie mit meiner Mutter mitgereist. Wir Kinder sind immer nur auf internationale Schulen gegangen, ich habe noch zwei ältere Brüder. Dann haben sich meine Eltern getrennt, kurz bevor wir vor drei Jahren hierhergekommen sind. Meine Brüder sind mit zu meinem Vater nach Berlin, er hat dort eine Immobilienfirma. Ich wollte hierbleiben. Ich hatte nie eine innige Verbindung zu meinem Vater, auch nicht viel Kontakt, er war nie da. Meine Brüder sind zehn und fünfzehn Jahre älter als ich, sie haben sich nie für mich interessiert. Es ist also egal, wo ich lebe, ich wäre immer ohne Familie. Hier habe ich mich eingewöhnt, in dieser Stadt, in diesem Haus, hier wurde ich geboren. Ich habe Freunde in der Schule gefunden, gut, die ziehen vielleicht auch bald wieder weg. Aber ich bin zufrieden. Mutter kommt manchmal übers Wochenende, sie arbeitet gerade in Paris. Ich lebe mit einer englischen Nanny, einer französischen Köchin, einer deutschen Haushälterin, zwei Bodyguards, mit denen ich abends im Kraftraum trainieren darf und…« Hanna zeigte auf den Mann mit den Büchern. »…einem Nachhilfelehrer, weil ich schlecht in der Schule bin, besonders in den Naturwissenschaften.«

Spontan sagte Daniel: »Aber gut in Englisch und Französisch.«

Hanna lachte. »Ja, Sprachen liegen mir. Das ist aber außer Tennis spielen das Einzige, was ich kann. Tut mir leid, wenn unser Palaver über die Plätze hinweg zu hören ist.«

Daniel beobachtete Hanna genau, er hatte sie noch nie so vergnügt und unbekümmert erlebt. Sie hatte ein mitreißendes Lachen. Aber Daniel wusste noch nicht alles, was er wissen wollte. »Warum macht ihr das? Warum Vokabeln abfragen in einem Moment, in dem du dich auf das Tennis konzentrieren solltest?«

»Um den Ablauf zu automatisieren, das Laufen, die Stellung zum Ball, das Schlagen, ich darf nicht mehr drüber nachdenken müssen. Das besprechen wir abends in der Theorie, nachmittags versuche ich, es umzusetzen.«

»Das kann aber nicht allein der Grund sein, warum du so gut spielst.«

»Keine Ahnung. Es macht einfach Spaß, ich mache seit neun Jahren nichts anderes, es fällt mir leicht, von Anfang an, sonst hätte ich bestimmt schon wieder aufgehört damit. Wie lange spielst du?«

»Seit sieben Jahren.«

»Als kleines Kind habe ich im Fernsehen immer Tennis anschauen wollen. Also bekam ich einen Tennisschläger zum fünften Geburtstag, mit Trainerstunden. Meine Eltern haben das von Anfang an unterstützt, aber sie übertreiben immer bei allem, sie wollten gleich einen Profi aus mir machen.«

»Aber ist es nicht dein Ziel? Meines schon.«

Hanna zuckte mit den Schultern. »Meine Mutter hat versprochen, in Rente zu gehen, wenn ich achtzehn werde. Dann bin ich frei und hoffentlich nicht mehr gefährdet. Ich möchte gerne ans Theater.«

»Was willst du da machen? Schauspielen?«

»Nein, irgendwas hinter der Bühne, etwas mit Fantasie. Ich weiß noch nicht. Aber bis dahin werde ich sicher Tennis spielen. Und ich habe eine Motivation. Die Preisgelder, die ich gewinne, kommen alle auf mein Sparbuch.«

»Geld verdienen ist eine Motivation für dich? Für jeden, ja, aber für dich?«

»Macht es dir nicht Freude, dir selbst zu verdienen, was du haben möchtest? Ganz ehrlich, Geschenke machen mir keinen Spaß, dafür habe ich nichts geleistet. Außerdem möchte ich unabhängig sein. Wenn ich meine Brüder anschaue, so will ich nicht leben. Immer, wenn sie nicht sofort tun, was Vater sagt, droht er mit Enterbung. Ganz ehrlich, scheiß drauf. Meine Brüder sind Feiglinge.«

Daniel sah Hanna lange an, er war erschüttert von dieser ganzen Erzählung. Er war plötzlich sehr dankbar für sein eigenes Leben, für seine Eltern, von denen er wusste, dass sie ihn liebten, für die Geborgenheit, die sie ihm gaben. Er stellte sich vor, wie sehr Hanna kämpfen musste, um sich zu behaupten in dieser Welt voller Gefahren. Wo nahm sie nur die Kraft her, die ganz offensichtlich in ihr steckte?

Hanna wurde ungeduldig. »Ist es jetzt genug?«

Daniel ließ sich Zeit, er wollte nicht, dass dieses Gespräch schon zu Ende war. Er sah auf die Uhr. Sein Trainer würde jeden Augenblick eintreffen. Es war der Moment gekommen, in dem er Ja sagen musste, in dem er Ja sagen wollte. Aber er zögerte seine Antwort weiter hinaus. Er fragte: »Und wann an diesen vollgepackten Tagen triffst du noch Freunde?« Und mit einem Blick auf Hannas Platz fügte er hinzu: »Und das dann mit den Teflons?«

Hanna überlegte und musterte Daniel eine Weile, schließlich antwortete sie leise: »Ich schleiche mich nachts aus dem Haus für ein paar Stunden.«

»Das will ich gar nicht wissen. Das ist unvernünftig und gefährlich. Und vor allem solltest du es niemandem erzählen.«

»Ich erzähle es niemandem. Und du vergisst am besten alles, was ich dir gesagt habe. Versprichst du mir das?«

»Ja. Aber wenn wir zusammen trainieren, wann auch immer das sein sollte, dann habe ich eine Bedingung, du arbeitest mit mir an meiner Rückhand.«

Jetzt lächelte Hanna. »Einverstanden. Kein Problem. Aber ich weiß nicht, ob ich dir damit helfen kann.«

»Da bin ich mir sicher.« Daniel sah auf Hannas Kleidung. »Du trägst immer konservativ weiß?«

»Ja, im Sommer sowieso, damit schwitze ich weniger, weiß reflektiert am besten die heißen Sonnenstrahlen.«

Daniel nickte. »Wann fangen wir an?«

»Hast du auch am Wochenende Zeit? An den Nachmittagen? Wir könnten an den Wochenenden nur fürs Mixed arbeiten.«

»Mit welchem Trainer? Wir brauchen ein Paar, mit dem wir spielen können.«

»Meine. Die bekommen dann während der Woche frei.«

»Das kannst du bestimmen?«

»Ja, kann ich.« Hanna stand auf. »Ich muss gehen. Wir könnten schon am Freitag anfangen, wenn du willst. Um eins?«

»Ja. Einverstanden.«

»Nur eines will ich wenigstens von dir wissen: Wie heißt du?«

»Daniel. Daniel Darnel.«

»Gut, dann bis Freitag, Daniel Darnel.«

02. Gemischtes Doppel

Als Daniel am nächsten Tag den Platz betrat, arbeitete Hanna konzentriert wie immer. Er sah oft hinüber, aber Hanna reagierte nicht auf seine Blicke. Schließlich entschied er sich, seinen Platz zu tauschen, er fühlte sich mehr denn je abgelenkt durch den Lärm vom Nebenplatz. Er bekam einen einzelnen, freien Platz zugewiesen, auf der anderen Seite der großen, ausgedehnten Anlage, weit genug von Hanna entfernt, so dass er sie weder hören noch sehen konnte. Bei dieser Gelegenheit erfuhr er, dass fürs Wochenende außer diesem abgelegenen Platz kein einziger mehr zu haben war. Eigentlich, dachte Daniel, wäre dieser Platz mehr für Hanna und ihr Team geeignet, dort würden sie die anderen Mitglieder nicht stören.

Es dauerte nicht lange, bis Hanna auftauchte. »Ich wollte nur wissen, ob du vielleicht krank bist.« Sie sah sich um. »Das ist der perfekte Platz, um Ruhe zu haben.«

»Wohl eher, um die anderen nicht zu stören.«

»Du fühlst dich plötzlich gestört von mir?«

Daniel antwortete wahrheitsgemäß: »Ja.«, ärgerte sich aber darüber. Das musste ablehnend klingen, dabei konnte er es in Wahrheit doch kaum abwarten, bis es endlich Freitag wurde. Er fragte: »Willst du tauschen?«

»Ich schon, aber meine Beschützer nicht. Dieser Platz ist nicht einsehbar, verwinkelt und daher schwerer zu kontrollieren, sagen sie. Sie haben die ganze Anlage inspiziert und sich dann für unseren entschieden. Da durfte ich nicht mitreden.«

Daniel empfand wieder Mitleid. Was für ein eingeschränktes Leben musste das sein.

Hanna fragte: »Bist du oft krank?«

»Selten. Du?«

»Eigentlich nie.«

»Verletzungsanfällig?«

»Nein, bis jetzt gar nicht. Du?«

»Nicht sehr.« Daniel freute sich für Hanna, wenigstens gesund schien sie zu sein. »Wo spielen wir am Wochenende? Ich habe erfahren, dass außer diesem hier kein Platz frei ist.«

»Dann müssen wir den nehmen. Ich bespreche das. Vielleicht können wir auch mit jemandem tauschen.«

Daniel hörte sich fragen: »Was machst du sonst an den Wochenenden?«, und ärgerte sich über seine unkontrollierte Neugierde, das musste fürchterlich aufdringlich wirken.

Aber Hanna antwortete. »Tennis spielen. Wir haben einen Platz im Garten.«

»Ihr habt einen Tennisplatz im Garten?«

»Ja. Das ist sehr praktisch. Aber leider darf ich niemanden mit nach Hause bringen. Dieses Haus ist wie ein Hochsicherheitstrakt, kein Fremder darf ihn betreten, angeblich, um eventuelle Sicherheitslücken... was weiß ich. Egal. Es ist halt so. Aber ich spiele sowieso lieber hier. Und für die Turniere muss ich ja Mitglied in einem Club sein.«

Daniel sah Hanna lange an, sagte aber nichts.

Dafür hatte sie noch eine Frage. »Könnte ich vielleicht die nächsten zwei Tage bei dir mitspielen? Dann kann ich meinen Trainern frei geben. Sie wechseln sich normalerweise ab mit den freien Tagen, aber wir brauchen sie ja beide am Wochenende. Oder hast du eine Freundin, die gut genug spielt?«

»Nein, keiner aus meinem Freundeskreis spielt so wie wir.«

Am Spielfeldrand tauchten die beiden Leibwächter auf. Sie ermahnten Hanna.

»Ich bin gleich da.« Hanna wandte sich nochmal an Daniel. »Was ist jetzt, kann ich mit dir trainieren morgen und Donnerstag?«

»Ja, das sollte gehen.«

»Gut, danke. Bis morgen.« Sie drehte sich um und verschwand mit ihren beiden Bodyguards.

Am Mittwoch waren Daniel und sein Trainer überpünktlich. Hanna kam wenige Minuten später. Ihre Bewacher waren immer noch nicht glücklich über den abgelegenen Platz mit seinen engen, unübersichtlichen Zugängen. Hanna kümmerte sich nicht darum, sie ging auf den schwarzhaarigen, braunäugigen jungen Mann zu, den Daniel ihr als Manuel vorstellte, streckte ihm freundlich die Hand entgegen und sagte auf Spanisch: »Manuel. Hola. Es usted españoles?Qué tal?«

Bevor Manuel antworten konnte, erwiderte Daniel: »Pero aquí hablamos alemán.«

Manuel lachte und nahm Hannas Hand. »Spanischer Trainer klingt gut, muss sich aber erst noch beweisen. Ich bin hier in Deutschland aufgewachsen.«

Daniel wollte von Hanna wissen: »Wieso sprichst du jetzt auch noch Spanisch?«

»Tue ich nicht. Nur ein paar Brocken. Bevor wir hierherkamen, waren wir drei Jahre in Madrid. Und du?«

»SG. Sprachliches Gymnasium, drei Fremdsprachen als Kernfächer. Und Interesse und Urlaub.«

Manuel interessierte das nicht, er setzte sich auf die Bank. »Ich sehe euch erst mal zu. Ihr müsst euch kennenlernen. Das geht am besten, wenn ihr gegeneinander spielt.«

»Gut.« Hanna nahm ihren Schläger und ging auf den Platz. »Ich schlage auf, Manuel zählt. Zwei Sätze, dann beratschlagen wir.«

Daniel war einverstanden, er fühlte sich gut. Er genoss den Moment, lange genug hatte er darauf warten müssen. Schon vor dem ersten Ballwechsel wusste er, dass er seine bisher beste Zeit auf dem Tennisplatz vor sich haben würde.

Hanna schlug ein Ass. Damit hatte Daniel gerechnet, er ließ sich dadurch nicht beirren. Er hatte ihr das Tiefstapeln ihrer Fähigkeiten ohnehin nicht abgenommen, dazu hatte er sie lang genug beobachtet. Ihr Aufschlag war nicht herausragend, aber zuverlässiger als sein eigener.

Hannas folgende Aufschläge konnte Daniel mit seinen starken Passierbällen beantworten, unerreichbar für Hanna. Er nahm ihr gleich ihr erstes Aufschlagsspiel ab. Hanna schüttelte den Kopf, lächelte aber. Sie rief: »Deine Longlines sind noch besser als ich dachte! Super!«

Auch sein Trainer klatschte Beifall. Das stärkte Daniels Selbstvertrauen. Gleich zu Beginn solch ein Lob zu bekommen war weit mehr als er sich erhofft hatte. Und Hanna wirkte auf ihn überhaupt nicht mehr unnahbar oder distanziert, sie verhielt sich von der ersten Minute an wie eine vertrauensvolle Partnerin. Doch das alles half ihm nicht bei seinen Aufschlägen, die waren schwach wie meist. Hanna hatte keine Probleme, sie zu retournieren, mehr noch, sie spielte kontrolliert Daniels Rückhandseite an, lief dann ans Netz und schmetterte die kraftlosen Bälle unerreichbar diagonal ins Feld.

So ging es weiter, sie nahmen sich gegenseitig ihre Aufschlagspiele ab und landeten im Tie-Break. Die Ballwechsel wurden länger, keiner wollte nachgeben, beide spielten auf Sicherheit. Es gab vierzehn Mal Einstand. Nach fast zwei Stunden war das Glück auf Hannas Seite, sie schlug zwei Asse hintereinander. Entschuldigend rief sie: »Tut mir leid, war reiner Zufall.«, hatte damit aber trotzdem den Satz gewonnen.

Daniel ärgerte sich, doch er fühlte das Adrenalin, er spürte das erste Mal seit langem eine gesteigerte Motivation, den unbedingten Willen zu siegen.

Sein Trainer Manuel war begeistert. »Wirklich sehr unterhaltsam. Daniel, wenn du deine Rückhand besser in den Griff bekommst, hättest du eine Chance, Hanna zu schlagen.« Er wandte sich an Hanna. »Respekt. Technisch fast schon ausgereift. Für dein Alter sehr ungewöhnlich. Und hinter deinen Bällen steckt eine enorme Kraft, die würde ich mir manchmal bei Daniel wünschen. Machst du Krafttraining?«

»Ja. Jeden Abend. Aber nur mit wenig Gewichten, es ist mehr Ausdauer als Kraft.«

»Vorsicht in dem Alter. Du bist noch im Wachstum. Aber du bist groß für dein Alter.«

»Eins fünfundsechzig.«

Manuel nickte. »Eines kann ich euch jetzt schon sagen, ihr werdet euch super ergänzen beim Mixed. Lernen müsst ihr nur die Koordination, dass ihr euch nicht im Wege steht. Jeder von euch will jeden Ball schlagen, das geht beim Doppel nicht.«

Daniel konnte knapp den zweiten Satz gewinnen, wieder hatten sie zwei Stunden darum gekämpft, die Ballwechsel waren ungewöhnlich lang ausgefallen. Danach wollten beide weiterspielen. Heute waren sie Gegner. Daniel spielte sich regelrecht in einen Rausch. Allein mit seinem Siegeswillen konnte er im dritten Satz den Tie-Break erzwingen. Doch den konnten sie nicht mehr beenden, Hannas Aufpasser, die sich die ganze Zeit über unauffällig benommen hatten und kaum zu sehen gewesen waren, stellten sich plötzlich mitten auf das Feld und unterbrachen das Spiel. Es war schon nach achtzehn Uhr. Widerspruchslos packte Hanna ihre Sachen zusammen, sagte: »Ich muss gehen. Wir sehen uns morgen um eins.«, und verließ die Anlage.

Daniel setzte sich auf die Bank neben seinen Trainer.

Manuel war voll des Lobes für seinen Schützling. »Du hast schon lange nicht mehr so gut gespielt. Das war eine prima Wahl. Wie hast du sie davon überzeugt?«

»Gar nicht. Sie hat mich angesprochen.«

»Das hätte ich nie gedacht. Sie wirkte immer so distanziert und überheblich. Aber das ist sie überhaupt nicht. Sie hat etwas Ungezwungenes an sich, etwas völlig Ungeniertes, Unprätentiöses, das ist selten für ein Mädchen in der Pubertät. Fürs Tennis ist das gut, sie spielt frei und ungehemmt. Sie ist wahnsinnig weit, bewegt sich hervorragend – sie wird eine große Karriere machen. Die Disziplin dafür hat sie auch. Und sie hat für ihr Alter schon eine beeindruckende Persönlichkeit.« Er sah Daniel von der Seite an. »Machst du dir Hoffnungen?«

»Was für Hoffnungen?«

»Na, ja. Vielleicht ist sie dir gegenüber ja so unbefangen, weil sie sich nicht für Jungs interessiert.«

»Was?«

»Ich meine ja nur, könnte doch sein. Sie ist eigenwillig, interessant, hat eine super Figur, aber sie kokettiert nicht. Das fällt auf.«

Daniel wusste nichts darauf zu sagen. Darüber hatte er sich noch nie Gedanken gemacht. Es war ihm auch gleichgültig, er wollte im Moment einfach nur Tennis mit ihr spielen, oder gegen sie.

Manuel hatte aber noch mehr zu sagen. »Ich will ganz ehrlich zu dir sein, Daniel. Was ich heute Nachmittag hier gesehen habe… Wenn du mit Hanna spielen kannst über einen längeren Zeitraum, dann wirst du davon mehr profitieren als von dem Training mit mir.«

Auch darauf sagte Daniel nichts, aber er wusste, dass Manuel recht damit hatte.

Am nächsten Tag konnte sich Daniel kaum auf den Unterricht in der Schule konzentrieren, er sah permanent auf die Uhr. Er wartete nur darauf, dass es endlich so weit war, um auf den Tennisplatz zu fahren – und er überlegte, wie er Hanna schlagen konnte, schließlich war sie ein Jahr jünger als er und ein Mädchen, ganz egal, welche sexuelle Orientierung sie hatte, oder einmal haben würde.

Der Donnerstagnachmittag verlief genauso wie der Vortag, Hanna und Daniel spielten fünf Stunden und waren immer gleichauf. Hanna nutze jede Schwäche in Daniels Rückhand gnadenlos aus. Wieder lief sie häufig ans Netz und retournierte entweder mit einem diagonal geschlagenen Schmetterball oder einem Volleystopp. Sie machte kaum Fehler. So konnte sich Daniel zwar in jedem Satz bis in einen Tie-Break kämpfen, aber eben nicht das Match gewinnen. Hanna achtete sehr darauf, nach einem verlorenen Ball auf Sicherheit zu spielen und den Punkt zu holen.

Gesprochen wurde, wie auch am Vortag, ausschließlich über Tennis.

Am Wochenende änderte sich die Situation, Hanna und Daniel waren nun Partner. Und gegen Hannas Trainer zu spielen, erwies sich als ernsthafte Aufgabe. Es waren zwei versierte Tennisspieler, nicht nur gute Trainer. Anfangs trat tatsächlich das ein, was Manuel prophezeit hatte, Hanna und Daniel liefen beide nach jedem Ball und behinderten sich dadurch gegenseitig. Aber das hatten sie schnell raus. Daniel war wie beflügelt, regelrecht erfüllt, er spürte, dass das, was er im Moment tat, genau das war, was er tun wollte. Und mit einer Partnerin zu spielen, fühlte sich beinahe noch besser an, als allein auf dem Platz zu stehen.

Am Sonntagabend, also schon nach drei Trainingsnachmittagen, empfahlen Hannas Trainer die Anmeldung zu einem Mixed-Turnier. Sie waren vom Erfolg dieser Kombination überzeugt.

Hanna dachte immer noch, dass sie Daniel dazu überreden müsste. »Wir könnten immer dann ein Mixed spielen, wenn wir keine Einzel haben. Die U16 Turniere gehen alle sowieso nur zwei oder drei Tage übers Wochenende. Organisieren wird das alles mein… Es gibt da einen, der mein Leben bestimmt, quasi meinen Tagesplan macht, der kümmert sich um alles. Und mein Nachhilfelehrer ist sowieso immer dabei. Er könnte dich auch abfragen, egal, welches Fach. Du kannst auch bestimmt bei uns mitfahren, wir haben einen Van mit neun Sitzen und Klapptischen, da passt unser ganzes Equipment rein. Während der Fahrt muss ich immer Hausaufgaben machen. Du kannst auch deine ganzen Schulsachen mitnehmen.«

Daniel stellte sich das alles vor und konnte nichts daran finden, das ihm nicht zusagte, im Gegenteil, mit einer ganzen Begleitmannschaft zu einem Turnier zu fahren, fühlte sich ziemlich wichtig an. Zu seinen Einzelturnieren hatten ihn immer seine Eltern gefahren. Nicht, dass er dafür nicht dankbar gewesen wäre, aber Hanna würde wohl kaum bei ihnen mitfahren dürfen.

Hanna empfand Daniels Zögern als Absage. »Bitte. Überleg es dir. Ich weiß, es ist ziemlich mühsam mit mir – und die Sache mit den Teflons…«

Daniel entschied sich für eine neutrale Antwort. »Ich überlege es mir. Wir können es nächstes Wochenende entscheiden.«

»Dann keine Anmeldung?«

»Doch, warum nicht. Notfalls können wir absagen.« Daniel packte seine Sachen, sagte: »Bis Freitag.«, und verließ den Platz. Er fühlte sich gut, nein, er fühlte sich überlegen, so, wie noch nie in seinem bisherigen Leben.

Daniel fuhr nach Hause und erzählte alles seinen Eltern. Es blieb ihm auch nichts anderes übrig, er brauchte ihr Einverständnis. Aber er tat es gern, er wusste, sie würden ihn verstehen. Von Hanna hatte er längst schon berichtet, dem Mädchen, das auf dem Nebenplatz spielte, aber nun beschrieb er jedes Detail des heutigen Spiels, an das er sich erinnern konnte, und er erinnerte sich an jeden seiner Schläge – und an Hannas, vor allem ihr Agieren vorn am Netz.

Daniel bekam die Erlaubnis seiner Eltern, für jedes Turnier, und er bekam ebenfalls die Erlaubnis dafür, bei Hanna mitzufahren.

Und so kam es, dass sie schon zwei Wochen später den Van für das U16 Turnier in Nürnberg packten.

Daniels Eltern hatten einen Anruf von Hannas Manager bekommen, dem Mann, der sich um alles kümmerte. Am Telefon war er ein sehr freundlicher und liebenswürdiger Mann mit großer Überzeugungskraft. Er erklärte, dass er alles Organisatorische übernehmen würde. Fahrten, Hotels, Turnieranmeldungen, Gebührenzahlungen und auch alles, was sich sonst noch so ergeben würde. Das Einzige, was er von Daniels Eltern wollte, war die Einverständniserklärung für ihren Sohn und die Kontonummer, auf die er die Preisgelder überweisen sollte. Auch die Pokale könnte Daniel in Absprache mit Hanna gerne behalten. Daniels Eltern fragten, wie er auf Preisgelder und Pokale käme. Er hatte geantwortet, es sollte keinesfalls überheblich oder überehrgeizig klingen, aber Hanna sei noch nie als Unterlegene heimgekehrt. Daniels Eltern ließen dieses Thema fallen, machten aber klar, dass sie natürlich bei den Turnieren anwesend sein würden und mit ihrem Sohn in ständigem Kontakt bleiben wollten. Der Mann, der Hannas Leben bestimmte, entschied daraufhin, für die Eltern ebenfalls ein Hotelzimmer zu buchen. Das wollten sie nicht annehmen. Aber die zusätzlichen Kosten für die Zimmer könnten ja, so entgegnete der nette Herr, im Falle eines Sieges vom Preisgeld abgezogen werden. Schließlich gaben die Eltern klein bei.

Von nun an war der Ablauf immer der Gleiche.

Einen Tag vor Abreise musste Daniel sein Equipment bei Hannas Aufpassern abgeben, am Tag der Fahrt wurde er zu Hause abgeholt, abwechselnd mit einem schwarzen und einem blauen Van.

Zu diesem Zeitpunkt saß Hanna meist schon mit ihrem Lehrer im Wagen und löste schriftliche Aufgaben. Ihr Bestreben war es, und Hanna plante langfristig, zu ihrem achtzehnten Geburtstag das IB-Diplom zu bestehen, dasInternationale Baccalaureate, einen Abschluss gleich dem Abitur, mit dem sie eine weltweite Studienberechtigung erwerben konnte.

Bei kurzen Fahrten bis drei Stunden nahm Daniel seine Schulsachen gar nicht mit, er war gut in der Schule, er hatte eigentlich keine Nachhilfe nötig, aber er machte aus Solidarität mit, Hanna tat ihm leid, sie quälte sich mit Mathe und Chemie – und so, wie es ihm manchmal erschien, mit ihrem ganzen Leben. Er beobachtete sie oft, wie sie bei den vielen Anweisungen, die sie ständig von ihrem sogenannten Manager erhielt, kurz zuckte, dann aber resignierend tat, was er ihr sagte. So freundlich, wie seine Eltern ihn beschrieben hatten, empfand Daniel diesen Mann nicht. Doch die streng getakteten Abläufe waren eine Hilfe, absolute Disziplin einzuhalten, aber sie täglich ertragen zu müssen, das mochte Daniel sich nicht einmal vorstellen.

Nach der Ankunft im Hotel erhielten sie jeweils dreißig Minuten zum Auspacken, danach ging es auf den Platz zum Training. Der Ablauf der Turniertage richtete sich nach den Vorgaben der Veranstalter.

Aber außerhalb des Platzes sah Daniel Hanna nie, sie wurde immer sofort auf ihr Zimmer gebracht, wo genau das war, wusste Daniel auch nicht. Er fand das ziemlich befremdlich, traute sich aber nicht zu intervenieren. Er traf sich dann meist mit seinen Eltern zu einem Stadtbummel. Die zeigten mehr Verständnis und erklärten ihm, dass Hanna und ihre Eltern ihnen sehr leidtaten, sie zum Schutz ihres Kindes aber ähnlich handeln würden. Sie bewunderten Hannas Beherrschung, mit der sie sich scheinbar widerspruchslos unterordnete. Daniel behielt für sich, dass sie sich wohl manches Mal nachts davonschlich und fragte sich, ob sie das wohl in den fremden Städten auch tat, er hoffte nicht. Und er erfuhr es auch nicht. Für Privates war keine Zeit vorgesehen in Hannas Leben. Auch auf dem Platz oder beim Training ergab sich nie die Gelegenheit für eine private Konversation. Daniel gewöhnte sich mit der Zeit daran.

Woran er sich nicht gewöhnte, war die angenehme Aufregung vor einem Match. Daran wollte er sich auch nicht gewöhnen, dieses Gefühl machte süchtig. Er fühlte das Adrenalin durch seinen Körper schießen – und gleichzeitig die Kraft, die ihn durchströmte. Er hatte Hanna nie gefragt, ob es ihr ähnlich ginge, man merkte ihr jedenfalls nichts an. Sie hatte immer ein Pokerface. Nur bei außergewöhnlich guten Punktgewinnen bedachte sie Daniel mit einem Lächeln. Aber dieses High Five, was üblich war nach jedem Ballwechsel beim Doppel, lehnte Hanna kategorisch ab, sie sagte, das würde sie mehr ablenken, als dass es hilfreich wäre, sie müsste sich nicht künstlich aufputschen, sie wäre motiviert genug. Daniel hätte es nichts ausgemacht, aber er dachte nicht lange darüber nach, er fügte sich.

Die Matches verliefen alle ähnlich. Hanna und Daniel gewannen, immer. Manches Mal mussten sie einen Satz abgeben, wegen Daniels schwacher Rückhand, was Daniel im Moment ärgerte, aber keinen Einfluss auf das Endergebnis hatte, sie waren es, die die Pokale abräumten. Daniel fand das unglaublich, nach jedem Turnier wieder, er fühlte sich wie in einem ekstatischen Zustand – aber er gewöhnte sich nicht daran. Woran er sich aber gewöhnen musste, war, die Siege ausschließlich mit seinen Eltern zu feiern, Hanna war sofort nach jeder Siegerehrung verschwunden. Sie sah er immer erst im Wagen bei der Heimfahrt wieder. Dort überreichte sie ihm oft Zeitungsartikel, in denen sie erwähnt und manches Mal als Wunderkinder beschrieben wurden.

So ging es Monate – und Jahre.

Nebenbei bestand Daniel sein Abitur, mit einem Notendurchschnitt von 1,3. Hanna und Daniel wurden zusammen erwachsen – auf dem Tennisplatz. Nicht ein einziges Mal hatten sie sich privat getroffen. Und was Daniel erst viel später auffiel: er hatte Hanna niemals berührt.

03. Vier Jahre

Der Bruch folgte nach vier Jahren. Es war kurz nach Hannas achtzehntem Geburtstag. Sie hatte gerade so mit Müh und Not ihren Schulabschluss geschafft, das angestrebte IB-Diplom.

Hanna hatte niemandem etwas davon erzählt, weder von den Terminen der Prüfungen (für den Fall, dass sie durchfallen würde) noch von ihrem achtzehnten Geburtstag. Sie wollte beides, wie alle wichtigen Ereignisse, allein erleben, das war immer schon ihre Art gewesen, so hatte sie es immer gehandhabt.

Daniel hätte ihren achtzehnten Geburtstag erahnen können, wenn er aufmerksam gewesen wäre, er war neunzehn geworden im vergangenen Herbst. Aber er hatte sich so daran gewöhnt, dass es ohnehin keine Feier geben würde und Hanna zu keinem Anlass Geschenke mochte, dass er im Laufe der Jahre selbst den Monat ihres Geburtstages vergaß, den Mai; wobei es ganz einfach zu merken war, Hannas Geburtstag fiel stets in die Blütezeit der vielen schönen Rotdornbüsche auf der Anlage, die Pflanzen aus der Familie der Rosengewächse, die dem Club ihren Namen gegeben hatten.

Daniel war nicht einmal bewusst, dass Hanna in diesem Jahr volljährig werden würde. Er hatte sich damit abgefunden, dass sie für ihn nur auf dem Tennisplatz existieren konnte, der allerdings – und die Siege – waren für ihn ohne Hanna kaum mehr vorstellbar.

Am Vorabend erst war Daniel von einem dreiwöchigen, internationalen Einzelwettbewerb zurückgekehrt, er hatte das Viertelfinale erreicht. Entsprechend euphorisch erwartete er Hanna an ihrem ersten gemeinsamen Trainingstag nach diesem Turnier. Er war überrascht, dass sie allein auf dem Tennisplatz auftauchte, ohne Trainer, ohne Lehrer, ohne ihre Beschützer und noch dazu in Jeans und T-Shirt.

Es erwischte ihn eiskalt.

Sie setzte sich neben ihn auf die Bank, sie schien verändert.

»Was ist los, Hanna? Bist du krank? Du warst noch nie krank.«

Sie antwortete nur mit einem knappen »Nein.« Dann hob sie den Kopf und sah Daniel an.

Hanna wirkte nicht nur verändert, sie war es auch. In Daniels kurzer Abwesenheit hatte sie ihr Leben vollkommen umgestaltet, sie hatte sich gewandelt zu dem selbstständigen Menschen, der sie immer sein wollte. Ihre Zeit war endlich gekommen.

Sie fragte: »Weißt du noch, als wir uns kennenlernten?«

»Ja. Nein. Was genau?«

»Ich bin vorletzte Woche achtzehn geworden.«

»Das wusste ich nicht. Herzlichen Glückwunsch.«

Hanna bedankte sich nicht. »Kannst du dich erinnern, was ich damals gesagt habe?«

»Nein. Was meinst du?«

»Daniel… Ich werde aufhören mit dem Tennis. Ich habe eine Stelle als Volontärin am Theater. Ich habe die Zusage gleich bei meinem ersten Vorstellungsgespräch bekommen, ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Es ist genau das, was ich immer wollte.«

Daniel wusste mit dieser Aussage in diesem Augenblick nichts anzufangen. Er war völlig überrumpelt. Diese Information brauchte Zeit, um zu sacken und in seinem Hirn anzukommen.

»Ich hätte es dir schon lange sagen müssen. Ich war feige. Ich wusste nicht, wie. Du schienst so zufrieden zu sein, so glücklich.«

Daniel spürte, wie sich das Glücksempfinden in seinem Inneren verabschiedete, wie es langsam verblasste und sich Enttäuschung breit machte. Aber er konnte es nicht sagen, er konnte überhaupt nicht sprechen.

Dafür erklärte Hanna ihre Lage. »Meine Mutter hat ihr Versprechen wahr gemacht, sie ist in Rente gegangen, vor zwei Monaten schon. Ich bin ausgezogen, ich habe mir eine kleine Wohnung gemietet, an meinem Geburtstag bin ich eingezogen. Das war meine Art zu feiern, ich wollte es so. Ich habe keine Trainer mehr, keine Bodyguards, keinen Lehrer, keinen Manager. Ich bin endlich frei. Ich will ein Leben, Daniel, mein Leben, ein anderes Leben.«

Daniel spürte, wie ihm die Tränen über die Wangen liefen. Er schämte sich dafür. Er wollte stark wirken, aber er konnte es nicht. Er rührte sich nicht.

Hanna tat so, als sähe sie die Tränen nicht. »Suche dir einen Doppelpartner, Daniel. Du bist ein Doppelspieler. Du bist sogar ein ganz hervorragender Doppelspieler. Wenn du einen findest, der zu dir passt, wirst du weiter gewinnen.«

Ohne darüber nachzudenken, sagte Daniel: »Du passt zu mir.«

»Ja, ich weiß. Es war eine gute Zeit, teilweise, vor allem eine erfolgreiche. Ich hoffe, nein, ich denke, du hast davon profitiert. Aber wenn du ehrlich bist, es hätte nicht ewig so weiter gehen können.« Hanna stand auf und sah Daniel an. »Du hast zu meinem Leben gehört wie der rote Sand auf dem Tennisplatz, mehr noch, wie die Luft zum Atmen. Du hast mich begleitet durch eine fürchterliche Jugend und du hast mir, ohne es zu wissen, vieles leichter gemacht. Dafür werde ich dir immer dankbar sein. Ich hoffe, du kannst mir vergeben.« Eine kurze Weile noch sah sie Daniel an, wie er so bewegungslos auf der Bank saß und vor sich hinstarrte, dann wandte sie sich ab und ging.

Daniel blieb noch lange sitzen. Er konnte nicht glauben, was gerade geschehen war, er wollte es nicht glauben.

04. Hamburg

Die folgenden Tage ging Daniel wie gewohnt zum Tennisplatz, aber Hanna kam nicht mehr. Er wartete auf eine Nachricht von ihr, einen Anruf, oder wenigsten eine WhatsApp, aber es kam nichts, tagelang nicht, wochenlang nicht. Er selbst war zu stolz, um sich zu melden – und zu enttäuscht. Es vergingen Monate. Er räumte die Pokale aus dem Regal in einen Karton und stellte sie in den Keller, er konnte sie nicht mehr ansehen. Immer noch war er verletzt, fühlte sich haltlos und wie entwurzelt. Er konnte nicht loslassen. Er konnte nicht akzeptieren, dass dieser Traum, den er vier Jahre lang gelebt hatte, vorbei war.

Schließlich entschied er sich, nach Hamburg zu ziehen, in die Stadt des Tennis. Er erklärte seinen Eltern, dass er München nicht mehr ertragen konnte, zu sehr würde ihn hier alles an Hanna erinnern. Der Abschied fiel schwer. Doch die Entscheidung erwies sich als richtig.

Daniel wurde Mitglied im Hamburger Tennis-Verband. Gleich im ersten Jahr qualifizierte er sich für die Hamburger European Open, dem jährlichen Tennisturnier für Profispieler, einem Teil der Association of Tennis Professionals Tour. Daniel musste sich Am Rothenbaum vor über zwölftausend Zuschauern im größten Tennisstadion Deutschlands behaupten. Er kämpfte sich bis ins Achtelfinale, überstand also die ersten drei Runden, was für einen Neuling eine beachtliche Leistung war.

Und Daniel fand neue Freunde unter den Tennisprofis. Robert Mahtes und Thomas Sander, fünf und vier Jahre älter als er, beide Mitglieder im selben Club und bereits versierter im Umgang mit dem ganzen Tenniszirkus.

Robert Mahtes, ein technisch ausgereifter Spieler, gehörte sogar schon seit einem Jahr zum Stamm des Davis Cup Teams, der kleinen Gruppe Auserwählter für den wichtigsten Wettbewerb der Nationalmannschaft im Herrentennis. Robert war mit seinen zwei Metern Körpergröße eine im wahrsten Sinne des Wortes herausragende Erscheinung. Seine dunklen Haare umrahmten ein kantiges Gesicht mit breiten, eingefallenen Wangenknochen und großen, braunen Augen. Doch trotz seines hageren Aussehens und seinen manchmal ungelenk wirkenden Bewegungen erwies sich Robert als überaus athletisch. Nur seine Zurückhaltung passte so überhaupt nicht zu seinem Äußeren, er war ein eher schüchterner Typ. Daniel verstand sich auf Anhieb mit ihm.

Besonders aufgeschlossen Daniel gegenüber aber zeigte sich Thomas Sander, ein auffallend gutaussehender Profispieler, der ebenfalls in die Davis Cup Mannschaft strebte und darauf hoffte, noch im laufenden Jahr aufgenommen zu werden. Thomas war ein Frauenheld, selbstverliebt, hatte ein unerschütterliches Ego und ein sehr einnehmendes Wesen, war aber unerhört galant. Kaum eine Frau konnte seinem Charm widerstehen. Er trug auf dem Tennisplatz meist ein strahlend weißes Stirnband über den langen, welligen Haaren, war smart, beliebt, selbstsicher, extrovertiert und immer ein wenig zu exaltiert. Leider wusste er um sein gutes Aussehen. Aber zu Daniel war er aufmerksam und zuvorkommend, er riss ihn mit, half ihm aus seinem seelischen Tief, steckte ihn an mit seiner Lebensfreude. Sie ergänzten sich großartig, Daniel war der Ruhige, Thomas der Lebendige, er redete die ganze Zeit. Schnell entwickelte sich eine enge Freundschaft. Thomas spürte Daniels Befangenheit, er nahm ihn abends mit in Bars und stellte ihm junge Frauen vor. Thomas fühlte sich sehr wohl im Nachtleben, er kannte viele Leute, trank, rauchte, ab und zu auch mal etwas Gras.

Es dauerte nur einige Monate, bis Thomas Daniel fragte, ob er mit ihm Doppel spielen würde.

Daniel überlegte lange, er war unsicher, er wusste nicht, ob es ihn endgültig befreien könnte von der Vergangenheit oder ob das Gegenteil der Fall war und er sich schlecht fühlen würde damit. Aber er wollte es herausfinden. Er sagte zu.

Wie sich schnell herausstellte, harmonierten die beiden nicht nur privat sehr gut, sondern auch auf dem Tennisplatz, sie verstanden sich blind, von Anfang an. Und sie gewannen von Anfang an, nicht jedes Match, aber die meisten. Auf internationalem Boden scheiterten sie vor allem an den im Doppel führenden Amerikanern, das waren seit Jahren gut eingespielte Teams, die kaum zu schlagen waren. Aber bald galten Daniel Darnel und Thomas Sander als eines der besten Doppel Europas. Das tat dem Selbstbewusstsein gut und es steigerte das Selbstvertrauen. Doch im Gegensatz zu ihrem Siegeszug im Doppel konnten die beiden nie ein Turnier in ihren Einzelwettbewerben gewinnen, erreichten jetzt aber manches Mal schon ein Viertelfinale, auch auf internationalem Parkett. Nur eines machte Daniel sehr zu schaffen, er fand einfach keinen adäquaten Trainer.

Die Freundschaft zwischen Daniel und Thomas entwickelte sich zum Besten, sie wurden unzertrennlich. Ein Vorfall allerdings stellte ihre Beziehung auf eine harte Probe. In Daniels zweitem Jahr in Hamburg war er bei den Hamburger European Open mit Thomas im Doppel angetreten, sie hatten sich ohne größere Mühen bis ins Finale gespielt. Doch am Tag des Endspiels war Thomas nicht aufzufinden. Sie hatten sich am Abend zuvor noch in Thomas' Stammkneipe getroffen. Daniel war zeitig gegangen, er wollte fit sein am nächsten Tag. Seitdem hatte er Thomas nicht mehr gesehen. Zwei Stunden vor dem Match versuchte er immer wieder, ihn anzurufen, aber jedes Mal schaltete sich nur die Mailbox ein.

Dann kam plötzlich Robert aufgeregt auf ihn zugelaufen. Atemlos berichtete er: »Komm mit, schnell. Ich habe Thomas gefunden!«

Daniel lief Robert hinterher zu den Umkleiden. Thomas saß, schon fürs Spiel fertig angezogen, aber völlig durchnässt – in der Dusche, kaum mehr bei Bewusstsein.

Robert packte Thomas unter den Armen. »Daniel. Nimm du die Beine.«

Daniel zögerte. »Sollten wir nicht lieber einen Arzt rufen?«

Aber Robert schien genau zu wissen, was er tat. »Später. Pack an, bitte. Thomas ist total betrunken.«

»Was? Wieso ist er jetzt betrunken? Es ist elf Uhr vormittags.«

»Ja, eben. Er dachte wohl, wenn er eine kalte Dusche nimmt, würde er noch spielen können.«

»Aber wir haben gleich das Finale.«

»Nein, habt ihr nicht, nicht mehr. Du musst absagen, beziehungsweise aufgeben, wegen Krankheit.«

Daniel sah auf Thomas hinab, erst jetzt begriff er langsam. Er hob vorsichtig Thomas' Füße an und trug ihn zusammen mit Robert hinaus in die Garderobe. Robert nahm ein großes Handtuch und frottierte Thomas' langes Haar.

»Es ist auch leider nicht das erste Mal. Zieh ihn aus. Wir trocknen ihn ab und ziehen ihn um, dann bringe ich ihn ins Krankenhaus.«

»Aber ich verstehe das nicht. Warum betrinkt er sich vor einem Finale?«

»Er hat Versagensängste. Das ist letztes Jahr schon mal passiert.«

»Versagensängste? Aber er spielt viel besser als ich.«

»Es ist irrational. Das kann nicht jeder verstehen.«

»Und du verstehst es?«

»Nein, verstehen nicht. Aber ich weiß es, von meinem Onkel. Es ist wie eine schlimme Krankheit. Thomas hat gesagt, er hat es im Griff, und ich habe ihm geglaubt. Aber das müssen wir später besprechen. Es sollte ihn niemand hier so sehen, sonst steht es morgen in der Zeitung, dann ist er stigmatisiert und seine Karriere ist am Arsch. Also beeil dich.«

Daniel tat, was Robert ihm sagte. Schließlich hievten sie Thomas durch den Hinterausgang zu Roberts Wagen.

»Daniel, du musst hierbleiben und dich beim Referee melden, ich schaffe das allein. Denkt dir etwas aus. Ein spontaner Grippeanfall mit hohem Fieber wäre einleuchtend. Wir sehen uns später.«

Der Schreck wirkte bei Daniel erst so richtig, als Robert schon abgefahren war. Jetzt erst wurde ihm die Tragik der Situation bewusst, aber so richtig begreifen konnte er es nicht. Er ging zur Turnierleitung, gab das Spiel und somit den Turniersieg auf und akzeptierte eine Niederlage. Dem Referee gegenüber war er kurz angebunden, er wollte sich nicht verplappern. Danach erst verspürte er den Ärger. Am liebsten hätte er Thomas eine reingehauen. Wie konnte man so gedankenlos einen sicheren Sieg herschenken. Das polnische Doppel gehörte nun wirklich nicht zu ihren Angstgegnern.

Als Thomas am nächsten Tag ausgenüchtert aus dem Krankenhaus entlassen wurde, entschuldigte er sich bei Daniel, beteuerte, auch nicht zu wissen, was da eigentlich in ihn gefahren sei und versprach hoch und heilig, dass so etwas nie wieder vorkommen würde.

Daniel glaubte ihm. Und es kam auch tatsächlich nicht wieder vor.

Einige Wochen später war die ganze Sache vergessen und Daniel lernte ein liebliches, blondes Mädchen kennen, Manuela, eine Freundin von Thomas' aktueller Geliebten. Thomas machte ihm so lange Mut und redete auf ihn ein, bis Daniel sie schließlich mit nach Hause nahm. Manuela war reizend, sehr weiblich, durchschnittlich gebildet, aber sehr liebevoll zu Daniel. Bald zog sie bei ihm ein. Aber so richtig verliebt fühlte Daniel sich nicht.

05. Erwachsen

Hanna hingegen versuchte, ihre Kindheit und die eingesperrte Jugendzeit so schnell wie möglich aus ihrem Kopf zu verdrängen. Dank der mehr als ausgefüllten Tage am Theater gelang ihr das auch. Sie erlernte den Beruf einer Maskenbildnerin und war Feuer und Flamme dafür. Sie genoss ihre neu gewonnene Freiheit, sie lebte den Moment. Allein, sich frei bewegen zu können, auf der Straße zu spazieren, in die Schaufenster der Boutiquen sehen zu können, ohne jemanden dafür um Erlaubnis bitten zu müssen, das alles fühlte sich an wie eine Erlösung.

Vormittags lernte Hanna, wie sie Theaterschminke anwenden, Perücken und Bärte herstellen und beliebige Gesichter in historische Figuren verwandeln konnte, nach einem Mittagessen in der Kantine übte sie Knüpfen und Schminken, um siebzehn Uhr ging sie ins Fitnessstudio um die Ecke, abends sah sie sich die Vorstellungen an. Das alles machte ihr riesigen Spaß. Sie tauchte in eine andere Welt ab und vergaß bald die reale. Nur die Wochenenden waren fürs Tennisspielen reserviert, sie konnte einfach nicht ganz aufhören damit. An den Vormittagen arbeitete sie mit einem Trainer (sie verschliss einige in den nächsten Jahren), nachmittags nahm sie an den Clubturnieren teil.

Zu alledem hatte Hanna ein neues Hobby: Sie flirtete gern. Ihr Hormonspiegel hatte sich schon vor Jahren und ohne größeres Aufsehen auf ein gesundes Level eingependelt, ihre Reifezeit hatte wohl unbemerkt auf dem Tennisplatz stattgefunden, sie erinnerte sich nicht mehr daran. Alles, was für sie zählte, war, dass sie sich nun unabhängig, stark und selbstbewusst fühlte – und dass sie sich nicht mehr aus dem Haus schleichen musste, um Männer zu treffen. Hanna gefielen besonders die älteren, großen, kräftigen Schwarzhaarigen mit Schnurrbart und davon gab es reichlich, auf dem Tennisplatz, aber besonders in ihrer neuen Clique, die sich anfangs überwiegend aus dem Kollegenkreis speiste und dem der Schneiderinnen und Schneider, mit denen die Maskenbildnerinnen eng zusammenarbeiteten. Hanna erweiterte ihren Freundeskreis schnell, sie war fasziniert von allen Abteilungen, besonders vom Kunstgewerbe, den Hutmacherinnen und den Waffenschmieden. Aber sie achtete penibel darauf, ihre kurzen Affären auf Männer zu beschränken, die nicht angestellt am Theater waren. Die Theaterleute waren zwar sehr tolerant, was das anging, doch Hanna wollte kein Risiko eingehen, ihr Ruf war ihr wichtig. Oft genug hörte sie Getuschel über Kolleginnen, die allzu oft etwas mit Männern am Haus anfingen. Und sehr lange hielt Hanna es ohnehin mit keinem aus. Sie schien ein grundsätzliches Problem mit der Auswahl ihrer Liebhaber zu haben. Hanna unterlag einem rein optischen Irrtum, den sie einfach nicht in den Griff bekam, immer wieder fiel sie auf testosterongesteuerte Männer mit Alpha-Tier-Gehabe herein. Dabei hasste Hanna die übliche geschlechterspezifische Rollenverteilung sowie jedes stereotype Denken. Eine Führungsposition fand sie eher passend für sich selbst. Sie ließ ungern über sich bestimmen, das war immer schon so gewesen, aber nach ihrer frisch gewonnenen Freiheit wurde es zum No-Go. Und sich behandeln zu lassen, wie zugehörig zu einem schwächeren Geschlecht, kam auch nicht infrage, sie fühlte sich nicht schwach. Also verlor sie immer schnell wieder das Interesse.