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Diesen Brüdern kann niemand widerstehen. LOGAN PRESTON ist Nummer vier unter den Geschwistern. Er ist der mittlere Bruder, das schwarze Schaf, ein berüchtigter Bad Boy. Als AUBREY O'SULLIVAN in Winbury eine Papeterie eröffnet, trifft sie auf Logan. Obwohl sie nur sarkastische Sprüche füreinander übrig haben, erkennt sie hinter Logans abweisender Fassade etwas, das sie im Innersten berührt. Und da sein jüngster Bruder jede freie Minute in Aubreys Laden verbringt, kann sie Logan unmöglich aus dem Weg gehen. Sexy, berührend, herzzerreißend: die New Adult Romances von Jay McLean! Preston-Brothers-Trilogie Loving Lucas Losing Logan Leaving Leo First & Forever-Dilogie Be My First Be My Forever
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Seitenzahl: 513
Veröffentlichungsjahr: 2025
Triggerwarnung
Liebe*r Leser*in,
dieser Roman enthält Themen, die potenziell emotional belasten oder triggern können. Auf dieser Seite befindet sich ein Hinweis zu den Themen.
ACHTUNG: Dieser enthält Spoiler für die gesamte Handlung.
Als Ravensburger E-Book erschienen 2025 Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg
© 2025 Ravensburger Verlag GmbH Deutsche Erstausgabe Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2017 unter dem Titel »Logan – A Preston Brothers Novel« Copyright © by Jay McLean Covergestaltung: Andrea Janas unter Verwendung von Motiven von © imaizo (Shutterstock) Übersetzung: Sarah Heidelberger (www.sarah-heidelberger.de) Lektorat: Nina Schnackenbeck Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-473-51230-0
ravensburger.com/service
Für Kelli Ann Basil Collopy
Es ist Freitagabend, und ich genehmige mir meinen ersten Joint seit meiner letzten »Phase«, wie Dad das nennt. Ich versuche, mich darin zu verlieren, aber ständig höre ich ihr Flüstern in meinen Ohren, es kommt von überall, folgt mir, egal wohin ich gehe. Weil du nie gefragt hast, Logan.
Ich war bei Aubrey zu Hause, war in ihrem Laden, war bei ihr, mit ihr. Und sie hat recht: Ich habe nie gefragt. Aber gleichzeitig ist sie auch im Unrecht. Weil sie es mir nie erzählt, nie auch nur eine Andeutung gemacht hat.
Ich atme ein. Atme aus.
Weil du nie gefragt hast, Logan.
»Nein«, sage ich laut.
Aber die Erinnerungen kommen trotzdem, ich bin machtlos dagegen.
Ich bin neun Jahre alt, und das Leder knarzt unter meinem Gewicht …
LOGAN
Es gibt zwei Arten von Menschen auf der Welt: die Realisten und die Faker, die sich selbst und anderen ständig was vormachen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich sie beide ähnlich stark zum Kotzen finde.
Sogar jetzt, wo Joy neben mir in meinem Truck sitzt und ihr langes, blondiertes Haar im Fahrtwind flattern lässt, empfinde ich dieses unangenehme Kribbeln, wie Nadelstiche, nur schlimmer. An Joy ist praktisch gar nichts echt, aber gleichzeitig ist das mit ihr auch das Beziehungsähnlichste, was ich je hatte.
Ihr Lachen ist so nervtötend und unecht wie das dazugehörige Lächeln. Jetzt gerade kichert sie über irgendwas, das ich gesagt habe und an das ich mich schon gar nicht mehr erinnern kann. Aber ich wette, es war null witzig.
Joy … allein schon der Name. Freude. Was für eine Last. Als wäre es ihr vorgeschriebenes Lebensziel, Freude zu verbreiten, ganz gleich, wohin sie kommt.
Arme Joy.
Sie streckt die Hand aus, legt sie in meinen Nacken, vergräbt ihre aufgeklebten Fingernägel in meinem Haar und gibt ein aufgesetztes Stöhnen von sich. Ich sehe sie an, grinse, und sie klimpert mit ihren bestimmt zwei Zentimeter langen künstlichen Wimpern. Es kostet mich meine gesamte Beherrschung, nicht am Straßenrand zu halten und … Sie lässt die Hand von meinem Hals zu meiner Schulter und weiter über meine Brust gleiten, bis sie schließlich warm auf meinem Bauch zum Liegen kommt.
Dann erstarrt Joy plötzlich mitten in der Bewegung und sagt: »Wir müssen noch Aubrey abholen.«
Ich schiebe ihre Hand weg.
Aubrey ist ihre Freundin und ungefähr die größte Nervensäge in der Menschheitsgeschichte. Müsste ich einen Graphen zeichnen, der Faker und Realisten abbildet, würden Joy und Aubrey vermutlich die beiden entgegengesetzten Enden des Spektrums besetzen.
Ich sage: »Ich dachte, wir zwei sind heute Abend unter uns.«
Joy schnaubt, ein Geräusch, das ich hasse. »Mit ungefähr fünfzig weiteren Leuten? Wir gehen auf eine Hausparty, Logan.«
Es ist Freitagabend, ich bin seit fünf Uhr früh wach, und ein Teil von mir fühlt sich zu alt für den Scheiß, auch wenn ich erst neunzehn bin. Aber gleichzeitig bin ich aufgedreht und hibbelig und will den Abend nutzen, um den Frust der vergangenen Woche abzuschütteln und Dampf abzulassen. Nur dass jetzt Aubrey ins Spiel gekommen ist, und … »Ich hab heute Abend keinen Bock auf Aubrey.«
»Aber sie ist meine Freundin!«, jammert Joy, als wüsste ich das nicht selbst. Ich bin jetzt seit knapp drei Monaten mit ihr zusammen, länger als mit irgendwem zuvor. Ich war ihr treu, hab nicht mal anderen Frauen hinterhergeschaut. Hab mich zusammengerissen, obwohl ich das Gefühl hatte, dabei langsam, aber sicher den Verstand zu verlieren.
»Außerdem hatte sie heute Abend noch nichts vor«, fügt Joy hinzu.
Was mich nicht weiter überrascht. »Und deswegen müssen wir sie jetzt aus Mitleid mitnehmen?«
»Sei einfach nett zu ihr, okay?«
Nett?!
»Wenn du ein braver Junge bist«, fügt sie hinzu, führt meine Hand an ihre Lippen und haucht mir einen Kuss auf die Fingerspitzen, »zeige ich mich später auch erkenntlich.«
Und da haben wir auch schon den Grund dafür, warum ich die Menschheit überhaupt ertrage. Joy insbesondere.
Als wir bei Aubrey ankommen, sitzt sie schon in der Einfahrt. In ihrem langen Rock, dem weißen Tanktop und der potthässlichen Oma-Strickjacke sieht sie aus wie der letzte Hippie.
Joy klappt die Blende herunter und überprüft ihr überschminktes, makelloses Gesicht. »Kann sie auf deiner Seite rein? Ich will nicht aussteigen.«
Da es komplett sinnlos wäre, mit ihr herumzustreiten, steige ich aus und lasse die Fahrertür offen, damit Aubrey einsteigen und in die Mitte rutschen kann. »Hi, Arschloch«, sagt sie zur Begrüßung.
Ich verdrehe die Augen. »Offenbar hab ich die Partyeinladung nicht richtig gelesen. Sonst hätte ich mitbekommen, dass wir uns als Hippies verkleiden sollen.«
Aubrey bleibt vielleicht einen halben Meter vor mir stehen und wirft mir dieses fiese Grinsen zu, das ich zutiefst zu verabscheuen gelernt habe. »Weil das nur in der Einladung für die Mädchen stand. Die Jungs sollen als hoffnungslose Kiffer kommen, die die Highschool nicht gepackt haben.« Sie klatscht in die Hände. »Ja, und schau: Du musst dafür nicht mal so tun als ob!« Mit diesen Worten schiebt sie sich an mir vorbei und zieht den Schirm meines Caps nach unten, sodass ich nichts mehr sehe.
Nachdem ich mir das Cap wieder zurechtgerückt habe, steige ich ebenfalls ein und lasse den Motor an. Und weil mich ihr fieser Spruch höchstens marginal berührt hat, belasse ich es bei: »Dein Rock ist kackenhässlich.«
»Klasse, dann passt er ja zu deinem Gesicht.«
Joy seufzt und trägt mehr Lippenstift auf ihre jetzt schon knallrosa Lippen auf. »Könntet ihr zwei wenigstens so tun, als würdet ihr euch verstehen?«
»Nein«, antworten Aubrey und ich im Chor.
Na ja, wenigstens in dem Punkt sind wir uns einig.
Ich setze rückwärts aus ihrer Einfahrt und fahre zurück auf die Straße, und schon schabt Aubreys Stimme wieder gegen meine Nerven. »Übrigens brauchst du mich. Schließlich habe ich uns die Einladung besorgt.« Was natürlich gelogen ist, weil Aubrey abgesehen von Joy keine Freunde hat. Klar, sie ist noch neu in der Stadt. Aber trotzdem …
»Es gibt gar keine Gästeliste, Klugscheißerin.«
Aubrey schüttelt mit einem bedauernden Seufzer den Kopf. »Aber vorn im Garten steht ein großes Schild mit der Aufschrift Hunde verboten. Es war nicht so leicht, Brittney davon zu überzeugen, dich trotzdem reinzulassen.«
»Hast du ein Glück, dass sie mit dummen Ziegen offenbar kein Problem hat.«
»Können wir jetzt einfach auf diese bescheuerte Party gehen?«, brummt Aubrey.
»Wenn du lieber nicht gehen möchtest, kann ich auch umdrehen und dich zu Hause rauslassen«, biete ich an.
»Ja, bitte.«
Ich betätige den Blinker, aber Joy langt über Aubrey drüber und schaltet ihn wieder aus. Dann sagt sie zu ihrer Freundin: »Wir gehen da jetzt hin. Und zwar alle drei. Und wir freuen uns drauf.«
Wie gesagt: Lebensziel, Freude zu verbreiten.
Winbury, das Kaff, in dem wir wohnen, ist winzig, und die soziale Schere verläuft entlang der Main Street. Auf der einen Seite wohnen die mit Geld, auf der anderen … die anderen. Komplett klischeemäßig, ich weiß.
Der Eingang zum Preston-»Anwesen«, wie der Vollpfosten-Anteil der Einwohnerschaft von Winbury es gern nennt, liegt am Ende der Main Street. Geografisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich würde ich meine Familie ziemlich genau in der Mitte einordnen. Aubrey wohnt etwas näher bei denen ohne Geld, Joy dagegen ist so was wie die Prinzessin der Snobs, was bedeutet, dass (abgesehen von Aubrey) die Leute, mit denen sie sich umgibt, allesamt genauso sind wie sie. Aubrey und sie haben vor ein paar Monaten ihren Highschool-Abschluss gemacht, Joy auf der St. Lukes, der einzigen Privatschule im Umkreis von fünfzig Meilen. Wo Aubrey zur Schule gegangen ist, weiß ich nicht. Aufs College will im Augenblick keine von ihnen. Joy kann es sich leisten, nichts zu tun – Daddys Geld macht’s möglich. Wieso auch nicht? Was Aubrey mit ihrem Leben vorhat, interessiert mich nicht.
Bis ich auf einer der Partys auf der anderen Seite der Main Street, auf die ich regelmäßig gehe, Joy kennengelernt habe, hatte ich diesen Teil der Stadt praktisch nie tagsüber zu Gesicht bekommen, außer wenn ich Dad auf dem Bau half. Die Partys hier sind dagegen eine Welt für sich, und es gibt einen guten Grund, aus dem ich hingehe:
Weil es Gras und Alkohol für lau gibt.
Erwähnte ich schon, dass ich nicht trinke?
Es gibt einen richtigen DJ, der normalerweise garantiert in cooleren Locations auflegt als hier, und die Bässe bringen die Fenster und Wände zum Beben. Ich hänge auf dem Sofa ab, rauche einen Joint und schaue zu, wie mein Mädchen mit einem anderen Mädchen tanzt.
Rubinroter Satin schmiegt sich an Joys Kurven. Das Kleid reicht ihr nur knapp bis über den Hintern. Darunter: endlos lange gebräunte Beine und Fünfzehn-Zentimeter-Stilettos mit jeweils einer Reihe winziger Glitzersteine hintendran, die in einer roten Schleife münden.
Das Sofakissen gibt nach, weil sich jemand neben mich setzt, aber ich reagiere nicht, sondern lege den Kopf in den Nacken, um die Lightshow an der weißen Decke zu betrachten. Rote, blaue, grüne Flecken ziehen an mir vorbei, und in mir macht sich dieses herrlich freie, schwebende, euphorische Gefühl breit, das die Dunkelheit vertreibt. Dies sind die wenigen Momente, in denen ich mich verstecken kann. Verstecken vor … vor den Erinnerungen.
»Dein Mädchen sieht toll aus.« Ich erkenne die Stimme. Sie gehört Denny, dem Mann, an den man sich in dieser Stadt wendet, wenn man auf andere Gedanken kommen will. Sprich: unserem lokalen Dealer. »Yo, brauchst du Nachschub?«
Nach kurzem Zögern schüttle ich den Kopf. Aber Denny ist sowieso schon wieder weg. Er geht rüber in die andere Wohnzimmerecke. Erst als er stehen bleibt, bemerke ich, wem er gefolgt ist: Aubrey.
Ich setze mich auf.
Sie steht auf den Zehenspitzen, die Hände auf seine Brust gelegt, und reckt den Hals, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Das Mädel ist so unfassbar naiv, dass es schon an Dummheit grenzt. Auf einer Party wie dieser, auf der es so heftig nach Marihuana riecht, dass es sogar die Wolken aus teurem Parfüm, Rasierwasser und Haarspray übertüncht, weil es das Gras hier kostenlos gibt, bräuchte sie ihn eigentlich nicht zur Seite zu nehmen, um ihn zu fragen, ob sie was kaufen kann.
Denny nickt und langt in seine Tasche, während sie in ihre eigene greift. Sie holt einen Zwanziger raus. Er greift ihn sich einfach, und ich will gerade aufstehen, um zu klären, was das soll, da sehe ich, was er in der Hand hält. Kein Gras, sondern eine Tüte Pillen. Fuck, Aubrey, was soll der Scheiß?
In all den Monaten, die wir jetzt schon gezwungenermaßen miteinander abhängen, hat sie nie auch nur an meinem Joint gezogen, und über Ecstasy haben Joy und sie kein Wort verloren. Gras ist das eine, aber Pillen? Geht gar nicht.
Ich will dazwischengehen, bin aber zu spät. Als ich die beiden erreiche, trennen sie sich schon wieder und gehen in unterschiedliche Richtungen davon, Denny nach links, Aubrey nach rechts.
Ich sollte Denny folgen, um ihn zu fragen, ob sie regelmäßig was von ihm kauft.
Ich sollte Aubrey folgen und sie fragen, was die Scheiße soll.
Und wenn ich ehrlich zu mir bin, sollte ich nichts von beidem tun. Weil ich nicht ihr Freund bin und mich das Ganze nichts angeht und es mir scheißegal sein kann.
Was es aus unerklärlichen Gründen aber nicht ist.
Ich entscheide mich für rechts und folge Aubrey durch die Menschenmenge in die Küche und weiter auf die Veranda, wo sich noch mehr Leute drängen (würg). Sie sucht sich einen Platz an der Brüstung, stützt die Ellenbogen ab und schaut hinaus auf den Garten, der jetzt im Sommer immer noch im Zwielicht daliegt, obwohl es bald zehn ist. Die Partys auf dieser Seite der Stadt gehen meistens so bis zwölf, weil man sich drauf verlassen kann, dass dann irgendjemand aus der Nachbarschaft die Polizei ruft.
Ich stehe hinter Aubrey und sage: »Hey, was geht?«
Sie dreht sich mit gerunzelter Stirn zu mir um. »Wo ist dein Frauchen?«
»Wer?«
»Joy.«
»Ah.«
»Und?«
»Sie tanzt.« Ich schiebe die Hände in die Hosentaschen und nicke in Richtung ihrer Hand. »Was hast du da?«
»Nichts.«
»Was Denny dir gegeben hat, sah aber nach mehr als nichts aus.«
Ihre roten Lippen – die perfekt zu ihrem feuerroten Haar passen – teilen sich, gleichzeitig funkelt sie mich wütend an.
»Schmeißt du neuerdings Pillen ein, Red?«
»Red?«
Ich ziehe an einer Strähne, die aus ihrer Hippiefrisur ragt.
Aubrey haut mir auf die Finger. »Ich wüsste nicht, seit wann dich mein Leben was angeht. Wenn du dich jetzt bitte verpissen würdest?« Sie wedelt mit der Hand, um mich zu verscheuchen.
»Das Zeug ist echt ungesund.« Aber dann zucke ich nur mit den Achseln, weil mir die Situation langsam peinlich wird. Gott, wie ich Aubrey hasse.
Sie lacht mir mitten ins Gesicht, und ich wünschte, ich hätte mir nie die Mühe gemacht, ihr zu folgen. »Und was du dir da reinziehst, ist gesund? Weil es … hm … Krebs heilt?«
Mit einem tiefen Seufzer schiebe ich die Hände zurück in meine Taschen und wippe auf den Fersen. »Ich hab keine Ahnung, ob Gras Krebs heilt, Red. Aber ich weiß zufällig ganz genau, dass es gegen die Schmerzen bei der Chemo hilft. Leider hab ich das aber erst erfahren, als meine Mom schon tot war. Sonst hätte ich ihr das Zeug während ihrer Behandlung nämlich zwangsverabreicht, damit sie nicht unter solchen beschissenen Schmerzen gestorben wäre.«
Aubrey kann mich mal, und ich muss irgendwie aus dem Kopf bekommen, was sie da gesagt hat.
Ich will einfach nicht mehr denken.
Also lasse ich sie samt ihren hässlichen Klamotten und ihrer bescheuerten Frisur und ihrer bekackten Meinung auf der Veranda stehen und gehe auf der Suche nach meiner Freundin wieder nach drinnen, damit wir diese Scheißparty verlassen können.
Im Wohnzimmer ist alles noch genauso wie vorher, nur dass Joy nicht mehr da ist, genauso wenig wie das Mädchen, mit dem sie getanzt hat. Ich suche sie in der Küche, der Wäschekammer, überall im Erdgeschoss. Aber sie ist wie vom Erdboden verschluckt. Angerufen hat sie mich auch nicht. Besorgnis und Nervosität fluten meinen ohnehin schon paranoiden Blutkreislauf. Ich entdecke Denny an der Haustür und frage ihn, ob er zufällig mitbekommen hat, ob Joy die Party verlassen hat. Er schüttelt den Kopf, das struppige braune Haar fällt ihm in die rotgeränderten Augen. Er lallt nur noch und spricht so leise, dass ich ihn durch den hämmernden Beat nicht verstehen kann.
»Was?«, rufe ich und deute auf mein Ohr.
Wie in Zeitlupe hebt er die Hand und deutet auf die Treppe.
Die ersten beiden Schlafzimmer im oberen Stock sind leer. Im dritten liegt ein Paar auf dem Bett. Ich kann nicht viel erkennen, höre nur das rhythmische Aufeinanderprallen zweier Körper und wie der Typ zu mir sagt, ich solle die Tür zumachen. Er liegt mit bis zu den Knien runtergezogenen Boxershorts zwischen ihren Beinen. Hat sich nicht mal die Zeit genommen, Schuhe und Jeans ganz auszuziehen. Er stöhnt, und sie wimmert: »Bittebittebittebitte!«
Bittebittebittebitte.
Ich kenne diese Worte.
Kenne diese Stimme.
Kenne diese Fünfzehn-Zentimeter-Absätze mit den Fake-Diamanten und Fake-Schleifen und den ganzen gefakten Gefühlen, der gefakten Lust.
Und auf einmal bin ich nicht mehr high.
Nicht mehr schwerelos.
Ich schalte das Licht ein.
Noch nie hat Joy meinen Namen so laut geschrien wie in diesem Moment, weder aus Lust noch aus irgendeinem anderen Grund.
Die beiden zucken voneinander weg, suchen hastig nach ihren Klamotten, und ich fühle gleichzeitig alles und nichts.
Nichts außer der Luft, um die sich meine Lunge schließt, bis ich daran zu ersticken glaube.
Und ich sehe auch alles und nichts, das Einzige, was ich deutlich erkenne, ist meine rotgleißende Wut.
Ruckartig mache ich auf dem Absatz kehrt und stürme aus dem Schlafzimmer, ehe ich irgendwas Erbärmliches tue, das ich nachher bereue. Joy kommt hinter mir her gerannt, ruft nach mir. Keine Ahnung, warum ich so außer mir bin. Es ist ja nicht so, dass ich sie geliebt hätte. Aber …
Aber …
Nichts aber.
Ich bin angefressen, weil ich dachte, sie gehöre zu mir. Und woher soll ich wissen, wie lange das schon so läuft? In Wahrheit will ich es gar nicht wissen. Aber wie es aussieht, will sie es mir unbedingt mitteilen, weil sie mich am Arm packt, während ich die Treppe nach unten renne, und eine Entschuldigung nach der nächsten haspelt. »Es ist einfach so passiert!«, ruft sie, und auf einmal verstummt die Musik, und in meinen Ohren ist nur noch Stille, in der die Blicke der anderen umso heißer auf meiner Haut brennen.
Ich drehe mich zu ihr um, betrachte die zu dick aufgetragene Wimperntusche, die ihr wie Bedauern in Flüssigform über die Wangen rinnt.
Sie verbirgt ihre nackte Haut unter seinem Shirt, aber die Stilettos – die Stilettos trägt sie immer noch.
Es gibt so vieles, was ich ihr gern sagen würde.
Aber stattdessen gehe ich.
Weil ich es hätte besser wissen müssen.
Joy gehört nicht zu mir. Und wird es auch nie.
LOGAN
Mit langen Schritten verlasse ich das Haus. Draußen füllt kühle Luft meine Lungen. Ich höre Schritte hinter mir. Bitte, lass das nicht Joy sein.
»Logan!«
»Verpiss dich.«
»Nun warte doch.« Ich brauche kurz, um zu begreifen, dass es sich gar nicht um Joy handelt. Es ist viel schlimmer: Aubrey. »Alles in Ordnung?«
Ich lege eine Vollbremsung ein und fahre auf dem Absatz zu ihr herum. »Alles bestens.« Ich stehe auf dem Gehweg, und sie ist nicht mehr als eine Silhouette, die sich auf mich zubewegt. Vielleicht einen Meter von mir entfernt bleibt sie stehen und sieht mich an. Blinzelt hastig. Einmal, zweimal. »Bist du sicher, dass es dir gut geht? Ich hab gesehen, wie … Also, alles hab ich natürlich nicht gesehen, aber das Ende, und darum …« Ihr Atem geht stoßweise, sie muss mir hinterhergelaufen sein.
Süß.
Bescheuert.
»Ich wollte nur sicher sein, dass du zurechtkommst.«
Ich starre sie an. Sie ist so klein. Wieso ist mir nie aufgefallen, wie klein sie ist? Wahrscheinlich liegt es daran, dass wir uns noch nie so lange so nahe waren. Oder sie wirkt normalerweise größer, weil sie ständig die Klappe so weit aufreißt. Jedenfalls ist sie klein, wie ein verdammter Moskito, der mir im Ohr sirrt und mich sticht, ohne dass ich es gleich bemerke. Aber kratzen werd ich mich anschließend trotzdem tagelang.
Winzig.
Nervig.
»Solltest du nicht gerade deine Freundin trösten?«, frage ich.
»Wieso?«, fragt sie irritiert zurück. »Sie hat Scheiß gebaut. Sie hat es verdient zu heulen.«
Ich neige minimal den Kopf zur Seite, ohne ihren Blick loszulassen. Sie kommt einen Schritt näher, und zum ersten Mal nehme ich ihre Augen richtig wahr.
Olivgrün.
Sommersprossen auf ihrer Nase, die ein winziges bisschen nach oben schaut.
»Du siehst aus wie ein Kobold.«
»Und du stinkst nach Käsefuß.«
»Wollen wir hier abhauen?«
»Unbedingt.«
Aubrey hockt im Schneidersitz in meinem Truck. Ihre Beine sind unter ihrem riesigen Rock verborgen, und sie atmet lautstark durch die Nase ein, so als wollte sie alle Luft aus der Fahrerkabine saugen. Ich empfinde ihre Anwesenheit als erstickend. Sie sagt nichts, sitzt nur da mit ihren großen Augen und dem zerzausten roten Haar, das sie konsequent verwahrlosen lässt. Ein bisschen erinnert sie mich an Emma Stone in Einfach zu haben, als sie noch süß war und nicht sexy. Ich bereue es, sie gefragt zu haben, ob sie mitkommen will, und ich habe keine Ahnung, wieso sie einverstanden war. Die Situation ist uns beiden unangenehm, Aubrey wirkt komplett verspannt, und um das Schweigen zu brechen, sage ich das Einzige, was mir einfällt.
»Hast du Hunger?«
Dabei will ich sie doch nicht mal hier haben!
»Gott, ja, ich sterbe gleich«, antwortet sie, und ich mache mit dem Wagen kehrt in Richtung Stadt und Tankstelle.
Sie rümpft die Nase. »Ich trau dem Essen, das sie da haben, nicht über den Weg.«
»Da lässt du dir was entgehen, Red.«
Drinnen beobachtet sie, wie ich zwei Styroporschalen mit Ramen mit heißem Wasser aus dem Kaffeeautomaten auffülle. »Nimm dir, was du willst, ich lad dich ein.«
»Egal, was?«
Ich versuche, irgendwie weltmännisch rüberzukommen, aber sie versteht es als Herausforderung. Da ist so ein Glitzern in ihren Augen, und ich nicke zum Zeichen, dass ich die Challenge annehme.
Dann zeig mal, was du draufhast, Red!
Ich warte an der Kasse auf sie. Im Sicherheitsspiegel über dem Eingang beobachte ich, wie sie mit einem Einkaufskorb in der Hand durch die Gänge schlendert, als hätte sie alle Zeit der Welt. Es dauert fünf Minuten, bis sie endlich zu mir kommt. Ihr Korb ist voll mit Pringles und anderen Snacks. Sie hat Essen und Getränke eingepackt, aber nichts sonst, und ich verdrehe die Augen. »Mehr hast du nicht auf Lager?«
Sie knallt den Korb auf den Tresen und dreht dann am Gestell mit Sonnenbrillen daneben. Mit einer leuchtend roten, sternförmigen Brille auf der Nase sagt sie: »Ich komme mir vor wie Marilyn Monroe.« Und dann kichert sie.
Atemlos.
Heiser.
Minimal anziehend. Höchstens!
Ich teile ihr mit, dass sie komplett bescheuert aussieht.
Sie ignoriert meinen Kommentar und wendet sich an den Typen an der Kasse. »Und dann noch Kondome. Zwei Zwölferpackungen, bitte.«
Wir sitzen hinten auf der Ladefläche von meinem Truck und lassen die Beine vom Rand baumeln, während ich das Essen zwischen uns ausbreite. Sie trägt immer noch diese bekloppte Brille und mustert durch die dunklen Gläser den leeren Parkplatz vor uns. »Weißt du«, sagt sie und hört kurz auf mit der Baumelei, »mit jedem anderen Typen würde das hier in die Kategorie Romantisch fallen.«
Aber ich bin für sie nun mal nicht jeder andere Typ. Sie kennt mich – jedenfalls gut genug, um Vorurteile über mich zu haben. Sie hasst mich, ich hasse sie. Daran denke ich, als ich ihr die Schale reiche, mir eine Gabel voll Nudeln in den Mund schaufle und erwidere: »Romantik ist tot, Red. Du solltest deine Erwartungen besser runterschrauben.«
»Hör auf, mich Red zu nennen.«
»Wieso?«
»Weil es ohne Ende gruselig ist, dass du einen Spitznamen für mich hast. Ich mag das nicht.«
»Wie du meinst, Red.«
Sie schaudert und reibt sich die nackten Arme. Ihre Fingernägel sind nicht lackiert, aber sie trägt eine Menge Ringe in allen Größen, Stilen und Farben.
»Wo hast du eigentlich deine hässliche Strickjacke gelassen?«
»Hab ich wohl auf der Party vergessen.«
»Willst du noch mal zurück und sie holen?«
»Nö, die wird schon den Weg zu mir zurück finden.«
»Klar, außer dir will das scheußliche Teil ja auch keiner.«
»Arschloch«, murmelt sie und reibt sich erneut die Arme. Sie wirkt so klein, so kompakt. Ich würde sie zerbrechen, wenn wir je …
Ich schiebe diesen Gedanken dem Gras in die Schuhe, das ich geraucht habe, aber vielleicht …
Vielleicht nur …
»Ist das hier alles, was du heute Abend noch vorhast?«, fragt sie.
»Weitestgehend ja. Wieso, bist du enttäuscht?«
»Ich dachte einfach, dass du es normalerweise heftig krachen lässt.«
»Ich mag keinen Krach.«
»Echt nicht?«
Ich nicke, und dann herrscht wieder Stille. Ich mag auch Stille nicht, das war schon immer so. Aber sinnloses Gelaber mag ich genauso wenig, weswegen ich praktisch ständig meine Ohrstöpsel drinnen habe und Musik höre. Vermutlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis ich mir damit das Trommelfell kaputt mache. Heute hab ich die Ohrstöpsel nicht dabei, weil ich davon ausgegangen bin, dass ich sie nicht brauche.
Ich könnte Aubrey einfach hier hinten sitzen lassen und in die Fahrerkabine steigen, um dort Musik zu hören. Aber vermutlich würde sie hinter mir herkommen. Was an sich kein Problem wäre, wenn ich mich bei der Vorstellung, mich ohne Puffer mit ihr allein auf derart kleinem Raum zu befinden, nicht so unwohl fühlen würde. Sie ist ein Mädchen, was bedeutet, dass sie dann sicherlich über Zeug reden würde, mit dem ich nichts zu tun haben will. Gefühle, so was eben. Also breche ich das Schweigen lieber und frage: »Seit wann wohnst du eigentlich in Winbury?«
»Ich bin direkt nach meinem Abschluss hergezogen. Eine Stunde nachdem ich mein Zeugnis in der Hand hielt, saß ich schon im Bus.«
»Echt?« Ich kann meine Überraschung nicht verhehlen. »Und wovor bist du weggerannt?«
Sie nimmt die Sonnenbrille ab und schaut mich an. »Vor gar nichts.«
»Okay … und … von wo bist du weggerannt?«
»Raleigh.«
Ich hebe die Brauen. »Und dann bist du freiwillig in dieses öde Scheißkaff hier gezogen? Und wie du vor irgendwas wegrennst.« Ich schüttle den Kopf. »Anders lässt sich das nicht erklären.«
»Weißt du, wieso es mir hier so gefällt?«, wechselt sie das Thema.
»Nein, wieso?«
Sie deutet auf den Himmel. »Man sieht die Sterne hier besser.«
»Du willst mir ja wohl nicht erzählen, dass du wegen der Sterne hergezogen bist.«
»Nein. Es ist mir nur aufgefallen.«
»Verbringst du viel Zeit mit Sternegucken?«
Sie zuckt mit den Achseln, stellt ihre leere Schale ab und dreht sich wieder zu mir. »Ich bin allein hergekommen, mit nichts als einem Koffer, und in ein Haus gezogen, das ich vorher nicht besichtigt hatte. Ich kenne niemanden und bin hier ein Niemand. Also ja: Ich verbringe eine Menge Zeit mit Sternegucken. Ehe ich herkam, war mir nicht klar, wie weit der Himmel ist. Zu Hause gab es viel zu viel Licht, ständig war was los. Die Sterne sahen ganz anders aus, nicht so hell, nicht so strahlend wie hier. Und dabei hab ich sie bisher eigentlich nur von meinem Garten und der Main Street aus gesehen. Ich würde gern mal irgendwo hinfahren, wo es meilenweit nichts anderes gibt als Dunkelheit und Sterne, und einfach nach oben in den Himmel schauen und …« Sie bricht ab und verdreht die Augen. »Ich rede kompletten Schwachsinn.«
Ich atme tief durch, kehre in die Realität zurück, weil ich mich komplett verloren hatte in ihren Worten, ihrer Stimme.
Fuck, was war das denn? Ich schaue mich um, versuche, die Welt mit ihren Augen zu sehen. Dann verschränke ich meinen Blick mit ihrem.
Eine Sekunde.
Zwei.
»Du willst also die Sterne sehen, Red?«
»Wieso?«, fragt sie mit dem winzigen Anflug eines Lächelns. »Willst du mir etwa die Sterne zeigen?«
LOGAN
Aubrey will die Sterne sehen, und der Schmerz oder die Sehnsucht oder was auch immer ich gerade aus ihrer Stimme herausgehört habe, löst in mir das Bedürfnis aus, ihr dabei helfen zu wollen. Also bringe ich sie an einen Ort, an dem ich noch mit keinem anderen Mädchen war.
Während der Fahrt sitzt sie so reglos da wie zur Salzsäule erstarrt. Erst als wir das Tor erreichen und ich aus dem Wagen springe, um es zu öffnen, kommt wieder Leben in sie. Nachdem ich zurück in den Truck gestiegen bin und während ich einen schmalen Weg einschlage, beobachte ich sie aus dem Augenwinkel. Sie scheint alles zugleich in sich aufzunehmen. Die Bäume, die weite grüne Rasenfläche, die ins letzte Dämmerlicht gehüllt ist, gefolgt von der Seeoberfläche, die sich zu kleinen Wellen rippelt. Als das Wasser sichtbar wird, richtet Aubrey sich auf. Auf einmal wirkt sie hellwach, und ihre Lippen formen sich zu einem winzigen O.
Am liebsten würde ich mit ihr tauschen und diesen Anblick selbst zum ersten Mal erleben. »Das ist wunderschön«, flüstert sie, und ich nicke zustimmend. Der See ist eins der wenigen Dinge auf der Welt, deren Schönheit ich immer noch erkennen kann. Bei meiner »Bude« bleibe ich stehen, einem alten Schiffscontainer, den ich in eine halbwegs bewohnbare Unterkunft verwandelt habe, samt Matratze, Kühlschrank und ein paar Paletten als Sitzmöglichkeit.
»Wohnst du hier?«, fragt Aubrey.
»Nicht direkt.« Ich deute vage in Richtung zu Hause. »Das Haupthaus steht da drüben.«
»Dann … dann ist das hier eher so was wie deine Sex-Höhle?«
»Meine Sex-Höhle?« Ich muss lachen. »Was soll das denn sein?«
»Der Ort, an den du Mädchen bringst, um sie zu vögeln. Was nebenbei bemerkt ganz schön widerlich ist.«
»Nein, das ist keine Sex-Höhle.« Ich schüttle den Kopf und steige aus. Sie folgt mir, das kann ich hören. »Außerhalb meiner Familie weiß niemand, dass dieser Ort existiert. Und ich wäre dir dankbar, wenn das so bleibt.«
Sie macht das Schwurzeichen, dann sieht sie sich ein wenig um. Neben der Bude stehen ein alter Truck, der keinen Motor mehr hat, und ein paar Quads. Ihr sowieso schon rotes Haar schimmert im Licht des Sonnenuntergangs wie glühende Kohlen. Sie schlendert zu den Quads, streicht über die Lenker. »Sind das deine?«
»M-hm.«
»Ich hab noch nie auf so einem Ding gesessen.«
»Wo auch, Großstadtmädchen?«
Sie lächelt. »Klappe, Kleinstadtjunge.« Dann greift sie ihren Rock mit beiden Händen und hebt ihn hoch, höher, höher. Darunter kommen schwarze Kampfstiefel und blasse Beine zum Vorschein, feste Oberschenkel, wie dafür gemacht, sie zu packen und …
Fuck.
Sie setzt sich auf das Quad, der Rock bauscht sich um ihre Hüften, verbirgt aber immer noch das Wesentliche. »Brumm, brumm!«, macht sie, und ich muss lachen. Nicht über sie, sondern mit ihr. Sie zuckte mit den Achseln und grinst mir zu. Dann beißt sie sich auf die Unterlippe, als würde sie ihre Reaktion bereuen. Als wäre es ein Fehler gewesen, unkontrolliert ihre wahren Gefühle zu zeigen. Ihre Augen wirken nicht mehr grün, sondern wie ein Spiegelbild der untergehenden Sonne.
Ich stoße mich von meinem Truck ab. »Wollen wir eine Runde drehen, Red?«
»Wieso? Willst du mir gern die Welt zeigen, Lo?«
»Lo?«
»Da du nicht aufhörst, mich Red zu nennen, nenne ich dich jetzt eben Lo.«
»Lo also.« Ich verschränke die Arme.
Sie nickt.
»Wenn wir eine Runde drehen, machst du dich aber schmutzig.«
»Ich hab nichts dagegen, mich schmutzig zu machen.«
Jetzt bin ich es, der versucht, sich seine Reaktion nicht anmerken zu lassen. »Flirtest du etwa mit mir, Red?«
»Pfft, das hättest du wohl gern. Fürs Protokoll: Ich finde dich abstoßend und widerlich, Lo.«
Ich reiche ihr den einzigen Helm, den ich habe. Sie erkundigt sich, ob ich ohne zurechtkomme, und ich verkneife mir den Kommentar, dass ich mich mit geschlossenen Augen auf diesem Grundstück zurechtfinden würde. Stattdessen helfe ich ihr mit dem Helm und schließe ihn unter ihrem Kinn. »Gut festhalten, okay?«
Nickend rutscht sie ein paar Zentimeter nach hinten, um mir Platz zu machen, dann legt sie die Hände an meine Hüfte, warm, zart und weich.
Über die Schulter hinweg wiederhole ich: »Ich sagte, gut festhalten, okay?«
Sie schlingt die Arme um mich, so fest, dass es mir die Luft abschnürt.
»Doch nicht so fest. Himmel!«
»Hast du zugehört, als ich sagte, dass ich das noch nie gemacht habe?«
Seufzend nehme ich ihre Hände und lege sie mir auf die Schultern. »So. Und nicht loslassen.«
Ihr Gekreische ist ohrenbetäubend, aber nicht so, dass ich sie am liebsten vom Quad schmeißen würde, sondern aufregend, fast schon … befriedigend, genauso wie ihr anschließendes Gelächter. Der Schlamm, der an den Reifen hängen bleibt, fliegt uns um die Ohren. Sie schreit erneut auf, presst ihre Wange noch fester an meinen Rücken. »Soll ich anhalten?«, brülle ich.
»Wehe!« Sie packt mich fester an den Schultern. »Fahr schneller!«
Aber ich bremse trotzdem ab, und als wir stehen, drehe ich mich zu ihr um, damit ich ihr Gesicht sehen kann. »Willst du ein paar Tricks sehen?«
Sie macht große Augen und hüpft auf der Sitzfläche auf und ab. »Zeigst du mir welche?«
Ich grinse von einem Ohr zum anderen. Ihre Aufregung ist ansteckend. Dann wische ich ihr einen Schlammspritzer vom Gesicht.
Naserümpfend schlägt sie meine Hand weg. »Hör auf, mit mir zu flirten.«
Ich muss jetzt mal was loswerden zum Thema Spaß haben mit Mädchen. Und damit meine ich nicht die Sachen, die auf der Ladefläche meines Trucks passieren. Obwohl ich auch dazu einiges sagen könnte. Aber jetzt im Ernst: Aubreys Lachen und Quietschen und die eingestreuten Forderungen nach härter,schneller,mehr, lassen sich durchaus mit Sex vergleichen. Nur dass das hier womöglich sogar besser ist. Denn wie sie die Arme um mich legt und sich an mir festhält und mir komplett vertrauen muss, ist …
Unerwartet schön.
Wie high sein, nur ohne Drogen.
»Ich wüsste einen Weg, wie du den Dreck wieder loswirst. Aber dabei … würdest du feucht werden«, rufe ich und lasse den Motor leise aufheulen.
Selbst über das Motorengeräusch hinweg und trotz der vibrierenden Maschine unter mir kann ich spüren, wie sich ihr leises Kichern zu einem ausgewachsenen Lacher entwickelt. »Hab ich nicht gesagt, dass du nicht mit mir flirten sollst?«
»Du hast echt eine schmutzige Fantasie, Red.« Und ohne ihre Antwort abzuwarten, lege ich einen One-Eighty hin und rase zurück zum See. Wir sind noch gar nicht tief im Wasser, als sie wieder zu quietschen beginnt und ihre kleinen Brüste an meinen Rücken drückt. Sie lacht und klingt dabei so unbeschwert wie mein kleiner Bruder, damals, als ich ihn noch auf diesem Ding hier habe mitfahren lassen, weil er nicht alt genug war, um selbst hinterm Lenkrad zu sitzen. Die Sonne ist schon fast untergegangen, und ich habe keine Ahnung, wie lange wir inzwischen hier sind.
Nach einer Weile wird es zu dunkel, um weiterzufahren, also lenke ich die Maschine widerwillig zu meinem Truck zurück. Ich stelle den Motor ab, steige als Erster vom Quad und sehe zu, wie sie den Helm abnimmt. Ihre Schuhe, ihre Waden, selbst ihre Oberschenkel und der Rock, den sie sich bis zur Hüfte hochgeschoben hat, sind voller Dreckspritzer. Ihre Kampfstiefel kommen mit einem Rumms auf dem Boden auf, als sie vom Quad springt und sich das Haar ausschüttelt. Sie sieht aus wie aus der Shampoowerbung – oder als wäre das hier der Anfang eines megaschlechten Pornos.
»Danke für den wilden Ritt«, sagt sie und gibt mir den Helm zurück. Ich klammere mich daran fest, um meinen Händen etwas zu tun zu geben. Denn auch jetzt, wo sie aufrecht steht, klebt ihr der durchnässte Rock noch um die Hüfte. Ich lasse den Blick ihre Beine hochgleiten, glatt und fest und …
»Du bist echt so was von versaut!«
Ich muss lachen und mache mir gar nicht erst die Mühe, mich gegen den Vorwurf zur Wehr zu setzen. »Deine Klamotten sind hinüber.«
»Wurde für solche Zwecke nicht die Waschmaschine erfunden?«
Ich lasse mir eine ihrer Haarsträhnen durch die Finger gleiten. »Du hast überall Dreckspritzer.«
Sie grinst breit – es ist ein echtes Grinsen, aufrichtig, da bin ich mir sicher. »Und das, mein dämlicher Nicht-Freund«, sagt sie und kommt einen Schritt näher, »ist der Grund, aus dem Seen erfunden wurden.«
Und dann zieht sie sich aus.
Entweder das, oder ich träume.
Ich blinzle, warte, dass der Augenblick vorübergeht, weil ich mir sicher bin, dass ich ihn mir einbilde.
Aber nein.
Weg sind die Schuhe.
Weg ist das Top.
Weg ist der Rock.
Bis sie in Unterwäsche vor mir steht. ZusammenpassenderUnterwäsche. Mit … Ich kneife die Augen zusammen, sehe genauer hin. »Hast du da Einhörner und Regenbogen auf deinem …?«
»Klappe! Die sind niedlich.«
»An einer Zehnjährigen vielleicht.«
»Schau mal, die glitzern sogar.« Sie deutet auf ihre Brüste, und ich schaue noch ein bisschen genauer hin.
»Ich seh da nichts glitzern, Red.«
Noch ein Schritt näher, und unsere Körper berühren sich. Aber sie kommt nicht auf mich zu, sondern rennt in die entgegengesetzte Richtung davon in den See. Das Mädel ist offenbar tatsächlich so verrückt, wie ich dachte. So verrückt wie ich. »Kommst du oder was?«, ruft sie mir zu.
Ich ziehe mir Shirt und Jeans aus und werfe unsere Klamotten auf die Ladefläche des Trucks. Dann renne ich ihr hinterher. Sie lacht auf, steht bis zur Taille im Wasser, dreht sich und spritzt um sich, und ich muss lächeln. Sie benimmt sich wie eine Fünfjährige, die gerade den Spaß ihres Lebens hat. Als ich schon fast bei ihr bin, trifft mich die Erkenntnis wie ein Schlag. »Hey, hast du das Ecstasy eingeschmissen?«
Sie erstarrt und fixiert mich mit einem finsteren Blick. »Nein, ich hab’s weggeschmissen. Ich glaub, ich hatte nie vor, es wirklich zu nehmen. Wieso?«
»Ach, egal.«
»Wieso?«
»Weil du dich benimmst, als ob … als hättest du … als würdest du …«
»Als würde ich was, Logan? Spaß haben?«
»Schätze schon, ja.«
»Und was stört dich daran?«
»Nichts. Ich kapier’s nur nicht. Weil du hier bei mir bist, obwohl du mich nicht ausstehen kannst.«
»Aber das stimmt doch gar nicht.«
»Nein?«
Sie schüttelt den Kopf, und nasse Haarsträhnen fallen ihr um die Schultern. »Ich kenn dich doch gar nicht richtig.« Sie streicht mit den Händen über die Wasseroberfläche, hin und her, bis die kleinen Wellen zu mir rüberschwappen. Plötzlich verharrt sie mitten in der Bewegung, und ihre Augen weiten sich. »Scheiße, was war das?«
AUBREY
Ich kann das Geräusch nicht mit Worten beschreiben und habe definitiv nicht vor, es nachzunahmen, aber es ist beängstigend. So beängstigend, dass ich mir vor Angst in den Rock machen würde, wenn ich ihn noch anhätte. Fuck, ich schlottere am ganzen Leib! Und Logan schaut mich an, als wäre ich nicht ganz bei Trost.
»Was war was?«, fragt er und mustert mich skeptisch.
»Hast du das echt nicht gehört?«
»Bist du auf ’nem Bad Trip?«
»Ich hab doch gar nichts …« Da ist das Geräusch wieder! Es bewegt sich irgendwo zwischen Grunzen und Quieken. »Scheiße, da war es wieder!«
»Ich höre nichts, Red.«
Mir kommen die schlimmsten Gedanken. Dass ich sterben werde. Oder – nicht ganz so extrem, aber mindestens genauso beängstigend: dass Logan doch eine Sexhöhle hat und in besagter Sexhöhle ein gefesseltes, geknebeltes Mädchen liegt.
Irgendwo hinter mir ertönt das Geräusch erneut, und mir stellen sich die Nackenhaare auf. Plötzlich ist es mir komplett egal, ob er da drinnen ein Mädchen versteckt oder nicht. Denn gerade kommt er mir vor wie meine einzige Hoffnung auf Überleben. Ich stürze zu ihm und schlinge die Arme um seinen Hals. »Fuck, was ist das?«
LOGAN
»Ich höre nichts«, lüge ich weiter. Ich würde Aubrey ja gern beruhigen, andererseits möchte ich aber, dass sie sich weiter an mir festklammert. Selbst hier im kalten Wasser fühlt sie sich so warm an. Ich darf nicht vergessen, dass sie nur ein Mädchen ist. Ein Mädchen wie tausend andere. Weswegen es auch kein bisschen verwunderlich ist, dass mein Körper darauf reagiert, wie sie sich an mich presst, ihre Brüste an meinem Oberkörper, ihre Arme um meinen Hals, ihre Beine um meine Hüfte, ihr Atem an meinem Ohr, ihre …
»Logan!«
»Was?«
»Was ist das nur?« Sie zittert. Ob aus Angst oder aus anderen Gründen, kann ich nicht beurteilen. »Das Geräusch wird lauter! Ist da … Ist da was im Wasser?«
Meine Hände machen, was sie wollen. Gleiten ihren Rücken runter. Tiefer.
Tiefer …
… und tiefer …
… bis ich ihren Po umfasse, und … Grundgütiger, wo hat sie die ganze Zeit über diesen Po versteckt?
»Logan!«
»Hm?« Ich lehne mich leicht zurück, damit ich ihr ins Gesicht sehen kann, aber mein Blick wandert direkt zu ihren Brüsten, und ja, das war ihr Ernst: Da ist überall Glitzer. Glitzer auf ihrem BH und vermutlich auch auf ihrem Höschen. Ich bin machtlos gegen die Vorstellung, wie ich ihr beides ausziehe.
»Es ist im Wasser, Logan!«
»Was ist im Wasser?«
»Na, was auch immer dieses Geräusch macht! Klingt wie ein Monster! Oder ein Alien. Scheiße, wie kannst du das nicht hören?« Sie flüstert unfassbar laut, was gleichzeitig hinreißend niedlich und ziemlich dämlich ist.
»Doch, jetzt höre ich es auch«, flüstere ich zurück. »Klingt wie … wie ein quiekendes Schwein oder so.«
»Genau!«
Wir könnten für immer so weitermachen: Ich tue so, als hätte ich keine Ahnung, wovon sie redet, damit sie sich weiter an mir festklammert, während ich mir nicht anmerken lasse, wie scharf ich auf sie bin.
»Logan.« Der Ton, in dem sie meinen Namen sagt, erinnert mich daran, wie sie sich auf dem Quad an mir festgehalten hat: als würde sie sich auf mich verlassen. Als wäre ich ihr Retter.
Ich hasse dieses Gefühl.
Aber gleichzeitig genieße ich es auch mindestens genauso sehr.
»Alles in Ordnung, dir kann nichts passieren«, flüstere ich und streiche ihr die Haare aus dem Gesicht. Dafür muss ich zwar eine Hand von ihrem Po lösen, aber wie Dad immer sagt: Manchmal muss man im Leben Opfer bringen. Und der Anblick ihrer Augen ist es mir wert.
Pass auf, dass du kein Weichei wirst, Logan Preston.
Wobei mein weitaus größeres Problem gerade darin besteht, dass ich hart geworden bin.
Während ich mit meinem inneren Dialog beschäftigt bin, beschäftigt Aubrey sich damit, mich anzubrüllen. »Kannst du mir mal erklären, wieso du gerade nicht komplett panisch wirst? Wir könnten sterben! Ich komme mir vor wie eine Figur aus Lost, und du bist total entspannt und … Logan!«
»Was?« Ich lege die Hand wieder um ihren Po und vergrabe das Gesicht an ihrem Hals.
»Hör auf damit!«
Ich schnuppere an ihrem Haar. »Wie machst du das, dass du so riechst?«
»Wie rieche ich denn?«
»Nach … Sommer?«
Aubrey zieht mich am Haar. Und zwar fest. So fest, dass ich nach Luft schnappe.
Das Schweinequieken ertönt wieder.
Ich beobachte, wie Aubreys Blick zwischen meinen Augen hin und her zuckt, links-rechts, links-rechts.
Ich packte ihren Po ein bisschen fester. Nehme noch eine Nase voll Sommerduft.
»Logan!!!«
»Mann, was denn?«
»Woher. Kommt. Dieses verfluchte. Geräusch?!«
»Kannst du dich jetzt bitte mal entspannen?«
»Wie denn?« Sie löst sich von mir, und kaum ist sie weg, vermisse ich ihre Wärme schon.
Mit den hohlen Händen klatsche ich mir Wasser ins Gesicht und versuche, einen klaren Kopf zu bekommen. »Das ist nur Chicken.«
»Wer oder was in Gottes Namen ist Chicken?«
»Unser Hausschwein.«
»Euer … was?!«
Ich verdrehe die Augen und rufe: »Komm her, Chickie, Chickie, komm!« Und schon taucht Chicken neben mir auf und reibt die Schnauze an meiner Hand. »Er muss uns gehört haben und dachte wohl, er schaut mal besser nach, was los ist.« Ich tätschle ihm den Kopf. »Der tut dir nichts.«
Aubrey schweigt so lange, dass ich schließlich von Chicken aufschaue, um sicherzugehen, dass sie wirklich da ist und ich mir den ganzen Abend nicht nur eingebildet habe.
»Kann man vom Passivrauchen high werden?«, fragt sie langsam.
»Ja, wieso?«
»Weil ich gerade ein Riesenschwein namens Chicken vor mir habe, das ein Bad im See nimmt und sich von dir streicheln lässt wie ein Hund.«
Ich muss lachen. »Ursprünglich war er mal als Chaos-Aktion gedacht.«
»Was ist denn bitte eine Chaos-Aktion?«
»So was wie ein Prank. Als mein Bruder Leo aufs College ging, hab ich ihm Chicken in sein Wohnheim geschickt. Er sollte eigentlich eins von diesen Zwergschweinen sein, die ihr Leben lang winzig bleiben. Aber ich muss wohl versehentlich das Falsche bestellt haben. Jedenfalls hat Leo den kleinen Kerl ins Herz geschlossen, und sein Zimmergenosse und er haben ihn so lange in ihrem Zimmer versteckt, wie sie konnten. Aber als ihnen klar wurde, dass er immer weiter wächst, haben sie ihn hergebracht. Er darf sich frei auf dem Grundstück bewegen und geht bei uns ein und aus, wie es ihm passt.«
Aubrey muss lachen, ein dunkler, kehliger Laut, der tief aus ihrer Brust kommt. »Er ist ein Riesenviech, Lo!«
»Ja, aber er wurde von Leo großgezogen, und deswegen ist er in Wahrheit genauso ein Softie wie mein Bruder.« Wieder reibt Chicken seine Schnauze an meiner Hand. »Was, mein Kleiner?«
Das Wasser um uns herum gerät in Bewegung, weil Aubrey näher kommt. »Dann ist er echt? Ich bilde mir das alles nicht ein?«
Ich grunze laut.
Chicken grunzt zurück.
»Das ist doch das Geräusch, das du gehört hast, oder?«
Aubrey nickt. »Kann ich … Kann ich ihn mal streicheln?«
Ich merke selbst, wie dämlich mein Grinsen aussehen muss. »Klar.«
AUBREY
Ein, zwei Herzschläge lang zögere ich, dann gehe ich mit ausgestreckten Händen auf die beiden zu. Ich streichle Chickens Wangen, und er grunzt zufrieden vor sich hin. »Das ist die durchgeknallteste Nacht meines Lebens«, sage ich. Aber ich muss dabei lachen. Und als ich mit Lachen fertig bin, grinse ich, länger als seit einer gefühlten Ewigkeit.
»Geht mir ähnlich«, erwidert Logan.
Ich schlucke meinen Stolz herunter und suche seinen Blick. »Im Ernst, Logan. Ich hätte nie gedacht, dass man mit dir so viel Spaß haben kann.« Was gelogen ist. In Wahrheit wusste ich es sogar ganz genau. Weil ich mich in den letzten Monaten jedes Mal, wenn wir Zeit miteinander verbracht haben, davon abhalten musste, über seine sarkastischen Kommentare zu lachen, ihn für Sprüche abzuklatschen, die Joy die Schamesröte ins Gesicht getrieben haben, und ihn dafür zu bewundern, dass er konsequent immer sagt, was er denkt. Logan hat keinen Filter, aber Filter sind was für Leute, die ihre Lebenszeit damit verschwenden, andere Menschen beeindrucken zu wollen. Klar muss es trotzdem Manieren, Höflichkeit und eine gewisse Portion Anstand geben. Und das alles bringt Logan auch mit. Aber gleichzeitig hat er eben kein Problem damit, zu sagen, was ihm gerade durch den Kopf geht.
Er senkt den Blick, konzentriert sich auf Chicken. »Geht mir genauso, Red.«
»Also …« Mein Lächeln wird breiter, als das Schwein seine Wange an meiner Hand reibt. »Was meinst du? Waffenstillstand?«
Er fährt sich mit der Zunge über die Lippen. Seine Antwort lässt viel zu lange auf sich warten. »Klingt gut«, erwidert er schließlich.
Ich räuspere mich, lasse die Schönheit der Umgebung auf mich wirken. »Und jetzt erklär mir bitte noch mal, wieso du keine Mädchen herbringst.«
»Weil es hier nichts zu sehen gibt.«
»Das würde ich so nicht unterschreiben«, erwidere ich ehrlich. »Du bist da. Und dann sind da noch die Quads und der ganze Schlamm und der See und … und nicht zu vergessen, das Schwein.«
Inzwischen tätscheln wir Chicken beide, um uns abzulenken und einander nicht ansehen zu müssen. Eine gefühlte Ewigkeit verstreicht, ohne dass einer von uns etwas sagt. Ich bereue es, das Thema angesprochen zu haben, weil ich es damit in die Realität geholt habe und ich mich auf einmal nackt und verletzlich fühle.
Irgendwann ergreift Logan das Wort und sagt: »Mädchen stehen nur aus zwei Gründen auf Jungs wie mich.«
Ich schaue auf. »Sex und Geld?«
»Ding, ding!«
»Und beides bietest du ihnen?«
»Nein, nur eins.«
»Den Sex?«
»Die Kandidatin erhält hundert Punkte.« Sein Ton ist so echt und nackt und verletzlich, wie ich mich gerade noch gefühlt habe, und ich frage mich … Was verbirgt sich hinter deiner harten Schale, Logan Preston?
»Schade eigentlich«, erwidere ich und suche seinen Blick. »Ich hab nämlich den Eindruck, dass du eigentlich viel mehr zu bieten hast, Logan.«
Er blickt mir unverwandt, fast schon herausfordernd in die Augen. Vermutlich wartet er darauf, dass mich die Scham überkommt und ich zurücknehme, was ich gerade gesagt habe. Aber ich bin wie er. Ich sage, was ich denke. Die Wahrheit. Also hebe ich unbeeindruckt das Kinn und nehme die Herausforderung an. Mal sehen, wer zuerst nachgibt.
Doch Logan bleibt standhaft. Er setzt sogar noch einen drauf und macht einen Schritt auf mich zu, bis wir uns so nahe sind, dass ich ihn atmen hören kann. »Hey, Red?«
»M-hm, Lo?«
»Schau mal nach oben.«
Ich löse den Blick von ihm und lege langsam den Kopf in den Nacken. Sehe hinauf in den Nachthimmel, an dem Millionen Sterne funkeln. »Wow«, flüstere ich.
»Ja«, sagt er leise. Aber als ich den Blick wieder auf ihn richte, bemerke ich, dass er nicht die Sterne ansieht, sondern mich.
So als würde er mich zum ersten Mal sehen.
LOGAN
Aubrey wartet beim Truck, während ich in der Bude verschwinde, um Handtücher zu holen. Wir trocknen uns ab, soweit es geht, den Rest muss die Sommernacht erledigen. Als wir uns auf die Ladefläche setzen, reibt Aubrey sich mit den Händen über die Arme, und ich hole die Decke aus meiner Werkzeugkiste und lege sie ihr ungeschickt um die Schultern.
»Werde ich von dieser Decke schwanger?«, fragt sie.
»Die Chancen stehen fünfzig-fünfzig.«
Darüber muss sie lachen, und ich beobachte sie verzaubert, wie in einem von diesen Filmen, die man in der Fahrschule zu sehen bekommt: ein Autounfall in Zeitlupe, genau im Augenblick des Aufpralls.
Aubrey ist ein Unfall, der sich direkt vor mir abspielt.
Meine ganz persönliche Katastrophe.
Sie stupst mit dem Fuß gegen mein Bein. »Danke für die Decke.«
»Gern geschehen.«
Wir sind beide noch in Unterwäsche, ohne uns daran zu stören.
Irgendwann legt sich Aubrey auf den Rücken und schaut in den Himmel hoch. Es hat seine Gründe, dass ich kein Sterngucker bin. Sternegucken ist nämlich scheiße langweilig, und ich trage viel zu viel Energie und Verwirrung mit mir herum, um Langeweile und Stille ertragen zu können. Aus irgendeinem Grund scheint Aubrey das zu spüren, denn sie fragt: »Ist dir langweilig?«
»Schon ein bisschen.« Es klingt, als würde ich mich entschuldigen. »Stört’s dich, wenn ich Musik anmache?«
»Bitte nicht«, stöhnt sie.
»Wieso?«
Wieder lacht sie vor sich hin, wie über einen Insiderwitz, von dem ich nichts weiß.
»Wieso lachst du?« Ich beuge mich über sie und verziehe in dem Versuch, einschüchternd zu wirken, die Augen zu schmalen Schlitzen.
»Weil dein Musikgeschmack unterirdisch ist, Lo.«
»Ist er gar nicht!«, verteidige ich mich. »Woher willst du das überhaupt wissen?«
»Das schließe ich aus dem, was bei dir im Auto läuft.«
»Und?«
Ihr Lachen weicht unterdrücktem Gekicher, dann antwortet sie: »Ich schwöre, dass du mal einen Song laufen hattest, in dem die Textzeile My balls, my balls, put it in your booty hole vorkam.«
Ich bemühe mich, weiter ernst zu gucken. »Und was soll daran verkehrt sein?«
»So ziemlich alles!«
Ich schnappe mir mein Handy, spiele den Song über den Bluetooth-Lautsprecher in meiner Werkzeugkiste ab und singe lauthals mit, während Aubrey zwischen Augenrollen und Kichern schwankt. »Das hat doch nichts mit Musik zu tun!«, ruft sie gegen den Lärm an.
»Und was ist deiner Meinung nach Musik?«
Sie nimmt mir das Handy aus der Hand, und ich beobachte, wie ihre Daumen über das Display flitzen. Den Song, für den sie sich entscheidet, kenne ich, aber das behalte ich für mich. Otis Reddings beruhigende Stimme schwebt durch die Nacht, und am liebsten würde ich Aubrey die ganze Meile bis zum Bootssteg tragen, damit wir dem Text auch gerecht werden.
Sie lässt sich wieder nach hinten fallen, drückt sich mein Telefon an die Brust und tappt im Rhythmus mit dem Fuß auf den Metallboden. Ihre Augen sind geschlossen. Die Sterne scheinen vergessen, stattdessen pfeift sie die Melodie mit.
»Du stehst also auf die Klassiker?«, frage ich.
Sie lässt den Kopf zur Seite rollen und sieht mich an. »Kennst du den Song etwa?«
Ich nicke. »Mein Lieblingslied von Redding ist These Arms of Mine.«
»Oh, den liebe ich!«, ruft sie und drückt mir das Telefon in die Hand. »Spiel ihn mir bitte vor.«
Ich finde den Song und drücke auf Play.
Aubrey schließt die Augen wieder, und sie murmelt: »Diese Musik hat so was Unschuldiges. Kein schneller Beat, kein Auto-Tune, keine sexistischen Texte … Einfach nur ein Liebesbrief von einem Menschen an einen anderen. Hör doch mal …« Sie verstummt und lässt die Stille von Reddings Stimme füllen. »Seine Arme können nicht leben ohne sie, Logan. Seine Arme! Gott, was würde ich dafür geben, dass …« Sie bricht ab.
»Dass was? Dass jemand so für dich empfindet?«
»Und wenn? Was wäre so verkehrt daran?«
Ich zucke mit den Achseln. »Ich mein doch bloß, dass man so was heutzutage nicht mehr erwarten kann, Red. Das ist unrealistisch. Die Zeiten, in denen man dem Mädchen, mit dem man«, hier zeichne ich mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft, »gegangen ist, seine Mannschaftsjacke zum Geschenk gemacht hat, um aller Welt zu zeigen, dass man zusammengehört, sind vorbei.«
»Das Ende der Romantik also?«
»Tut mir leid, dass du es ausgerechnet von mir erfahren musst – aber ja.«
Sie verstummt, und als ich zu ihr rüberschaue, betrachtet sie ihre Hände, die auf ihrem Bauch liegen. »Tut mir leid«, sage ich. Weil ich mich fühle, als hätte ich gerade ihren Hund überfahren und anschließend ihre gesammelten Träume und Hoffnungen niedergemäht.
»Dass du ehrlich warst?«
»M-hm.«
»Das braucht dir aber nicht leidzutun.«
Und dann verstummt sie wieder.
Da ich keine Ahnung habe, was ich tun oder sagen soll, verziehe ich mich in die Bude, um was zu trinken zu holen, aber leider ist nur noch eine einzige Dose Cola da.
»Wollen wir teilen?«, frage ich, als ich zurück bin.
Ich setze mich wieder neben sie, trinke einen Schluck und reiche ihr die Dose, beobachte, wie sie sie an ihre Lippen führt, ohne den Blick von mir zu lösen. Ihre Lippen formen sich zu einem Schmollmund, als sie daran saugt, und dann …
Dann hustet sie sich halb die Lunge aus dem Leib, und ich klopfe ihr auf den Rücken, und sie hustet und hustet, es hört einfach nicht auf, ihre Hände klammern sich wie Schraubstöcke um meine Arme, während sie nach Luft schnappt. Irgendwann ist sie endlich wieder so weit, dass sie tief durchatmen kann. »Tut mir leid, hab mich verschluckt.«
Leck mich, ist sie süß.
Ich streiche ihr das Haar aus dem Gesicht, ein paar Strähnen kleben in den Tränen fest, die ihr beim Husten über die Wangen gelaufen sind. Sie kniet vor mir, und ich nehme dieselbe Haltung ein wie sie. Lege beide Hände an ihr Gesicht. Ihr Atem streicht warm und einladend über meine Haut. »Alles okay?«, frage ich.
»Ja«, flüstert sie.
Unsere Körper bewegen sich wie von selbst aufeinander zu, als wären wir zwei Magneten, die unweigerlich voneinander angezogen werden. Und das liegt nicht nur an ihrem Atem auf meiner Haut und ihren Händen, die immer noch auf meinen Armen liegen. Überall prickelt es, diesmal aber nicht in meinem Kopf oder in meinem Herzen, sondern weiter unten in meinem Bauch. Keine Ahnung, wie wir von den ständigen gegenseitigen Beschimpfungen an diesen Punkt hier gekommen sind – was auch immer »dieser Punkt« ist. Und es interessiert mich gerade auch kein bisschen.
Sie klettert auf meinen Schoß, ihre Hände rutschen hoch zu meinen Schultern, und als ihre Lippen ganz kurz davor sind, meine zu berühren, flüstert sie: »Logan …« Und dann …
Als sie mit der Zunge den Rand meiner Lippen entlangstreicht, verliere ich jeden noch so kleinen Funken Selbstbeherrschung. In meinem Kopf ist nur noch Platz für einen einzigen Gedanken: dass ich Aubrey küssen muss.
Und wir küssen uns. Langsam und weich, jede Verbindung, alle Berührungen zwischen unseren Körpern fühlen sich unfassbar intensiv an. Meine Hände an ihrer Taille, Gott, diese Kurven, wie konnte ich all die Monate lang diese Kurven übersehen?, und dann … eine, höchstens zwei Sekunden später … ist sie weg. Einfach runter von meinem Schoß und zu weit entfernt, als dass ich sie wieder zu mir ziehen könnte.
»Tut mir leid«, sagt sie. »Das hätte ich nicht machen sollen.«
»Aber wir haben doch beide … Wieso?! Aubrey, ich kapier nicht, was gerade passiert ist!«
Sie zerrt an der Decke, versucht, sich zu verstecken, als wäre ihr jetzt erst klar geworden, dass wir beide praktisch nackt sind. »Könntest du mich bitte nach Hause fahren?« Sie meidet meinen Blick, aber das hält mich nicht davon ab, sie zu mustern. Ich bin verwirrt, will herausfinden, an welchem Punkt die Situation den Bach runtergegangen ist.
»Klar«, antworte ich.
Sie nickt und greift nach ihren Sachen.
»Red?«
»Was?«
»Du hast schon seit einer Ewigkeit nur deine Unterwäsche an. Ich hab alles gesehen, was es zu sehen gibt …«
»Aber jetzt ist das was anderes.«
Ich schüttle den Kopf. »Ist es nicht, glaub mir.«
»Nein, natürlich ist es das nicht«, flüstert sie, und ich hab nicht den blassesten Schimmer, was sie damit sagen will. Dann fährt sie so flüsterleise, als wäre sie ganz weit weg, fort: »Du hast mich vorhin gefragt, wovor ich weggelaufen bin …«
»Und?« Ich schließe die Augen, weil ich ihren Anblick gerade kaum ertragen kann.
Es fühlt sich einfach scheiße an, eine Abfuhr zu kassieren.
Ist mir aber trotzdem tausendmal lieber, als wenn mir jemand was vormacht.
»Ich hab gesagt, vor nichts, und das war die Wahrheit. Weil ich dort, wo ich herkomme, buchstäblich nichts hatte. Mein Dad ist gestorben, als ich neun war.«
Als sie das sagt, öffne ich die Augen doch wieder und suche Aubreys Blick. Das Herz pocht mir wild gegen die Rippen. Keine Ahnung, was sie noch zu sagen hat. Ich weiß nur, ich will es hören.
»Es war ein Verkehrsunfall. Er ist frontal mit einem Baum zusammengekracht. Er war sofort tot.«
»Das tut mir leid«, flüstere ich.
Doch sie schüttelt den Kopf. »Er war betrunken. Es war reines Glück, dass außer ihm niemand involviert war.«
»Hattet ihr ein enges Verhältnis?«
Sie räuspert sich, mustert ihre Hände und spricht dann weiter, als hätte sie mich nicht gehört. »Nach seinem Tod war alles anders. Seine Fehler wurden zu meinen, und meine Mom … Sie gab ihren Job auf, zog mit mir nach Raleigh, meldete mich von der Schule ab und unterrichtete mich von da an zu Hause. Wir haben so viel Zeit miteinander verbracht, dass ich manchmal glaube … Ich glaube, das ist der Grund dafür, dass wir in vielen Punkten unterschiedlicher Ansicht waren. Als ich alt genug für die Highschool war, habe ich sie angefleht, mich anzumelden, und irgendwann hat sie nachgegeben. Aber die Highschool war echt … Es war einfach nur schrecklich da. Im ersten Jahr war ich eine absolute Außenseiterin. Es kam mir vor, als würden alle von Dads Unfall wissen. Und dass er betrunken war. Aber wahrscheinlich fanden sie mich einfach nur merkwürdig. Es fühlte sich an, als hätte ich etwas an mir, das einfach nicht zu den anderen passte.« Sie klingt, als würde sie aus weiter Ferne mit mir sprechen. Als hätte sie die Erinnerungen an die Zeit damals lange verdrängt.
Ich sollte ihr sagen, dass ich weiß, wie sich das anfühlt.
Sie fügt hinzu: »Und dann, im nächsten Jahr, kam Carter zu uns in die Zehnte. Er schien nichts über mich zu wissen. Ein paar Wochen später waren wir zusammen. Er war mein Herz, mein Leben, mein Ein und Alles. Weil ich sonst ja niemanden hatte. Was vermutlich auch der Grund dafür ist, dass ich mich so Hals über Kopf in ihn verliebt habe.«
»Ist er …« Ich räuspere mich. »Ist er tot oder so? Ich meine … Geht es ihm gut?«
Aubrey lächelt, aber es ist ein trauriges Lächeln. »Einen Monat vor dem Abschluss hat er mit mir Schluss gemacht. Er meinte, ich sei eine Klette und habe viel zu starke Gefühle für ihn. Dass er nicht so verliebt in mich sei wie ich in ihn. Von Anfang an nicht.« Sie zuckt mit den Achseln, und diese eine kleine Bewegung reicht, um mich ihren ganzen Schmerz fühlen zu lassen. Was für ein erbärmliches Würstchen, dieser Carter. »Noch am selben Wochenende hat er auf einer Party mit einer anderen geschlafen. Das hat mir endgültig das Herz gebrochen.« Sie zieht die Nase hoch. »Er hat mich gebrochen, Logan. Ich hab noch am selben Abend davon erfahren, mich an den Computer gesetzt, Winbury und mein Haus gefunden, mich beworben und das gesamte Erbe meiner Großmutter ausgegeben, um hier ein neues Leben anzufangen. Ein Leben, wie es mir vertraut war: einsam und verängstigt. Am Anfang kam mir jeder Tag hier vor wie mein erster Highschool-Tag.« Sie hebt das Kinn und bohrt ihren Blick in meinen. »Und dann tauchte Joy bei mir in der Arbeit auf, und nach ein paar Minuten bot sie mir ihre Freundschaft an. Einfach so, ohne irgendwas über mich zu wissen. Und jetzt … Gott, jetzt hab ich mit dir diese bescheuerte Party verlassen und dich auch noch geküsst. Was muss man für ein Mensch sein, um sich so zu verhalten?«
»Aubrey …«, sage ich langsam und bedächtig. »Was zwischen Joy und mir passiert ist, hat nichts mit dir zu tun. Nach der Nummer, die sie abgezogen hat … Na ja, es ist vorbei, also …«
»Das sagst du jetzt«, flüstert sie.
»Jetzt und für alle Zukunft. Das zwischen ihr und mir wird nichts mehr. Es tut mir leid, was du alles durchgemacht hast, ehe du hier gelandet bist. Aber ganz ehrlich, dass es ausgerechnet Joy war, die bei dir aufgekreuzt ist, war verdammtes Pech. Du verdienst eine bessere Freundin. Und das soll was heißen, wenn es aus meinem Mund kommt. Immerhin fand ich dich durch und durch scheiße, bis du mir heute auf der Party hinterhergekommen bist.«