Prinzessin undercover – Enthüllungen - Connie Glynn - E-Book
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Prinzessin undercover – Enthüllungen E-Book

Connie Glynn

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Beschreibung

Die beliebten Undercover-Prinzessinnen gehen in die zweite Runde! Ellie ist eine echte Prinzessin, die sich nichts mehr wünscht, als ein normales Leben zu führen. Lottie ist ein ganz normales Mädchen, das sich nichts mehr wünscht, als Prinzessin zu sein. Und ausgerechnet diese beiden müssen sich im Internat Rosewood Hall ein Zimmer teilen. Die Lösung liegt auf der Hand: Sie tauschen heimlich die Rollen. Als Ellie und Lottie nach den Ferien zurück nach Rosewood Hall kommen, geschehen immer seltsamere Dinge. Es werden sogar Mitschüler vergiftet! Steckt dahinter etwa die Geheimorganisation Leviathan, die es auf die Kinder von Königshäusern und einflussreichen Familien abgesehen hat? Lottie und Ellie sind entschlossen, die Übeltäter zu enttarnen, doch sie haben keine Ahnung, wie nah die Gefahr ihnen tatsächlich schon gekommen ist ... Der zweite Band der erfolgreichen Serie – für alle Mädchen, die im Herzen Prinzessinnen sind und schon sehnsüchtig auf die Fortsetzung warten! Alle Bände der Serie »Prinzessin undercover«: Band 1: Geheimnisse Band 2: Enthüllungen Band 3: Entscheidungen Band 4: Hoffnungen Band 5: Versprechen

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Seitenzahl: 432

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Connie Glynn

Prinzessin undercover

Enthüllungen Band 2

Aus dem Englischen von Maren Illinger und Achim Stanislawski

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungPrologErster Teil Familie1234567891011121314151617181920212223Zweiter Teil Freunde242526272829303132Dritter Teil Feinde3334353637383940414243444546EpilogSüß, aber bitter

Dieses Buch ist allen gewidmet, die mir jemals eine Tasse Tee serviert haben.

Danke.

Prolog

Im düsteren Kellerverlies unter dem Königspalast von Maradova lag ein junges Mädchen auf einer dünnen Matratze. Die Zellen waren kahl, aber bestens gesichert – die königliche Familie von Maradova konnte hier, wenn es nötig war, Gefangene über Wochen und gar Monate festhalten. Das Mädchen lag reglos da – nichts deutete darauf hin, wie heftig es in ihrem Kopf arbeitete.

Jeden einzelnen Tag hier unten feilte Saskia San Martin an ihrem Fluchtplan. Sie prägte sich die Arbeitsschichten jedes Wächters ein und beobachtete genau, wie die Kameras funktionierten. Über sich hörte sie das Gluckern in den Rohren und die dumpfen Schritte der Menschen oben im Palast. Kein Detail blieb ihr verborgen. Und dennoch lief ihr die Zeit davon. Sieben Wochen waren vergangen, seit ihr Versuch gescheitert war, die Prinzessin von Maradova zu entführen. Bald würden sich ihre ehemaligen Klassenkameraden zu Beginn des neuen Schuljahrs in Rosewood Hall einfinden. Den Wachen hatte sie nicht ein Wort über Leviathans Pläne verraten. Sie weigerte sich stur, den Mund zu öffnen, und wenn sie es tat, dann nur, um etwas zu essen oder um den einen Satz zu äußern, den sie in der ganzen Zeit ihrer Gefangenschaft wie ein Mantra wiederholt hatte:

»Ich will mit meiner Herrin Anastasia Alcroft sprechen.«

Die betretenen Mienen der Wachen verrieten ihr allerdings, dass niemand Anastasia benachrichtigt hatte. Sie drehte sich auf die Seite, um einen Blick auf die Uhr an der Wand zu werfen. Mit jeder Sekunde wuchs ihre Furcht. Die Verletzungen, die Jamie, der Partist der Prinzessin, ihr zugefügt hatte, verheilten allmählich. Partisten wurden von klein auf darauf trainiert, ihren Herrn oder ihre Herrin zu schützen, sie waren die perfekten Bodyguards, und Jamie hatte unerbittlich gekämpft. Glücklicherweise waren eine abklingende Blutung im Auge und eine kleine Wunde am Kiefer, die wohl eine Narbe hinterlassen würde, das Einzige, was Saskia noch an ihre peinliche Niederlage erinnerte. Trotzdem saß sie hier nach wie vor in der Falle.

Ticktack, ticktack.

Die Leute von Leviathan konnten jederzeit mit Phase zwei ihres Plans beginnen. Doch solange Saskia in dieser Zelle hockte, konnte sie nichts tun, um Anastasia zu schützen. Leviathan hatte ihr zugesichert, dass man Anastasia nichts antun werde und dass Saskia, wenn sie für ihre Organisation arbeitete, endlich mit ihr zusammen sein könne. Dann würden sie ihre Gefühle nicht mehr vor Anastasias Vater verstecken müssen – jenem Mann, der gleichzeitig Saskias Boss war.

Saskia zuckte unwillkürlich zusammen, als die Erinnerung an den Abend der Entführung wieder hochkam: die vor Wut bebende Anastasia, draußen im Schnee vor dem Palasteingang, ihr kastanienbraunes Haar im Gegenlicht. Dann ein zweites Bild: Ellie, barfuß und in zerrissenem Kleid, wie sie einen Golfschläger schwingend versuchte, die Prinzessin zu befreien. Nur dass Ellie nicht die Prinzessin beschützte. Sie selbst war die Prinzessin.

Es hatte einige Wochen Kerkerhaft bedurft, bis Saskia darauf gekommen war. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Erst jetzt, da sie mehr als genug Zeit hatte, alles noch einmal zu überdenken, hatte sie die losen Enden dieses Rätsels zusammenfügen können. Ellie war die wahre Thronfolgerin des Hauses Wolfson. Lottie Pumpkin war nicht die Prinzessin von Maradova. Sie war eine Porterin mit dem Auftrag, sich als Prinzessin auszugeben, um die Identität der echten Prinzessin zu schützen: Ellie, die wütende Furie, die Saskias Windschutzscheibe mit einem Golfschläger zertrümmert hatte und sich von ihr bei dem Versuch, Lottie zu retten, eine Tracht Prügel eingefangen hatte.

Saskia drehte sich auf den Rücken und starrte die nassen Flecken an der Zellendecke an. Ich muss unbedingt mit Anastasia sprechen, um sie zu warnen.

Ein schrilles Piepen alarmierte sie, dass gleich jemand den Raum betreten würde, und sie setzte sich hastig auf. Ein großer Mann mit vernarbtem Gesicht und einschüchternder Statur kam durch die Tür, ein Tablett in den Händen. Es war Sir Nikolai Olav, der Partist des Königs – und gleichzeitig derjenige, vor dem sich Saskia am meisten fürchtete.

Er starrte sie unverwandt an, während er das Tablett mit der undefinierbaren Gefängniskost auf den Tisch in der Mitte des Raums stellte. Normalerweise fungierte Nikolai nur als Begleitschutz für die jeweilige Person, die Saskia das Essen in ihr Verlies brachte, doch von Zeit zu Zeit kam er auch allein. Das konnte nur eins bedeuten: ein weiteres Verhör.

Nikolai setzte sich auf den Plastikstuhl neben dem Tisch und holte mit grimmiger Miene Luft. Er wusste genauso gut wie sie, wie dieses Verhör ablaufen würde: exakt so wie all die Male zuvor.

Er fuhr sich mit der Hand über die Bartstoppeln und berührte dabei kurz die Narbe auf seiner linken Gesichtshälfte.

»Saskia San Martin.« Die Worte kamen ihm als tiefes Grollen über die Lippen. Sie erwiderte nichts, griff stattdessen nach dem Löffel, nahm einen grauen Klumpen des faden Essens auf und ließ ihn zurück auf den Teller plumpsen. Er ignorierte die Geste. »Du musst mir alles sagen, was du über Leviathan weißt.«

Ihre Hand mit dem Löffel gefror mitten in der Bewegung. Sie starrte ihn mit leerem Blick an. Auf diese Frage gab es nur eine Antwort, und sie trug sie mit den gleichen Worten vor, die sie seit dem Tag, an dem man sie in dieses Verlies geschmissen hatte, immer und immer wieder wiederholt hatte:

»Ich will mit meiner Herrin reden. Ich will Anastasia Alcroft sprechen.«

Erster TeilFamilie

1

Lottie schrak zusammen, als sie die Holzdielen unter ihren Füßen vibrieren fühlte. Die Vorstellung, dass Saskia sich irgendwo dort unter ihr im Palastkerker befand, ließ sie die Füße vorsichtiger aufsetzen. Aber damit konnte sie sich jetzt nicht beschäftigen. Sie musste konzentriert bleiben und Haltung bewahren. Bis diese Party vorbei war, musste sie sich wie eine echte Prinzessin benehmen. Erst dann konnte sie zurück zu Ellie und mit ihr zusammen ihre Sachen für Rosewood packen.

Lottie hatte heute das zweifelhafte Vergnügen, an einer aufwendigen Geburtstagssoiree teilzunehmen, die ihr zu Ehren veranstaltet wurde und zu der auch Vertreter einiger der weltweit wichtigsten Zeitungen und Fernsehsender geladen waren. Seit über zwei Stunden stand sie nun schon hier herum, lächelte und schüttelte die Hände einflussreicher Persönlichkeiten, die glaubten, sie sei die wahre Prinzessin von Maradova. Der König und die Königin hatten unter dem Vorwand, die Identität der Prinzessin schützen zu wollen, ein strenges Fotoverbot erlassen. Die große Galerie des Palasts war mit juwelenbesetzten Girlanden geschmückt, und um die Marmorsäulen schlangen sich regenbogenfarbene Bänder. Der mit einem rüschenbesetzten Tuch überzogene Geschenketisch bog sich unter dem Gewicht der vielen Präsente, von denen eins größer war als das andere.

Lottie trug die traditionelle maradovische Tracht: eine bestickte Schärpe über einem langärmligen, wie Jade glänzenden Kleid. Auf ihren blonden Locken saß die silberne Krone, die sie vor genau zehn Jahren von ihrer Mutter zum Geburtstag bekommen hatte. Vor genau zehn Jahren. Diese ganze Party war eine Farce. Denn hier wurde nicht ihr Geburtstag gefeiert. Lotties Geburtstag war bereits vor fünf Tagen gewesen. Heute, am ersten September, war Ellies Geburtstag. Lottie war nicht einmal eine echte Prinzessin – sie spielte nur Prinzessin anstelle ihrer Freundin. Aber das war ein Geheimnis, das keiner der Gäste je erfahren durfte.

»Ist alles in Ordnung?«, flüsterte Jamie ihr so leise ins Ohr, dass nur sie es hören konnte. In den letzten fünf Wochen war Lottie diese Frage so oft gestellt worden, dass ihr Magen sich mittlerweile jedes Mal zusammenzog.

»Ja, natürlich geht es mir gut«, antwortete sie automatisch. Sie bemerkte eine Gestalt, die sich langsam durch die Menge auf sie zubewegte. »Die große Frau zu meiner Linken?«

Jamie warf einen kurzen Blick in besagte Richtung. »Olga Ulov, Redakteurin beim Golden Sovereign.« Die sich durch die Menge schiebende grauhaarige Dame trug einen makellosen Seidenanzug. Im Gegensatz zu den übrigen Gästen, die in farbenfrohen Kleidern erschienen waren, war Jamie ganz in Schwarz gekleidet. Seine dunklen Haare hatte er sich aus dem Gesicht gekämmt. Lottie hatte ihn gebeten, er solle sich entspannen, doch aus Angst, es könnte wieder zu einem Zwischenfall kommen, erlaubte er sich keinen Moment der Unachtsamkeit.

Als Olga vor ihnen stand, neigte sie den Kopf zum Gruß. »Prinzessin Eleanor Wolfson.« Sie zog die Worte unnatürlich in die Länge, während sie Lottie mit zusammengekniffenen Augen musterte. »Es ist mir eine große Ehre, nachdem Ihr Euch so viele Jahre versteckt gehalten habt, endlich Eure Bekanntschaft zu machen.«

Anfangs hatte Lottie gedacht, sie würde sich nie daran gewöhnen, mit einem anderen Namen angeredet zu werden, doch mittlerweile fiel es ihr nicht mehr schwer, der Frau ganz selbstverständlich zuzulächeln. Sie fragte sich, wie Ellie sich an ihrer Stelle fühlen würde.

»Vielen Dank, Olga – ich hoffe, dass ich Sie nicht enttäuscht habe«, antwortete sie mit zuckersüßer Stimme und tat ihr Bestes, ein möglichst bescheidenes Lächeln aufzusetzen. Jamie signalisierte ihr mit einem kurzen Nicken seine Zustimmung. Obwohl sie nicht mehr beim Prinzessinnenunterricht von Jamie getriezt wurde, achtete er auch weiterhin darauf, dass ihr kein Patzer unterlief.

Olgas Lippen kräuselten sich zu einem gezwungenen Lächeln, doch ihre Augen durchbohrten Lottie, als wollte sie ihre Gedanken lesen. Ellie hatte nie ein gutes Verhältnis zu den Medien gehabt. Es hatte eine Menge Gerüchte über die Gründe gegeben, warum sie sich nicht zu erkennen gab. Sie alle waren erstunken und erlogen, und die meisten hatten kein gutes Haar an der Prinzessin gelassen. Als Ellies Porterin war es nun Lotties Job, die Gerüchteküche im Zaum zu halten, indem sie ihre Rolle in der Öffentlichkeit übernahm und die liebenswerte und bescheidene Prinzessin gab. Die Königin hatte die Idee gehabt, eine Geburtstagsfeier wäre die perfekte Gelegenheit, um Ellies Bild in den Medien wieder geradezurücken. Brav lächeln und Hände schütteln, hatte Lottie sich gesagt, wie schwer kann das schon werden?

Lottie hoffte nur, dass sie irgendwie mit der Nummer durchkam.

»Eure Hoheit …«, sagte jemand hinter ihr mit zischelnder Stimme. Als Lottie sich umdrehte, stand dort der steife Simien Smirnov, der Berater des Königs. Er hatte die Arme hinter dem Rücken verschränkt und verbeugte sich kurz vor Lottie. »Der Künstler Sir Yanovski würde Euch gerne sein Geschenk überreichen. Bitte folgt mir, damit wir uns dem König und der Königin anschließen können.« Simien bedachte sie mit einem schmalen Lächeln und gab ihr mit einer Geste zu verstehen, dass sie ihm folgen möge.

»Das hört sich wunderbar an«, erwiderte Lottie strahlend, erleichtert, den herumschnüffelnden Gästen von der Presse entrinnen zu können. Ihr war noch immer nicht ganz klar, was Simien über sie und ihre Rolle als Ellies Porterin dachte, seine Manieren waren jedoch über jeden Zweifel erhaben.

Sie folgte ihm mit – wie sie hoffte – anmutigen Schritten durch die Menge. Dabei kamen sie an mehreren Dienern vorbei, die Tabletts mit Kaviar und Trüffeln balancierten. Ich frage mich, was sie Saskia wohl vorsetzen. Schnell verscheuchte sie den Gedanken wieder. Es fiel ihr schon so schwer genug, sich im maradovischen Palast zu entspannen. Je tiefer sie sich in ihre Rolle als Porterin begab, desto unwohler fühlte sie sich. Nun wünschte sie sich nichts sehnlicher, als wieder in Rosewood Hall zu sein, zurück in der Schule, wo sie sich endlich wieder wie sie selbst fühlen könnte. Doch vorher musste sie diese Party überstehen. Immer wieder sagte sie sich den tröstenden Satz vor, den ihre Mutter ihr mitgegeben hatte, bevor sie gestorben war: Sei freundlich, sei mutig und gib niemals auf.

Als sie sich aus dem Gewühl geschlängelt hatten, gab Jamie ein kurzes Hüsteln von sich, das sie aus ihren Gedanken riss. Sie blickte auf und merkte, dass sie schon am Ende der großen Galerie angekommen waren, wo Ellies Eltern, der König und die Königin, auf sie warteten.

König Alexander und seine Frau, Königin Matilde, hätten unterschiedlicher nicht sein können, und dennoch passten sie ausgezeichnet zusammen. Der König stand reglos da, stark und unnahbar, seine Augen zwei schwarze Abgründe. Die Königin neben ihm erschien hingegen so leicht und zart wie eine Pusteblume, als könnte sie jede Sekunde vom Wind fortgetragen werden. Lottie konnte es noch immer kaum glauben, wie sehr sie der Königin ähnelte. Es war fast, als würde sie in einen Spiegel schauen – kein Wunder also, dass gerade ihr die Ehre zuteilgeworden war, Ellies Porterin zu sein.

»Du passt perfekt auf diese Party.« Die Königin strahlte Lottie an und lächelte verschwörerisch. Für Außenstehende musste es so aussehen, als nähme Lottie einfach den ihr angestammten Platz zwischen ihren Eltern ein. Der König nickte stumm erst Lottie und dann Jamie zu.

Nun richteten sie ihre Aufmerksamkeit auf eine von einem glänzend violetten Überwurf verhängte Stele. Was auch immer darunter verborgen war, musste gewaltig sein, denn es reichte fast bis zur Decke. Lottie wurde etwas nervös. Jemand schlug einen Löffel an ein Champagnerglas, und allmählich legte sich das Stimmengewirr, bis alle Gäste sich ihnen zugewandt hatten. Ein Mann mit rundem Gesicht, bunt schillerndem Haar und einer auffälligen Brille trat vor. Lottie hatte das Gefühl, ihn schon einmal gesehen zu haben. Woher kenne ich ihn?

»Das ist Yanovski, der zum Ritter geschlagene Großkünstler«, flüsterte die Königin Lottie zu, ohne dabei den Blick von dem mysteriösen Geschenk zu wenden.

Man hatte Lottie vorgewarnt, dass die Prinzessin auf der Party ein wichtiges Geschenk erhalten würde – ein außergewöhnliches Geschenk, um nicht nur ihren Geburtstag, sondern darüber hinaus auch ihren Schritt in die Öffentlichkeit zu feiern. In solchen Momenten fühlte sich die eigenartige Rolle als Porterin für Lottie besonders merkwürdig an. Das Geschenk war eigentlich für Ellie bestimmt, sie war die echte Prinzessin. Aber Lottie kannte Ellie mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass sie über dieses überdimensionierte Geschenk nicht sonderlich begeistert gewesen wäre.

Yanovski machte einen weiteren Schritt auf sie zu, ergriff feierlich ihre Hand und küsste sie mit einer tiefen Verbeugung.

»Ist die Prinzessin nicht einfach hinreißend?« Er richtete sich wieder auf und wies mit ausladenden Gesten auf sie, so dass Lottie sich fast wie ein prämiertes Zuchtpferd vorkam. Alle Anwesenden klatschten, es ertönten einige jubelnde Zurufe. »Einfach hinreißend! Die perfekte Prinzessin!« Lottie errötete und genoss den Applaus. In diesem Moment war es ihr egal, dass sie sich wie eine Betrügerin vorkam. Wie eine echte Prinzessin bejubelt zu werden fühlte sich einfach unglaublich gut an.

Der König hob die Hand, und der Saal verstummte augenblicklich.

Yanovski räusperte sich und warf sich in die Brust. »Majestät, ich glaube, für alle hier Anwesenden sprechen zu können, wenn ich sage, wie hocherfreut wir sind, endlich Eure wunderschöne Tochter kennenlernen zu dürfen.« Lotties Herz machte einen Satz. Was dachte der König wohl über diese Maskerade? »Sie ist eine Zierde der maradovischen Königsfamilie und verkörpert alles, was eine Prinzessin ausmacht.« Yanovski machte eine Pause, um den einsetzenden Applaus abzuwarten, und grinste dazu breit, sichtlich zufrieden mit seiner kleinen Ansprache. Die Königin ließ sich nicht beirren und lächelte weiter, doch die Lippen des Königs zuckten kurz. »Ihr müsst sehr stolz auf sie sein«, fuhr Yanovski fort. »Daher ist es mir eine besondere Ehre, der Prinzessin heute an ihrem fünfzehnten Geburtstag dieses Geschenk überreichen zu dürfen, um ihr Debüt zu feiern.«

Zwei livrierte Diener schritten zu dem Geschenk, und alles hielt den Atem an. Lottie hatte mit einem Mal das seltsame Gefühl, als sei ihre Krone schwerer geworden. So schwer, dass sie sie niederzudrücken drohte. Dann zogen die beiden Bediensteten einmal heftig an dem Stoff, und eine Woge wie aus glitzernd violettem Wasser sank zu Boden. Lottie legte den Kopf in den Nacken, um nach oben zu schauen, und sah … sich selbst!

Vor ihr stand eine riesige, bis zur Decke reichende Figur – eine von Meisterhand gefertigte, überlebensgroße Bronzestatue von Lottie. Yanovski hatte sie in dem Kleid dargestellt, das sie beim maradovischen Sommerball getragen hatte. Sie sah darin wie eine waschechte Prinzessin aus. Die Statue war phantastisch, so phantastisch, dass Lottie einen Moment brauchte, um zu begreifen, wie lächerlich das Ganze war.

»Oje«, hauchte sie und rang sich ein Lächeln ab.

Königin Matilde lächelte eisern weiter, der König stand stumm daneben. Es war unmöglich zu sagen, was er denken mochte.

»Die Ähnlichkeit ist frappierend!« Simien klatschte in die Hände und lachte eine Spur zu laut. »Sehen Sie nur! Der königlichen Familie hat es die Sprache verschlagen.« Der König blickte Simien scharf an, sofort erstarb das Lächeln auf seinen Lippen.

»Es ist wirklich außergewöhnlich! Das war sicher eine … große Herausforderung für Sie?« Die Königin hatte als Erste ihre Sprache wiedergefunden. Wie sie sich wohl dabei fühlte, wenn hier ein Mädchen, das nicht ihre Tochter war, für alle Ewigkeit als Prinzessin in Bronze gegossen vor ihr stand?

»Wie? Ach so, ja. In der Tat war dies eine meiner schwierigsten Arbeiten. Aber für unsere Prinzessin war mir jede Mühe wert.« Er warf Lottie einen bewundernden Blick zu und verbeugte sich noch einmal tief.

Lottie konnte regelrecht hören, wie Ellie sich an einem geheimen Ort im Palast schreiend vor Lachen auf dem Boden wälzte. Was für ein Witz! Lottie wagte einen kurzen Seitenblick auf Jamie, der sich auf die Lippe biss und alle Mühe hatte, nicht loszuprusten.

Ihr bronzenes Ebenbild schaute sie aus weit aufgerissenen Augen an. Lottie wurde schwindelig. Sie blinzelte mehrmals und schüttelte sich. Na los. Sag etwas!

»Vielen Dank.« Ihr Mund öffnete und schloss sich mechanisch, während sie nach Worten rang. Was würde eine Prinzessin zu so einem Geschenk sagen? Dann lächelte sie und ließ den Blick über die Gesichter der versammelten Gäste schweifen, die sie für die wahre Prinzessin hielten. »Es sieht wirklich genauso aus wie … ich.«

2

»Wir werden einfach bis in alle Ewigkeit so tun müssen, als wäre Lottie die wahre Prinzessin. So ein Pech!« Ellie lachte immer lauter. Wie erwartet fand sie die Sache mit der Bronzestatue zum Brüllen komisch. »Sonst würde der große Sir Yanovski wie ein Idiot dastehen.«

»Die Sache ist wahrlich nicht zum Lachen, Eleanor«, sagte König Alexander und stellte klirrend sein Weißweinglas auf den Tisch.

Ellie verdrehte genervt die Augen. Während der Sommerferien hatte Lottie aus nächster Nähe sehen können, wie unwohl Ellie sich im maradovischen Königspalast fühlte. Offensichtlich war sie genau wie Lottie ganz versessen darauf, so früh wie möglich wieder zurück nach Rosewood zu kommen.

Sie saßen im taubenblauen Speisezimmer bei einem Geburtstagsessen in kleiner Runde und besprachen dabei die Ereignisse der Party. Es war einer von Lotties Lieblingsorten im ganzen Palast. Die mit goldenen Stuckarbeiten verzierten Wände ließen den Raum in einem honiggelben Licht erstrahlen. Ihr Geburtstag war zwar ein paar Tage vor Ellies gewesen, doch sie hatten beschlossen, zusammen zu feiern. Die Tafel ächzte unter den erlesenen Speisen und Leckereien. Alle ihre Leibspeisen waren vertreten, darunter eine reiche Auswahl an vegetarischen Gerichten für Lottie. Auf einem Tisch an der Wand türmten sich die Geschenke, die Lottie für Ellie in Empfang genommen hatte, alle wunderschön verpackt und mit Schleifen und Bändern verziert. Jamie und Sir Olav hatten jedes einzelne genauestens überprüft. Nach Saskias Angriff beim Sommerball waren die Sicherheitsvorkehrungen noch einmal verschärft worden.

Beim Anblick der vielen Geschenke fragte Lottie sich bang, ob ihr eigenes Geschenk, ein selbstgemaltes Porträt ihrer Freundin, sich gegen diese Berge aus Geschenkpapier und Bändern nicht klein und lächerlich ausnehmen würde. Sie warf einen kurzen Blick auf Jamie. Seine dunklen Augen schienen sie zu durchbohren, so dass sie schnell wieder wegschaute. Sie hatte auch für ihn ein Geschenk besorgt. Ein Buch über Pakistan, das Geburtsland seiner Mutter, das sie ihm eigentlich am siebenundzwanzigsten Juli hatte überreichen wollen, bis sie herausfand, dass er seinen Geburtstag nicht feiern wollte, weil es gleichzeitig auch der Todestag seiner Mutter war, die bei seiner Geburt gestorben war. Also hatte sie das Geschenk bis zu dieser gemeinsamen Feier aufgehoben.

»Zumindest sind wir uns alle darüber einig, dass es eine wunderschöne Statue ist«, sagte Königin Matilde zu ihrem Mann, »und ein wunderbarer Weg, die Porterin unserer Eleanor zu ehren.«

Der König nickte seiner Frau zu. »So kann man es auch sehen.«

Lottie war nun schon zwei Monate bei ihnen, und allmählich fiel es ihr leichter, die winzigen Regungen im ansonsten ausdruckslosen Gesicht des Königs zu deuten. Gerade war seine Stirn nur ein kleines bisschen gerunzelt, seine Lippe zuckte ganz leicht. Das bedeutete, dass er entweder müde oder verärgert war, höchstwahrscheinlich beides.

»Nein, ehrlich.« Ellie fing an, sich große Stücke Pastete auf den Teller zu schaufeln. »Ich hätte mir kein besseres Geschenk wünschen können. Eine riesige Statue von Lottie – ich werde sie immer in Ehren halten.« Ellie grinste breit, und Lottie spürte wieder, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg.

Sie massierte sich die Schläfen. Gegen Ende des Geburtstagsempfangs hatte sie die Krone abnehmen müssen. Der Druck hatte ihr Kopfschmerzen bereitet, und obwohl sie sich auf dieses Essen sehr gefreut hatte, konnte sie es kaum genießen, weil der Schmerz zwischen ihren Augen nicht nachlassen wollte. Ellie und Jamie beobachteten sie besorgt, als von der Tür her ein Geräusch ertönte.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!«

Die große Eingangstür zum Saal schwang auf, und auf einem Mahagoniwägelchen wurde eine gigantische Torte hereingefahren. Hinter der Torte lugten die gestärkten weißen Petticoats zweier Bediensteter hervor, ihre Gesichter verschwanden hinter einem Wall aus Schokoladenglasur. Lottie sprang vom Stuhl, um einen genaueren Blick auf die Torte werfen zu können. Jamie, der neben ihr saß, ließ ein leises Hüsteln vernehmen, und sie setzte sich verlegen wieder hin.

Das Wägelchen kam schlingernd zum Stehen, und die zwei Dienstmädchen lugten hinter dem Kuchen hervor: Midori und Hanna.

»Halt!«, brüllte Ellie. Alle blieben wie versteinert stehen. Lottie fühlte, wie ein Ruck durch Jamie ging. »Erst muss ich Lottie ihr Geschenk geben.« Ellie sprang so unvermittelt auf, dass ihr Stuhl umkippte.

»Eleanor!«, rief ihre Mutter und runzelte die Stirn. Dann wandte sie sich an die Dienstmädchen, setzte ein Lächeln auf und sagte: »Midori und Hanna. Habt Dank für diese schöne Torte. Sie sieht köstlich aus.«

Ellie war an der Tür stehen geblieben und drehte sich jetzt zu ihrer Mutter um. Sie hatte die Unterlippe vorgeschoben, was, wie Lottie wusste, bedeutete, dass sie verlegen war. Sie konnte im Gesicht ihrer Prinzessin lesen wie in einem Buch. Aber warum war sie plötzlich verlegen? Dann erinnerte sie sich. Ellie kannte außerhalb des Palasts kaum einen Menschen. Es war wohl das allererste Mal, dass Ellie überhaupt ein Geburtstagsgeschenk für eine ihr nahestehende Person besorgt hatte, die nicht zum unmittelbaren Familienkreis gehörte.

»Ach, lass nur«, sagte Lottie. »Wir können die Geschenke doch auch nach dem Essen überreichen. Wollen wir nicht zuerst die Torte probieren?«

»Aber ich wollte es dir jetzt schon geben, damit …« Ellie wurde von einem tiefen Seufzen unterbrochen. Es dauerte einen Moment, bis Lottie die Quelle lokalisiert hatte. Es kam vom König. Er rieb sich die Nasenwurzel, als würde er unter furchtbaren Kopfschmerzen leiden.

»Eleanor«, sagte er mit leiser, aber gebieterischer Stimme. »Ich glaube, du wolltest das hier holen.« Er gab Midori ein Zeichen. Die ging zum Geschenketisch und förderte eine Schachtel zutage, die hinter einem größeren Geschenk für Ellie versteckt gewesen war.

Lottie sah Ellies Gesicht einen kurzen Moment aufleuchten, dann verdunkelte es sich augenblicklich.

»Warum ist das Geschenk hier und nicht in meinem Zimmer, wo ich es hingelegt habe?«

Der König wischte den Kommentar seiner Tochter mit einem kurzen Schnauben beiseite und konzentrierte sich ganz auf Lottie. »Wir haben uns gedacht, dass es angemessener wäre, wenn wir dir das Geschenk gemeinsam überreichen.«

Es musste sich um ein sehr bedeutendes Geschenk handeln, denn augenblicklich richteten sich Jamies und Ellies Blicke auf Lottie. Ellies Lippen zeigten ein aufgeregtes Lächeln, während Jamie wie immer keinerlei Emotion preisgab.

Midori stellte die Schachtel vor Lottie ab. Als sie sich wieder aufrichtete, formten ihre Lippen lautlos Herzlichen Glückwunsch.

Lottie betrachtete die silberne Schachtel. Es war das bei weitem unauffälligste Stück im ganzen Raum, und doch schien es von größter Bedeutung zu sein. Sie schaute in die Runde. Die Augen der versammelten Wolfsons glitzerten vor Vorfreude. Lottie schluckte. Was auch immer sich in dieser Schachtel befand, sie wollte sich des Geschenks als würdig erweisen.

»Lottie, wir möchten dir sagen, dass dieses Geschenk genauso sehr von uns allen wie von Eleanor kommt.« Die Königin stützte das Kinn in die Hand, die hauchzarten Ärmel ihres Kleides fielen majestätisch auf die Tischplatte.

Lottie wandte sich zu Jamie, der ihr mit einem Kopfnicken zu verstehen gab, sie könne das Paket öffnen.

»Vielen Dank.« Jetzt war sie aufgeregt. Sie hob den erstaunlich schweren Deckel der Schachtel an und besah sich den Inhalt.

In dem mit blauer Seide ausgekleideten Inneren lag ein silberner Anhänger an einem Kettchen. Darin eingraviert war die Gestalt eines Wolfs, in dessen Augen sich das Licht brach und glitzerte. Es war genau der gleiche Anhänger, den auch Ellie und Jamie trugen. Lotties Herz setzte für einen Schlag aus.

»Jetzt bist du ein Teil des Rudels.« Ellie lachte sie an, ihre Zähne blitzten perlweiß.

»Das … das ist …« Lottie suchte nach Worten, doch sie blieben ihr in der Kehle stecken.

Damit war sie offiziell bei den Wolfsons aufgenommen. Ellies Geschenk bestand darin, Lottie zu etwas Wichtigerem als einer bloßen Porterin zu machen. Sie war jetzt Teil der Familie. Lottie spürte Tränen in den Augen und musste die Luft anhalten, um nicht laut zu schluchzen.

Ein Teil des Rudels.

Sie war so glücklich, endlich eine richtige Familie zu haben, doch es gab da noch ein weiteres Gefühl, das in ihr aufstieg. Es kam von sehr weit her und erinnerte sie ein wenig daran, was sie empfunden hatte, als die Zusage aus Rosewood gekommen war. Nicht, dass sie sich unwürdig fühlte, dieses Geschenk anzunehmen. Das war es nicht. Lottie blickte in die lächelnden Gesichter der Wolfsons, die Gesichter ihrer neuen Familie. Und plötzlich konnte sie das Gefühl benennen.

Es war Schuld.

Schuld gegenüber ihrer eigenen Familie, ihrer Mutter.

»Das ist unglaublich lieb«, sagte Lottie und versuchte, sich wieder in den Griff zu kriegen. Doch anscheinend hatte sie ihre Emotionen nicht vor Ellie verbergen können, deren Lächeln nun schwand. Ihre Augen suchten Jamies. Die beiden wechselten einen kurzen besorgten Blick.

Verdammt!, dachte Lottie. Sie hasste es, wenn die beiden das taten.

»Die Torte wird noch schlecht«, sagte Jamie, um den Bann zu brechen.

»Stimmt«, pflichtete Ellie ihm bei. »Wir können dieses phantastische Kunstwerk doch nicht verkommen lassen.« Sie schenkte Hanna und Midori ein herzliches Lächeln, die mit einem Knicks antworteten. »Lottie, nach der Torte werde ich dir helfen, deinen Anhänger anzulegen.«

Lottie schaute zu, wie die Dienstmädchen die Teller mit Torte beluden. Die ganze Zeit lächelte sie und gab sich Mühe, glücklich zu wirken. Nur sie allein wusste, dass es da noch etwas zu tun gab. Sie würde ihrer neuen Familie eine schwierige Frage stellen müssen – eine Frage, die ihr Leben aus der Bahn werfen konnte. Eine Frage, die ihr Leben für immer verändern konnte.

3

Der Anhänger brannte in Lotties Hand, als sie hinunter in Ellies Videospielezimmer gingen.

»Ist dir das mit dem Anhänger zu viel? Keine Sorge, du musst ihn nicht tragen«, plapperte Ellie drauflos, sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatten.

Es war immer merkwürdig, Ellies Videospielezimmer zu betreten, weil es so ganz anders war als der Rest des Palastes. Ein quietschbuntes chaotisches Paradies mit Filmpostern an den lila gestrichenen Wänden, Videospielen und stapelweise Comics. Im Zimmer verteilt standen alte Spielhallenautomaten, die einen Achtziger-Jahre-Retrocharme verströmten. Ein riesiger Fernseher, an den so ziemlich jede existierende Spielkonsole angeschlossen war, nahm fast eine ganze Wand in Anspruch. Das Heimkino verfügte über eine Popcorn- und eine Zuckerwattemaschine, an denen Lottie und Ellie sich den ganzen Sommer über ausgiebig bedient hatten. Mittig an der linken Wand hing Ellies liebstes Stück: eine signierte Gitarre ihres Idols Joan Jett. Das Zimmer war der Inbegriff eines wilden Teenagertraums und wurde, da es kein einziges Fenster hatte, auch gerne Die Gruft genannt.

»Nein, nein. Er ist toll. Wirklich, Ellie«, beeilte Lottie sich zu versichern. »Darum geht es nicht …« Lottie schaute zu Jamie hinüber, der es sich auf einem der Sofas bequem machte. War jetzt die richtige Gelegenheit, die Büchse der Pandora zu öffnen?

»Ist das für mich?«, unterbrach Ellie ihren Gedankengang und zeigte auf das Geschenk in Lotties Händen.

»Ja. Ich wollte es dir geben, wenn wir etwas Ruhe haben.« Lottie hielt ihr das in geblümtes Papier verpackte Geschenk hin, und Ellie lächelte ihr zu. Ihre Fingerspitzen berührten sich dabei leicht, und Lottie bekam Gänsehaut.

Sie beobachtete angespannt, wie ihre Freundin das Geschenk auspackte. Ellie wickelte es viel vorsichtiger aus als alle anderen Geschenke im königlichen Speisesaal. Lottie spürte, wie die Anspannung von ihr wich – ganz offensichtlich bedeutete dieses Geschenk Ellie sehr viel. Es war gut möglich, dass es das erste Geburtstagsgeschenk war, das Ellie von einer echten Freundin bekam.

Als sie es geöffnet hatte, hielt Ellie die rechteckige Leinwand hoch und schaute Lottie ungläubig an. »Hast du das gemalt?«, fragte sie verdutzt.

Lottie fühlte, dass ihre Wangen glühten. »Äh, ja. Ich habe den ganzen Sommer daran gearbeitet und …« Sie kratzte sich unschlüssig am Kopf – ein nervöser Tick, den sie von Ellie übernommen hatte. Sie kam herüber, und gemeinsam betrachteten sie das Bild eingehend. Lottie hatte das Porträt ganz altmodisch mit Ölfarben gemalt, die sie irgendwo im Palast entdeckt hatte. Das Bild zeigte Ellie in einem Moment, an den Lottie sich besonders gerne erinnerte: als sie nach dem Fechtturnier die Maske abgenommen hatte. In ihrem blütenweißen Fechtanzug sah sie stolz und schön aus. Mit dem Säbel in der Hand wirkte sie genauso ungezügelt und heroisch wie in der Nacht der Entführung, als sie Lottie gerettet hatte.

»Jamie, schau mal!«, rief Ellie und drehte das Bild um, damit er es sehen konnte.

Er stand auf, um sich das Bild aus der Nähe anzusehen, und Lottie hielt den Atem an.

Jamie zog verwundert eine Augenbraue hoch. »Wir sollten dich Ellies offizielles Porträt für die Ahnengalerie malen lassen«, sagte er, und ein feines Lächeln umspielte seine Lippen.

Lottie schlug die Augen nieder. Sie genierte sich ein wenig. Sie liebte es, Sachen zu dekorieren und zu basteln, aber es war eine halbe Ewigkeit her, seit sie zuletzt etwas gemalt hatte. Ihre Stiefmutter Beady hatte ihr die Lust daran verdorben, weil sie immer über die Farbtuben gemeckert hatte, die Lottie überall herumliegen ließ. Also hatte sie ihre Farben und Pinsel schließlich schweren Herzens weggeräumt, um nicht noch mehr Streit zu provozieren.

»Du kannst wirklich stolz auf dich sein, Lottie«, sagte Jamie. »Ellies Eltern werden begeistert sein.« Lottie sah ihm direkt in die Augen. Er meinte es ernst. In diesem Moment erinnerte sie sich wieder daran, wie er Saskia während des Sommerballs niedergerungen hatte. Da war er kalt und gnadenlos gewesen. Lottie musste genauso stark und unerbittlich werden wie er, um ihrer Verantwortung für Ellie gerecht zu werden. Das bedeutete aber auch, dass sie dieses merkwürdige Gefühl bezwingen musste, das langsam die Oberhand über sie gewann.

»Ich freue mich, dass es dir gefällt, Ellie, aber …« Lottie starrte den Anhänger in ihrer Handfläche an und rieb mit dem Daumen über die eingravierte Wolfsfigur. »Es gibt da etwas, das ich mit dir besprechen möchte …«

Doch wieder wurde Lottie unterbrochen, bevor sie die entscheidenden Worte sagen konnte.

»Ist das auch für Ellie?«, fragte Jamie, der ein weiteres Geschenk entdeckt hatte. Offensichtlich sorgte er sich, es könne sich um einen gefährlichen Gegenstand handeln.

»Das ist für dich«, sagte Lottie und strich sich nervös eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich dachte, es wäre traurig, wenn wir beide Geschenke bekommen und du nicht. Es ist nur eine Kleinigkeit.«

Der Argwohn verschwand nicht restlos aus Jamies Gesicht. Er starrte die Schachtel in seiner Hand an, als hätte er keinen blassen Schimmer, was er nun damit anstellen sollte. Hatte er denn noch nie ein Geschenk bekommen?

Schließlich sagte er einfach »okay« und stellte sie beiseite, ohne auch nur den Anschein zu machen, sie irgendwann öffnen zu wollen. »Also, was wolltest du gerade sagen?«

Lottie blinzelte. Sie wusste nicht, was sie von dieser merkwürdigen Reaktion halten sollte. Manchmal benahm Jamie sich so unglaublich seltsam, dass sie glaubte, sie würde ihn nie verstehen. Ihr blieb nur zu hoffen, dass er das Geschenk irgendwann öffnen und sich darüber freuen würde.

Nun starrten beide Lottie an, die nicht recht wusste, wie sie es sagen sollte. Ihre Angst vor den möglichen Konsequenzen war einfach zu groß.

»Also, wo drückt der Schuh?«, fragte Ellie mitfühlend, stellte das Bild vorsichtig ab und machte einen Schritt auf sie zu. Seit dem Entführungsversuch hatten sowohl Jamie als auch Ellie sie nicht mehr aus den Augen gelassen. Sie glaubten, dass Lottie immer noch völlig durcheinander war – und genau deshalb musste sie die Sache so schnell wie möglich aus der Welt schaffen.

Lottie holte tief Luft. »Es ist nur … Erinnerst du dich an das Versprechen, das du mir vor dem Sommerball gegeben hast?« Ellie schielte zu Jamie. »Wir haben abgemacht, dass ich die Sache meinem Freund Ollie verraten dürfte.« Lottie war selbst überrascht, wie gefasst sie sprach.

»Nein«, war Jamies knappe Antwort. Ellie warf ihm einen bösen Blick zu.

Dann wandte sie sich an Lottie. »Ich erinnere mich daran«, sagte sie beschwichtigend. »Willst du das immer noch durchziehen?«

»Es ist egal, ob sie es will oder nicht. Du hättest ihr dieses Versprechen niemals geben dürfen.«

Ellie starrte Jamie entsetzt an. Lottie fühlte einen heftigen Streit aufziehen. Nicht heute. Nicht an Ellies Geburtstag. Wieder schaute sie auf den Anhänger. Sie war nicht bereit, ihn zu tragen, solange sie sich nicht ganz sicher war. Sie musste es Ollie sagen, bevor sie zurück nach Rosewood gingen. Sie musste einfach.

»Es ist nicht so, dass ich es ihm unbedingt erzählen will. Ich habe keine andere Wahl«, sagte sie leise. »Versteht ihr das denn nicht? Er ist der Einzige aus meinem früheren Leben, der mir geblieben ist.« Ihre Stimme brach, und ihre Freunde starrten sie an. »Er ist die einzige Verbindung zu meiner Familie, die ich noch habe.«

»Das verstehe ich«, erwiderte Jamie. »Aber es gibt auch Regeln, Lottie. Leviathan stellt eine zu große Gefahr dar, wir dürfen keinerlei Risiken eingehen.« Leviathan schien es besonders auf die königliche Familie abgesehen zu haben – deshalb auch der Entführungsversuch von Saskia. So etwas durfte nie wieder geschehen.

Trotzdem war Lottie entschlossen. Irgendwie musste sie Jamie überzeugen. Ja, sie wollte so schnell wie möglich nach Rosewood zurückkehren und endlich das Leviathan-Problem aus der Welt schaffen, aber sie konnte nicht zurück an die Schule, bevor sie nicht Kontakt zu ihrem alten Leben aufgenommen hatte. Mit einem Menschen aus diesem alten Leben. Mit Ollie.

»Er würde es auch allein herausfinden, selbst wenn wir es ihm nicht sagen.« Lottie sah Jamie ernst an. Sie wusste, das war der einzige Weg, um ihn umzustimmen, und wahrscheinlich stimmte es sogar. Lottie hatte so lange diese Last mit sich herumgetragen. »Wenn ich es ihm selbst erzähle und ihn schwören lasse, dass er alles für sich behält, wird das Risiko sogar geringer sein.«

Jamie rieb sich mit dem Zeigefinger über die Nasenwurzel. »Das ist eine ganz schlechte Idee.«

Das war immerhin kein Nein.

Ellie grinste Lottie an. Sie hatten gewonnen.

»Wollten wir auf dem Weg nach Rosewood nicht sowieso in deiner Heimatstadt vorbeifahren? Damit du deine Sachen holen kannst?« Ellie umschloss Lotties Anhänger mit der Hand. »Bei der Gelegenheit kannst du Ollie einweihen. Dann schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe.« Jamie grummelte vor sich hin, protestierte aber nicht mehr. »Jamie, mach dich locker. Sieh es einfach als dein Geburtstagsgeschenk an uns.« Ellies Augen blitzten.

Sie öffnete den Verschluss der Kette, trat hinter Lottie und legte sie ihr um. »Passt perfekt.«

Lottie spürte das kühle Metall auf der Haut. Der Wolf ruhte nun unmittelbar über ihrem Herzen. Sie tastete nach der Kette und ließ die Finger über die silbernen Glieder gleiten. Jetzt gehörte sie wirklich zur Familie. Wie würde wohl das nächste Jahr in Rosewood werden?

4

Am nächsten Morgen – es war der Tag ihrer Abreise nach England – erwachte Lottie mit dem unangenehmen Gefühl, beobachtet zu werden. Das Gefühl war unterschwellig, aber nicht von der Hand zu weisen. Sie spürte den starren Blick eines Beobachters, als würde ein Geist ihr in den Nacken pusten. Sie schlug die Augen auf und erwartete fast, ihre eigene Statue vor sich zu sehen. Stattdessen fiel ihr Blick auf die rosaviolette Schachtel, die geöffnet auf einem Spitzendeckchen auf ihrem Nachttisch stand. Darin lag ihre halbmondförmige Krone, die im Licht des heranbrechenden Morgens in allen Farben des Regenbogens glitzerte.

Sie zog die pfirsichfarbene Bettdecke bis ans Kinn und kuschelte sich hinein wie in einen schützenden Kokon. Die Betten hier im Palast waren einfach zu gemütlich, es war, als würde sie sich jeden Abend aufs Neue in ein Bad voll flaumiger Federn sinken lassen. Nie hätte sie sich vorstellen können, dass sie sich einmal an diese Art Luxus gewöhnen würde. Doch so kuschelig das Bett auch war, heute durfte sie nicht wieder den ganzen Morgen darin verbummeln. Heute wollten sie zurück nach England fahren. Sie musste bis zur Abreise noch so viel organisieren, außerdem hatte der König sie zu einer Privataudienz einbestellt.

Ihre Kleider waren bereits gewaschen, gebügelt und zusammen mit ihren übrigen Sachen sicher verstaut worden. Kein Vergleich zu der Aufregung, die sie vor einem Jahr verspürt hatte, als sie zum ersten Mal ihre Koffer für Rosewood gepackt hatte.

Der Bücherstapel neben dem rosafarbenen Bücherregal erinnerte sie an das Geschenk, das sie Jamie überreicht hatte. Ob er es wohl schon ausgepackt hatte? Sie hoffte, es würde ihn an seine Familie erinnern, damit er sich nicht so allein fühlte. Das war etwas, das sie auch für sich selbst wünschte.

Lottie schnappte sich den halben Cupcake, der auf einem goldenen Teller auf ihrem Schreibtisch noch von der gestrigen Geburtstagsfeier auf sie wartete. Die süße Kruste hinterließ einen Klecks Zuckerguss in ihrem Mundwinkel, den sie erst bemerkte, als sie an dem riesigen Spiegel vorbeiging. Sie stand kurz da und musterte die Person in dem edlen Nachthemd im Spiegel. Ihr Gesicht und Bauch waren etwas runder geworden, ihre Haare länger. Sie wischte den Zuckerguss weg und leckte sich den Finger. Dann rekapitulierte sie die letzten Wochen.

Lottie und Ellie hatten den Sommer über in Maradova so richtig im Luxus geschwelgt. Faule Vormittage voller Gelächter, endlose sonnige Nachmittage, in denen sie mit Zuckerguss überzogene Köstlichkeiten in sich hineingestopft und Unmengen Tee getrunken hatten, abgerundet durch lange Abende bei einem spannenden Buch oder vor dem Fernseher. In diesem Sommer hatten sie wirklich alles miteinander geteilt, sich gegenseitig alle Lieblingsfilme gezeigt und alle Lieblingssongs vorgespielt. Es war so schön gewesen, dass Lottie fast an die perfekte Idylle geglaubt hätte. Wäre da nicht das nervöse Zucken von Jamies Oberlippe gewesen und das Wummern von Saskias Herz, das aus dem Verlies bis zu ihnen hinaufzudringen schien.

Warum um alles in der Welt wollte der König sie allein sprechen?

Lottie zog ein paar Kleidungsstücke an, die komfortabel genug für die lange Reise waren, aber auch dem Anlass entsprachen, dann machte sie sich auf den Weg ins Erdgeschoss. Es war gar nicht so leicht, auf dem spiegelglatten Marmorboden zu gehen, und Lottie musste sich zusammenreißen, um nicht wie ein Kind mit Anlauf über den Boden zu schlittern, obwohl sie selbst Hanna und Midori ein paarmal dabei erwischt hatte.

Lottie war überrascht, dass der König sie bereits in der großen Gemäldegalerie erwartete. Er trug einen goldenen Umhang, der bis zum Boden reichte. Der König war ein großgewachsener, sehniger Mann mit umbrabraunem Haar. Seine ständig zusammengezogenen Augenbrauen führte Lottie darauf zurück, dass er als Kind viel gelesen haben musste. Es fiel ihr schwer, Ähnlichkeiten zwischen ihm und Ellie auszumachen: Wo sie flatterhaft war, war er reserviert, wo sie hektisch war, wirkte er gesetzt, ja, sogar auffallend steif. Manchmal jedoch blitzten seine Augen. Es war etwas Wildes darin – ein lauernder Wolf, der nur darauf wartete, zuzuschnappen.

»Wir können das Motiv, in dem wir uns malen lassen, vollkommen frei wählen. Und fast alle Mitglieder meiner Familie haben sich dafür entschieden, sich für ihr Porträt auf den Thron zu setzen und gelangweilt dreinzuschauen.« Der König hatte diese Sätze ganz unvermittelt ausgesprochen, ohne Lottie auch nur zu grüßen. Er wies auf die Gemälde an der Wand. Versuchte er etwa, witzig zu sein? Doch Lottie wurde von den Bildern zu sehr abgelenkt, um den unterschwelligen Humor zu würdigen. Die Galerie war ihr liebster Ort im gesamten Palast. Sie konnte sich stundenlang in den Details der Gemälde verlieren, in ihrem feinen Farbenspiel und den Symbolen im Hintergrund. Alle vormaligen Herrscher von Maradova waren in einer schier unendlich weit zurückreichenden Folge abgebildet. Hunderte Augenpaare starrten aus ihren goldenen Rahmen auf sie nieder.

»Es sind so viele«, flüsterte Lottie. Ein eigenartiges Gefühl überkam sie beim Anblick all dieser Menschen. »Es muss toll sein, eine so starke Verbindung zu seinen Vorfahren zu haben.«

Der König wandte sich ihr mit verschränkten Armen zu und musterte sie. Ein dicker Kloß bildete sich in Lotties Hals. Hatte sie gerade etwas Dummes gesagt?

»Es ist eine viele Jahrhunderte zurückreichende ununterbrochene Kette«, antwortete er stolz. Doch während er auf das vorletzte Bild in der Reihe blickte, trat plötzlich etwas anderes in seine Augen. Etwas Dunkles. »Fast«, fügte er hinzu. Ein Paar smaragdgrüne Augen starrte sie aus dem Gemälde an, dessen schlichter schwarzer Rahmen es von den anderen unterschied. Das Haar des Mannes auf dem Bild war etwas dunkler als bei den übrigen Wolfsons und fiel ihm bis auf die Schultern. Seine Wimpern waren sehr lang und gaben ihm, zusammen mit seinem schelmischen Lächeln, etwas Verwegenes. Es gab nur eine andere Wolfson, die Ähnlichkeit mit ihm aufwies: Eleanor Wolfson.

»Das ist mein Bruder, Claude Wolfson. Odin pravila volk haka olen pak ranit.« Der König sprach den alten maradovischen Dialekt fließend. Lottie erinnerte sich an den Spruch. Es war ein von der Wolfson-Familie oft zitiertes Sprichwort, dessen Sinn Jamie ihr einmal erklärt hatte.

Ein schlechter Wolf kann das ganze Rudel ins Verderben stürzen.

Lottie wusste nur wenig über Ellies Onkel Claude. Sein Name fiel äußerst selten in ihren Gesprächen. Er existierte nur als vage Warnung davor, was mit demjenigen passierte, der seine königlichen Pflichten vernachlässigte. Sie wusste nur deshalb von seiner Existenz, weil sein Name einmal beim Prinzessinnenunterricht mit Jamie gefallen war und weil sein Porträt hier an der Wand hing. Das Gemälde war ursprünglich als Krönungsgeschenk gedacht gewesen.

»Mein Bruder wurde aus einem einzigen Grund in unsere Ahnenreihe aufgenommen – um uns eine Warnung zu sein.« Der König wies auf das Gemälde, und sein goldener Umhang, der jede Geste zusätzlich unterstrich, schimmerte dabei wie flüssige Seide. Als er sich wieder zu ihr umdrehte, sah sie die tiefen Falten in seinem Gesicht, die sich nach jahrelangem Stirnrunzeln dort eingegraben hatten. »Verrat an der Familie ist unentschuldbar. Verstehst du, was ich damit sagen will?«

Lottie antwortete mit einem ernsten Nicken. Sie wusste sehr wohl, warum über Claude nicht gesprochen wurde. Er war vor seiner Verantwortung als Thronfolger geflohen und so zum schwarzen Schaf der Familie Wolfson geworden. Sie bemühte sich, Ruhe zu bewahren und dem durchdringenden Blick König Alexanders standzuhalten. Dann versuchte sie, sich Ellie in diesem goldenen Umhang vorzustellen, und fühlte sich töricht. Was waren ihre eigenen familiären Probleme schon verglichen mit denen von Ellie?

Wie mochte es sein, den ständigen Druck der königlichen Pflichten auf sich lasten zu fühlen, wann immer sie einen Fuß vor die Tür setzte? Sie wandte sich wieder den leuchtend grünen Augen des Verräters zu, und das Bild verschwamm, bis sie Ellies schiefes Grinsen zu erkennen glaubte. Versunken starrte sie den abtrünnigen Wolf der maradovischen Königsfamilie an, als sich plötzlich eine Stimme in ihrem Rücken meldete.

»Ihr habt mich rufen lassen?«

Beinahe hätte Lottie laut aufgeschrien. Für einen Moment dachte sie, es wäre Claude, der sich hinter ihr materialisiert hatte. Doch es war nur Jamie, der so sauertöpfisch dreinblickte wie eh und je. Er musterte sie kurz, zeigte jedoch keine Regung. Als sie ihn sah, sprang sie sofort wieder die Frage an, wie er ihr Geschenk wohl aufgenommen hatte.

»Ah, Jamie.« Der König gab ihm ein Zeichen, näher zu treten und sich neben Lottie zu stellen. Verglichen mit dem Mann im goldenen Umhang wirkten die beiden mit einem Mal sehr klein. »Hat Nikolai schon mit dir gesprochen?« In den Worten des Königs schwang eine zweite Botschaft mit, die Lottie nicht recht verstand, doch keiner der beiden machte Anstalten, sie einzuweihen.

»Hat er«, lautete Jamies knappe Antwort. Nicht ein Muskel in seinem Gesicht regte sich. Nikolai, der Partist des Königs, war ein gewaltiger, muskelbepackter Mann, vor dem Lottie sich ein bisschen fürchtete. Er trainierte Jamie schon seit seiner Kindheit und war für ihn, soweit Lottie das ausmachen konnte, so etwas wie eine Vaterfigur.

»Gut.« In der Galerie wurde es plötzlich kühl. Das Sonnenlicht verschwand hinter einer Wolkendecke. Der glänzende Marmorfußboden wirkte nun grau und verwaschen, die Schatten ließen die kantigen Gesichtszüge des Königs noch stärker hervortreten.

»Zu Beginn des Sommers habt ihr beide eine echte Katastrophe bravourös verhindert«, sagte er, und seine Stimme hallte durch den Flur. »Lottie, du hast dich als vorbildliche Porterin erwiesen und die Bürde auf dich genommen, jegliche Eleanor drohende Gefahr auf dich zu nehmen.« Lottie musste mit aller Kraft die Bilder verscheuchen, die bei der Erwähnung dieser schrecklichen Nacht in ihr hochkamen.

Mir geht’s gut, mir geht’s gut, mir geht’s gut, sagte sie sich selbst immer wieder vor und versuchte verzweifelt, sich auf die Stimme des Königs zu konzentrieren.

»Und du, Jamie, hast sowohl die Prinzessin als auch ihre Porterin vorbildlich beschützt.«

Lottie atmete einmal tief aus und verscheuchte die Furcht aus ihrem Herzen. Leviathan durfte nicht siegen.

»Wir, die maradovische Königsfamilie, dürfen keine Schwäche zeigen, schon gar nicht jetzt, da ein unbekannter Feind uns ins Visier genommen hat. Ich möchte, dass ihr beide dieses Jahr besonders vorsichtig seid. Kein Detail darf uns entgehen.«

Lottie blickte dem von goldenem Stoff umspielten König blinzelnd in die Augen. Sie war sich nicht sicher, was genau er damit meinte.

König Alexander ließ seinen Blick zwischen ihnen hin- und herwandern, dann wendete er sich an Lottie.

»Lottie Pumpkin« – er artikulierte ihren Namen, als hinterließe er einen komischen Geschmack auf seiner Zunge –, »meine Tochter ist dir allem Anschein nach sehr zugetan.« Sein Tonfall war vollkommen sachlich.

»Äh, ja«, antwortete Lottie, die sich nicht sicher war, was nun von ihr erwartet wurde.

»Wie ihr beide wisst, hat Eleanors Wohlergehen oberste Priorität«, setzte er wieder an, wobei er den Blick unverwandt auf Lottie gerichtet hielt, »aber es mag eine Zeit kommen, in der ihr Eleanor sich selbst überlassen müsst, um ihr so umso besser zu dienen. Ich zähle darauf, dass ihr den Moment erkennen werdet, wenn es so weit ist.«

Lottie antwortete nicht. Sie hatte keinen blassen Schimmer, was er damit meinte.

»Habt ihr verstanden?«

»Ja, Eure Majestät«, antwortete Jamie, ohne zu zögern.

»Ja, Majestät«, fügte Lottie hastig hinzu, obwohl sie lügen musste und sicher war, dass Jamie es genau registrierte.

Der König musterte sie eingehend, und Lottie hatte das Gefühl, dass er am liebsten direkt in ihren Kopf geblickt hätte. Was er dort allerdings zu finden hoffte, war ihr ein Rätsel. Schließlich wandte er den Blick ab, und sie spürte, wie ihre Schultern sich wieder entspannten. Ihr war vorher gar nicht aufgefallen, wie verkrampft sie die ganze Zeit über gewesen waren.

»Hervorragend. Ihr könnt jetzt gehen. Viel Glück.«

Und das war’s.

Lottie war völlig verdattert, als der König sich einfach umdrehte und ging. Sein flatternder goldener Umhang glänzte und glitzerte im nun wieder strahlend hereinfallenden Sonnenlicht.

Seid wachsam? Überlasst Ellie sich selbst, um ihr besser zu dienen? Was sollte das alles bedeuten?

Jamie atmete tief aus. Er musste die ganze Zeit über die Luft angehalten haben. »Das war das erste Mal, dass ich dich diesen Satz habe sagen hören.«

Lottie sah mit Verwunderung die Andeutung eines Lächelns auf seinen Lippen. »Welchen Satz?«

»Ja, Majestät.« Jamie zeichnete mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft, doch es war keine Ironie in seiner Stimme. »Hat es sich komisch angefühlt?«

»Ein bisschen«, gab sie zu. Sie schaute beschämt zu Boden. Hatte sie sich dumm benommen? Als sie wieder aufblickte, wirkte Jamie nachdenklich. Sie konnte fühlen, dass es etwas gab, das er ihr sagen wollte. »Jamie«, begann sie schnell, um ihm zuvorzukommen, »hat dir mein Geschenk gefallen?«

Sofort verwandelte sein Gesicht sich wieder in die ausdruckslose Maske, und Lottie wurde schlagartig nervös.

»Ich weiß, wie es sich anfühlt, keine Verbindung zur eigenen Familie zu haben, und hatte gehofft, dass du dich darüber freuen würdest. Vielleicht kannst du ja etwas daraus lernen …«

Ein unerwartet raues Lachen brach aus Jamie hervor. Ein Lachen ohne jede Freude.

»Ich habe es weggeworfen«, sagte er. Er sagte es ungerührt, als sei es selbstverständlich, ein Geschenk wie einen verrotteten Apfel einfach in den Mülleimer zu schmeißen.

»Du hast … was?« Lottie fragte sich, ob das ein Witz sein sollte. Dann erinnerte sie sich, dass Jamie gar nicht dazu in der Lage war, Witze zu machen. »Warum hast du das getan?«

Lottie war völlig verwirrt. Jamie schien nicht einmal verärgert zu sein. Er tat so, als wäre sein Verhalten völlig normal. Als sie sich beim Aussuchen des Geschenks seine Reaktion ausgemalt hatte, hätte sie sich jedenfalls nicht träumen lassen, dass sie so ausfallen würde.

»Wir dürfen uns nicht von solchen Dingen ablenken lassen, Lottie«, sagte er und wandte sich zum Gehen. »Du hast doch gehört, was der König gesagt hat: Ellies Sicherheit ist unsere oberste Priorität.«

»Ich weiß, aber …«

»Ich weiß, dass du dir nichts dabei gedacht hast, Lottie.«

Sie wollte ihn unterbrechen und ihm erklären, wie verletzend es war, einfach ein Geschenk wegzuwerfen, als der freundliche Ausdruck auf seinem Gesicht plötzlich erlosch. Ein Schleier schien sich über seine Augen zu legen, als sein kalter Blick sie taxierte. »Tu so etwas nie wieder.«

Und dann, ganz plötzlich, wurde er wieder ruhig und undurchdringlich – so ruhig, dass sie sich schon fragte, ob sie dieses Aufblitzen von Feindseligkeit nur geträumt hatte.

Sie hätte ihm noch eine Million Dinge sagen wollen, schluckte sie aber hinunter, um nicht noch mehr Ärger zu machen.

»Okay.« Ihre Stimme war nur noch ein verwirrtes Quietschen. Es hörte sich mehr nach einer Frage an als beabsichtigt.

Warum, um Himmels willen, machte er wegen eines Geschenks so einen Aufstand?

5

Noch am selben Morgen flogen sie im Privatjet der Wolfsons nach England. Mittlerweile war Lottie öfter in einem Privatjet geflogen als in einem normalen Linienflugzeug. Sie war verwundert, wie schnell es ihr zur Gewohnheit geworden war, die kurze Treppe in den Jet hinaufzusteigen.

»Ich halte es nach wie vor für eine schlechte Idee«, brummte Jamie, als sie nach der Landung in den schwarzen BMW umstiegen. Mit seinen fünfzehn Jahren durfte er in Maradova noch nicht fahren, für England hatte er aber soeben seine Fahrerlaubnis erhalten, was ihren Alltag wesentlich einfacher machen würde.

Sie fuhren über die schmale und kurvige, von alten gemauerten Bauernhäusern gesäumte Landstraße nach St. Ives. Lottie würde Ollie endlich die Wahrheit sagen. Die Wahrheit darüber, warum sie nicht mehr nach Hause kommen würde. Aber vorher mussten sie noch Lotties Sachen aus ihrem alten Zuhause abholen.

Das Erste, was Lottie wahrnahm, als sie aus dem Auto stieg, war der salzige Meeresgeruch. In der Ferne hörte sie die Brandung über den Strand rollen. Erinnerungen an ihre Kindheit und an ihre Mutter kamen wieder hoch.

Sie war zu Hause.

Aber es fühlte sich nicht mehr wie ihr Zuhause an. Die Straßen erschienen ihr enger, das Kopfsteinpflaster unter ihren Füßen schroffer. Die Farben wirkten ausgeblichen, als existierten sie schon jetzt nur noch in der Erinnerung. Seit sie von hier fortgegangen war, war einfach zu viel passiert. Sie spürte, dass dieses kleine Städtchen für sie nie mehr dasselbe sein würde. Das versetzte ihr einen Stich. Rosewood, Leviathan, Porter und Partisten … Als sie noch hier gewohnt hatte, waren das nur Phantasien gewesen. Jetzt waren diese Träumereien ihre neue Realität.