Prinzessin undercover – Hoffnungen - Connie Glynn - E-Book

Prinzessin undercover – Hoffnungen E-Book

Connie Glynn

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das vierte royale Abenteuer der »Prinzessin undercover« von Connie Glynn – spannend, romantisch und geheimnisvoll Mehr als zwei Jahre sind vergangen, seit Lottie auf das exklusive Internat Rosewood Hall gekommen ist und die Rolle der Prinzessin von Maradova eingenommen hat, um die echte Prinzessin Ellie zu schützen. Schon mehrfach sind Lottie und Ellie den Anschlagsversuchen der Geheimorganisation Leviathan nur knapp entkommen, und Lottie wird allmählich klar: Es muss eine gefährliche Verbindung zwischen Leviathan und der Königsfamilie geben. Welche Rolle spielt ihr Bodyguard Jamie in Wirklichkeit? Und welches Geheimnis verbirgt Ellies Vater, der König? Lottie und Ellie können nur hoffen, dass die Enthüllungen ihre Freundschaft nicht zerstören ... Alle Bände der Serie »Prinzessin undercover«: Band 1: Geheimnisse Band 2: Enthüllungen Band 3: Entscheidungen Band 4: Hoffnungen Band 5: Versprechen (erscheint im Sommer 2022)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 415

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Connie Glynn

Prinzessin undercover

HOFFNUNGENBand 4

Aus dem Englischen von Maren Illinger und Marlene Frucht

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung] Prolog Erster Teil: Der Nachtmahr 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 Zweiter Teil: Der Kuss 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 Dritter Teil: Die Wahrheit steigt aus dem Brunnen 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 Nachwort

Dieses Buch ist allen Lieferdienstfahrern gewidmet, die mir während des Covid-19-Lockdowns Essen gebracht haben.

Prolog

Die Menschen am Meer wissen genau, wie die Luft kurz vor einem Sommerunwetter riecht. Wenn das Wasser sich bei Ebbe zurückzieht, stößt das Meer einen salzgetränkten Seufzer aus, der den Geruch baldigen Regens aufwirbelt.

Als Ollie klein war, hatten Gewitter und Sturm ihm immer Angst gemacht. Erst seine beste Freundin Lottie machte ihm klar, dass er sich ohne Grund fürchtete. Wieder und wieder erzählte sie ihm das Märchen von der Kleinen Meerjungfrau, deren Abenteuer mit einem mächtigen Sturm beginnt, der mit solcher Kraft über das Meer tost, dass ein Schiff darin versinkt. Den Schluss der Geschichte hatte Lottie Ollie allerdings verschwiegen, denn am Ende bleibt von der Kleinen Meerjungfrau nichts als ein Häufchen Schaum auf den Wellen zurück.

Aber natürlich kam Ollie irgendwann dahinter, und seitdem trug er die Angst immer bei sich wie eine alte Narbe. Selbst jetzt noch, mit sechzehn, jagte ihm jedes entfernte Donnergrollen einen Schauer über den Rücken. Lottie dagegen liebte Gewitter, denn in ihren Augen war jedes Unwetter ein Neubeginn. Schließlich löste sich nach jedem Sturm – ganz egal, wie heftig Wind und Regen auch wüteten und wie laut der Donner brüllte – die Spannung, und die Welt ging ein ums andere Mal erfrischt und abgekühlt daraus hervor.

Für Ollie aber bedeutete Gewitter immer Ärger.

Der Sommer war im Handumdrehen herumgegangen. Nun fing für Ollie die Schule wieder an, und am Horizont braute sich ein Sturm zusammen. Es war mittlerweile so schwül geworden, dass der große Knall unausweichlich bevorstand. Die Shirts klebten an seiner verschwitzten Haut, und er konnte noch so oft duschen, das klebrige Gefühl an den Händen wurde er nicht los. Seiner Mutter, Manuela Moreno, schien die Wärme dagegen nichts auszumachen, obwohl die Luft in ihrem Atelier an eine Sauna erinnerte und es darin genauso stickig war wie in der kleinen Küche, wo sie wie immer unbeirrt ihr scharf gewürztes Essen zubereitete. Deswegen fand Ollie den Gedanken daran, nun wieder zur Schule zu müssen, gar nicht so übel – wenigstens konnte er so dieser unerträglichen Hitze entfliehen.

Er brauchte dringend etwas Abwechslung.

»Ollie?«, schallte die Stimme seiner Mutter durch seine Zimmertür. »Beeil dich, sonst hast du keine Zeit mehr zum Frühstücken. Und ich lasse dich an deinem ersten Schultag nach den Ferien doch nicht mit leerem Magen aus dem Haus gehen.«

»Komme schon, Mama!«

Gerade als Ollie die Hand nach seinem Rucksack ausstreckte, erhellte ein weiterer greller Blitz die blau gestrichenen Wände seines Zimmers und ließ ihn zusammenzucken.

Der Sommer war ziemlich ereignisreich gewesen, und Binah hatte Ollie stets über die neuesten Entwicklungen auf dem Laufenden gehalten. Seit Lottie, Ollies beste Freundin aus Kindheitstagen, auf eine neue Schule gewechselt war – das altehrwürdige und geheimnisvolle Internat Rosewood Hall –, war seine kleine, gemütliche Welt auf den Kopf gestellt worden. Lottie hatte Ollie nicht nach seiner Meinung gefragt, bevor sie sich entschlossen hatte, für die Königsfamilie von Maradova als Porterin zu arbeiten und sich als Prinzessin Eleanor Wolfson auszugeben. Indem Lottie diese Aufgabe übernahm, ermöglichte sie es der echten Prinzessin, ein normales Leben zu führen. Seit Ollie die echte Prinzessin kennengelernt hatte, war ihm auch klar, warum sie lieber undercover blieb. Ellie Wolf – so nannte sie sich – war ein Gewittersturm in Menschengestalt. Wer sie zum ersten Mal sah, würde als Allerletztes darauf kommen, dass er es mit einer Prinzessin zu tun hatte. Ihre Haupterkennungszeichen waren der düstere Blick und ihr meist mürrischer Gesichtsausdruck. Dazu ihr selbstgewisses Auftreten und dieses schleppende, herablassende Lachen. Sie war genauso wie die Unwetter, vor denen er sich als Kind so sehr gefürchtet hatte – genau die Art von Stürmen, die Lottie so liebte.

So viel zur Prinzessin selbst.

Noch schlimmer war ihr Partist, Jamie, der Bodyguard, der so aussah, als hätte er noch nie in seinem Leben gelächelt. Ollie sah ihn immer noch vor sich, wie er in der Küche am Türrahmen gelehnt hatte, reglos und abwartend wie der Tod, und nicht weniger unheilverkündend.

Zuerst war Lottie in diese Welt voller königlicher Intrigen und feindseliger Geheimgesellschaften gestoßen worden, dann war Ollie ebenfalls dort hineingeraten, als er und die anderen sich zusammengetan hatten, um die Identität des Meisters von Leviathan aufzudecken, einer gefährlichen Geheimorganisation, deren einziges Ziel es war, die maradovische Königsfamilie zu vernichten.

Ollie saß, tief in seine Gedanken versunken, am Küchentisch und schaufelte einen Pfannkuchen nach dem anderen in sich hinein wie eine seelenlose Maschine. Er hätte nicht einmal sagen können, ob sie nach Ahornsirup schmeckten oder nicht. Als er einen großen Bissen zu hastig hinunterschluckte, blieb er ihm im Hals stecken. Panisch rieb er über seine Brust.

»Das Kauen nicht vergessen, Ollie«, schimpfte seine Mutter und verstaute eine Trinkflasche mit Wasser in seinem Rucksack.

Er nickte abwesend, in Gedanken immer noch bei vergangenem Sommer und den schrecklichen Geheimnissen, die an die Oberfläche gekommen waren.

Zusammen mit einer kleinen Gruppe von Rosewood-Schülern war er im Laufe des Sommers in Rosewood Hall eingebrochen. Sie hatten sich heimlich auf das von Mauern umgebene Schulgelände geschlichen, um ein uraltes Tagebuch an sich zu bringen, das dem Schulgründer gehört hatte. Aus diesem Buch hatte Ollie erfahren, dass es sich dabei in Wirklichkeit um eine Schulgründerin gehandelt hatte: eine lange verschollen geglaubte osmanische Prinzessin namens Liliana Mayfutt – und Lotties Vorfahrin.

So hatte Lottie also erfahren, dass sie von königlichem Geblüt abstammte – aber das war noch nicht alles gewesen. Danach hatten sie noch ein weiteres Rätsel gelöst, bei dem es sich um ein Paar Zwillingsschwerter handelte, von denen eines in Rosewood und das andere in der japanischen Partnerschule Takeshin vergraben gelegen hatte. Mit diesen beiden Schwertern wiederum hatte es seine ganz eigene Bewandtnis – sie waren der Beweis dafür, dass es eine uralte Verbindung zwischen den Gründerinnen der beiden Schulen gab, die bis ins siebzehnte Jahrhundert zurückreichte, als die aus dem Palast geflohene Liliana sich eine Zeitlang in Japan versteckt gehalten hatte. Später hatte sie dann in England ihre eigene Schule gegründet.

Das letzte Geheimnis allerdings war bei weitem das pikanteste gewesen – und gleichzeitig die schrecklichste Entdeckung, von der Ollie je in seinem Leben erfahren hatte. Mit der Hilfe von einigen Takeshin-Schülern hatten er und seine Freunde herausgefunden, dass Leviathan – die rätselhafte Vereinigung, die es auf seine beste Freundin abgesehen hatte, seit sie ihr neues Leben begonnen hatte – von Claude Wolfson angeführt wurde, Ellies Onkel. Wolfson hatte den Thron ausgeschlagen. Später war er dann aus Maradova verbannt worden, und sein jüngerer Bruder Alexander war gezwungen, in die Rolle des Königs zu schlüpfen. Keiner wusste, was Claude eigentlich im Schilde führte, aber eines wusste Ollie mit absoluter Gewissheit – nämlich, dass Lottie hoffnungslos in diese Intrige verstrickt war, und er konnte nichts tun, um sie daraus zu befreien. Jedenfalls noch nicht.

Er zwang sich, aus seinen Gedanken aufzutauchen. »Ich mache mich dann mal auf den Weg, bevor es zu regnen anfängt.« Er gab seiner Mutter einen Kuss auf die Wange, schnappte sich seinen Rucksack und einen letzten Pfannkuchen und verließ das Haus.

In dem Moment fuhr ein vertrauter roter Lieferwagen vor.

»Guten Morgen, Ollie. Gut, dass ich dich treffe.«

Ollie begrüßte den Postboten mit einem Lächeln. »Guten Morgen, Mr. Harris.«

»Ich habe eine Karte für die Pumpkins dabei«, sagte der Postbote und machte ein freundliches Gesicht, bei dem seine braungebrannten Wangen ganz rund wurden. »Es war schon lange niemand mehr im Haus, deswegen dachte ich, ich bringe sie zu dir. Du warst doch immer ziemlich gut mit dieser Lottie befreundet.«

Drohendes Donnergrummeln ertönte. Als Ollie das hörte, beschlich ihn eine düstere Vorahnung. Das vergangene Jahr hatte wieder einmal gezeigt, dass seine Freundin Lottie Ärger offenbar magisch anzog – so wie sie wiederum von Gewittern und Stürmen magisch angezogen wurde. Sofort schossen ihm unzählige schreckliche Möglichkeiten durch den Kopf: Vielleicht waren Journalisten hinter ihre Porterinnen-Identität gekommen, oder es gab eine neue Drohung von Leviathan, oder ihre Stiefmutter meldete sich und kündigte ihre baldige Heimkehr an. Schwer zu sagen, was davon schlimmer war.

Mr. Harris brachte eine Postkarte zum Vorschein, auf der ein weißer Sandstrand abgebildet war. In zitronengelber Schrift stand darauf: Havanna. Sofort meinte Ollie schnuppern zu können, dass von der Karte ein Geruch nach Rum und billigem Aftershave aufstieg. Nur einer einzigen Person war es zuzutrauen, solch eine Postkarte zu verschicken. Das Bild, das diese Karte heraufbeschwor, war noch viel, viel schlimmer als all die Möglichkeiten, die er bereits erwogen hatte.

Er nahm die Postkarte entgegen und versuchte, so ruhig wie möglich zu bleiben. »Danke. Ich sorge dafür, dass sie die bekommt.«

»Grüß bitte deine Mutter von mir, Ollie«, erwiderte Mr. Harris und kehrte zu seinem Lieferwagen zurück.

Die Welt fing an, sich immer schneller zu drehen. Ollie wusste, dass er die Postkarte besser nicht umdrehen und lesen sollte. Es konnte sich nur um schlechte Nachrichten handeln. Andererseits musste Lottie doch wissen, was auf sie zukam, oder nicht? Ollie schluckte schwer und drehte sie herum. Anscheinend hatte die Person es eilig gehabt, denn die Schrift war verschmiert. Aber die Worte waren klar zu entziffern, und klar war ebenfalls, dass sie für eine Menge Ärger sorgen würden.

An meine kleine Prinzessin, Charlotte,

 

wir haben uns schon wieder viel zu lange nicht gesehen, und Beady hat mir erzählt, dass du dich allmählich in höhere Kreise hocharbeitest.

Außerdem hat sie mir mitgeteilt, dass du schon länger nicht mehr in dem alten Haus wohnst, deswegen verstehst du hoffentlich, dass es an der Zeit ist, es zu verkaufen.

 

Alles Liebe,

dein Vater

Als Ollie den Blick wieder nach oben richtete, sah er Mr. Harris’ Lieferwagen gerade noch wegfahren – und mit ihm jegliche Möglichkeit, die Annahme der verfluchten Karte rückgängig zu machen.

Er konnte nur hoffen, dass Lottie die Neuigkeiten nicht zu schwer trafen.

Erster Teil

Der Nachtmahr

Ölgemälde von Johann Heinrich Füssli (1781)

1

Der Palast von Maradova lag in Mondlicht getaucht da. Der ganze Prunk und die Porträts, die bei Sonnenschein so hell glänzten, schienen nun zu schlafen und darauf zu warten, dass jemand kam und sie wachküsste wie eine verwunschene Prinzessin.

Lottie wackelte mit den Zehen, um die Kälte, die aus dem Palastfußboden zu ihr heraufdrang, nicht an sich heranzulassen. Obwohl sie nach ihrer Rückkehr aus Japan noch mit dem Jetlag kämpfte, sich die Ereignisse in den vergangenen Tagen überschlagen hatten und die neuen Erkenntnisse über Leviathan einfach nur verstörend waren, versuchte sie, Haltung zu bewahren, und starrte konzentriert auf die mit glitzerndem Diamantschmuck behangene Wand, während der Berater des Königs in dem purpurfarbenen Ankleidezimmer geschäftig um sie herum wuselte und immer wieder der mit lilafarbenem Samt bezogenen Ottomane in der Mitte ausweichen musste.

»Nein, so kommen wir nicht weiter«, Simien blickte, die mit Leberflecken übersäten Hände fest auf Lotties Schultern gepresst, mit zusammengekniffenen Augen auf die Erscheinung in dem reich verzierten Spiegel und drehte Lottie leicht hin und her, um einen besseren Blick auf das puffärmelige Kleid zu erhalten, in das er sie gesteckt hatte und in dem sie aussah wie ein gestürzter Vanillepudding. »Vielleicht können wir uns mit etwas Hochgeschlossenem mit Schulterpolstern behelfen, um deinen ungewöhnlich langen Hals zu kaschieren, der jetzt so unvorteilhaft freiliegt.«

Als Simien endlich von ihr abließ und sich wieder der Kleiderstange voller Roben zuwandte, auf der Suche nach etwas, das mit ihrer neuen, leicht verstrubbelten Kurzhaarfrisur harmonierte, stellte Lottie, der von den schweren Parfümwolken im Ankleidezimmer schon ganz schwindelig war und die sich eher wie eine Marionette vorkam als wie ein menschliches Wesen, sich vor, wie ihre imaginären Fäden erschlafften.

»Was immer du für richtig hältst«, erwiderte sie, in der Hoffnung, das Prozedere zu beschleunigen, ohne durchschimmern zu lassen, wie ungeduldig sie war. Eigentlich musste sie jetzt ganz woanders sein, aber Simien durfte davon nichts merken; er war sowieso schon gestresst genug.

Lotties Frisur war nicht der einzige Grund dafür, dass bei allen die Nerven blank lagen; der ganze Palast schien auf einem Drahtseil zu schweben und jeden Augenblick herabzustürzen, sobald irgendwer auch nur einmal zu tief Luft holte. Fünf Tage waren seit dem Albtraum im Rosenwald vergangen, und obwohl Lottie darauf brannte, herauszufinden, welchen Plan Leviathan verfolgte, musste sie jetzt erst einmal mit Ellies Familie fertigwerden. Dazu war es wichtig, dass sie so präsentabel wie möglich aussah, um den Schlag abzumildern, den ihre schreckliche Entdeckung ihnen zugefügt hatte.

»Was ich jetzt für wichtig halte, ist, dass wir vermeiden, dass die Medien deine neue Frisur zum Skandal aufbauschen. Das hätte uns gerade noch gefehlt«, zischte Simien leicht ungehalten.

Lottie konnte ein Seufzen nicht unterdrücken. Anscheinend war sie die einzige Person auf der ganzen Welt, für die ihre Haare keine Katastrophe oder Grund zur Besorgnis darstellten.

Es gab nur eine Person, die sie ganz sicher verstand, nur dass diese Person Hunderte von Kilometern entfernt in Japan war.

Sobald sie an Sayuri dachte, sah Lottie Motorradqualm und scharfsinnige, intelligente Blicke aus mitternachtsschwarzen Augen vor sich. Sie verspürte einen Stich in der Brust, als wäre ein Teil ihrer Seele herausgeschnitten worden. Der zurückliegende Sommer, den sie zusammen in Takeshin verbracht hatten, hatte alles verändert. In den Banshees dort hatte Lottie neue Freunde gefunden – Miko, Rio und Wei –, die ihr, genauso wie die Anführerin der Motorradclique, die legendäre Pinke Dämonin, ans Herz gewachsen waren und denen sie sich verbunden fühlte, obwohl sie sich am anderen Ende der Erde aufhielten; und in Sayuri mit dem Seidenhaar hatte sie sogar fast so etwas wie eine Schwester gefunden. Sie beide waren nicht nur durch ihre Schulen miteinander verbunden, sondern darüber hinaus auch durch die Geheimnisse, die ihre Vorfahrinnen ihnen hinterlassen hatten – die Zwillingsschwerter, von denen eines Lotties Rettung gewesen war, als sie sich damit die Haare abgeschnitten hatte, um freizukommen.

Der Blick in den Spiegel erfüllte Lottie mit Ruhe und Gelassenheit, und ihre Finger wanderten nach oben, um mit den Haarspitzen ihrer brandneuen Bobfrisur zu spielen. Aber in dem Moment, als ihre Haut mit den kurzen Locken in Berührung kam, schossen die Erinnerungen durch ihren Körper wie ein elektrischer Schlag. Schon griffen ihre Hände wieder nach dem Schwert, das sie gleich darauf mit einem kurzentschlossenen Hieb durch ihre Haare gleiten ließ, um sich aus Ingrids und Leviathans Griff zu befreien, und dann rannte sie, bis ihre Lungen schmerzten.

Sie ließ von ihren Haaren ab, hob das Kinn und stellte verwundert fest, wie viel älter sie mit dem neuen Schnitt wirkte. Ellie hatte ihre Arbeit wirklich gut gemacht, und die neue Frisur umrahmte ihr Gesicht mit den Apfelbäckchen so vorteilhaft, dass Lotties ganzer Körper sich leichter anfühlte und sie sich einer Version ihrer selbst gegenübersah, die sich mehr nach Lottie anfühlte als je zuvor.

Das einzige Problem war …

»Du hast jetzt viel zu viel Ähnlichkeit mit deinen echten Vorfahren«, beklagte sich Simien hinter ihr und stieß eine Reihe von Flüchen aus. »Wir brauchen eine Wolfson, keine Mayfutt.«

Es war nicht zu leugnen. Lottie war dem männlichen Alter Ego ihrer Vorfahrin Liliana Mayfutt, William Tufty, wie aus dem Gesicht geschnitten, sogar bis hin zu den Sommersprossen, die sich auf ihrem Nasenrücken tummelten. Jedes Mal, wenn ihr Blick darauf fiel, wurde sie von dem Gefühl beschlichen, dass die Geister ihrer Familie sie beobachteten und irgendetwas von ihr erwarteten.

»Ein bisschen mehr Haltung, bitte.« Auf einmal stand Simien wieder hinter ihr und hielt ihr ein buttergelbes Kleid an, bei dem die aufgeplusterten Schultern wie steifgeschlagene Sahne in die Höhe standen. »Wir müssen es irgendwie hinkriegen, dein Prinzessinnen-Image aufrechtzuerhalten. Nicht, dass die Königinmutter angesichts der unglückseligen Entdeckung völlig die Fassung verliert.« Er brauchte den Namen nicht laut auszusprechen. Jeder im Palast spürte den Ernst der Lage wie einen eisernen Griff an seinem Hals.

Lottie warf einen Blick auf die Wanduhr, ihre Geduld näherte sich dem Ende, so dass sie schon drauf und dran war, sich eine Ausrede auszudenken und ein strategisches Gähnen vorzutäuschen, als Simien endlich lockerließ.

»Etwas Besseres finden wir wohl nicht.« Der königliche Berater seufzte, tippte sich an die Schläfe neben dem Glasauge und streifte das Kleid wieder über den Kleiderbügel. »Jetzt aber ab ins Bett und sieh zu, dass du dich ordentlich ausschläfst vor der Versammlung morgen«, sagte er, und obwohl er versuchte, betont unbeschwert zu klingen, nahm Lottie den besorgten Unterton in seiner Stimme sehr wohl wahr.

Bevor sie sich ebenfalls schlafen legte, musste Lottie noch eine Sache erledigen. Sie schlüpfte in ein bequemeres Outfit und wartete, bis sie sicher war, dass die anderen Personen im Palast schliefen, dann stahl sie sich aus ihrem Zimmer, ständig auf der Hut vor einem verdächtigen Geräusch.

Ein Brett im Fußboden knarrte unter ihrem Schritt, und sie erstarrte sofort. Mit klopfendem Herzen lauschte sie auf irgendeine Reaktion.

Stille.

Sie begab sich in den langen, mit Marmor verkleideten Flur, wo die geisterhaften Gesichter der früheren Regenten von Maradova aus ihren vergoldeten Rahmen auf sie herabblickten. Sie ignorierte ihre Blicke und machte vor dem größten Gemälde halt.

Alexis Wolfson, der Mann, der vor Hunderten von Jahren den Thron von Maradova an sich gebracht hatte, starrte mit stechendem Blick aus dunkelgrünen Augen von der Farbe eines Waldes in der Abenddämmerung auf Lottie herab. Seine langen, schwarzen Haare fielen dicht auf die breiten Schultern herab. Er war in wärmende Pelze eingehüllt und sah darin eher wie ein Krieger als wie ein König aus, sein Lächeln jedoch war warm. Als Lottie jetzt zu ihm aufsah, wunderte sie sich, warum ihr dieses Porträt nicht schon früher aufgefallen war. Erst durch Ingrids rätselhafte Worte war ihre Aufmerksamkeit darauf gelenkt worden, so dass sie nun erahnen konnte, warum er so viele Bewunderer gehabt hatte.

Genau wie Alexis, hatte Ingrid gesagt. Zwei Bemerkungen hatte sie an jenem Tag im Wald gemacht, aber die andere war noch verwirrender gewesen. Es war die schlichte Frage gewesen: Warum ist Jamie dein Partist? Damit hatte sie natürlich die echte Prinzessin gemeint, und Lottie hatte sich seitdem in den Kopf gesetzt herauszufinden, worauf Ingrid hinauswollte. Warum war er Ellies Partist?

Sie riss sich von dem Anblick los und ging ans Ende des Flurs, bis sie zu dem schwarzen Schaf der Familie kam, der Person, der Ingrid sich angeschlossen hatte – Claude Wolfson, Ellies Onkel.

Sein Bildnis hing in einem schwarzen Rahmen – ein düsterer Hinweis auf das Schicksal, das jedes Mitglied der Königsfamilie erwartete, das sich seinen Verpflichtungen entzog. Er hatte in seinem Exil ausgeharrt, Pläne geschmiedet, eine kleine Armee aufgebaut. Nun wussten sie, dass hinter dem rätselhaften Mann mit der Ziegenmaske, der Lottie und ihren Freunden seit zwei Jahren das Leben schwermachte, er steckte. Aber warum?

»Hallo, Ziegenmann.« Es bereitete ihr ein sonderbares Vergnügen, den Mann, der so stolz auf sie herabblickte, mit diesem Spitznamen anzureden. Vielleicht fühlte Ellie sich genau so, wenn sie sich mal wieder gegen Autoritäten auflehnte.

»Du kannst ruhig seinen Namen sagen«, hallte Ellies Stimme durch den Flur, dunkel und bitter wie Kaffee. »Alle tun so, als wäre der Name ein besonders schlimmes Schimpfwort.«

Während Lottie sich langsam herumdrehte, wappnete sie sich für den Anblick ihrer Prinzessin und rief sich in Erinnerung, dass nicht nur ihr eigenes Aussehen sich verändert hatte. Dennoch musste sie schwer schlucken.

Ellie stand in einem langen, schwarzen Kleid da, das gut zu einer Beerdigung gepasst hätte, und im Licht des Mondes wirkte es so, als würde ihr Gesicht in der Luft schweben. Sie sah mehr als müde aus, abgekämpft. Ihre Haut hatte einen unnatürlichen Glanz, wie Alabaster, und die dunklen Schatten unter ihren Augen sahen aus wie Tintenkleckse. Lottie fragte sich unwillkürlich, ob sie überhaupt geschlafen hatte, seit sie erfahren hatte, dass ihr Onkel der Meister von Leviathan war.

Ellie machte einen selbstsicheren Schritt auf Lottie zu, und in ihren Augen schimmerte es gefährlich.

»Claude Wolfson, Claude Wolfson, Claude Wolfson«, wiederholte Ellie, als wollte sie damit irgendein Schreckgespenst hervorlocken, und blickte sich dann mit ausgestreckten Händen um. »Siehst du? Nichts passiert.«

Beim Klang ihrer Stimme verzog Lottie das Gesicht. Ellie schien sauer zu sein.

»Du bist spät dran«, sagte sie, ohne sich von Ellie provozieren zu lassen. »Was ist los?«

Ellies Ausdruck veränderte sich, und Lottie fühlte sich schuldig, als sie ihre dunkel geränderten Augen und zerkauten Lippen sah.

Sie wollte keine Zweifel aufkommen lassen, ob es richtig gewesen war, Ellie von ihrem Onkel zu erzählen, aber angesichts dieses Bildes war es schwer, an der Überzeugung festzuhalten, dass sie damit irgendjemandem geholfen hatte.

»Ich musste das hier aus dem Postzimmer mitgehen lassen, sonst hätte es uns ganz schön in Schwierigkeiten bringen können.«

Aus irgendeiner Innentasche zog Ellie eine Postkarte hervor und hielt sie Lottie hin, die auf der Vorderseite die elegante Zeichnung eines Bambuswaldes erblickte. Sie sog ihren Duft ein, sie roch nach einem sengend heißen Sommer und dem aufregenden, unverwechselbaren Geruch, der nach einem Feuerwerk noch eine Weile in der Luft hing.

Dann drehte sie die Karte herum und starrte auf die sechs Zeilen Text darauf.

Liebe Prinzessin,

 

bitte behalte Haru für uns im Auge.

Die Gründe für sein Auslandsjahr sind uns leider nach wie vor ein Rätsel.

Pass auf dich auf, und denk daran, dass unsere Schicksale über das Schwert miteinander verbunden sind.

 

Sayuri, Miko, Rio und Wei

»Sie hat es hierher geschickt, in den Palast, an dich adressiert.« Ein schriller Unterton schwang in Ellies Stimme mit, wie das ängstliche Fiepen eines Hundes, der sich in die Ecke gedrängt sieht.

»Lottie, ist dir klar, wie gefährlich das ist? Was, wenn jemand das gesehen hätte?«, schimpfte Ellie und legte ihren Kopf zwischen die Hände. »Außer uns und Ani und Saskia weiß doch niemand, dass Haru zu Leviathan gehört.«

Lottie versuchte, Ruhe zu bewahren, und steckte die Postkarte behutsam ein. Sie spürte sie warm ganz in der Nähe ihres Herzens, obwohl die Nachricht sie an die schreckliche Tatsache erinnerte, dass Haru bei ihrer Rückkehr nach Rosewood schon auf sie warten würde.

»Ist das der Grund, weshalb du mich treffen wolltest?«, fragte sie und wünschte, sie könnte irgendetwas tun, um Ellie zu beruhigen.

»Nein.« Ellie schüttelte den Kopf. »Ich wollte dich um einen Gefallen bitten.« Ihr Blick wanderte erneut zu Claudes Gemälde.

»Was du willst.«

»Du musst mir versprechen, meinen Eltern morgen nicht zu verraten, dass Haru zu Leviathan gehört. Es sei denn, ich fordere dich dazu auf.«

»Wie bitte?«

Ellies Blick sprang wieder zu Lottie zurück, und der schläfrige Ausdruck darin war plötzlich wie weggeblasen.

»Ich meine es ernst, Lottie. Nach dem, was du über meinen … über Claude herausgefunden hast, kommt es mir so vor, als ob meine Eltern etwas vor mir verbergen. Morgen werde ich ihnen sagen, dass ich das nicht länger aushalte.« Ellie ballte die Hände zu Fäusten. »Ich kann es nicht glauben, dass Jamie nicht dabei sein darf. Wir können nicht zulassen, dass sie weiterhin Dinge vor uns geheim halten. Wir müssen wachsam sein, wir müssen –«

»Jamie wird morgen nicht dabei sein?« Lottie war vollkommen verwirrt, bestimmt hatte sie sich verhört, aber Ellie schüttelte nur den Kopf. Dann stimmte es also.

»Seltsam, oder?« Für einen kurzen Augenblick sah Ellie erleichtert aus, froh, dass Lottie genauso perplex war wie sie. »Sie wollen nicht verraten, weshalb, aber es soll nur im ganz kleinen Kreis stattfinden, nur ich, du, Großmutter und meine Eltern.«

Die Neuigkeit traf Lottie wie ein Felsbrocken, der sie zurück in den Rosenwald schleuderte, und schon schlängelte sich Ingrids Stimme erneut in ihre Gedanken.

Warum ist Jamie dein Partist?

Lottie drängte die Stimme zurück, griff nach Ellies geballter Faust und drückte sie. Als sie die bebende Hand ihrer Freundin in ihrer spürte, fühlte sie, dass ihre Prinzessin schon lange einen Groll gegen ihre geheimnistuerische Familie hegte.

»Lass uns abwarten, was deine Eltern und Großmutter uns morgen mitzuteilen haben. Dann kannst du immer noch entscheiden, was deiner Meinung nach für alle das Richtige ist.«

»Aber –«

»Ich bin auf jeden Fall auf deiner Seite, Ellie, ganz egal, was passiert.« Das war die Wahrheit, eine Tatsache, die nie ihre Gültigkeit verlor. Alles, was sie tat, tat sie für das Wohlergehen ihrer Prinzessin, für das Mädchen, ohne das sie sich nicht komplett fühlte. »Und wenn du beschließt, dass du so verfahren willst, nachdem wir mit ihnen gesprochen haben, dann soll es so sein.« Lottie hatte mit fester Stimme gesprochen, obwohl sie ein ganz und gar ungutes Gefühl dabei hatte, die Sache mit Haru noch länger geheim zu halten. »Wollen wir es so machen?«

Sekunden fühlten sich an wie Jahrzehnte, während sie auf eine Antwort wartete, und die ganze Zeit über starrte Claude lauernd auf sie herab.

»Ja, okay«, sagte Ellie schließlich und öffnete ihre Fäuste wieder. »Ich werde versuchen, morgen Ruhe zu bewahren, dir zuliebe.« Ein schwacher Überrest von Ellies altem Charme leuchtete in ihrem Lächeln auf, der aber allzu schnell wieder erlosch. »Am besten, wir gehen schlafen. Ich kann gar nicht mehr richtig denken, ich bin müde, und es fühlt sich so komisch an, wieder hier zu sein, und … überhaupt.«

»Keine Angst, ich verstehe dich«, versicherte Lottie und verflocht ihre Finger mit Ellies.

Da legte Ellie ihr Kinn auf Lotties Kopf und schlang die Arme um ihren Hals, so dass sie ganz eng beieinanderstanden. Lottie spürte das Pochen von Ellies Puls an der Stelle, wo ihre Wange an ihrem Hals lehnte. Sie fühlte sich so warm an, dass sie sie am liebsten nie wieder losgelassen hätte, und Bilder von jenem schon so lange zurückliegenden Kuss flatterten sanft wie Schmetterlinge durch ihr Gedächtnis, aber Ellie löste sich schon wieder aus ihrer Umarmung.

»Es tut mir leid«, sagte sie leise, und Lottie fragte sich, wofür sie sich eigentlich entschuldigte. »Lass uns nach oben gehen.«

Schweigend gingen sie zu ihren Zimmern zurück. An Lotties Zimmertür sagten sie einander Gute Nacht, und ihre Hände glitten langsam auseinander. Als Lottie sich ins Bett legte, füllte sich ihr Kopf mit Bildern von Alexis und Claude, Haru und Jamie und Ellie, Ellie, Ellie.

Aber als sie an Ellies müde Augen dachte und wie sie in sich zusammengesunken war, als sie entdeckt hatten, dass jede von Leviathans gemeinen Aktionen mit ihrer Familie und deren Geheimnissen und Lügen zu tun hatte … Da fragte sie sich: War das alles wirklich zu Ellies Bestem gewesen?

War Lottie überhaupt irgendwem eine Hilfe?

2

Im großen Saal brannte ein Feuer. Orangefarbene Flammen flackerten in dem Kamin aus schwarzem Gestein ganz hinten und versuchten vergebens, wenigstens etwas Wärme in dem kalten, hallenden Raum zu verbreiten. Darüber, nur knapp außerhalb der Reichweite der Flammen, hing ein Familienporträt mit König Alexander Wolfson, seiner Frau Matilde Wolfson, der Königinmutter Willemena Wolfson – alle mit versteinerten, todernsten Gesichtern – und in der Mitte die kleine Prinzessin Eleanor Wolfson, damals noch ein Kleinkind, die nächste in der Thronfolge der Herrscher von Maradova.

Ellie konnte sich noch an den Tag erinnern, als sie für das Gemälde Modell sitzen mussten. Sie hatte sich nach draußen geschlichen, um mit Jamie zu spielen, und war im Matsch gelandet, Dreckklumpen im Haar, im Gesicht und an den Händen. Ihre Großmutter war außer sich gewesen vor Wut auf sie und Jamie. Zur Strafe hatte die alte Dame ihn gezwungen, die ganze Zeit über still dabeizusitzen und zuzusehen, und zu Ellie hatte sie gesagt, je länger sie herumzappelte, umso länger würde Jamie stillsitzen müssen.

Ellie wünschte, die Flammen würden sich über die Leinwand hermachen und das Gemälde in Asche verwandeln.

Sechs Tage waren vergangen. Nur sechs Tage, seit Lottie herausgefunden hatte, wer der Meister von Leviathan war, die Person, die ihnen und ihren Freunden nachgestellt hatte, immer auf der Suche nach Lücken und Schwachstellen, um sie für sich zu nutzen. Irgendwie hatte Ellie immer schon geahnt, dass alles ihre Schuld war. Sie riss den Blick von dem Gemälde los, um ihn auf die versteinerten Gesichter ihrer echten Familie zu richten, die alle nebeneinander standen und in der überdimensionierten Umgebung ganz klein wirkten.

Trotz der lieblichen Putten, die an die Decke gemalt waren, und der aprikosenfarbenen Samtvorhänge, die auf beiden Seiten des vergitterten Fensters hinter dem Thron hingen, hatte der Thronsaal immer schon eher wie die Werkshalle einer großen Fabrik gewirkt. Sie konnte das Surren der Motoren, die den Palast am Laufen hielten, förmlich hören.

Mit dieser ganzen Versammlung war irgendetwas faul. Nicht nur Jamie fehlte, sondern auch Sir Olav, der Partist ihres Vaters, war nicht dabei. Es war offensichtlich, dass ihre Familie etwas zu verbergen hatte. Sie trugen irgendein uraltes Geheimnis mit sich herum, und Ellie wollte nicht zulassen, dass sie mit ihrer Heimlichtuerei noch irgendjemandem Schaden zufügten.

Wäre das Versprechen nicht gewesen, das sie Lottie gegeben hatte, wäre sie hereingestürmt und hätte verlangt, dass sie alle auf der Stelle mit ihren Lügen aufhörten. Doch das würde sie nicht tun. Das war sie Lottie schuldig.

»Zuallererst müssen wir Claudes Porträt aus der Eingangshalle entfernen«, verkündete die Königinmutter.

Willemenas Stimme knarzte wie ein alter Schaukelstuhl, und Ellie musste sich auf die Zunge beißen, um nicht zu schreien. Stattdessen warf sie einen Blick zu Lottie hinüber. Lotties Anblick, mit ihrer neuen Kurzhaarfrisur und den kaum verheilten Wunden nach ihrer Begegnung mit Ingrid im Wald, machte sie immer noch nachdenklich. Immer, wenn sie das Mädchen ansah, das sie so sehr bewunderte, wurde sie daran erinnert, was sie damit ausgelöst hatte, sie an sich heranzulassen. Und hier war nun ihre Familie, denen mal wieder nichts Besseres einfiel, als alles mit einem hübschen gelben Kleid und einer mit Diamanten besetzten Haarspange zu übertünchen.

Nicht ausrasten, nicht ausrasten.

»Ich kann Ihren Wunsch nachvollziehen, alle Spuren Ihres Sohnes Claude aus dem Palast zu tilgen, Eure Hoheit«, setzte Lottie mit einer Stimme, die ruhiger und geduldiger klang, als es die Königsfamilie verdient hatte, zu sprechen an. »Und obwohl ich finde, dass dies eine sehr gute Idee ist, um Ihr Gemüt zu beruhigen, bin ich der Ansicht, dass es weitaus dringender ist, herauszufinden, was Claudes eigentliches Ziel ist. Wir müssen einen Weg finden, ihn und Leviathan zu stoppen. Wenn Sie irgendetwas wissen, dann könnten wir vielleicht …«

»Ja, ja, alle Spuren von ihm«, fuhr Willemena fort, als hätte Lottie überhaupt nichts gesagt, und stieß ihren Gehstock mit dem Wolfskopf so heftig auf den Fußboden, dass die Eichenbretter vibrierten. »Alles, was noch an ihn erinnert – bringt es fort und lasst es verbrennen.«

Diesmal brauchte sie Lottie gar nicht anzusehen. Es war glasklar, dass Ellies Großmutter etwas zu verbergen hatte. Alle Ängste und Vermutungen, die in Ellie schlummerten, flackerten wieder auf wie eine Stadt, die nach einem Stromausfall wieder zum Leben erwacht.

Ihre Familie log. Sie wusste nicht, worüber oder warum, aber sie konnte sie damit nicht davonkommen lassen.

»Bei allem Respekt«, setzte Lottie erneut an, »Claude zu entfernen ist ein Schritt, aber wir müssen uns auch damit beschäftigen, was –«

»Wir müssen dafür sorgen, dass kein einziges Fitzelchen mehr von ihm zu sehen ist, wenn wir wie alle zehn Jahre das Goldene Blumenfest ausrichten.«

Wie bitte? Ellie konnte sich kaum noch zusammenreißen.

Lottie unternahm einen weiteren Versuch – der einzige Hinweis darauf, dass sie ebenso schockiert war wie Ellie, war ein leichtes Flattern ihrer Augenlider: »Entschuldigung, Eure Hoheit. Ich fürchte, ich habe Sie akustisch nicht richtig verstanden. Planen Sie tatsächlich, ein weiteres Blumenfest auszurichten? Ich dachte, Sie hätten entschieden, sie auf unbestimmte Zeit auszusetzen, nach dem, was letzten Sommer geschehen ist.«

Das Blumenfest, dachte Ellie und knirschte unwillkürlich mit den Zähnen bei dem Gedanken an jene schreckliche Nacht vor einem Jahr, als Lottie beinahe entführt worden wäre.

»Nicht irgendein Blumenfest«, Willemena stieß erneut ihren Gehstock auf den Boden, als wäre Lottie diejenige, die sich unvernünftig verhielt. »Es handelt sich um das Goldene Blumenfest. Es findet alle zehn Jahre statt, und jedes Mal dürfen die Bürger von Maradova das Palastgelände erkunden. Wenn wir jetzt von unseren Traditionen abweichen, wird die Öffentlichkeit annehmen, dass etwas nicht stimmt, und nach dem Desaster, das wir diesen Sommer mit den Medien erlebt haben, darf niemand wissen, dass es Risse innerhalb der Wolfson-Familie gibt. Niemand.« Zur Bekräftigung stieß sie noch einmal ihren Stock auf den Fußboden, und Lotties Augenlider flatterten noch stärker.

»Eure Hoheit, ich bin mir nicht sicher, ob –«

Bevor Lottie den Satz beenden konnte, stellte Ellie sich vor sie. »Ich glaube, was Lottie versucht zu sagen, ist, dass, bei allem gebührenden Respekt« – bei allem nicht vorhandenen Respekt –, »das Entfernen von Claudes Porträt nichts bringt. Genau so wenig wie es etwas gebracht hat, ihn des Landes zu verweisen. Ihr könnt nicht einfach weiter so tun, als ob alles in Ordnung wäre. Sonst fliegt uns hier bald alles um die Ohren.« Ellies Stimme klang brüchig und erschöpft, es war nicht ihr üblicher wütender und sarkastischer Tonfall.

Ihr Vater blickte sie streng an. »Eleanor, wir versuchen hier, uns vernünftig miteinander zu unterhalten.«

Ärger brannte auf ihrer Zunge, als sie seinen Blick erwiderte. »Und du. Wir wissen, was du getan hast. Wenn Lottie nicht so höflich wäre, hätte sie dir erzählt, wie sie herausgefunden hat, dass dieses ganze Kuddelmuddel mit unserer Familie zu tun hat, aber wir wissen, dass du Geheimnisse vor uns hast.«

»Wovon in aller Welt redest du?« Die Stimme ihres Vaters klang immer noch streng, aber ihr entging nicht, wie seine Maske ins Rutschen geriet, als Sorgenfalten auf seiner Stirn erschienen.

»Wir wissen, was du weggeworfen und dann unter den Teppich gekehrt hast, um den Namen Wolfson zu schützen. Wir wissen von den Briefen, die du deiner ersten Liebe Kana geschrieben hast.« Sie hielt einen Augenblick inne und wartete genüsslich auf den Schrecken, den die Worte ihrem Vater einjagen würden, aber sein Gesichtsausdruck gab keine Regung preis. Ihre Mutter war die Einzige, die eine Reaktion zeigte und auf einmal so verletzt aussah, dass Ellie zurückwich.

Die Briefe, die von der Beziehung ihres Vaters mit einer Studentin zeugten, die er im Ausland kennengelernt hatte, hatte Claude ursprünglich als Waffe verwenden wollen, um das Königshaus in Verruf zu bringen. Doch dann hatte Ellie sie an sich genommen. Sie hatte erwartet, dass der Hieb scharf und unerwartet genug gewesen war, um das vergiftete Blut ihrer Familie zum Fließen zu bringen und dem Verderben ein Ende zu setzen, das sie über jeden brachten, der ihnen begegnete, aber die Reaktion war alles andere als zufriedenstellend.

»Ich glaube, wir sind alle ziemlich aufgebracht.« Die Worte ihrer Mutter hatten die übliche seufzende Melodie, aber diesmal schwang darin auch Schmerz mit. »Vielleicht sollten wir …«

»Warum ist Jamie nicht hier?«, wurde sie von Ellie unterbrochen, die wild entschlossen war, sich vom Kummer ihrer Mutter nicht davon abhalten zu lassen, die Fragen zu stellen, auf die sie so dringend Antworten suchte.

Als sie seinen Namen sagte, sah Ellie Jamie sofort vor sich, mit den Verbänden am Oberarm von der leichten Stichwunde, die Ingrid ihm zugefügt hatte, und dem versteinerten Ausdruck im Gesicht, mit dem er alles einsteckte, schon immer, ihr und ihrer Familie zuliebe. Ihr wurde schlecht.

»Weil Jamie nicht zum engsten Kreis der Familie gehört, Eleanor.« Diesmal war es ihre Großmutter, die antwortete.

Ellie starrte demonstrativ auf das Gemälde über dem Kamin, damit auch alle begriffen, wovon sie redete, als sie erneut zum Sprechen ansetzte. »Das hat früher auch nie jemanden gestört.«

Die Stille, die auf ihre Worte folgte, war Musik in ihren Ohren; ihre Familie konnte nicht länger Dinge vor ihr verbergen.

»Entschuldigung, Eure Hoheit, darf ich?« Als sie Lotties klare und ruhige Stimme hörte, schoss Ellie die Schamesröte ins Gesicht. Sie hatte sich doch vorgenommen, nicht auszurasten. »Könnten wir bitte eine kurze Pause einlegen, damit ich mit Ellie unter vier Augen reden kann?«

Ohne die Erlaubnis abzuwarten, packte Lottie Ellie am Arm und führte sie nach draußen, und ihre Schritte hallten laut in der Stille des großen Saals.

Als die schweren Türen hinter ihnen ins Schloss gefallen waren, blickte Lottie sie direkt an, ihre Maske der Gelassenheit fiel von ihr ab, und zum Vorschein kam eine ganze Sorgenflut.

»Warum hast du das getan?«

Ellie zögerte, überrascht von dem plötzlichen Stimmungswechsel. »Hast du nicht gesehen, wie sie alle geguckt haben? Sie sollen endlich wissen, dass sie nichts vor mir geheim halten können.«

»Das hier ist doch kein Spiel, Ellie! Wir versuchen, mehr herauszufinden, bevor irgendwas Schreckliches passiert.« Lotties Stimme war nicht mehr als ein lautes Flüstern, dennoch fühlte Ellie sich schuldig.

Ellie schüttelte frustriert den Kopf und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, als könnte sie damit all ihre unangenehmen Gefühle ausreißen. »Es ist einfach nicht richtig, dass du dir über diese Dinge Sorgen machst. Sie sind es doch, die nicht mit sich reden lassen. Sie wollen überhaupt keine Lösungen finden, und jetzt bestehen sie auch noch auf dem Blumenfest nächstes Jahr. Das ist so was von unverantwortlich.«

»Du hast ja recht. Wir dürfen trotzdem nicht aufgeben. Wenn ich weiter mit ihnen rede, kann ich sie bestimmt davon überzeugen, offen und ehrlich zu sein.«

Ellie staunte mal wieder, wie leicht Lottie sie besänftigen konnte, weil sie einfach immer genau die richtigen Worte fand; aber dann sagte Lottie plötzlich genau das, was Ellie auf keinen Fall hören wollte.

»Warum erzählen wir ihnen nicht, was mit Haru los ist? Ich wette, wenn sie das erfahren, können wir unser gemeinsames Wissen zusammenfügen und herausfinden, was sie vorhaben und was sie für ein Problem mit Jamie haben.«

Ellie erstarrte, als ihre alte Paranoia und ihr Frust erneut in ihr aufwallten.

»Nein, wir erzählen ihnen nicht von Haru«, sagte sie ganz ruhig und dachte an den Gesichtsausdruck ihrer Großmutter, als sie Jamie erwähnt hatte. »Das ist unser Geheimnis.«

»Ellie, ich verstehe nicht, wie das irgendjemandem weiterhelfen sollte«, sagte Lottie flehentlich.

»Es hilft mir, Lottie, weil es dann in diesem ganzen Chaos wenigstens eine Sache gibt, die ich unter Kontrolle habe. Und wenn sie Dinge vor mir geheim halten, dann darf ich ebenfalls Dinge vor ihnen geheim halten.«

»Das ist doch verrückt. Du benimmst dich wie …«

»Wie denn?«

»Spielt keine Rolle«, erwiderte Lottie und blickte so resigniert drein, dass Ellie vor lauter schlechtem Gewissen ganz schlecht wurde. »Lass uns einfach wieder reingehen, und ich schaue, was ich noch retten kann.«

Lottie wich Ellies Blick aus, und die beiden Mädchen kehrten durch die knarrende Tür in den kalten, hallenden Saal zurück. Ellies Schuldgefühle wurden sofort von neuer Wut überlagert, als sie die Mitglieder ihrer Familie erblickte, die flüsternd beieinanderstanden. Als sie sich umdrehten, wirkten sie wie ein Rudel Wölfe, das sich ertappt fühlt, wahrscheinlich weil sie sich gerade über weitere Geheimnisse gebeugt hatten.

»Kann man sich jetzt wieder zivilisiert mit dir unterhalten?«, wollte ihr Vater wissen.

Ellie bemerkte, wie seine Brauen kaum merklich zitterten, und blickte zu Lottie hinüber, die nun wieder die Gelassenheit in Person zu sein schien, dann nickte sie.

»Es gibt da etwas, das wir Euch mitteilen wollen«, verkündete Lottie, und Ellie erstarrte. Sie wollte ihnen doch nicht etwa von Haru erzählen, oder doch?

Nein, sie würde sie niemals hintergehen. Lottie war hier die Einzige, der sie vertrauen könnte. Dennoch zitterten Ellies Hände, und ihre Handflächen fingen an zu schwitzen.

Lottie, bitte. Nicht du auch noch.

»Im Wald hat Ingrid ein paar rätselhafte Dinge gesagt«, begann Lottie. Die Welle der Erleichterung, die über Ellie hinwegrauschte, war so stark, dass sie fürchtete, das Bewusstsein zu verlieren. »Die erste Bemerkung war, dass Claude bei seiner Rückkehr der gleiche Empfang bereitet werden würde wie Alexis. Sie schien andeuten zu wollen, dass …« Lottie zögerte. »… dass Ihr, König Alexander und Königin Matilde, auf irgendeine Weise aus dem Weg geräumt würdet. Wir können nicht ausschließen, dass es das ist, was sie mit der Hameln-Formel im Sinn haben, die sich ja, wie wir wissen, gut zur Gehirnwäsche einsetzen lässt.«

Als Ellie das hörte, sog sie scharf die Luft zwischen den Zähnen ein, aber ihre Eltern zeigten kaum eine Reaktion.

»Und die zweite Bemerkung war noch seltsamer …« Lottie warf einen raschen Blick zu Ellie hinüber, bevor sie fortfuhr. »Sie hat mich gefragt, warum Jamie mein Partist ist.«

»Moment mal, wie bitte?«, platzte es aus Ellie heraus. »Davon hast du mir gar nichts erzählt.«

»Dafür erzähle ich es dir jetzt. Ich dachte, es wäre das Beste, wenn deine ganze Familie gleichzeitig davon erfährt.« Ellie hörte einen Anflug von Bedauern aus Lotties Worten heraus, und bei der Vorstellung, dass Lottie mit solchen bedrückenden Informationen allein hatte fertigwerden müssen, stieg erneut Wut in ihr auf. »Ingrid meinte mit ihrer Frage natürlich die Prinzessin von Maradova und nicht mich, aber es kam mir so seltsam vor, dass ich dachte, Ihr könntet vielleicht wissen, warum sie …«

Da verstummte Lottie auf einmal und blickte mit weit aufgerissenen Augen zum Kamin hinüber. Ellie folgte ihrem Blick.

In der hinteren Ecke des Saals wurde das tanzende Feuer plötzlich von einem kräftigen Windstoß erfasst, der durch den Schornstein herabfuhr. Da wanden sich die Flammen wie ein missgestalteter Körper, bevor das Feuer vollständig erlosch und eine dunkle Aschewolke aus dem Kamin quoll, als würde der Palast Dreck hervorhusten, als wäre er von einer Krankheit befallen. Die Asche legte sich in einer langen, schwarzen Linie nieder, die bis zu den Stufen der Thronplattform reichte wie ein schmutziger Schatten.

Niemand sagte ein Wort. Nun, da die einzige Wärmequelle im Raum erloschen war, fühlte die Luft in Ellies Lungen sich eiskalt an. Von oben blickte das Gemälde der Familie Wolfson wie ein Gericht auf sie herab und wirkte jetzt, da es nicht mehr von sanftem Licht beschienen wurde, düsterer.

Ellies Mutter war die Erste, die etwas sagte.

»Also, das war ja vielleicht merkwürdig.« Königin Matilde lachte auf, aber es klang eher wie der Warnschrei eines panischen Vogels. »Vielen Dank, Lottie, dass du diese sehr nützliche Information mit uns geteilt hast, wir werden uns darüber beraten.« Sie rieb sich über die Stirn, und eine Haarsträhne löste sich aus ihrer strengen Hochsteckfrisur. Rechts und links neben ihr starrten König Alexander und seine Mutter Willemena immer noch in den leeren Kamin, als wäre ihnen ein Geist erschienen. Ellie hatte ihre Familie noch nie so gesehen; es war, als würde die Fassade der Wolfsons vor ihren Augen zu bröckeln beginnen. »Ich fürchte, dass wir euch im Moment nicht viel dazu sagen können, aber hoffentlich sind wir bald schon einen Schritt weiter. Ich finde, nun ist es Zeit, dass ihr euch auf eure Rückkehr nach Rosewood vorbereitet.«

Damit waren sie entlassen.

Lottie nickte, und Ellie merkte, dass sie auch nicht länger mit ihrer Familie, die sich so seltsam aufführte, in dem kalten, dunklen Raum bleiben wollte. Genau genommen hatte sie den Wunsch, sich selbst und Lottie so weit wie möglich von ihnen fortzubringen.

3

Die Aufgabe eines Partisten war, zu beschützen. Er stellte keine Fragen und lehnte sich nicht gegen Anordnungen auf. Seine einzige Sorge war stets, die Sicherheit seiner Herrin oder seines Herrn zu gewährleisten – ob es diesem gefiel oder nicht. Jamie sagte diese Leitsätze mehrmals leise vor sich hin, während er in seinem Zimmer zu lesen versuchte. Normalerweise ließ Louisa May Alcott ihn nie im Stich, wenn es darum ging, sich mit leichter Lektüre abzulenken, trotzdem war es ihm bisher nicht gelungen, ein einziges Wort in sich aufzunehmen. Stattdessen hatte er die vergangene Stunde damit verbracht, darüber nachzudenken, was wohl der Grund dafür sein mochte, dass er an dem Treffen nicht teilnahm. Und nicht nur er, sondern Nikolai und Simien genauso wenig. Wenn er Ellie und Lottie weiterhin beschützen sollte, dann musste er doch über jede Gefahr Bescheid wissen, oder nicht?

Irgendetwas war während des Treffens geschehen, das Lottie und Ellie verstört hatte, so viel war offenkundig. Lottie war bereits früher, als er es erwartet hatte, vor seiner Zimmertür aufgetaucht, und er kannte sie gut genug, um den dunklen Schatten zu sehen, der über ihr schwebte, aber da war noch etwas anderes gewesen. Irgendetwas beschäftigte sie, und es wirkte, als versuchte sie angestrengt, irgendeine immens wichtige Information aus dem Geschehenen abzuleiten – aber das Seltsamste war, dass sie ihn angestarrt hatte, als wäre er Teil des Rätsels.

Auf ihrer Reise zurück nach Rosewood herrschte eine nachdenkliche Stille zwischen ihnen, nachdem die beiden Mädchen ihm von Ingrids rätselhaften Andeutungen, Ellies Eltern, die stur daran festhielten, alles von sich zu weisen, und den Neuigkeiten bezüglich des Blumenfests berichtet hatten.

Jamies Wissensdurst hatte jedoch nicht nur damit zu tun, dass er Ellie und Lottie beschützen musste.

Er wollte Rache.

Seit er Ingrid hatte laufen lassen, hatte ein blutrünstiges Verlangen von ihm Besitz ergriffen, seinen wahren Feind ausfindig zu machen: die Person, die Lottie das alles angetan hatte. Wenn er daran dachte, wie sie ihm im Wald entgegengekommen war, voller Schnittwunden und unwiederbringlich nicht mehr das süße, naive Mädchen, das er vor zwei Jahren kennengelernt hatte, wanden seine Muskeln sich wie Schlangen unter seiner Haut und warteten ungeduldig auf ihren Einsatz. Er wollte keine albernen kleinen Kämpfe mit Strohmännern wie Ingrid oder Julius mehr; er wollte die Person finden, die wirklich verantwortlich war, und dass sie dafür bezahlte.

»Tja.« Ellie warf die Hände in die Luft und unterbrach damit die Stille, die sich auf dem letzten Abschnitt ihrer Reise zum Internat eingestellt hatte.

»Wieso tja?«, fragte Jamie mit leiser Stimme, während er im Rückspiegel heimlich Lottie betrachtete, die sich auf dem Rücksitz zusammengerollt hatte wie eine Hauskatze und döste. Sie sah so friedlich und klein aus, ein winziger Lichtblick in der schwächer werdenden Abendsonne.

»Bist du etwa nicht neugierig, wieso Ingrid Lottie diese Frage gestellt hat?« Ellie gab sich Mühe, genauso leise zu sprechen wie er. »Findest du es nicht komisch, dass sie fragt, warum du ein Partist bist?«

Da fing Lottie an sich zu regen und schlug so plötzlich die Augen auf, als wäre sie ein Radio, dessen Empfang auf Nachrichten über Leviathan eingestellt war – anscheinend hatte sie auf genau diese Unterhaltung gewartet.

»Ja, das ist doch seltsam, oder?«, sagte sie und klang kein bisschen verschlafen. Einerseits fand er es lustig, dass sie sich so abrupt aufsetzte, andererseits machte es ihn traurig zu sehen, wie sehr sie sich für das Gespräch interessierte und dass ihr kurzer Moment des Friedens so rasch schon wieder vorüber war.

»Nein, ich finde das nicht seltsam«, sagte er frei heraus. »Sollte ich?« Seine Lippen kräuselten sich leicht, und er war überrascht, wie leicht es auf einmal war, wieder mit Lottie zu scherzen, aber sie erwiderte sein Lächeln nicht. Stattdessen erschien eine Falte zwischen ihren Augenbrauen. »Ich habe diese Frage schon so oft gehört«, beeilte er sich hinzuzufügen. »Ständig wollen irgenwelche Leute, dass ich mich frage, ob ich wirklich ein Partist sein will, aber ich kann euch versichern, das funktioniert bei mir nicht.«

»Hmmm.« Lottie wirkte nicht überzeugt, und sie blickte ihn aus ihren himmelblauen Augen forschend an, als würde er ein Geheimnis verbergen, von dem nicht einmal er etwas wusste. Es war nur ein kurzes Aufflackern, aber er ertappte sie dabei, wie ihr Blick hinunter zu seiner Brust wanderte, wo normalerweise sein Wolfsanhänger baumelte, und sein ganzer Körper spannte sich an bei dem Gedanken, den Verschluss in seinem Nacken aufs Neue zuzudrücken.

Er fühlte sich unwohl, also wandte er sich lieber seiner echten Prinzessin zu. Ellie war das genaue Gegenteil von Lottie. Ihre bleiche Haut schimmerte lila im orangefarbenen Licht von draußen, und die Haut unter ihren dunklen, mondsichelförmigen Augen war violett. Seit sie herausgefunden hatten, dass Claude hinter Leviathan steckte, war sie ungewohnt still geworden und hielt sich lieber im Hintergrund. Sie war nun erst recht zu einem Buch mit sieben Siegeln geworden, die ganze Sache nahm sie offenbar total mit, aber sie wollte die Last trotzdem unbedingt allein schultern.

Ellie machte sich nicht die Mühe, auf seine Loyalitätsbekundung etwas zu erwidern. Sie wussten alle, wie sie dazu stand, dass er ihr Partist war.

Lottie spürte mal wieder im richtigen Moment, dass die Stimmung sank, setzte ein strahlendes Lächeln auf und vertrieb damit die Düsternis. »Ach, das wird schön, endlich ins Internat zurückzukehren, endlich wieder zu Hause zu sein.« Sie wandte sich mit träumerischem Blick zum Fenster und drückte ihre Stirn gegen die Scheibe, und Jamie wartete auf jenen Gesichtsausdruck purer Verzauberung, den sie immer bekam, sobald sie sich der Schule näherten, aber er stellte sich nicht ein. Stattdessen traten zwei Gestalten ihrem Wagen in den Weg, so dass Jamie abrupt bremsen musste.

Alle plumpsten mit einem dumpfen Geräusch zurück in ihre Sitze, und Jamie beäugte die beiden Männer in den schwarzen Jacken, die sie mit Handbewegungen aufforderten, langsamer zu fahren. Instinktiv scannte sein Gehirn die Umgebung des Autos ab, prägte sich Fluchtwege ein und wie er eventuelle Angreifer am schnellsten außer Gefecht setzen konnte.

»Was ist los?«, wollte Ellie wissen und sah sich mit großen Augen um.

»Sie haben das Wappen von Rosewood auf ihren Jacken«, verkündete Lottie, die versuchte, Ruhe zu bewahren, gleichzeitig aber auf den mittleren Sitz rutschte, möglichst weit weg von den Männern, die auf sie zukamen.

Sie waren schon fast da, der Ankunftsbereich der Schule war nicht mehr weit. In der Ferne glänzte das goldene Schultor wie ein rettendes Leuchtfeuer in der späten Nachmittagssonne und lockte sie mit dem Versprechen von Sicherheit, doch als sie anhielten, fiel Jamie noch etwas anderes auf, unzählige düstere Gestalten, die wie Käfer hin und her huschten. Er kniff die Augen zusammen und erkannte, dass es noch mehr schwarz gekleidete Männer waren, die wie eine kleine Armee vor dem Eingang von Rosewood Hall patrouillierten.

Einer der Männer klopfte ans Fenster und forderte ihn auf, die Scheibe hinunterzufahren, was Jamie auch tat, allerdings nur wenige Fingerbreit.

Der Mann sah eher müde als bedrohlich aus, und ein dünner Schweißfilm hatte sich oberhalb seines Schnurrbarts gebildet.

»Seid ihr Internatsschüler?«, wollte er wissen, und sein sachlicher Tonfall konnte Jamie etwas beruhigen.

»Ja, Sir, ist irgendwas passiert?«

»Sagen Sie mir bitte, wie Sie heißen?«

Ellie griff ins Handschuhfach, holte ihre Papiere hervor und reichte sie an Jamie weiter.

Der Mann mit dem Schnurrbart warf durch die Fensterscheibe einen Blick auf die Dokumente und nickte. »Okay, Sie können weiterfahren. Einen schönen Abend noch.«

Jamie ließ die Fensterscheibe wieder hochfahren und fuhr weiter.