Prinzessin undercover – Versprechen - Connie Glynn - E-Book

Prinzessin undercover – Versprechen E-Book

Connie Glynn

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Beschreibung

Für Prinzessinnen von heute: Royal, spannend, romantisch und geheimnisvollEllie ist eine rebellische Prinzessin, die ihre wahre Identität offengelegt hat. Lottie ist ihre Stellvertreterin und wünscht sich nichts mehr, als Ellie vor der Bedrohung durch die Geheimorganisation Leviathan zu bewahren. Jamie ist Ellies Leibwächter, der geschworen hat, die Prinzessin um jeden Preis zu beschützen. Doch das Schicksal hat sie auseinandergerissen, und es ist lange Zeit unsicher, ob sie sich jemals wiedersehen werden. Denn nicht nur die Krone von Maradova ist in großer Gefahr …Das fulminante Finale der erfolgreichen Serie

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Connie Glynn

Prinzessin undercover

Versprechen

 

Aus dem Englischen von Maren Illinger und Marlene Frucht

 

 

 

Band 5

 

 

Über dieses Buch

 

 

Für Prinzessinnen von heute: royal, spannend, romantisch und geheimnisvoll – das fulminante Finale der erfolgreichen Serie

Ellie ist eine rebellische Prinzessin, die ihre wahre Identität offengelegt hat. Lottie ist ihre Stellvertreterin und wünscht sich nichts mehr, als Ellie vor der Bedrohung durch die Geheimorganisation Leviathan zu bewahren. Jamie ist Ellies Leibwächter, der geschworen hat, die Prinzessin um jeden Preis zu beschützen. Doch das Schicksal hat sie auseinandergerissen, und es ist lange Zeit unsicher, ob sie sich jemals wiedersehen werden. Denn nicht nur die Krone von Maradova ist in großer Gefahr …

Alle Bände der Serie Prinzessin undercover:

 

Band 1: Geheimnisse

Band 2: Enthüllungen

Band 3: Entscheidungen

Band 4: Hoffnungen

Band 5: Versprechen

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch

Biografie

 

 

© Connie Glynn

Connie Glynn lebt in London, England, und schrieb bereits als kleines Mädchen gerne Geschichten. Mit fast einer Million Followern ist sie heute eine der erfolgreichsten Prinzessinnen auf YouTube, Twitter, Instagram und Tumblr. In ihrem anderen Leben ist sie Autorin und schreibt sich direkt ins Herz der Prinzessin, die in jeder von uns wohnt. Ihre Serie Prinzessin undercover erscheint in über fünfzehn Ländern und machte Connie Glynn 2017 zur meistverkauften Jugendbuchautorin im Vereinigten Königreich.

 

Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden Sie unter www.fischerverlage.de

Homework Radio gewidmet, dem Soundtrack meines nächtlichen Schreibens. That 2 a.m. Fresh Air klingt wirklich erfrischend.

Prolog

Es gibt magische Orte auf dieser Welt, an denen man sich verlieren kann. Jamie wusste das besser als jeder andere.

Manche dieser Orte sind einladend wie eine Träumerei an einem verregneten Nachmittag oder ein süßes Lied, das an Zuhause erinnert. Andere können beklemmend sein wie ein Wald in dichtem Nebel, und wieder andere sind so groß und tief, dass man Angst bekommt, nie wieder herauszufinden. Diese Art der Verlorenheit ist dem Himmel vorbehalten, dem All, der unendlichen Spiegelung eines mitternächtlichen Sternenhimmels in einem See, genau wie dem, in den Jamie Volk starrte, während eine ferne Kirchenglocke durch die Berge hallte und seinen Geburtstag einläutete.

Als Kind ohne Eltern und ohne Vorstellung davon, wer er war, hatte Jamie nie Grund dazu gehabt, diesen Tag zu feiern. Das war anders, seit er seinen Vater gefunden hatte. Was für einen Unterschied es machte, einen Vater zu haben, der sich über den Tag freute, an dem er geboren war.

Sanft wie ein Sommerregen legte sich eine Hand auf Jamies Arm und holte ihn in seinen Körper zurück. Er blickte über die Schulter und sah seinen treuesten Freund und Beschützer auf sich herablächeln.

»Willst du nicht reinkommen?«, fragte Haru.

Jamie wandte sich wieder den Weiten des Nachthimmels zu. »Gib mir noch ein paar Minuten.«

»Ich warte auf dich, bis du so weit bist.«

Natürlich. Haru würde so lange warten, wie er brauchte.

Die Spiegelbilder der beiden Jungen verschwammen zwischen den gespiegelten Sternen. Das war wohl besser, als allein zu sein.

»Darf ich es sagen?« Harus Stimme war nur ein Flüstern, seine Worte zart wie Spinnweben, und sie trafen Jamie völlig unvorbereitet.

Er zögerte. »Eigentlich erlaube ich nie jemandem, diesen Tag zu feiern.«

Sein Partist grinste, und seine Augen blitzten schelmisch. »Erzähl das mal Ingrid«, gab er zurück. »Sie hat dir einen Kuchen gebacken.«

Jamie drehte sich ungläubig zu Haru um. Die Vorstellung war so absurd, dass er beinahe lächeln musste.

Violette Wolken zogen über den Himmel. Haru regte sich nicht. Er wartete, wie er versprochen hatte.

»Okay, du darfst es sagen«, murmelte Jamie schließlich und fühlte, wie sich die Stimmung des Partisten neben ihm aufhellte.

Haru strahlte den Jungen an, zu dessen Schutz er alles tun würde. »Alles Gute zum neunzehnten Geburtstag, Jamie!«

 

Es gibt magische Orte auf dieser Welt, die sich einsam anfühlen. Manchmal sind diese Orte voller Lärm und Menschen, und manchmal sind sie verlassen wie ein einsames Boot auf dem Ozean. Manchmal lauern sie einem im eigenen Zuhause auf. Ein auf den Kopf gestelltes Haus nach einer Party oder ein Speisesaal mit einem Geburtstagskuchen und einer Prinzessin, die ganz allein davorsitzt, um die Kerzen auszupusten. So wie die Prinzessin von Maradova.

Überall auf dem Boden lag zerrissenes Geschenkpapier von teuren Geschenken, jedes von ihnen protzig und unpersönlich und mit den Namen irgendwelcher ausländischer Politiker oder Adliger versehen. Ein unbeabsichtigter Nebeneffekt, nachdem sie sich der Welt nach Jahren im Verborgenen als Prinzessin zu erkennen gegeben hatte.

Wie so oft fragte sich die Prinzessin, warum sie mit all diesem Luxus überschüttet wurde – der doch wertlos war, solange niemand da war, mit dem sie ihn teilen konnte. Fast so wertlos, wie sie sich fühlte.

Seufzend hob sie ihren Löffel und betrachtete in dem gebogenen Silber mürrisch ihr verzerrtes Gesicht.

Nichts versetzte sie in größere Einsamkeit als die Gedanken, die sie quälten. Dass es ihr recht geschah, allein zu sein. Dass sie ein Monster war, das den Menschen in ihrer Nähe nichts als Ärger machte, besonders den Menschen, die sie liebte.

»Alles Gute zum achtzehnten Geburtstag, Ellie!«, murmelte sie bitter. »Jetzt hast du alles so richtig verdorben.«

 

Es gibt magische Orte auf dieser Welt, die sich wie Zuhause anfühlen. Wie der Weihnachtsmorgen, wenn das Geschenkpapier mit dem Kaminfeuer um die Wette knistert, wie die Bettdecke nach einem langen Tag oder wie die Arme eines geliebten Menschen. Manchmal ist Zuhause ein Geruch oder ein Geräusch, das Lachen mit dem besten Freund, der so breit grinst wie man selbst, oder der Duft eines frischgebackenen Kuchens von fürsorglichen Eltern.

Lottie Pumpkin kannte dieses Gefühl gut, und sie wusste, wie weh es tat, wenn es einem entrissen wurde. Der Schmerz war immer noch da. In ihrem Herz war ein Loch in der Form ihrer Prinzessin und ihres Partisten, und der Schmerz hatte in den Wochen und Monaten nicht abgenommen, seit Jamie und Ellie sie verlassen hatten.

Etwas jedoch wusste sie nicht, als sie sich an den Geburtstagstisch setzte, um sich das Essen schmecken zu lassen, das Binah Faes Familie für sie zubereitet hatte: dass sich, ganz selten nur, Magie auch in einem Menschen finden konnte. Lottie Pumpkin war so ein Mensch – einer von denen, in denen die Magie lebendig wurde.

»Alles Gute zum achtzehnten Geburtstag, Lottie!« Binah strahlte sie über den Tisch hinweg an, und trotz ihres wunden Herzens musste Lottie zurücklächeln.

Es gab Hoffnung, und solange es sie gab, würde es immer ein Zuhause geben, in das sie zurückkehren konnte.

Sie würde niemals aufgeben.

Erster Teil

Freundlich

(Adjektiv) Großzügig, gütig, hilfsbereit und rücksichtsvoll

1

In den letzten drei Jahren hatte Lottie es geschafft, einem gnadenlosen Killer zu entkommen, einer Entführung zu entgehen – und sich das Herz brechen zu lassen. Nicht schlecht. Und trotzdem kam nichts davon – kein bestialischer Killer, kein monströses königliches Geheimnis – an das Unbehagen heran, das sie nun in dem stickigen Büro von Andersons Notariat empfand.

Mr. Anderson hatte das gewöhnlichste Gesicht, das Lottie je gesehen hatte. So gewöhnlich, dass sie sicher war, ihn nicht einmal aus einer Ein-Personen-Gruppe herauspicken zu können.

Dafür hatte sein Büro einen ziemlich einzigartigen Klang: das Ticken einer alten Kuckucksuhr an der Wand und das Klackern der Silberkugeln eines Kugelpendels. Alles im Raum schien sich im gleichen Tempo wie die Feder von Mr. Andersons Füller zu bewegen, die Zahlen und Unterschriften auf viele Bögen kompliziert aussehender Dokumente kritzelte. Lottie hatte das Gefühl, wenn sie nicht bald etwas sagte, müsste der ganze Raum vor Anspannung platzen.

»Entschuldigen Sie …«

Mr. Anderson hob einen Finger. »Einen Moment bitte!«

Lottie biss sich auf die Zunge, und sein Gekritzel ging weiter, bis er endlich aufblickte und sich die Lesebrille zur Nasenwurzel schob.

»Nun, Miss … Pumpkin?«

»Ja.«

Er schaute noch einmal nach ihrem Namen. »Wissen Sie«, begann er, »ich bin schon eine ganze Weile Notar, und ich kann mit einiger Sicherheit behaupten, dass ich noch nie einen so speziellen Fall wie diesen hatte.« Er ließ seine Fingerknöchel knacken und machte ein Gesicht, als wäre er kurz davor, in ein besonders saftiges Steak zu beißen. »Damit meine ich nicht nur das komplizierte rechtliche Prozedere mit einem anderen Land, sondern auch die vielen Sicherheitsvorkehrungen.«

Hätte Lottie es nicht besser gewusst, so hätte sie geglaubt, der Mann wäre regelrecht aufgeregt.

»Wer auch immer dieses Konto eingerichtet hat, hat seine Hausaufgaben gemacht. Es ist nahezu unmöglich zurückzuverfolgen, woher die Zahlungen kommen.«

Lottie sah ihn über den Schreibtisch hinweg fragend an. »Ist das gut?«

Mr. Anderson fuhr fort, ohne auf ihre Frage einzugehen. »Aber nachdem ich Ihre Identität mittels der Informationen in dem Abfindungsschreiben nachweisen konnte, das Sie letzten Monat vom obersten Gerichtshof von Maradova erhalten haben, ging es dann doch.«

»Und?«

»Und« – er schob hastig eins der Formulare über den Tisch – »wenn Sie hier unterschreiben, gehört das Geld Ihnen, und Sie können es verwenden, wie es Ihnen beliebt. Ohne Einschränkungen.«

»Oh!«

Unter anderen Umständen wäre das eine wunderbare Neuigkeit gewesen, und doch spürte Lottie nichts als Enttäuschung. Sie war nicht wegen des Geldes hier. Eigentlich hatte sie auf eine Gelegenheit gehofft, mit den Wolfsons zu sprechen und sie zu warnen. Irgendwo da draußen schmiedete Claude Wolfson, der in Ungnade gefallene ehemalige Thronfolger von Maradova, einen schrecklichen Racheplan gegen die Familie, die ihm seine Krone vorenthalten hatte. Lottie wusste zwar nicht, welche Gestalt seine bittere Vergeltung annehmen würde, aber sie wusste, wann er sie ausführen würde: am Goldenen Blumenfest. Noch vor kurzem hätte Lottie selbst eine Einladung zum Fest erhalten, jetzt aber konnte sie nur wie ein verstoßener Hund abwarten und hoffen, dass ihr vielleicht doch irgendwie Zugang zu den Feierlichkeiten gewährt wurde.

Ellie und ihre Familie zu warnen hätte einfach sein können, wenn nicht alle Kommunikationswege blockiert worden wären. Briefe wurden zurückgeschickt, E-Mails abgefangen, Anrufe gingen nicht durch. Man hatte Lottie voll und ganz abgeschnitten.

Die Sorge schien sich in ihrem Gesicht zu spiegeln, denn Mr. Anderson zog die Augenbrauen zusammen. »Stimmt etwas nicht, Miss Pumpkin?«

Lottie zögerte und zupfte nervös am Saum ihres Kleids. »Es ist nur … Ist das wirklich alles?« Ihre Stimme machte einen kleinen Kiekser. »Gibt es niemanden, mit dem ich reden muss? Ist überhaupt kein Gespräch notwendig?«

»Nein, nein, kein Grund zur Sorge.« Mr. Anderson lächelte. »Wenn Sie in Maradova das Alter der Volljährigkeit erreicht haben und die rechtlichen Schritte abgeschlossen sind, gehört das Geld Ihnen.«

Lotties Hand tastete nach dem Wolfsanhänger um ihren Hals, ihre letzte Verbindung zu Ellie und Jamie. »Ich verstehe … Ich hatte nur gedacht, ich müsste mit jemandem reden.«

Das Kugelpendel kam langsam zum Stehen, und Mr. Anderson runzelte die Stirn. »Ich fürchte, Sie verstehen nicht, Miss Pumpkin«, sagte er. »Das hier wird Ihr Leben verändern.«

Lottie zupfte weiter an ihrem Saum. Die Gründe, warum sie unbedingt mit den Wolfsons in Kontakt treten musste, konnte sie ihm schlecht erklären.

Mr. Anderson versuchte es anders. »Also, ich rechne es Ihnen vor. Abzüglich meines Honorars und aller Steuern sind Sie mit Ihren monatlichen Bezügen aus der Zeit, als Sie als Prinzessin Eleanor Wolfsons Porterin angestellt waren, zuzüglich der Bonuszahlungen gemäß der Gefahrenklausel sowie der Pauschale aus der Abfindungsverhandlung jetzt in Besitz von 697790 maradovischen Alexi, und das entspricht 711452 britischen Pfund.«

»Das verstehe ich ja. Es ist nur …« Sie verstummte. »Wie bitte?«

Mr. Anderson grinste. »Kurz gesagt, Miss Pumpkin, Sie sind jetzt reich.«

Lottie klappte der Mund auf.

»Ah, wie ich sehe, sind Sie aufgewacht.« Mr. Anderson hielt ihr den mit seinen Initialen versehenen Füllfederhalter hin. »Wenn Sie jetzt bitte hier unterschreiben würden.«

Mit großen Augen nahm Lottie den Federhalter. Wie von fern hörte sie das Kratzen der Feder, während sie ihren Eintritt in ihr neues Leben unterzeichnete. Doch sie wusste, wenn sie könnte, würde sie das ganze Geld dafür hergeben, um wieder mit Ellie und Jamie sprechen zu können.

»Verwenden Sie es weise, Miss Pumpkin«, sagte der Notar.

»Keine Sorge, Mr. Anderson«, erwiderte Lottie. »Das, was ich will, gibt es für kein Geld der Welt.«

 

Binah blickte von dem schwarzen Ledersofa im Wartezimmer auf. In der Hand hielt sie eine Tüte mit Schokoladenrosinen. Als sie Lotties niedergeschlagenes Gesicht sah, sagte sie nur: »O je.«

Lottie schüttelte den Kopf. »Nein, es sind gute Neuigkeiten. Zumindest irgendwie … Also, es sieht so aus, als hätte ich plötzlich ziemlich viel Geld.«

»Das will ich auch hoffen, nachdem du drei Jahre lang als Ellies Porterin dein Leben aufs Spiel gesetzt hast«, erwiderte Binah trocken und warf sich eine Rosine in den Mund. »Aber du konntest mit niemandem von der maradovischen Königsfamilie sprechen.«

Das war keine Frage. Die Antwort stand Lottie ins Gesicht geschrieben.

Während sie Lottie nach draußen in die vornehmen Straßen von Knightsbridge führte, fächelte Binah sich mit der Hand Luft zu, um die Hitze der Stadt zu mildern. »Wir haben noch fast ein ganzes Jahr, um sie zu warnen«, sagte sie seufzend. »Allerdings wäre es leichter, wenn wir wüssten, was genau sie vorhaben.«

Lottie war kräftiger geworden, nachdem sie den ganzen Sommer in der Stadt bei Binahs Familie verbracht hatte, dank der vielen köstlichen hausgemachten Mahlzeiten und einer idyllischen Joggingstrecke durch den St. James’s Park. Sie hatte jeden Morgen die Gelegenheit zum Laufen genutzt, um den Kopf frei zu kriegen und auf dem Rückweg bei einer Patisserie Kaffee und Leckereien für Binahs Eltern zu besorgen. Sie wollte ihnen auf keinen Fall zur Last fallen. Doch trotz aller Vorzüge eines vorgeblichen Zuhauses konnte sie nicht den Schatten entfliehen, die in den Ecken ihres Bewusstseins lauerten – Schatten, die die Gestalt eines gewissen Jamie Volk annahmen. Sie flüsterten die Worte, die er ihr in einem Brief geschrieben hatte, bevor er weggegangen war, um sich seinem Vater und Leviathan anzuschließen, der skrupellosen Gruppe, die geschworen hatte, der Herrschaft der Familie Wolfson ein Ende zu setzen. Er hatte versprochen, dass er zurückkommen würde, um sie zu holen, und Jamie sagte nie etwas, was er nicht meinte.

Indem Claude sich als Jamies Vater zu erkennen gegeben hatte, hatte er Lottie den Jungen gestohlen, den sie ihren Freund genannt hatte. Nun hatte sie Angst, dass er Jamie zu einem Menschen verbog, den sie nicht mehr wiedererkennen würde. Irgendwann würde Jamie kommen, um sie zu holen, und sie hatte keine Ahnung, was sie dann tun würde. Und wer er sein würde. Was, wenn Claude ein Monster aus ihm gemacht hatte?

»Woran denkst du?«, fragte Binah und zog die Augen hinter ihren Brillengläsern zusammen.

»Willst du das wirklich wissen?« Lottie seufzte. »Ich habe an die Hameln-Formel gedacht.«

Binah schürzte die Lippen und summte nachdenklich. »Ich glaube nicht, dass Claude sie bei seinem eigenen Sohn anwenden würde«, versuchte sie Lottie zu beruhigen. »Er scheint sie bei keinem Mitglied von Leviathan benutzt zu haben.«

Lottie hoffte, dass sie recht hatte.

Claude hatte viele Trümpfe im Ärmel, und der schlimmste von allen war die Hameln-Formel, eine hochwirksame bewusstseinskontrollierende Substanz. Lottie hatte den Effekt mit eigenen Augen an ihrem Freund Percy gesehen. Die Formel löschte alles aus, was einen Menschen einzigartig machte, und verwandelte ihn in einen gewissenlosen Zombie.

»Aber wir dürfen nicht vergessen, dass Claude völlig skrupellos ist«, entgegnete Lottie und schüttelte die schrecklichen Bilder ab. »Er hat versucht, Hirana zu töten – die Mutter seines Kindes! –, nur weil er dachte, ein unehelicher Sohn würde sein Recht auf den Thron gefährden.«

»Und er lügt«, fügte Binah hinzu. »Er wird Jamie weismachen, dass Ellies Eltern die Schuld an ihrem Tod haben.«

Lottie schluckte gegen den Kloß in ihrem Hals an. Plötzlich begriff sie, warum Claude das manipulative Gemisch nicht benutzte. »Wer braucht schon die Hameln-Formel, wenn Geschichten sich genauso gut zur Gehirnwäsche eignen?«

Wenn für Claude alles nach Plan lief, konnte er die ganze Welt mit seinen Psychospielen um den Finger wickeln.

»Lass uns einen Kaffee trinken«, schlug Binah vor, um Lottie aus ihren düsteren Gedanken zu holen.

Sie steuerten das nächste Café an und setzten sich neben einen Zeitschriftenständer ans Fenster. Lottie kam auf den Besuch beim Notar zurück.

»Es war viel mehr, als ich erwartet habe«, sagte sie, während sie in ihrem geeisten weißen Mokka rührte.

»A-ber« – Binah zog das Wort in die Länge – »du hast ein schlechtes Gewissen, weil du dich eigentlich freuen solltest. Stattdessen bist du niedergeschlagen, weil ein weiterer Versuch gescheitert ist, mit den Wolfsons Kontakt aufzunehmen und sie vor dem bösen Onkel Claude zu warnen.«

Lottie starrte sie an. »Wie machst du das nur?«

Binah lachte und nippte an ihrem Tee. »Das ist eine Gabe. Ich kann eben gut Dinge erklären, die man nicht sehen kann. Aber in diesem Fall liegt es auf der Hand.«

Natürlich hatte sie recht. Am Ende waren es zwei Mitglieder von Leviathan gewesen, die Lottie die Information gegeben hatten, sie die brauchte. Erst Ingrid mit ihrem zusammenhanglosen Geschwätz über Alexis, den allerersten Wolfson, der den Thron von Maradova bestiegen hatte. Und dann Haru, in dessen Tagebuch sie Jahreszahlen gefunden hatte, die auf das Goldene Blumenfest verwiesen. Sie hatte nur ein wenig nachforschen müssen, um herauszufinden, dass das Goldene Blumenfest alle zehn Jahre zu Ehren des Tages gefeiert wurde, an dem Alexis den Thron bestiegen hatte. Plötzlich hatten sich alle Puzzleteile zusammengefügt. Bei Claudes Neigung zum Theatralischen war es mehr als naheliegend, dass er Leviathans mysteriösen Plan an einem so wichtigen Jubiläum in die Tat umsetzen würde.

»Wer hätte gedacht, dass es so schwer werden würde, an sie heranzukommen?«, grummelte Lottie und ließ den Blick aus dem Fenster schweifen.

»Wir sollten anstoßen«, sagte Binah plötzlich und hob ihre dampfende Tasse. »Auf deinen neuen Reichtum und auf unser letztes Jahr in Rosewood … auch wenn es nicht so sein wird, wie wir es uns vorgestellt haben.«

Lottie hob langsam ihre Tasse. »Und«, fügte sie hinzu, »auf den Plan, den wir hoffentlich bald haben und der hoffentlich funktioniert.«

Mit erzwungener Zuversicht stießen sie die Tassen aneinander und nahmen einen langen Schluck, als könnte die Lösung ihrer Probleme auf wundersame Weise auf dem Grunde ihrer Tassen erscheinen.

Dann lehnte Lottie sich nachdenklich zurück. Sechs Monate. Seit sechs Monaten waren Ellie und Jamie aus ihrem Leben verschwunden.

Und trotzdem trug sie noch immer den Wolfsanhänger um den Hals, sie hatte noch immer das Samtkästchen auf dem Nachttisch, in dem sie die Krone ihrer Familie aufbewahrte, und den Sternenring, der eigentlich Jamie gehörte, an ihrem Finger. So viele Andenken. So viele Erinnerungen. Aber da waren auch der Schmerz in ihrer Brust, nachdem ihr das Herz gebrochen worden war, und die Angst in der Magengrube, dass Leviathan käme, um sie zu holen, dass Jamie käme und dass sie vielleicht nie wieder zu ihm durchdränge, wenn …

Ihre panischen Gedanken fanden ein abruptes Ende, als ihr Blick auf eine der Zeitschriften auf dem Ständer fiel. »O mein Gott!«

Auf der Titelseite des Toffee-Magazins prangte Ellies Gesicht. Oder zumindest eine Version von Ellies Gesicht. Eine Plastikversion des Mädchens, das Lottie kannte. Ihr Haar war zu einem kinnlangen Bob frisiert, mit dem sie beinahe niedlich aussah – ein Wort, das normalerweise nie zu Eleanor Wolfson gepasst hätte.

Die Stylisten hatten Ellie königlich herausgeputzt, mit viel Schmuck und einem eleganten Samtkleid. Wo früher kräftige Farben und ein teuflisches Grinsen gewesen waren, lag nun dezentes Make-up über einem engelsgleichen Lächeln. Die Farbtöne waren perfekt auf ihr frisch blondiertes Haar abgestimmt.

Lottie zerrte die Zeitschrift aus dem Ständer.

Binah schob sich die Brille hoch und beugte sich vor. »O mein Gott!«

Das allererste Exklusiv-Interview mit der rätselhaften Prinzessin von Maradova!

Binahs Augen huschten schnell von links nach rechts. »Ist ja witzig.« Mit einem amüsierten Lächeln hob sie den Blick zu Lottie. »Sie sieht aus wie du!«

»Gib her!« Lottie zog die Zeitschrift zu sich, und Binah kicherte beim Lesen und verbarg das Gesicht halb hinter ihrer Teetasse.

Wieder hatte Binah recht. Es war nicht zu leugnen. Diese Version von Ellie war eine seltsame Verzerrung. Eine zweifelhafte Verwandlung, und Lottie fragte sich, welche böse Fee dafür verantwortlich war.

»Die Frage ist«, sagte Binah, »wessen Märchen ist das?«

Lotties Schultern sanken nach unten, während Bitterkeit sie durchströmte – dieselbe Bitterkeit, die sie spürte, seit Ellie verschwunden war. »Märchen sind nicht echt.«

Die Worte brannten in ihrer Kehle, doch sie konnte sie nicht zurückhalten. All ihre hochfliegenden Gedanken … es war nichts dabei herausgekommen als Probleme. Sie konnte es sich nicht mehr leisten, naiv zu sein.

Binah kniff die Augen zusammen, und Lottie setzte ihr überzeugendstes Lächeln auf, damit sich ihre Freundin keine Sorgen machte. »Das Wichtige ist«, sagte sie schnell, »dass Ellie ihr Bestes versucht. Wahrscheinlich soll das eine etwas missratene Botschaft an Jamie sein, dass sie die Verantwortung für die Fehler ihrer Familie übernimmt. Aber es ist auch eine Botschaft an mich – dass es ihr gut geht, dass ich mir keine Sorgen machen soll. Ich fühle es.«

Binah zog die Augenbrauen hoch. »Sollen wir ihr glauben?«

Lottie trank den letzten Schluck ihres Kaffees aus und stopfte die Zeitschrift ins Regal zurück, so dass das Hochglanzbild von Ellie zerknitterte.

»Nein.«

2

Als Ellie vor drei Jahren nach Rosewood Hall gekommen war, waren ihr als Erstes die vielen hundert Blumen aufgefallen. Sie verströmten auf dem ganzen Gelände den intensiven Duft von Rosen und Lavendel. Das Zweite, was ihr auffiel, war ein Mädchen mit rosigen Wangen, das ebenso reizend war und das Ellie beinahe zerstört hätte.

»Es ist die richtige Entscheidung«, sagte sie zu sich.

Nach all den Problemen, die ihre Familie Lottie und Jamie und ihren anderen Freunden bereitet hatte, musste sie endlich etwas tun, um es wiedergutzumachen, und wenn das bedeutete, dass sie sich in den Rachen einer Schule begeben musste, die bereit war, sie bei lebendigem Leibe zu fressen, dann war das eben so.

St. Agnus, ihre neue und deutlich weniger blumige Schule, war alles andere als reizend und ganz bestimmt nicht friedlich. Sie war kalt und erinnerte an eine Fabrik, und wie fast überall in Maradova wuchs auf dem Schulgelände so gut wie nichts.

»Soll ich Sie hineinbegleiten?«, fragte Samuel, ihr Bodyguard, während er ihr die Autotür aufhielt.

Ellie zupfte an ihrer Bluse und versuchte, sich daran zu erinnern, was Simien, der Berater ihres Vaters, ihr zum Aussteigen aus einem Fahrzeug eingeschärft hatte, wenn man einen Rock trug. »Nein, danke. Ich … brauche nur einen Moment.«

Sie starrte zum Schulgebäude empor, das hoch über ihr aufragte. Der schwarze Glockenturm mit der dreieckigen Spitze warf einen langen Schatten. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

Jamie hat Schlimmeres durchgemacht, redete sie sich zu.

Ihre Familie hatte ihn quasi sein Leben lang ohne sein Wissen gefangen gehalten, und das nur wegen seines Vaters. Was sie hier erwartete, war nichts im Vergleich zu dem, was Jamie erlitten hatte.

Aber es würde ein wichtiger Moment sein, die erste Begegnung der echten maradovischen Prinzessin mit ihren Mitschülerinnen und Mitschülern, und sie musste dafür sorgen, dass sie richtig aus dem Wagen ausstieg.

Sie holte tief Luft, schloss die Augen und murmelte: »Was würde Lottie tun?«

Wie durch einen Zauber brach alles auseinander.

Der Gedanke an Lottie tat weh – ein tiefer, reißender Schmerz von der Brust bis in den Bauch. Schuld und Bewunderung wirbelten durch Ellies Bewusstsein wie Blütenblätter im Sturm. Das Bild, das sie vor sich sah, war ihr allererster Eindruck von Lottie in Rosewood Hall: anmutig, pinkwangig und lächelnd. Immer lächelnd.

Wie Ellie dieses Lächeln vermisste. Ihre Freundlichkeit war Lotties wichtigster Wesenszug, und sie teilte sie großzügig mit dem Rest der Welt wie eine Rose ihre Blüte. Sie war eine echte Prinzessin. Sie war so, wie Ellie sein musste.

»Du tust das Richtige«, flüsterte sie sich zu.

Sie rutschte über den Sitz und verließ den Wagen mit einem eleganten Schwung ihrer Beine. Dann drehte sie sich um und schlug die Augen nieder, wie sie es Millionen Male bei anderen hübschen Mädchen gesehen hatte. »Danke, Samuel. Ich komme schon zurecht.«

Samuel nickte und setzte sich wieder hinter das Steuer. Bevor sie Gelegenheit hatte, sich von ihm zu verabschieden, brauste er schon davon.

Das war für die Königsfamilie einer der Hauptvorteile an Ellies Wechsel auf die Schule in der maradovischen Hauptstadt St. Krystina: unkomplizierte Sicherheitsvorkehrungen. Eine ganze Schwadron königlicher Wächter konnte die Schule kontrollieren und sie dabei permanent überwachen, als wäre sie ein kleines Kind. War das aus ihr geworden?

Anders als im vergangenen Jahr in Rosewood würden Ellies Familiendramen keine unangenehmen Einschränkungen für die anderen Schüler zur Folge haben. Ihre Freundschaften dort waren zerbrochen, weil sie aus einer königlichen Familie der Lügner und Betrüger stammte. Jamie war verschwunden, und sie hatte Lottie von sich gestoßen, um sie nicht in Gefahr zu bringen. In St. Agnus wurde nur Ellie überwacht.

Die Eisentür oben an der Treppe quietschte laut, als Ellie die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ. Drinnen erlebte sie augenblicklich, wie sehr sie beobachtet wurde, und nicht nur von Wachen. Jeder einzelne Schüler von St. Agnus – eine Masse dunkelblau-grauer Uniformen mit Schals und Bommelmützen – starrte sie an und reckte den Hals, um noch besser zu sehen.

Der Raum füllte sich mit Getuschel und zeigenden Fingern, während Ellie ihn unsicher durchquerte.

»Das ist sie, garantiert.«

»Süß, wie sie sich anstrengt, adrett auszusehen.«

»Ich wette, im echten Leben ist sie ein Biest.«

»Das ist bestimmt der Grund, warum sie weggesperrt wurde.«

Es war schrecklich, so angestarrt zu werden. Ellies Hände ballten sich zu Fäusten, und ihre frisch manikürten Fingernägel bohrten halbmondförmige Abdrücke in ihre Handflächen.

Gerade als sie sich umdrehen wollte, wurde ihr schlagartig klar: Genau das hatte Lottie aushalten müssen, als sie neu in Rosewood gewesen war – Geflüster und Gerüchte, die sie nicht beeinflussen konnte. Dem einzigen Mädchen, das sie je geliebt hatte, hatte Ellie so viel zugemutet, indem sie es zu ihrer Porterin gemacht hatte. Während Lottie vorgegeben hatte, die Prinzessin von Maradova zu sein, hatte Ellie tun und lassen können, was ihr gefiel. Alle Verantwortung hatte auf den Schultern ihrer engsten Freundin geruht. Lottie war das Beste, was ihr je passiert war – und Ellie war ziemlich sicher, dass sie selbst das Schlimmste war, was Lottie je passiert war. Wie hatte sie nur so egoistisch sein können?

Langsam entspannten sich Ellies Fäuste, während sie tief Luft holte und die Schultern straffte. Sie durfte nicht versagen. Nicht jetzt.

Schau her, Lottie, dachte sie. Kannst du mich sehen? Ich werde die perfekte Prinzessin sein, damit du dir nie wieder Sorgen um mich machen musst.

In einem unbewussten Versuch, sich zu schützen, zog sie ihre Bluse straff und folgte einem künstlich beleuchteten Gang durch das gruftähnliche Gebäude auf der Suche nach ihrem Klassenraum.

In Rosewood Hall hatten jedes Gebäude und jeder Raum eine unverwechselbare Atmosphäre, eine komplexe Persönlichkeit, die sich über die Jahrhunderte hinweg unter hingebungsvoller Pflege entfaltet hatte. Der Kontrast zu St. Agnus hätte nicht größer sein können. Ellie stellte schnell fest, dass alle Räume identisch waren, jeder von ihnen war ein Betonkasten mit drei Fenstern auf der gegenüberliegenden Seite der Tür, die auf der Vorderseite des Gebäudes zur Steintreppe zeigten, auf der Rückseite auf eine künstliche Rasenfläche. Am schlimmsten waren die uralten Tafeln und Schwämme, die der Luft den muffigen Geruch von Schimmel und Staub verliehen.

Die einzige Möglichkeit, die Räume auseinanderzuhalten, waren die dicken schwarzen Zahlen an den Türen. Kurz nachdem Ellie ihren Klassenraum gefunden hatte, läutete auch schon die Glocke.

Jeder der identischen Stühle vor den identischen Tischen wurde von Schülerinnen und Schülern in Beschlag genommen, während Ellie an der Seite stand, zuschaute und darauf wartete, dass jemand ihr sagte, wohin sie sich setzen sollte.

Dies waren die Menschen, die sie eines Tages regieren sollte. Doch nach ihren misstrauischen Blicken zu urteilen, waren sie ihr gegenüber etwa so warm eingestellt wie das Wetter von Maradova.

Die meisten Maradovaner hatten dickes dunkles Haar, hohe Wangenknochen und kräftige Augenbrauen. Wenn man sich im Raum umsah, war leicht zu verstehen, warum so viele international erfolgreiche Models aus Maradova stammten. Ellie nahm ihren eigenen Körper mit Unbehagen wahr und konnte nicht umhin, sich mit den attraktivsten Mädchen im Raum zu vergleichen. Sie stellten ihre Weiblichkeit lässig zur Schau, hatten glänzende Locken, die um ihre Gesichter wippten, eine mühelose Haltung und lässig gekreuzte Beine.

So war Ellie nicht. Sie fühlte sich am wohlsten in ihrer Rüstung aus schwarzem Haar und lockerer Kleidung, in der sie sich verstecken konnte. Doch das spielte jetzt keine Rolle. Sie musste sich zusammenreißen und die perfekte Prinzessin sein. Für Lottie und Jamie – sie konnte das.

Ein Mädchen mit kastanienbraunem Haar beugte sich zu seiner Tischnachbarin vor und flüsterte so laut, dass Ellie es hören konnte: »Warum starrt sie uns so an?«

Als Ellie wütend den Blick abwandte, kicherten sie.

Mit der Zungenspitze konnte Ellie den Erdbeerlipgloss schmecken, den man ihr aufgenötigt hatte und dessen Geruch so widerwärtig war wie seine Farbe. Simien, der anscheinend der Meinung war, dass es zu seinem Job als königlicher Berater gehörte, hatte ihr geholfen, sich so hübsch wie möglich zurechtzumachen, was gar nicht so einfach war, wenn man es mit einer biederen grauen Uniform und einem Körper zu tun hatte, dessen Beine und Oberkörper zu lang waren.

Kein Wunder, dass ihre Mitschülerinnen sie auslachten. Und das Schlimmste war, dass das Mädchen mit den kastanienbraunen Haaren recht hatte – sie hatte sie wirklich angestarrt. Prinzessinnen starrten nicht, sie wurden angestarrt.

Mit dem dezenten Make-up, der gestärkten Uniform und den sorgfältig mit einem Stirnband zurückfrisierten Haaren hatte Ellie sich genau als der Mädchentyp verkleidet, bei dem sie normalerweise schwach wurde. Es war schon ironisch, dass sich nach ihrer jahrelangen Flucht vor dem Prinzessinnendasein herausgestellt hatte, dass Prinzessinnen genau ihr Typ waren. So wie Lottie.

»Du siehst etwas verloren aus.«

Ellie zuckte zusammen, als hätte man sie bei etwas Verbotenem erwischt, nämlich dem Phantasieren über Lottie, obwohl sie sich geschworen hatte, sie zu vergessen. Sie drehte sich um und sah vor sich einen großen breitschultrigen Jungen mit zurückgekämmten Haaren und einem gewinnenden Lächeln, bei dem sicher viele Mädchen in Ohnmacht fielen. Er sah gut aus, hatte die klassischen markanten Augenbrauen der Maradovaner und so dichte Wimpern, dass es beinahe aussah, als wäre er geschminkt. Ellie kam der Gedanke, dass sie mit ihrem neuen Prinzessinnenlook vermutlich genau diese Art verwöhnter Jungs ansprach.

Sie beschloss, vorsichtig zu sein. »Ach ja?«

Er lächelte, und sie bekam den Eindruck, dass er ihr wirklich helfen wollte.

»Ich bin Leo. Leo Gusev Junior.«

»Gusev – wie Gusevs Goldene Gans?«

»Ganz genau.«

Da Simien sie darauf vorbereitet hatte, dass sie in St. Agnus auf zahlreiche Kinder aus den Adelsfamilien des Landes treffen würde, war die Überraschung nicht allzu groß, dass die erste Person, mit der sie sprach, der Erbe des weltweit größten Gänsemastbetriebs war. Ein Betrieb, der nicht gerade für Tierwohl bekannt war.

Ellies erster Gedanke war, wie sehr Lottie als bekennender Vegetarierin und Liebhaberin aller niedlichen und wehrlosen Geschöpfe das missfallen würde.

»Darf ich dir einen Tipp geben, wie du einen guten Eindruck machst?« Bevor Ellie etwas erwidern konnte, fuhr er fort: »Miss Belsky bittet immer jemanden vor der Stunde, die Schwämme auszuklopfen. Sie wäre bestimmt sehr dankbar, wenn du das übernehmen würdest.«

Ellie überlegte kurz. Eigentlich war sie bei solchen Vorschlägen eher misstrauisch, doch dann dachte sie an Lottie, fragte sich, was sie tun würde, und beschloss, dass sie etwas mehr Vertrauen zu den Menschen haben sollte, mit denen sie von nun an in eine Klasse gehen würde.

»Alles klar. Danke«, sagte sie mit einem gezwungenen Lächeln und sah zu, wie Leo sich auf den letzten freien Platz setzte.

Sie holte tief Luft und machte sich auf den Weg zur Tafel, ohne darauf zu achten, dass das Getuschel und Gekicher hinter ihr wieder einsetzten. Die Schwämme waren größer, als sie vermutet hatte, und sie hatte sie wohl etwas kraftvoller aneinander geschlagen als beabsichtigt, denn augenblicklich flog ihr eine große Kreidewolke ins Gesicht. Die ganze Klasse brach in Gelächter aus.

»Miss Wolfson!«, schrillte eine Stimme hinter ihr, und Ellie drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um zu sehen, wie ihre neue Lehrerin vor Entsetzen einen Stapel Papiere fallenließ. »Finden Sie das etwa witzig? Wollten Sie Ihre neuen Mitschüler beeindrucken?«

»Ich … Ich wollte doch nur …«, stammelte Ellie. Hatte man ihr nicht genau dazu geraten? »Ich dachte …«

»Sie dachten, Sie würden nicht erwischt werden, wie Sie meinen Klassenraum verschmutzen?«

Da endlich begriff Ellie. Sie war naiv gewesen, irgendjemandem an dieser Schule zu vertrauen.

»Ich weiß nicht, mit welchen kindischen Streichen Sie davongekommen sind, als dieses bedauernswerte Mädchen Ihnen den Rücken freigehalten hat, aber jetzt sind Sie hier, um Perfektion zu erlangen. Diese Art Benehmen werden wir nicht dulden.«

Miss Belskys Stimme schaffte es, mit jedem Satz höher zu werden, bis ihre drahtigen grauen Augenbrauen Ellie an Dampf erinnerten, der aus einem Kessel strömt, und ihre Worte zu brennen schienen wie kochendes Wasser.

Das Volk von Maradova war nicht erfreut gewesen, von dem Arrangement mit der Porterin zu erfahren. Unzählige Artikel waren darüber erschienen, in denen der Rollentausch alles von unverantwortlich bis archaisch genannt worden war. Alle hatten angefangen, Lottie zu lieben – und Prinzessin Ellie war nun mal ganz anders als sie.

»Machen Sie bitte das Fenster auf und setzen Sie sich dann auf den Platz vor Mr. Gusev.« Ellie verzog das Gesicht, sie ahnte schon, was als Nächstes kam: »Ich hoffe, etwas von seinem guten Benehmen färbt auf Sie ab.«

Ellie spürte Wut und Demütigung unter ihrer Haut brennen. Man hatte sie reingelegt, und der Junge, der dafür verantwortlich war, grinste sie auch noch selbstgefällig an. Und jetzt musste sie auch noch vor ihm sitzen.

Ellie biss die Zähne zusammen. »Es tut mir leid, Miss Belsky. Ich verspreche Ihnen, es wird nicht wieder vorkommen.«

Wie geheißen setzte sie sich vor Leo. Entschlossen dachte sie an Lottie und Jamie und rief sich ins Gedächtnis, warum sie hier war, denn sie wusste, wenn sie jetzt die Kontrolle verlor, wäre alles umsonst gewesen.

Doch kaum hatte sich Miss Belsky zur Tafel gedreht, quietschte der Tisch hinter ihr, und sie spürte Leos warmen Atem im Nacken.

»Ich weiß genau, was du vorhast.« Sein Flüstern tröpfelte in ihr Ohr wie Gift. »Ich bin der Prinz an dieser Schule, und ich werde mir meinen Platz von niemandem nehmen lassen.« Er schlug gegen die Lehne ihres Stuhls, um sicherzugehen, dass sie auch wirklich zuhörte, und seine nächsten Worte trafen sie schmerzhafter als jeder Schlag. »Schon gar nicht von einer falschen und lächerlichen Prinzessin wie dir.«

Es war erst Tag eins, doch Ellie wusste bereits tief in ihrem Inneren, dass sie die schlechteste Prinzessin aller Zeiten war.

3

Irgendetwas stimmte nicht mit Rosewood Hall. Die goldenen Tore waren weit geöffnet, doch ein sonderbarer Geruch schlug den Schülern entgegen, als sie das Schulgelände betraten.

»Die Blumen sind deprimiert«, sagte Binah und hob schnuppernd die Nase.

Lottie atmete tief ein. »Scheint so.«

Sie zogen ihre Koffer nach oben zum Hauptgebäude, wobei sie sich zusammenreißen mussten, um sich nicht die Nasen zuzuhalten. Und es roch nicht nur nach Verwesung. Selbst im trüben Licht des Spätnachmittags sahen die Rosen kraftlos aus.

Da die Sonne schon tief hinter der Schule stand, reichte ihr tintenschwarzer Schatten bis an ihre Zehen. Bevor Lottie ins Dunkel trat, blieb sie stehen und hob den Blick zu den steinernen Bögen und Türmen. Im letzten Schuljahr hatte sie schnell gemerkt, dass Rosewood Hall ohne Ellie und Jamie einfach nicht das Gleiche war. Was sich früher wie eine herzliche Umarmung angefühlt hatte, glich nun der starren Berührung einer Wachsfigur. Dies war der Beginn ihres letzten Jahres, und schon jetzt fühlte sich alles völlig falsch an.

Die beiden Mädchen gaben ihr Gepäck und ihre Handys ab, und Lottie bemühte sich, die neugierigen Blicke der anderen Schülerinnen und Schüler zu ignorieren. Irgendwie war es jedes Jahr in Rosewood von neuem so, dass alle sie anstarrten. Der einzige Unterschied war, dass das Starren diesmal der Person galt, die sie wirklich war, und nicht der, die sie zu sein vorgab.

Die Stimme einer besonders aufgeregten Schülerin aus dem ersten Jahr hallte über den Hof. »O mein Gott! Das ist sie! Da ist die Bettelmagd der Prinzessin!«

Lottie stöhnte innerlich und war sicher, dass ihre Wangen knallpink wurden. Sie wusste, dass ihre Mitschüler es nicht böse meinten, aber jede gedankenlose Bemerkung traf sie tief.

Ob es Ellie auch so ergeht? Wie wird sie reagieren? Was würde Jamie tun, wenn er hören würde, dass jemand so über mich redet?

»Es liegt nicht an der Schule, weißt du?«, bemerkte Binah.

Lottie blieb neben dem Torbogen von Stratus stehen und schaute sie verwirrt an. »Wie bitte?«

Binah sah in ihrer gelben Uniform wie ein kleiner Kanarienvogel aus. Niemandem in der Schule stand die Uniform so perfekt wie Binah. »Es liegt nicht an der Schule, dass du dich komisch fühlst«, sagte sie. »Es ist andersrum.«

Bevor Lottie etwas erwidern konnte, warf sie einen Blick auf die Uhr, und ihre Augen wurden groß. »Oh, entschuldige, Lottie.« Sie hüpfte die Treppe hinauf und auf die Tür zu. »Wir sehen uns beim Eröffnungsfeuerwerk, ja?«

Lottie konnte kaum nicken, bevor Binah im Turm von Stratus verschwunden war. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich zu ihrem eigenen Wohnhaus aufzumachen.

 

Die kahlen Stellen an den Wänden, wo früher Poster, Fotos und andere Bruchstücke aus Ellies Leben gehangen hatten, waren wie Wunden auf der elfenbeinfarbenen Tapete. Jetzt war der Raum nur noch mit hübschen Dingen bekleidet, zarten Rosa- und Pastelltönen, zuckrig und süß. Die Kanten, die Ellie Lotties Rüschen entgegengesetzt hatte, fehlten, und das, was sich früher so natürlich angefühlt hatte, wirkte mit einem Mal kalt und leblos.

Lottie seufzte. »Ich weiß. Ich vermisse sie auch.«

Sie griff in ihre Tasche und zog eins der letzten Andenken heraus, die sie von Ellie hatte. Sie stellte das Samtkästchen auf ihren Nachttisch und klappte den Deckel auf, und der halbmondförmige Opal inmitten des Silbergespinsts ihrer Krone kam zum Vorschein. Normalerweise hätte sie sich jetzt ihr Motto vorgesagt – Sei freundlich, sei mutig und gib niemals auf –, doch die Worte erschienen ihr plötzlich hohl. Es war ein Motto für Märchenprinzessinnen, aber ohne Ellie fühlte sich alles falsch an. Der Halbmond blinkte, und Lottie verdrehte die Augen. »Ich bin hin und her gerissen, okay?«

Ihre Gedanken wurden von einem Geräusch an der Balkontür unterbrochen, und Lottie blickte auf und sah zwei glühende gelbe Sonnen in der Dunkelheit.

»Vampy!« Lottie hätte vor Erleichterung auf die Knie fallen können.

Sie lief zur Balkontür und öffnete sie. Der schwarze Kater brach in dröhnendes Schnurren aus, sprang ins Zimmer und strich ihr um die Beine. Sie nahm ihn auf den Arm, stöhnte, weil er so schwer geworden war, und dann sanken sie beide aufs Bett neben Lotties Stoffschwein Mr. Trüffel.

»Du warst bestimmt einsam«, murmelte sie.

»Mrrrauu! Das klagende Geräusch klang in der Tat unglücklich, und Lottie fragte sich, warum Percy sich nicht um ihn gekümmert hatte. Und warum waren Raphael und Saskia noch nicht zu ihr gekommen, ganz zu schweigen von Anastasia und den Zwillingen?

»Wo sind denn alle?«, fragte sie laut.

Sie starrte den Ring an ihrem Finger an, ein goldenes, sternenbesetztes Band. Worte in einer fremden Sprache waren darin eingraviert. Er war ihr heimlich von den Küchenmädchen im Palast der Wolfsons zugesteckt worden, denn dieser Ring war für Jamie bestimmt. Er war ein Erinnerungsstück seiner verstorbenen Mutter Hirana, und es war Lotties Aufgabe, ihm den Ring zu übergeben und ihm die Botschaft zu überbringen, die Hirana vor ihrem Tod für ihn hinterlassen hatte. Jamie war einer ihrer engsten Freunde, und doch ließ ihr der Gedanke an ein Wiedersehen mit ihm das Blut in den Adern gefrieren. Warum? Sie kannte die Antwort. Sie hatte Angst, dass er sich in seinen Vater Claude Wolfson verwandelt hatte.

Die Märchen, die sie als Kind gelesen hatte, hatten ihr eingeredet, dass noch die verlassenste Person die Welt verändern konnte, doch nun kam ihr das wie eine grausame Lüge vor. Sie war nur ein einsames Mädchen – was konnte sie schon ausrichten?

Ein plötzlicher Luftzug vom Balkon wehte Kälte herein, und in der Ferne hörte sie jemanden lachen wie eine keckernde Krähe. Die Angst traf sie so unvermittelt, dass es ihr fast den Atem nahm, sie ballte sich in ihrem Magen zusammen und drückte auf ihr Herz. Zum ersten Mal, seit sie nach Rosewood gekommen war, war sie allein. Sie fühlte sich wieder wie das einsame kleine Mädchen, das nur seine Märchen und eine Katze zur Gesellschaft hatte. Vergessen, verlassen, verletzlich …

Plötzlich spitzte Lottie die Ohren. Draußen vor der Tür ertönte ein unheimliches Geräusch, kaum hörbar über dem Keuchen ihres Atems, ein methodisches Kratzen auf der anderen Seite der Tür. Vampy, der ihre Angst zu spüren schien, sprang von ihrem Schoß und fauchte, während Lottie wie erstarrt auf dem Bett sitzen blieb und zusah, wie sich der Türknauf langsam drehte.

Doch dann wurde ihr Blut heiß, und die Jahre, in denen sie Ellies Porterin gewesen waren, taten ihre Wirkung. Sie machte einen Satz, während sich die Tür öffnete, und stürmte mit erhobenen Fäusten darauf zu. Vor lauter Panik verschwamm alles vor ihren Augen.

Dann – mit blitzartiger Erkenntnis – begriff sie, dass kein arglistiger Feind, kein verdecktes Mitglied von Leviathan gekommen war, um ihr Böses zu tun oder sie zu Jamie zu bringen. Stattdessen stand die wie aus dem Ei gepellte Lola Tompkins vor ihr.

»Lola«, stammelte Lottie. »Bitte entschuldige! Ich dachte, du wärst …«

»Mon dieu, Lottie«, ertönte Anastasias unverkennbarer Akzent hinter Lola. »Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«

Lottie ließ Lolas Handgelenk los und riss ihre Freundin in eine feste Umarmung, um zu überspielen, wie viel Angst sie in Wahrheit gehabt hatte. Sie wollte auf keinen Fall, dass alle sich um sie Sorgen machten.

Lola lachte und rieb Lottie den Rücken, als wäre nichts geschehen. »Ist nicht schlimm. Tut mir leid, dass wir dich erschreckt haben, aber wir müssen schnell machen, solange alle vom Feuerwerk abgelenkt sind.«