Prinzessin undercover – Entscheidungen - Connie Glynn - E-Book
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Prinzessin undercover – Entscheidungen E-Book

Connie Glynn

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Beschreibung

Action und Verschwörungen in der Welt einer unfreiwilligen PrinzessinZwei Jahre sind vergangen, seit Lottie auf das exklusive Internat Rosewood Hall gekommen ist und die Rolle der Prinzessin von Maradova eingenommen hat, um die echte Prinzessin Ellie zu schützen. Nachdem sie den Anschlagsversuchen der Gemeinorganisation Leviathan bereits zweimal nur knapp entkommen konnten, brauchen Lottie, Ellie und ihre Freunde dringend eine Auszeit. Sie reisen nach Japan, büffeln für die Prüfungen und schließen neue Freundschaften. Doch der nächste Schock lässt nicht lange auf sich warten: Leviathan spürt sie auf und versucht, Ellies Leibwächter Jamie auf seine Seite zu ziehen. Jetzt sind Lottie und Ellie im Kampf gegen Leviathan ganz auf sich allein gestellt und stehen vor großen Entscheidungen ...Der dritte Band der erfolgreichen Serie von Instagram-Ikone Connie Glynn – für alle Mädchen, die im Herzen Prinzessinnen sindAlle Bände der Serie »Prinzessin undercover«:Band 1: GeheimnisseBand 2: EnthüllungenBand 3: EntscheidungenBand 4: HoffnungenBand 5: Versprechen

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Connie Glynn

Prinzessin undercover – Entscheidungen

Roman

Aus dem Englischen von Maren Illinger und Marlene Frucht

FISCHER E-Books

 

Band 3

Inhalt

[Widmung]PrologErster Teil12345678910111213141516Zweiter Teil171819202122232425262728293031Dritter Teil3233343536373839Japanisches GlossarEine kurze Anmerkung zu japanischen Namen und Formen der höflichen AnredeDanksagung

Dieses Buch widme ich der Ratte,

die in dem Gebüsch vor meinem Haus lebt.

(Ich habe sie Zooms getauft.)

Prolog

Irgendetwas war Emelia ins Auge geraten, ein Staubkorn, das ihr die Tränen über die Wange laufen ließ. Schniefend rieb sie sich das Gesicht, ohne sich darum zu kümmern, dass die Wimperntusche zu einem schwarzen Pandaauge verschmierte. Das war auch schon egal.

»Emelia, bella! Alles in Ordnung?«, rief ihre Mutter. Neben ihr auf dem italienischen Designersofa saß Emelias Vater, doch der blickte nicht einmal von seinem Buch auf.

Es war beinahe ein Jahr her, dass Emelias ganzes Leben auf den Kopf gestellt worden war.

»Mir geht’s gut, Mama«, erwiderte sie mit erzwungener Heiterkeit. Durch den Ring aus schwarzer Farbe sah ihr Auge wie eine leere Höhle im Schädel aus. »Ich hab nur was im Auge.«

Vor knapp einem Jahr war Emelia entführt worden, zusammen mit einem Jungen namens Percival Butter. Er war der Sohn von Richard Butter, Besitzer der Butter-Company und Hauptkonkurrent der Süßwarenfabrik Hubbub, die ihrem Vater gehörte. Man hatte sie wohlbehalten und ohne erkennbare gesundheitliche Beeinträchtigungen wiedergefunden, doch sie konnte sich nicht an die kleinste Einzelheit ihrer Gefangenschaft erinnern. Es stellte sich also die Frage, warum …

»Emelia, ich finde, du solltest ins Bett gehen. Du hast morgen früh Leichtathletiktraining.« Ihr Vater blätterte eine Seite um und würdigte sie noch immer keines Blickes.

Emelia schaute aus dem Fenster. »Aber es ist noch gar nicht dunkel«, protestierte sie.

»Ich sagte, du solltest ins Bett gehen.« Seine Stimme war hart und duldete keinen Widerspruch.

Emelia riss sich zusammen, weil sie wusste, dass sie einen Kampf gegen ihn nicht gewinnen konnte. Sie griff im Vorbeigehen nach ihrem Trainingsplan, der auf dem Beistelltisch lag, und marschierte die Marmortreppe hinauf, wobei sie gegen den Drang ankämpfte, laut zu schreien und ihre Zimmertür hinter sich zuzuknallen.

Die Frage, die sie beschäftigt hatte, bevor sie so barsch nach oben geschickt worden war, lautete: Warum ist mein Vater, obwohl er mich wohlbehalten zurückbekommen hat, so enttäuscht?

Nach ihrer Rückkehr hatte ihr Vater sich von ihr abgewandt. Anfangs hatte er sie mit Argusaugen beobachtet, als erwartete er etwas von ihr. Was genau, blieb unklar. Mit der Zeit hatte sich seine Hoffnung in Enttäuschung verwandelt, und nun begegnete er ihr nur noch kalt und distanziert.

Natürlich hatte sie das völlig vor den Kopf gestoßen. Sie hatte alles Mögliche versucht, um seine Zuneigung zurückzugewinnen. Sie hatte mehrere neue Hobbys angefangen, schrieb in der Schule glänzende Noten und versuchte, ihn bei seiner Arbeit zu unterstützen. Doch nichts stimmte ihn wohlwollender.

Emelia nahm ihren weißen Hijab ab, faltete ihn sorgfältig zusammen und legte ihn in den makellosen goldenen Schrank, in dem sie ihre Kopftücher aufbewahrte. Sie besaß Tücher in allen möglichen Farben, doch das weiße mochte sie am liebsten. Es schenkte ihr ein Gefühl von Ordnung und Geradlinigkeit, es bedeckte ihre widerspenstigen Haare und machte sie zu einer Person, die man ernst nehmen musste. Und jetzt würde sie dafür sorgen, dass sie sich unter dem Tuch genauso fühlte. Sie holte zornig Luft und stieß beim Ausatmen alle Wut und Enttäuschung aus sich heraus.

In Gedanken ging sie noch einmal alle Informationen durch, die sie hatte: Vor ein paar Monaten war Percival Butter ins Krankenhaus eingeliefert worden, nachdem eine mysteriöse Gruppe namens Leviathan versucht hatte, die Prinzessin von Maradova zu entführen. Das war eine Tatsache.

Sie kniete sich auf den Boden und griff tief unter ihr Himmelbett, um eine unscheinbare Holzkiste hervorzuziehen. Sie hob den Deckel. Darin lagen stapelweise ausgeschnittene Zeitungsartikel: alles, was sie über Leviathan, Percy und die Prinzessin von Maradova hatte finden können.

Percival Butter war einer Gehirnwäsche unterzogen worden und konnte sich an nichts erinnern. Sein Vater hatte davon gewusst und es zugelassen. Eine weitere Tatsache.

Emelia war vor einem Jahr zusammen mit Percival entführt worden. Noch eine Tatsache.

Emelias Vater war aus Gründen, die sie nicht verstand, enttäuscht, dass die Gehirnwäsche bei ihr nicht funktioniert hatte und sein Plan, wie auch immer der aussehen mochte, nicht aufging. Das war reine Spekulation, aber es gab zwei Dinge, die Emelia mit Sicherheit wusste.

Erstens: Die Leute von Leviathan hatten ihr Leben zerstört.

Zweitens: Sie würde dafür sorgen, dass sie dafür bezahlten.

Ganz unten in der Kiste lag das, was sie brauchte, um sich wieder wie sie selbst zu fühlen. Frei und aufrichtig.

Emelia war ihr Leben lang die perfekte Tochter gewesen, die perfekte junge Frau, die stets tat, was man von ihr erwartete. Doch es war nie genug gewesen.

Sie ließ sich an ihrem aufwendig verzierten Frisiertisch nieder und griff nach einer Strähne ihrer dicken, schwarzen Locken. Dann setzte sie entschlossen die Schere an, und die seidenweichen Haarsträhnen flossen wie Wasser durch ihre Finger zu Boden. Zurück blieb nur ein kurzer schwarzer Haarschopf. Gleich darauf schaltete sie den elektrischen Rasierapparat ein, der in der Kiste gelegen hatte. Sie spürte die Vibration in den Fingerspitzen, ein tiefes, kräftiges Summen, als sie den Apparat an den Kopf hob. Sie führte ihn näher … noch näher … und hielt den Blick auf den Spiegel gerichtet, bis sie fühlte, wie auch die verbliebenen kurzen Haare sich um ihre Füße verteilten. Als sie den Blick schließlich senkte, lagen ihre Haare auf dem weißen Marmor wie sich windende schwarze Schlangen.

Geschafft.

Sie fuhr sich mit der Hand über den nackten Schädel. Seidigstachlige Haare bedeckten ihre Kopfhaut wie ein schimmernder Helm. Ihre Augen sahen irgendwie größer aus, melancholischer – dunkle Kugeln, die ihr aus einem unbekannten Gesicht entgegenstarrten. Sie lächelte, um die vertraute Fremde im Spiegel zu begrüßen.

Ein Summen auf ihrem Bett zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Die Anruferkennung zeigte nur eine 4 an, doch sie wusste sofort, wer es war.

»Hallo, Riri.« Sie grinste ins Telefon, während sie weiter ihr Spiegelbild bewunderte. »Wie geht es mit unserem Projekt voran?«

Das Mädchen am anderen Ende der Leitung stieß ein nachdenkliches Summen aus, das die im Hintergrund aufjaulenden Motoren übertönte.

»Wir versuchen immer noch, das Rätsel zu lösen.« Ihre Stimme klang zerstreut, und Emelia konnte sich ihren Gesichtsausdruck genau vorstellen. »Und bei dir?«

»Ganz gut.« Emelia setzte sich aufs Bett und streckte gedankenverloren den Zeigefinger aus, um eine Strähne darumzuwickeln. Doch es war keine mehr da. Wieder starrte sie ihr neues Ich an. Ihr Kopf fühlte sich leichter an, ihr Körper frei. Sie lächelte wieder.

»Du wirst nicht glauben, was ich gerade getan habe.«

Erster Teil

お邪魔します

Ojama-shimasu

Japanischer Gruß:

Entschuldigen Sie die Störung.

1

Sie musste es nur durch das Tor schaffen.

»Da ist sie!«, rief eine Stimme aus der Menge, die sich immer enger um das Auto drängte.

Hinter dem goldenen Tor von Rosewood Hall lag die Schule mit ihren in der Sonne glänzenden Fenstern und den rosenverzierten Pfeilern. Ihr sicherer Hafen. Hier draußen jedoch breitete sich drohend die Flut dieser Fremden aus.

Reporter.

Normalerweise hielt das Tor sie auf Distanz, aber die Straße davor war Niemandsland. Hier war alles erlaubt – und Lottie war die beste Story, die diese Journalisten kriegen konnten. Bis sie durchs Tor war, war Jagdzeit.

Doch zuerst musste sie Ellie vor dieser geifernden Meute in Sicherheit bringen.

»Nikolai«, flüsterte sie, »bitte bring Ellie unauffällig in die Schule. Ich werde sie ablenken.«

»Aber Lottie …«, setzte ihre Prinzessin schniefend an.

»Schon gut, Ellie. Mach dir keine Sorgen.« Sie warf ihr einen beruhigenden Blick zu. »Das ist mein Job, schon vergessen?«

Sie hatte sich bereits nach dem Vorfall in der Villa der Tompkins mit der Presse herumschlagen müssen, und Lottie hatte alle Fragen gut beantwortet, allerdings hatte sie damals auch Simien Smirnov, den Berater des Königs, an der Seite gehabt. Er hatte sie vorgewarnt, dass sie nun sicher Blut geleckt hätten und irgendwann mehr wollen würden. Und nach den Gesichtern der Journalisten zu urteilen, war dieser Moment gekommen.

»Wir sehen uns drinnen«, raunte Lottie ihrer Prinzessin ins Ohr und setzte ein strahlendes Lächeln auf. Ellie putzte sich die Nase und verschwand in der Menge.

In den zwei Jahren, seit Lottie sie kannte, hatte Ellie nicht ein einziges Mal auch nur einen Schnupfen gehabt. Es war seltsam, jetzt die fiebrige Röte auf ihrer sonst so blassen Haut zu sehen, die tiefen Ringe unter ihren Augen und die trockenen, aufgesprungenen Lippen.

Ellies besorgniserregender Anblick erfüllte Lottie mit wütender Entschlossenheit. Sie war ihre Porterin, und es war ihre Aufgabe, ihr die Bürde des Prinzessinnendaseins abzunehmen, damit Ellie ein ganz normales Leben führen konnte. Krank wurden Menschen, die Stress oder Sorgen hatten. Aber keine Prinzessin.

Die Sorgen waren Lotties Job.

Als Lottie aus der Limousine stieg, war es wolkig, aber warm, ein typisch britischer Sommertag. In der Luft knisterte die Vorahnung eines Sturms.

Also los.

Selbstsicher warf Lottie sich ins Gefecht.

»Gibt es neue Informationen über die Gruppe Leviathan?«

»Warum habt Ihr Euch seit dem Vorfall nicht mehr in der Öffentlichkeit gezeigt? Habt Ihr Angst?«

»Bekommen wir ein Lächeln?«

Sei freundlich, sei mutig und gib niemals auf! Sei freundlich, sei mutig und gib niemals auf! Lottie wiederholte die Worte immer wieder in ihrem Kopf, während sie mit dem Finger auf den Wolfsanhänger über ihrer Brust klopfte. Dann hob sie die Hand und rückte ihre Krone zurecht.

Der halbmondförmige Opal an der Spitze der Krone blinkte der Sonne entgegen, als sie entschieden das Kinn reckte, und die Kraft des silbernen Kopfschmucks durchzuckte sie und erinnerte sie daran, dass sie nie allein war, dass sie einen Teil ihrer Familie immer bei sich trug.

Würdevoll schritt sie die Reihe der Reporter entlang. An ihrer Seite, wo eigentlich der Partist der Prinzessin hätte sein sollen, war ein einfacher Bodyguard. Samuel war ein netter Kerl, und er konnte natürlich nichts dafür, dass Jamie nicht bei ihnen war. Jamie hatte sich strikt geweigert, sie dabei zu begleiten, die Noten auf die Examensprüfungen persönlich in Empfang zu nehmen.

Instinktiv umklammerte sie den Wolf über ihrem Herzen. Es war der gleiche Anhänger, den auch ihre Prinzessin trug, ein Geschenk, mit dem sie in die königliche Familie aufgenommen worden war und das sie daran erinnerte, dass sie alle miteinander verbunden waren. Doch nun hatte Jamie die Verbindung zerbrochen, und es schmerzte wie eine Wunde in ihrer Brust.

Ein Mikrophon wurde ihr forsch ins Gesicht gehalten. Die Hand, die es hielt, stank nach Zigaretten.

Lottie starrte den Reporter an, der seine Frage aggressiv wiederholte.

»Gibt es schon Erkenntnisse, warum Leviathan hinter Euch her ist, Prinzessin?«

Lottie holte tief Luft, um mit ruhiger Stimme zu antworten: »Es gibt keine neuen Erkenntnisse. Soweit wir wissen, ist Leviathan …« Ihre Kehle wurde trocken, als sie den Namen aussprach, und Erinnerungen an Ingrid und Julius kamen wieder hoch. Sie waren das tödliche Duo, das sie beinahe entführt hätte. »Soweit wir wissen, haben sie es auf die Kinder einflussreicher Familien abgesehen, doch ihre Absicht ist bisher unbekannt.«

Samuel legte ihr schützend einen Arm um die Schultern und führte sie zielstrebig an den Reportern vorbei. Lottie verzog unwillkürlich das Gesicht.

Sie hatte die Wahrheit gesagt. Zumindest beinahe.

Denn die ganze Wahrheit war wesentlich schwerer zu verdauen – dass sie nicht die geringste Ahnung hatten, was Leviathan wirklich plante. Sie hatten nur die schreckliche Theorie, dass die Gruppe die Kinder einflussreicher Familien kontrollieren wollte, und dass Lottie und ihre Freunde ihnen möglicherweise das Mittel dazu geliefert hatten, als sie die Hameln-Formel gefunden hatten – die Rezeptur zu einem hochgefährlichen Chemiecocktail, der dazu verwendet werden konnte, Menschen zu manipulieren.

»Das alles muss sehr schwer für Euch gewesen sein«, rief ihr ein Mann hinterher. Seine Stimme triefte vor geheucheltem Mitgefühl. Die Versuchung, die Augen zu verdrehen, war beinahe zu groß. »Habt Ihr es geschafft, wieder in der Normalität anzukommen?«

Wohl kaum.

Lottie brachte die Stimme in ihrem Kopf zum Schweigen und wandte sich lächelnd an die Menge.

Fragen dieser Art kamen am häufigsten. Persönliche Fragen. Alle wollten die geheimnisvolle maradovische Prinzessin besser kennenlernen, die aus ungeklärten Gründen in den Mittelpunkt einer mysteriösen Verschwörung geraten war.

Lottie konnte es nicht lassen, sich die Gesichter der Reporter vorzustellen, wenn sie erführen, dass sie gar nicht die echte Prinzessin war – sondern nur eine professionelle Täuschung, eine Stellvertreterin für Ellie, die mittlerweile zum Glück unbehelligt hinter den Schulmauern angekommen war.

»Die wollen bloß eine gute Story«, hatte Simien sie vorbereitet. »Und eine gute Prinzessin.«

Mit diesen Worten im Hinterkopf strich Lottie sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. Sie hatte sich die Haare sorgfältig zu einem Knoten hochgesteckt, auf einen weiteren Rat von Simien hin, der ihre zottelige Löwenmähne für zu lang und widerspenstig für öffentliche Auftritte befunden hatte. Sie schneiden zu lassen, brachte sie nicht über sich.

»Ich habe viele wunderbare Menschen um mich herum, die mir Halt geben«, sagte sie. »Sie sind alle sehr verständnisvoll und geduldig, und das Lernen beruhigt mich und ist eine willkommene Abwechslung.« Lotties strahlendes Lächeln ließ keinen Zweifel daran, wie überaus gern sie lernte.

Seht nur her, was für eine eifrige Schülerin die Prinzessin von Maradova ist!

Eine Kamera blitzte so dicht vor ihrer Nase, dass sie Sternchen sah. Lottie geriet kurz ins Wanken und hob schützend eine Hand vors Gesicht.

»Keine Fotos oder Videos«, mahnte Samuel prompt und schirmte Lottie ab.

Die nächste Frage war besonders unerfreulich, dabei hätte sie mittlerweile daran gewöhnt sein sollen. Schließlich wurde sie ihr jedes Mal gestellt.

»Euer Kleid steht Euch hervorragend, Prinzessin! Wen tragt ihr?«

Lottie stellte sich vor, wie Ellie diese lächerliche Frage beantworten würde. Ich trage die Haut der Prinzessin, die offiziell als Eleanor Wolfson bekannt ist!

Sie schluckte das Lachen hinunter, das in ihrer Kehle aufstieg, und lief rot an, was die Reporter hoffentlich als Bescheidenheit und nicht als Gereiztheit deuteten.

»Ich trage eine moderne Interpretation des traditionellen maradovischen Sarafans. Am A-Linien-Schnitt, der aufgestickten Sonne und dem verspielten Design erkennen Sie sicherlich die Hand von Léon Marie.«

Sie konnte regelrecht hören, wie Ellie Würgegeräusche von sich gab. Zu Recht. Es war eine unerhörte Verschwörung im Gange, und diese Idioten interessierten sich nur für ihr Kleid! Sie wünschte, die Reporter würden die Lage ernster nehmen.

Ein Wunsch, den sie schnell bereuen sollte.

Samuel geleitete sie weiter durch die Menge und nickte ihr kaum merklich zu, um ihr zu versichern, dass sie ihre Sache gut machte. Sie waren schon kurz vor dem Tor und konnten bereits den Rosengarten sehen. Nur noch wenige Schritte, und sie wäre frei.

»Stimmt es, dass die Prinzessin an einem Fechtturnier teilgenommen hat?« Eine klare, kräftige Stimme mit dem selbstbewussten Akzent der amerikanischen Westküste übertönte die anderen Fragen. Die Worte ließen Lottie unerwartet zusammenzucken. »Warum wart Ihr dann in der Villa und nicht auf dem Turnier?«

Lottie überlief es kalt. Es war das erste Mal, dass man ihr eine so argwöhnische Frage stellte, und sie blickte die scharfsinnige Reporterin überrascht an. Eine junge Frau im Hosenanzug mit rechteckigen Brillengläsern und einem scharfkantigen schwarzen Bob erwiderte ihren Blick. Sie schien inmitten der Journalistenmeute ihren eigenen Platz innezuhaben und stach heraus wie ein Leuchtturm. Auf dem Namensschild an ihrer blauen Bluse stand AIMEE WU, CLEAR LINE MEDIA.

Lottie wollte weitergehen, doch beim Anblick von Aimee Wus Gesichtsausdruck blieb sie wie angewurzelt stehen.

»Wir waren auf der Suche nach der Hameln-Formel«, erwiderte sie ruhig. Das goldene Tor war fast in Reichweite. Der vertraute süße Duft nach Rosen und Lavendel strömte ihr entgegen und lockte sie in die Sicherheit des Gartens.

»Ist das die gefährliche Formel, nach der Leviathan gesucht hat?«

»Ja.«

»Warum habt Ihr nicht die Schule darüber informiert? Und was genau ist mit der Hameln-Formel passiert?«

In Lotties Brust wurde es heiß. Sie wusste nicht, welche Frage sie zuerst beantworten sollte.

Die anderen Reporter waren verstummt. Alle Augen waren auf Aimee Wu und Lottie gerichtet.

»Unglücklicherweise ist die Formel Leviathan in die Hände gefallen. Keiner weiß, was sie damit anstellen werden, sollte sie wirklich funktionieren. Was die zweite Frage angeht, so haben wir fälschlicherweise angenommen, dass wir …« Lotties Kehle wurde eng beim Gedanken daran, wie falsch sie gelegen hatten. Das Ganze war eine Falle gewesen. Sie hatten Leviathan zu der Formel geführt wie abgerichtete Hunde. Aimee Wu nutzte die Gelegenheit, um eine weitere Frage einzuwerfen wie eine Handgranate.

»Wer ist ›wir‹?« Bevor Lottie antworten konnte, schob sie noch eine Frage nach. »Außerdem wurde uns bei der Pressekonferenz auf dem Anwesen der Tompkins gesagt, die Hameln-Formel werde an einem sicheren Ort verwahrt, zu dem niemand Zugang habe. Wie kommt es also, dass diese Leviathan-Leute sie in die Finger bekommen haben?«

»Mit ›wir‹ meine ich meine Freunde …« Während sie sprach, konnte sie plötzlich ganz deutlich den Puderzuckergeruch aus der Fabrik riechen, und es verschlug ihr fast den Atem. Samuel war dicht neben ihr und schob sie durchs Tor.

Die Erinnerung an Leviathan war nicht die einzige, die Lottie beschäftigte. Sie erinnerte sich auch an den Geschmack eines Kusses, süß vom Zucker der Fabrik. Ein Moment des Glücks, bevor alles in Flammen aufgegangen war. Sie war sich ganz sicher gewesen, dass sie und Ellie etwas Besonderes erlebt hatten, und doch hatte ihre Prinzessin hinterher behauptet, es habe nichts zu bedeuten.

Aber warum, fragte sich Lottie, weigert Ellie sich dann, darüber zu sprechen?

»Prinzessin?«, hakte Aimee Wu nach und riss Lottie aus ihren Gedanken.

»Meine Freunde aus Rosewood und mich«, antwortete sie hastig. »Leviathan hat die Formel bekommen, weil wir den Schlüssel zum Versteck gefunden haben.«

Der Schlüssel war, wie sich herausgestellt hatte, ein besonderes Musikstück gewesen. Wenn die Melodie auf dem Klavier des alten Tompkins gespielt wurde, öffnete ein Mechanismus ein Geheimfach an der Seite des Instruments, in dem die Formel verborgen war. In dem Moment war es ihnen wie Zauberei vorgekommen. Dabei war es eher übelstes Hexenwerk.

Lottie merkte, dass sie die Fassung verloren hatte. Sie stammelte wie ein Kind. Aimee Wu bombardierte sie so schnell mit Fragen, dass sie keine Zeit hatte, ihre Gedanken zu ordnen.

Warum fragt sonst keiner was?

»Wie haben die Leute um Leviathan den Schlüssel gefunden?«

»Sie haben ihn uns gestohlen.«

»Habt Ihr den Schlüssel gefunden?«

Lotties Herz hämmerte in ihrer Brust. Sie verhielt sich völlig falsch. Die Journalisten mussten das alles gar nicht wissen – sie sollten es nicht wissen. Sie hatte zu viel gesagt.

»Es tut mir leid, aber ich muss jetzt gehen. Ich muss meine Examensergebnisse abholen.« Ein leichter Wind erhob sich, und als sie sich umdrehte, sah sie Rosenblüten durch die Luft fliegen wie zum Willkommensgruß. Sie schaute über die Schulter und fügte in einem Anfall von Trotz hinzu: »Ich rechne mit vorzüglichen Noten.«

Lotties Blick war auf eine einzige Person gerichtet. Aimee Wu. Ihre Brille spiegelte das Sonnenlicht, und sie senkte den Blick, um etwas auf ihren Notizblock zu kritzeln. Mit jedem Kratzen ihres Stifts auf dem Papier wurde das ungute Gefühl in Lotties Magen stärker.

Samuel legte ihr wieder den Arm um die Schultern, schirmte mit seinem breiten Kreuz alle weiteren Fragen ab und stieß das goldene Tor auf. »Komm«, sagte er leise. Sie folgte ihm, konnte jedoch noch immer nicht den Blick von Aimee Wu lösen, die wie hypnotisierend zurückstarrte. Und dann, gerade als Lottie durchs Tor trat, stolperte sie.

Der Boden kam rasch auf sie zu, und sie streckte die Hände aus, um den Aufprall zu mildern. Kameras blitzten, und Samuels Stimme wurde laut.

Eine starke Hand zog sie nach oben. Sie spürte, dass sie sich die Knie aufgeschlagen hatte, und der Arm, mit dem sie sich abgefangen hatte, schmerzte. Doch blaue Flecke waren die geringste ihrer Sorgen.

Während sie verwirrt und mit rotem Gesicht weiterhumpelte, konnte sie Aimee Wus brennenden Blick am Hinterkopf spüren. Die Reporter kicherten, während sie höchstwahrscheinlich ihre Fotos von der gestürzten Prinzessin verglichen.

Ich hab es so richtig verbockt.

2

»Wir hätten nicht herkommen sollen. Ha-ha-ha …«

»Hier.« Lottie reichte Ellie ein Taschentuch, gerade als sie ein gewaltiges Niesen ausstieß.

»Hatschiii!« Ellie verbarg das Gesicht hinter dem Tuch und putzte sich geräuschvoll die Nase, bevor sie den Kopf hob und mit tränenden Augen Rosewood Hall betrachtete.

Am Ende der rosengesäumten Auffahrt thronte die Schule der Ehrlichen, Entschlossenen und Einfallsreichen. Sie hob sich vor ihnen in die Höhe, von Sonnenlicht umflutet wie das Antlitz einer alten Gottheit und ebenso ehrfurchtgebietend. Jeder Schritt fühlte sich an wie ein Schritt Richtung Sicherheit.

Aber irgendetwas stimmte nicht. Es waren nicht nur ihr Sturz und die heißhungrigen Blicke, die ihr folgten. Für einen Moment waren die Gerüche, die sich sonst nach Heimat anfühlten, sauer geworden. Lottie war froh, dass Ellies Nase verstopft war.

Sie reichte ihrer Freundin noch ein Taschentuch und blieb an ihren Augen hängen. Dunkle Mitternachtsozeane, die sie in die Tiefe zogen. Mittlerweile waren sie und Ellie fast gleich groß, der Abstand zwischen ihnen schrumpfte mit jedem Zentimeter, den Lottie wuchs. Sie konnte jetzt direkt in diese faszinierenden dunklen Gewässer sehen, wann immer ihre Blicke sich begegneten.

»Danke«, grummelte Ellie. Sie schnäuzte sich noch einmal, und der Moment war vorbei. »Wir hätten uns die Ergebnisse schicken lassen sollen. Dann hätten wir jetzt unsere Ruhe.« Mit einem kaum merklichen Zögern fügte sie hinzu: »Ruhe vor diesen Reportern. Sieh nur, was sie dir angetan haben.« Ihr Gesicht wurde düster. »Ich sollte ihnen eine Lektion erteilen.«

In ihrem schwarzen Oversize-Pullover mit dem Emblem einer Band auf der Vorderseite und der zerrissenen Netzstrumpfhose war sie weder für den warmen britischen Sommer noch für ihre Erkältung passend gekleidet. Lottie dachte, dass sie im Fieber delirieren musste, wenn sie glaubte, in diesem Aufzug irgendwem eine Lektion erteilen zu können.

Mit einem aber hatte sie recht: Die Rückkehr nach Rosewood fühlte sich zunehmend wie eine falsche Entscheidung an.

Rosewood Hall war Lotties Zuhause – auf mehr als eine Art, wie sie erst kürzlich herausgefunden hatte. Sie hatte ein Geheimnis enthüllt, das fast noch brisanter war als ihr hochvertraulicher Status als Ellies Porterin. In einem Strudel von Ereignissen, die ihr immer noch völlig unwahrscheinlich vorkamen, hatte sich herausgestellt, dass die Gründerin der Schule die entflohene Prinzessin Liliana Mayfutt gewesen war – und Lotties Vorfahrin. Über Generationen hinweg hatte sie Lottie ihre Krone als funkelndes Rätsel vermacht, das darauf wartete, von ihr gelöst zu werden.

Ihr Leben lang hatte Lottie davon geträumt, eine Prinzessin zu sein. Sie hatte diese Träume selbst für nichts anderes als die kindischen Phantasien eines märchenversessenen Mädchens gehalten. Als sich ihr die Gelegenheit bot, professionell die Rolle einer Prinzessin zu übernehmen, um Ellies Identität zu schützen und ihr die Freiheit zu ermöglichen, die den meisten Menschen königlichen Geblüts verwehrt ist, wäre sie nie auf die Idee gekommen, sie könnte selbst königlicher Herkunft sein. Die Schule lag ihr im Blut.

Warum war sie dann ausgerechnet gestürzt, als sie gerade durchs Tor getreten war? Rosewood war doch ihr sicherer Hafen – nicht ein Ort der Verunsicherung.

»Ach was, alles bestens«, flunkerte Lottie. »Außerdem tut es gut, ein bisschen herumzukommen. Es wird bestimmt toll, ein paar Tage bei Binah zu verbringen.«

Es steckte nämlich mehr hinter dieser Reise als die Absicht, ihre Examensnoten abzuholen. Wenn es nach Lottie gegangen wäre, wären sie gleich nach den Prüfungen in Rosewood geblieben. Sie fand, dass Ellie sich vom maradovischen Palast fernhalten sollte. Er machte sie krank, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.

Wie aufs Stichwort wurde Ellie von einem Hustenanfall geschüttelt. Als er vorüber war, rang sie sich ein schwaches Lächeln ab.

»Lass uns die anderen suchen. Und möglichst weit von diesen Reportern wegkommen«, schlug Lottie vor.

»Hatschiii!«

»Gesundheit, Ellie! Hallo, Lottie!«

Die Mädchen blickten auf. Unter dem großen steinernen Torbogen vor dem Empfangsgebäude stand ein Mädchen mit dunklen Kräusellocken und einem gelben Mantel. Ein rosiger Urlaubsschimmer ließ ihre dunkelbraune Haut strahlen.

»Du bist ja erkältet, Ellie!« In Binahs Brillengläsern spiegelte sich das Sonnenlicht. »Ich werde dir meinen Spezialtrank mit Honig und Ingwer zubereiten, wenn wir bei mir sind. Damit lässt sich alles kurieren.«

»Ach, ist schon in Ordnung …« Ellie fing Lotties Blick auf und schaute schnell wieder weg. »Mir geht’s gut. Kommt, lasst uns endlich unsere Ergebnisse holen.«

Sie gaben Nikolai Olav und Samuel ein Zeichen, draußen zu warten, und betraten das Gebäude. Sie bemühten sich, kein Aufsehen zu erregen, doch das war mit Ellies Aufzug als Achtzigerjahre-Rockstar und Lotties Prinzessinnenkleid gar nicht so leicht.

Die Halle empfing sie mit knarrenden Holzdielen und saphirblauen Lichtstrahlen, die durch die bunten Fensterscheiben hereinfielen und direkt auf Ellie schienen.

Es war warm und stickig und roch nach Deo und Parfüm. Während die Freundinnen zum Empfangstisch gingen, spürte Lottie die Blicke der anderen Schüler im Rücken. Konnten sie eigentlich nirgendwohin gehen, ohne dass man sie anstarrte?

Eine rothaarige Vertrauensschülerin aus Conch trat ihnen entgegen. Auf ihrem Namensschild stand JESS PARKER-SCOTT. Sie entblößte ihre perfekt gebleichten Zähne zu einem blendenden Lächeln. O nein. Nicht noch mehr Fragen.

Doch dies war nicht die Art Frage, mit der sie gerechnet hatte.

»Hallo! Habt ihr schon mal darüber nachgedacht, an einem unserer ausgezeichneten Sommerkurse an Rosewoods internationaler Partnerschule teilzunehmen?« Die Wimpern des Mädchens klimperten. »Dabei könnt ihr viel lernen und sogar Extrapunkte für eure Examensnote sammeln, und das alles im schönen Japan!«

Das Mädchen schob jeder von ihnen eine glänzende Broschüre in die Hand. Ihre rotlackierten Fingernägel funkelten wie Klauen. »Die Bewerbungsfrist läuft noch, aber nur noch drei Tage.« Ihr Lächeln wurde noch breiter, und ihre Zähne strahlten in überirdischem Glanz. Lottie musste sich zusammenreißen, um nicht die Augen zusammenzukneifen. »Vielen Dank.«

Hinter dem Mädchen sah sie eine Lehrerin Umschläge aushändigen. Die Examensergebnisse. Deshalb waren sie hier. »Wenn du uns jetzt entschuldigen würdest …«

Die Freundinnen gingen weiter, während sich die Vertrauensschülerin an eine andere Gruppe wandte. Gleich waren sie am Empfangstisch. Auf diesen Moment hatten sie gewartet. Jetzt würden sie erfahren, ob ihre Mühen belohnt worden waren.

»Nur keine Panik«, murmelte Lottie. »Viel Glück«

 

In Lilianas geheimem Atelier war es kühl im Vergleich zum warmen Sonnenschein draußen. Anstelle der blühenden Blumen umgaben sie hier muffige Wolldecken und staubige Möbel, und der weiche Schein von Fackeln und Lichterketten erleuchtete ihr Geheimversteck in den Tiefen der Schule, wohin sie sich zurückgezogen hatten, um die Umschläge mit ihren Noten zu öffnen.

Binah ordnete die Sitzkissen kreisförmig an, während Ellie in ihrer Tasche wühlte.

An einer Wand des Ateliers stand ein sehr altes Möbelstück – Lilianas Schreibtisch. In einer seiner Schubladen lag ein jahrhundertealtes Tagebuch. Lilis Tagebuch.

Lottie hatte vorgehabt, das Tagebuch nach dem Examen mitzunehmen und ausgiebig darin zu lesen, um alles über ihre mysteriöse Ahnin zu erfahren.

»Lottie«, brachte Ellie unter Niesen hervor. »Meine Eltern haben mich gebeten, dir das hier zu geben.« Sie reichte ihr einen Umschlag, der mit dem Wolfswappen des maradovischen Königshauses versiegelt war.

Lottie öffnete ihn vorsichtig und fand einen Brief darin. Er war nur wenige Zeilen lang, trotzdem machte jedes einzelne Wort sie unerklärlich nervös.

Herzlichen Glückwunsch zu einem weiteren erfolgreichen Jahr.

Die maradovische Königsfamilie dankt Dir für Deinen unermüdlichen Einsatz.

Der Brief war von König Alexander persönlich unterschrieben und mit seinem Zeichen gestempelt, einem purpurroten Dreieck, das von drei Kreisen umgeben war. Lottie hatte es erst einmal zuvor gesehen. Es war der Beweis, dass der Brief von ihm persönlich stammte.

»Was schreiben sie?« Ellie beugte sich neugierig vor.

»Es ist nur ein Dankesbrief. Kein Grund zur Sorge.« Lotties Finger schlossen sich um das schwere Papier und drückten es zusammen.

Laute Schritte ertönten auf der Treppe, und sie stopfte den Brief in eine der Schreibtischschubladen.

»Einfach unfassbar. C’est ridicule!« Anastasias Stimme eilte ihr voraus, Micky und Lola Tompkins und Raphael folgten ihr nervös, und Percy bildete das Schlusslicht. Alle fünf kamen ins Atelier.

»Wie können sie es wagen?« Anastasias Stimme war gefährlich leise, und Lottie bemerkte, dass sie wieder ihre Sonnenbrille trug. Ihre kastanienbraune Mähne war zu einem zerzausten Knoten gebunden, ein schlechtes Zeichen für ein Mädchen, das seine Haare normalerweise so liebevoll pflegte wie Autoliebhaber einen seltenen Oldtimer.

»Was ist los?«, fragte Ellie, doch alle ignorierten sie.

»Anastasia, es wird schon wieder in Ordnung kommen«, zwitscherte Lola und zuckte erschrocken zurück, als Anastasia sich wütend zu ihr umdrehte.

»Wird es nicht, Lola. Das ist die schlechteste Nachricht, die ich je bekommen habe«, fauchte sie.

Percy legte Anastasia beschwichtigend die Hand auf die Schulter. Wenn sie die arme Lola so anschrie, musste die Nachricht tatsächlich ziemlich schlecht sein.

Lottie beobachtete die Szene von der anderen Seite des Raums. Sie fühlte die emotionalen Narben aus der Tompkins-Villa wie frische Wunden aufbrechen. Kein Wunder, dass sie sich stritten. Es gab so vieles, worüber sie noch nicht gesprochen hatten.

»Ani«, sagte Binah ruhig und trat vorsichtig einen Schritt auf sie zu. »Jetzt atme mal tief durch und erklär uns, was los ist.«

Anastasia keuchte wie ein Tier in der Falle. Sie hielt Binahs Blick fest, und langsam wurde ihr Atem ruhiger.

»Es geht um Saskia.« Anastasia schüttelte sich wütend. »Der Rat der Partisten hat offiziell bestätigt, dass Saskia Opfer von Gehirnwäsche geworden ist, aber die Schatzmeister von Rosewood wollen sie nicht zurück an die Schule lassen, weil sie ein ganzes Jahr verpasst hat. Angeblich wegen der strengen Richtlinien.«

Lottie spürte Anastasias vorwurfsvollen Blick auf sich gerichtet, als wäre es ihre Schuld, dass Saskia im Kerker von Maradova gefangen gehalten worden war. Dabei war es doch Saskia gewesen, die man überzeugt hatte, sie zu entführen.

»Kann sie das Jahr denn nicht wiederholen?«, fragte Ellie besorgter, als Lottie erwartet hätte.

»Es ist nicht nur das.« Anastasia ließ sich in den breiten Sessel in der Mitte des Raums fallen. Eine Krone aus goldenen LED-Lämpchen schwebte über ihr. »Der Rat sagt, sie könnten ein paar Strippen ziehen, wenn sie ihnen Informationen über Leviathan gibt, aber …«

Die Stimmung im Raum gefror. Alle konnten sich denken, wie der Satz weiterging. Saskia dazu zu bringen, über den mysteriösen Meister von Leviathan zu sprechen, war ein aussichtsloses Unterfangen. Die Partistin war wie mit einem Bann belegt. Bei der bloßen Nennung seines Namens starrten ihre Augen angstvoll ins Leere. Nikolai hatte ihnen berichtet, was sie bei ihrer ersten Vernehmung gesagt hatte: »Ich darf ihn nicht enttäuschen.«

Die unzähligen Verhöre hatten nur ein klares Ergebnis erbracht: Wer auch immer der Meister von Leviathan war, er hatte sein Gefolge fester im Griff, als sie es sich je hätten vorstellen können.

»Beruhige dich, Anastasia«, sagte Lottie. »Wir lassen uns etwas einfallen. Wir müssen ihnen klarmachen, dass Saskia in dieser Sache nicht frei entscheiden kann.«

Anastasias Schultern entspannten sich etwas.

»Ich wechsle ja nur ungern das Thema«, meldete Raphael sich zu Wort. Er sah von ihnen allen am erholtesten aus, seine Haut war taufrisch und zeigte keine Spuren von schlaflosen Nächten. »Aber kommt Jamie eigentlich noch?«

Der arme Raphael! Er hatte sich so bemüht, Jamie ein guter Freund zu sein, und Lottie wusste besser als jede andere, wie schwer das in Anbetracht von Jamies Sturheit sein konnte. Sie selbst war zu dem Ergebnis gekommen, dass man Jamie seine Probleme am besten allein lösen ließ, doch seit einiger Zeit fragte sie sich, ob das wirklich so eine gute Idee war.

»Nein, er kommt nicht«, sagte Ellie knapp. Ihr Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass sie keine Lust hatte, weiter darüber zu sprechen.

Ellie und Jamie hatten in der letzten Zeit kaum noch ein Wort miteinander gewechselt, die beiden waren mehr und mehr auseinandergedriftet. Anfangs hatte Lottie darauf gehofft, dass Jamie sich Ellie von allein wieder annähern würde, aber mittlerweile zweifelte sie daran. Und je länger die Funkstille zwischen den beiden dauerte, desto kälter wurde es zwischen ihnen.

»Wie schade«, sagte Raphael. Sein enttäuschtes Gesicht spiegelte die Mienen der anderen.

Lottie wandte sich dem Umschlag mit ihren Examensnoten zu. Sie wollte jetzt endlich etwas Normales, Produktives tun.

Micky seufzte.

»Geht es nur mir so«, fragte Lola, und ihr dünnes Stimmchen hallte durch den großen Raum, »oder fühlt ihr euch auch so mies?«

Die anderen nickten schweigend. Ja, sie waren zurück in ihrem geliebten Rosewood, aber es fühlte sich nicht so an wie früher. Seit dem Vorfall in der Tompkins-Villa hatte sich etwas verändert.

Schluss jetzt! Lottie schob einen Finger unter die Umschlagklappe, riss sie auf und zog die gelbe Karte mit ihren Ergebnissen heraus.

»Es ist, als würde etwas fehlen«, stimmte Micky Lola zu. »Als wären wir noch nicht bereit, wieder hier zu sein.«

Lottie starrte auf die Zahlen in ihren Händen. Der schwache Schein der Lichterkette trübte ihr die Sicht.

Herzlichen Glückwunsch zu einem weiteren erfolgreichen Jahr …

Die Worte des Königs verhöhnten sie, während die Zeit stehenblieb und Lottie der grässlichen Realität ins Auge blickte, die grimmig zurückstarrte.

Es war unmöglich. Sie hatte so hart gearbeitet. Sie war eine gute Schülerin. Das wussten alle.

»Ähm, Leute …« Ihre Stimme war unerwartet ruhig, als wäre sie losgelöst von allem und schwebte über ihr. Sie hob den Blick und streckte die Hand mit der Karte aus. »Ich bin durchgefallen.«

3

Wenn Lottie sich einer Sache sicher gewesen war, dann waren es ihre guten Noten. In ihren schlimmsten Albträumen – dass Leviathan Ellie Schaden zufügte, dass Jamie für immer verloren war – war ihr nie in den Sinn gekommen, dass etwas so Banales ihr Untergang sein könnte. Dass sie die Versetzungsprüfung nicht bestehen würde.

Es fehlten nur wenige Punkte, aber die würden reichen, um sie aus Rosewood auszuweisen. Wenn das passierte, wäre ihre Rolle als Porterin ernsthaft in Gefahr.

»Das kann nicht sein.« Ellie riss Lottie die Karte aus der Hand und starrte auf die Ergebnisse. »Das ergibt überhaupt keinen Sinn. Allein die Englischnote ist viel zu schlecht. Glaubst du, Leviathan hat …?«

»Aber warum?«, erwiderte Lottie. »Und selbst wenn es ihnen gelungen ist, irgendwie das Notensystem zu manipulieren, was könnten wir dagegen tun?«

»Ellie hat recht«, sagte Anastasia und pflückte die Karte aus Ellies Hand. »Du hast so hart gearbeitet. Die Noten können nicht stimmen.«

Eigentlich glaubte Lottie selbst, dass irgendjemand sich eingemischt haben musste, denn dazu hätte sie es nie kommen lassen. Es stand viel zu viel auf dem Spiel.

Oder doch?

Bevor sie Zeit hatte, dem Zweifel Raum zu geben, merkte sie, dass Percy und Binah sich aufgeregt in Gebärdensprache unterhielten. Es sah so aus, als glaubten auch sie, dass an der Sache etwas faul war.

Es war ein sonderbares Gefühl, sich umzublicken und in den Gesichtern ihrer Freunde nichts als unerschütterliches Vertrauen zu sehen. Keiner schien auch nur im Entferntesten zu glauben, dass sie tatsächlich durchgefallen sein könnte.

»Es hat einen Einbruch gegeben«, verkündete Binah, während Percy bestätigend nickte. »Im Hauptbüro, in dem die Examenszeugnisse ausgestellt werden. Es haben sich keine Zeugen gemeldet, und es gab bisher keine Verdächtigen – es wurden nur ein paar wertlose Sachen gestohlen, aber jemand hat sich an den Datenträgern für die Zeugnisse zu schaffen gemacht. Percy glaubt, dass Leviathan dahinterstecken könnte – jemand von ihnen könnte den Computer gehackt oder ein Mitglied der Lehrerschaft manipuliert haben.«

»So muss es sein!«, rief Raphael. »Leviathan hat deine Noten gefälscht. Du musst nur dein Zeugnis bei der Examenskommission anfechten, dann wird sich alles klären.«

Diese Lösung stimmte Lottie nicht gerade zuversichtlicher. Denn es gab eine Frage, die sehr viel wichtiger war, als die Frage, wie sie es gemacht hatten.

Warum sollten sie ihre Noten fälschen? Was wollten sie?

»Versteht ihr denn nicht? Wahrscheinlich wollen sie, dass ich die Note anfechte.« Kopfschüttelnd wandte sie sich an Ellie, die grimmig die Zähne zusammenbiss. »Es spielt keine Rolle, ob Leviathan dahintersteckt. Wir haben keine Beweise, und wenn wir zu viel Wind um die Sache machen, denken die Leute vielleicht, ich wäre wirklich durchgefallen und würde einen Schuldigen suchen.«

Brütendes Schweigen machte sich breit, während alle die bittere Wahrheit verdauten. Mittendrin stand Ellie mit einer Miene, als hätte sie auf eine Zitrone gebissen.

In der Stille erhob sich ein kleines Stimmchen in Lotties Kopf, das den Wunsch äußerte, sie könnte einfach abhauen, mit Ellie, den Zwillingen und Anastasia. Sie alle hatten im letzten Jahr so viel durchgemacht.

Der Gedanke setzte sich in ihrem Kopf fest, erst nur als Spinnerei, die jedoch schnell zu einem handfesten Plan wurde. Alle Ereignisse des Tages mündeten in dieser Idee.

»Also, was machen wir jetzt?«, fragte Lola.

»Wenn wir das Problem lösen wollen«, erklärte Lottie, »müssen wir um die Ecke denken. Besser gesagt«, fügte sie mit klopfendem Herzen hinzu, »nicht nur um die Ecke, sondern um die halbe Welt.«

 

Lottie und Ellie flogen umgehend nach Maradova zurück. Es waren sieben schweigsame Stunden. Am Ende ihrer Reise warteten Ellies Eltern auf sie, der König und die Königin von Maradova, die die Macht hatten, Ellie und Lottie mit einem einzigen Fingerschnipsen auseinanderzureißen.

Alle Gedanken an die Journalisten, an Aimee Wu und den Sturz am Tor waren in den Hintergrund getreten.

»Mach dir keine Sorgen«, versuchte Lottie ihrer Prinzessin Mut zuzusprechen, während sie den zähnefletschenden Wolf an der großen Flügeltür des Palasts fixierte, »es kommt alles wieder in Ordnung. Ich lasse mir etwas einfallen, und dann reden wir mit deinen Eltern.«

Die Tür öffnete sich knarrend und gab den Blick auf eine endlose Ahnengalerie frei, die sich durch den vor ihnen liegenden Korridor zog. Die ehemaligen Herrscher des Reichs blickten den Mädchen düster entgegen und schienen jeden ihrer hallenden Schritte durch den Marmorgang genau zu verfolgen.

Ellie schauderte, als sie an dem schwarzgerahmten Gemälde eines Mannes mit grünen, spöttischen Augen vorübergingen. Claude, der einsame Wolf der Wolfsons, grinste höhnisch auf sie herab, eine bittere Erinnerung, was mit denen geschah, die den Erwartungen des maradovischen Königshauses nicht gerecht wurden: Verbannung und Exil auf Lebenszeit.

Doch Lottie würde nicht zulassen, dass sie dasselbe Schicksal ereilte.

»Edwina« – Lottie nickte der obersten Palastangestellten zu, die ein silbrig schimmerndes Teetablett trug –, »bitte sorgen Sie dafür, dass Ellie einen heißen Tee bekommt und sofort zu Bett geht. Sie ist sehr krank.«

Sie warf ihrer Prinzessin einen letzten Blick zu. Ihre Lippen waren bläulich angelaufen, und Lottie fühlte das Gewicht ihres Vertrauens ähnlich schwer wie den Wolf an der Kette um ihren Hals.

Es mochte am Jetlag und ihrer Verunsicherung liegen, dass sie sich zu etwas entschlossen hatte, was sie mehr als alles andere fürchtete: Sie würde mit Jamie reden.

Du schaffst das, redete sie sich zu. Du wirst ihn überzeugen.

Als sie ihren Weg durch den Palast allein fortsetzte, kam es ihr so vor, als würde jedes goldgerahmte Porträt sie für ihr Versagen verurteilen.

Es ist nicht meine Schuld, hätte sie am liebsten erwidert. Irgendjemand hat meine Noten gefälscht. Ich bringe das schon wieder in Ordnung.

Aber zuerst musste sie Jamie überzeugen.

Ihr Blick fiel auf ihr Spiegelbild in einem vergoldeten Spiegel am Ende des schmalen Korridors, der zu Jamies Zimmer führte. Müde. Sie sah müde aus, aber wenigstens fühlte sie sich in den bequemen Sportsachen, die sie im Flugzeug getragen hatte, so wohl, wie es in dieser Situation nur möglich war, und sie reckte entschlossen das Kinn. Jeder von ihnen hatte sich auf andere Weise abgelenkt, nachdem Leviathan ihnen so übel mitgespielt hatte. Für Lottie war es das Lauftraining gewesen – und jetzt war sie fitter denn je. Obwohl Jamie sich geweigert hatte, weiter mit ihr zu trainieren, hatte sie nicht aufgegeben.

Sei freundlich, sei mutig und gib niemals auf.

Wenn ihre Ahnin Liliana Mayfutt es geschafft hatte, von zu Hause fortzulaufen, die Identität eines Mannes anzunehmen, damit man sie ernst nahm, und Rosewood Hall zu gründen, eine der renommiertesten Schulen der Welt, dann würde auch Lottie es schaffen, stark zu sein und sich von nichts aufhalten zu lassen.

Sie band sich die Haare zu einem straffen Pferdeschwanz und fragte sich, wann sie so lang geworden waren. Es war unbemerkt geschehen – so wie der Größenunterschied zwischen ihr und Ellie immer weiter geschrumpft war, waren ihre Haare immer weiter gewachsen. Die strohblonden Locken hatten schon viel erlebt.

Ihre Faust zögerte kurz vor Jamies Tür, doch dann schlug sie entschlossen die Fingerknöchel dagegen, wie sie es Nikolai oft hatte tun sehen, in der Hoffnung, Jamie täuschen zu können.

Wenige Sekunden später öffnete Jamie die Tür, den Blick über Lotties Kopf gerichtet. Er schien tatsächlich mit Nikolai gerechnet zu haben und gab sich keine Mühe, seinen Unmut über ihren Trick zu verbergen.

Sein Oberkörper war nackt, und Lottie sah sofort, dass er noch immer nicht seinen Wolfsanhänger trug. Sie kniff die Augen zusammen und wandte schnell den Blick ab. Ihre Wangen wurden rot, und ihr kam der Gedanke, dass dies eine dumme Idee war.

Der letzte Rest eines ganz normalen Jungen, der in Jamie noch vor einiger Zeit gesteckt hatte, war verschwunden. Vor ihr stand ein dunkler, brütender Riese mit festen Muskeln und zornigen Augen. Er schien noch einmal ein ganzes Stück gewachsen zu sein. Seine dunklen Haare, die er zurückgebunden hatte, waren ebenfalls länger geworden. Jetzt sah er wirklich wie der skrupellose Kämpfer aus, zu dem er ausgebildet worden war, und das war nicht langsam und unbemerkt geschehen – die Veränderung war binnen weniger Wochen nach dem Entführungsversuch in der Tompkins-Villa eingetreten. Es war, als hätte das Ereignis etwas in ihm ausgelöst, das sich nie wieder rückgängig machen ließ. Er hatte die Haut des Jungen abgestreift und war zum Mann geworden.

»Was willst du hier?«, fragte er und stützte einen Arm gegen den Türrahmen. »Warum bist du nicht bei Binah?«

Über seine muskulöse Schulter erhaschte Lottie einen Blick auf sein Zimmer – es war tadellos aufgeräumt. Der Duft nach Zimt und anderen Gewürzen lag in der Luft.

Es roch sonderbar.

Alles im Raum war purpurrot: Bettwäsche, Teppiche, Lampenschirme, alles in diesem verstörenden Rot. Glänzend wie ein wertvoller Juwel lag in einer Schachtel auf seinem Nachttisch der Wolfsanhänger, dessen Edelstein sie wie ein Auge anblitzte. Jamie hatte geschworen, ihn nicht eher zu tragen, als er sich seiner wieder würdig fühlte.

Lottie hatte ihn mit allen Mitteln zu überzeugen versucht, dass das, was auf dem Anwesen der Tompkins geschehen war, nicht seine Schuld war, dass keiner von ihnen die Falle hatte vorhersehen können, doch egal, was sie sagte, er war fest entschlossen, sich zu bestrafen. Er glaubte, als Partist, als ihr ständiger Beschützer, hätte er sie vor jeglicher Gefahr bewahren müssen. Er wollte nicht einsehen, dass er nichts hätte tun können, um den Lauf der Dinge zu ändern.

Als er Lotties neugierigen Blick bemerkte, trat er einen Schritt vor und versperrte ihr die Sicht.

»Was willst du hier?«, wiederholte er.

»Ellie ist krank. Und ich … wir … brauchen deine Hilfe. Es geht um –«

»Wenn es nicht um Leben und Tod geht, will ich nichts damit zu tun haben. Ich habe eine Menge Arbeit, und ich werde mich nicht wieder von einem eurer albernen Abenteuer ablenken lassen.«

Lottie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

Jamie tat wie üblich, was er konnte, um sie auf Distanz zu halten. Vor einem Jahr noch hätte seine Bemerkung sie gekränkt, doch mittlerweile wusste sie, dass sie durch ihre albernen Abenteuer ihren Platz in der Welt gefunden hatte – und das war mehr, als Jamie von sich behaupten konnte.

Jamie wollte die Tür wieder schließen, doch Lottie schob ihren Fuß dazwischen und blickte ihn ruhig an.

»Ich will, dass du ein Wettrennen mit mir machst«, sagte sie.

Jamies verdattertes Gesicht wäre zum Lachen gewesen, wenn die Angelegenheit nicht so wichtig gewesen wäre.

»Warum sollte ich? Das ist lächerlich.« Er verschränkte die Arme, und seine Muskeln traten hervor, als wollten sie Lottie daran erinnern, wie viel stärker und schneller er war als sie.

»Weil ich dir verspreche«, erwiderte Lottie, »dich nie wieder um einen Gefallen zu bitten, wenn du gewinnst. Dann kannst du dich ganz auf deine Partistenpflichten konzentrieren, und« – die nächsten Worte waren bitter, weil sie wusste, dass es überhaupt nicht ihre Absicht war – »ich werde dich nie mehr ablenken.«

Sein Gesicht war undurchdringlich. Es war unmöglich zu sagen, ob der Gedanke ihm gefiel oder völlig abwegig erschien.

»Aber«, fuhr Lottie fort, »wenn ich gewinne, musst du mir zuhören.« Dann fügte sie schnell hinzu: »Und du darfst nicht böse werden.«

»Was für eine Zeitverschwendung«, sagte er stöhnend. Lotties Hoffnung schwand, bis er fortfuhr: »Aber wenn es sein muss, damit du mich endlich in Ruhe lässt, meinetwegen.«

Er knallte ihr die Tür vor der Nase zu, um sich umzuziehen, und Lottie japste vor Überraschung. Sie konnte nicht glauben, dass er wirklich zugestimmt hatte.

»Wir sehen uns in einer Viertelstunde am Tor zum Westgarten«, rief sie im Davonlaufen und ballte die Fäuste.

Und ich werde gewinnen, fügte sie in Gedanken hinzu. Sie musste gewinnen. Wenn sie Jamie nicht hinter sich hatte, bevor sie mit dem König und der Königin sprach, konnte sie ebenso gut schon jetzt aufgeben.

Der Himmel über dem maradovischen Königspalast war strahlend blau. Doch trotz der Sonnenstrahlen, die durch die immergrünen Bäume fielen und in der Luft glitzerten, war es eiskalt. Lottie musste an das Märchen von der Schneekönigin denken, und sie schob den Gedanken schnell beiseite. Sie wollte nicht, dass ihr Herz zu Eis wurde.

»Wer als Erster einmal um den Teich gerannt und wieder hier angekommen ist« – Lottie legte ein rotes Band quer über den Kiesweg –, »hat gewonnen.«

Teich war vielleicht etwas untertrieben für den funkelnden zugefrorenen See an der Westseite des Palastgartens, der locker die Größe einer Eislaufbahn hatte. Ellie hatte Lottie versprochen, ihr hier irgendwann Eislaufen beizubringen, doch Lottie war gar nicht besonders scharf darauf. Der See sah zu tief, zu kalt, zu tödlich aus.

In der Mitte erhob sich eine bemooste Statue der Göttin Artemis, die den Pfeil in ihrem gespannten Bogen direkt auf sie gerichtet hielt.

»Wir starten, wenn das Signal ertönt.« Lottie legte ihr Handy auf die Steinstufen, die hinunter zum See führten, und stellte den Timer auf eine Minute. »Bist du bereit?«

Jamie zuckte mit den Schultern unter seinem schwarzen Kapuzenpulli, der neben Lotties pfirsichfarbenem Jogginganzug besonders düster wirkte. Er war größer und stärker als sie. Es schien unausweichlich, dass er gewinnen würde.

»Bringen wir’s hinter uns.« Er ging neben Lottie in Startposition.

Ihr Atem stieg wie Rauch in die Luft.

Ich werde gewinnen. Lottie erzwang diesen Gedanken. Ich werde dir zeigen, was ich kann.

Der Alarm piepte, und sie rannten los. Sie stürmten über den gefrorenen Rasen, und Lottie warf alle Gedanken in den Wind. Sie dachte nicht an das Wettrennen, sie dachte nicht an die Journalisten, das schlechte Zeugnis oder an die Frage, warum Leviathan ihre Noten manipuliert hatte. Nichts davon ging sie etwas an, wenn sie nur schnell genug rannte. Wenn sie durch den Angriff in der Tompkins-Villa eins gelernt hatte, dann, dass wahre Macht darin bestand, aus eigenem Antrieb heraus stark zu werden. Sie hätte sich nie träumen lassen, dass die schnaufende, schwitzende Lottie, die schon der kleinste Sprint aus der Puste brachte, irgendwann die Freiheit des Laufens lieben würde. Jamies Trainingspläne hatte sie dazu nicht gebraucht. Sie hatte einfach angefangen und gewusst, dass sie nicht aufgeben durfte. Das hatte die Zeit mit Ellie sie gelehrt.

Das gefrorene Gras knirschte unter ihren Sohlen, die mit jedem ihrer Schritte geisterhafte Spuren hinterließen. Ein metallischer Geschmack trat ihr in den Mund, während die eisige Luft tief in ihre Lungen drang und sie weiter vorwärtstrieb. Auf halber Strecke merkte sie, dass sie etwas zurückfiel, anfangs nur wenig, doch der Abstand zu Jamie wurde größer und dehnte sich wie ein Gummiband. Ihre Beine jaulten jedes Mal auf, wenn ihr Fuß auf den Boden schlug, und trotzdem wuchs die Distanz. Sie waren jetzt kurz vor der Ziellinie, er würde gewinnen! Wenn sie jetzt nicht alles gab, würde er gewinnen.

Lottie stieß einen erstickten Schrei aus und spürte das Gummiband zum Zerreißen gespannt, während sie in großen Sprüngen auf das rote Band zustürmte.

Aber es war zu viel. Ihre Knie, die noch immer von ihrem Sturz in Rosewood schmerzten, gaben unter ihr nach, und die Welt um sie herum begann zu wanken. Der kalte, harte Boden kam ihr entgegen, gerade als Jamies Fuß auf dem Band landete.

Sie lag keuchend am Boden. Schon wieder gedemütigt. Jamie hielt ihr die Hand hin, doch sie stieß sie weg und rappelte sich mit steifen Bewegungen auf. Zitternd stützte sie sich auf die Oberschenkel und beugte sich vor, um Luft in ihre schmerzenden Lungen zu pumpen. Sie sah eine Schweißperle zu Boden fallen, und an der Stelle, wo sie aufkam, schmolz das Eis.